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3.2    Fliessband  des Todes

 

 Die Mühle 

 

 129-139

Dokumente über die Repressionen Stalins habe ich fast nicht kopiert — bis auf ein paar, deren Zynismus mich besonders erschüttert hat. Es handelte sich um ein Fließband des Todes, das ohne Unterbrechung nach Plan wie die ganze sowjetische Industrie lief. Obwohl wir die meisten dieser Geschichten aus Büchern und mündlichen Berichten kennen, haben mich einige Dokumente durch ihre nüchterne Unmenschlichkeit erschüttert.

(Abbildung)

Es ist eine Sache, davon zu wissen, eine andere, den nachlässigen Vermerk Stalins zu sehen, der mit ein paar Bleistift­krakeln 6600 Menschen zum Tode verurteilte.2

Der Text auf dem Dokument, Seite 129, lautet:

»Der Region Krasnojarsk zusätzlich 6600 Personen Limit nach Kategorie I geben. 
Einverstanden J. St.«

Der Umfang der sozialistischen Umgestaltungen war so enorm, daß der einzelne die Führer nicht interessierte. Es wurde nach Tausenden und Zehntausenden, nach Kategorien gezählt. Wenn die Republiken, Verwaltungs­gebiete, Regionen und Kreise ihren Plan (»Limit«) für die Vernichtung von Volksfeinden (genauso wie den Plan für die Getreide- und Milchproduktion) erfüllt hatten, erstatteten sie nach sozialistischem Brauch nach Moskau Bericht und baten um die Genehmigung zur Übererfüllung, um ihren Eifer unter Beweis zu stellen.3

 

CHIFFRIERTES TELEGRAMM 
abgesandt um 22.11 Uhr am 4.2.1938 
Moskau, ZK der WKP(b), dem Genossen Stalin 

Die Arbeit der Troika ist beendet, im Rahmen des Limits für das Verwaltungsgebiet wurden 9600 Kulaken, Sozialrevolutionäre, aufständische und andere antisowjetische Elemente verurteilt. Zusätzlich wurden Kulaken- und Weißgardistenelemente, die eine subversive Tätigkeit ausübten, entlarvt, insgesamt wurden bis zu 9000 antisowjetische Kulaken-Elemente im Gebiet gezählt.

Das Gebietskomitee erbittet die Festsetzung eines zusätzlichen Limits von 3000 für die erste Kategorie und von 2000 für die zweite Kategorie und Fristverlängerung bis zum 20. März. Der Sekretär des Gebietskomitees der WKP(b) 
  J. Kaganowitsch"

 

Nach Beratung entschieden die Führer, die Erschießungen fortzusetzen, und gingen anschließend wohl ins Bolschoi-Theater, um sich beim »Schwanensee« auf kulturvolle Weise zu zerstreuen.


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»Proletarier aller Länder, vereinigt euch! 
Streng geheim 
Kommunistische Allunions-Partei der Sowjetunion (Bolschewiki)
Zentralkomitee
P58/67
17. Februar 1938

An den Genossen Frinowski 
Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der WKP(b) 
Beschluß vom 17.2.1938 
67. Anfrage des NKWD
Dem NKWD der Ukraine sind zusätzliche Verhaftungen von Kulaken- und anderen antisowjetischen Elementen zu genehmigen und ihre Fälle auf den Troikas zu entscheiden.
Das Limit für das NKWD der Ukrainischen SSR wird somit um 30.000 erhöht. 
DER SEKRETÄR DES ZK«
4

 

Die besonderen »Troikas« (Dreier-Tribunale) bestanden gewöhnlich aus dem Ersten Sekretär des Gebietskomitees (Regionskomitees oder des ZK der Kommunistischen Partei der jeweiligen Unionsrepublik), dem Chef der entsprechenden Verwaltung des NKWD und dem Oberstaatsanwalt des Gebiets (der Region, der Republik).

Selbstverständlich konnten sie eine solche Menge an Arbeit überhaupt nicht bewältigen. Im Laufe des Jahres 1938 wurden die Limits (Liquidierungsnormen) mehrmals erhöht, die Fristen verlängert, und dieses ganze Schlachthaus drohte außer Kontrolle zu geraten. Schließlich ordnete Stalin im November an, daß die Troikas ihre Arbeit einstellen und daß neue Fälle den Gerichten übergeben werden sollten (P64/22 vom 15.11.1938).5

Es ist schwer vorstellbar, daß Menschen, die diese Zeit als Henker oder auch als Opfer überlebt haben, psychisch normal geblieben sind. Sind die Henker von den Opfern überhaupt zu unterscheiden? Hier ist zum Beispiel eine Mitteilung Frenkels (der maßgeblich an der Schaffung des GULAG-Systems im Sinne volkswirtschaftlicher Nutzung beteiligt war) an den damaligen Volkskommissar des Inneren Jeschow vom Oktober 1937 über »Störungen« in der Arbeit dieser Maschine:6

131/132

»Vor einigen Tagen beschwerten sich Kolchosbauern des Bezirks Kusnezk bei einem Instrukteur des Gebietskomitees, daß nicht weit von ihnen in der Nacht ein Massenmord geschehen sei. Die Nachprüfung ergab, daß zu dem Zeitpunkt im Wald acht Volksfeinde nach einem Urteil der Sondertroika erschossen worden waren. Der Leiter des Gebietskomitees des NKWD, der am Vortag wegen Verbindungen und Zusammenarbeit mit den entlarvten Volksfeinden aus der Partei ausgeschlossen worden war, hatte eine provokatorische und feindliche Handlung begangen, indem er keine Maßnahmen getroffen hatte, um die Erschossenen zu begraben. Dieser Leiter wurde verhaftet, die erschossenen Volksfeinde wurden vergraben. In zwei Fällen sprangen in der Kuibyschewer NKWD-Verwaltung infolge der schlechten Bewachung Volksfeinde, die sich zum Verhör dort befanden, aus dem Fenster, einer kam dabei ums Leben.«

 

Ich will hier nicht zusammenzählen, wie viele Menschen sie umgebracht haben. Genaue Angaben über die Zahl der Erschossenen habe ich auch nicht gefunden, aber aus einem Bericht Berijas und Wyschinskis an Stalin vom Februar 1939(7) geht hervor, daß seit 1927 durch die Troikas und Sonderkollegien der OGPU-NKWD allein schon 2.100.000 Personen zu Gefängnis und Verbannung verurteilt worden waren. Das schließt noch nicht die Urteile der Gerichte und Tribunale, die ebenfalls ohne Unterlaß arbeiteten, und die Massendeportationen der Kulaken bei der Kollektivierung ein.

Natürlich heben sich die Jahre 1937-1938 nur deshalb besonders ab, weil die Repressionen auch die kommunistischen Führer betrafen. Für die einfachen Leute waren auch die anderen Jahre nicht besser. Nicht einmal der Krieg hat ihr Schicksal gemildert. Man denke nur daran, daß ganze Völkerschaften deportiert und Millionen von Kriegsgefangenen aus den deutschen Konzen­trations­lagern in die sowjetischen wanderten. 

Weniger bekannt ist, daß der Kampfgeist der Streitkräfte ebenfalls durch Repressionen aufrechterhalten wurde.


133

»Seit Beginn des Krieges bis zum 10. Oktober (1941, W. B.} wurden von den Sonderabteilungen des NKWD zur Sicherung des Hinterlandes 657.364 Kriegsdienstleistende, die von ihren Einheiten zurückgeblieben oder von der Front geflohen waren, festgenommen«, teilte der Stellvertreter des Leiters der Sonderabteilungen des NKWD, der Kommissar der Staatssicherheit Milstein seinem Chef Lawrentij Berija mit.8 

»Von den durch die Sonderabteilungen Verhafteten sind:
Spione 1505 
Diversanten 308 
Feiglinge und Panikmacher 2643 
Deserteure 8772 
Verbreiter von provokatorischen Gerüchten 3987 
Selbstverstümmler 1671
....
insgesamt: 25.878 

Auf Beschluß der Sonderabteilungen und gemäß den Urteilen der Militärtribunale wurden 10.321 Personen erschossen, davon 3321 vor versammelter Mannschaft.«

Dies allein während der ersten drei Monate des Krieges direkt an der Frontlinie.

 

Die Mühle  

 

Für die Tschekisten war jedoch die Front überall, und die Ausgeklügeltheit ihrer Methoden steigerte sich ins Absurde. Viele ihrer »Operationen« wurden erst im Jahre 1956 während des sogenannten »Tauwetters« aufgedeckt, als das Parteikontrollkomitee die Fälle von unschuldig Repressionen ausgesetzten Partei­mitgliedern überprüfte. 

Einer dieser Fälle sei als Beispiel angeführt:

»... Die Überprüfung hat ergeben, daß 1941 im Auftrag der Führung des NKWD der UdSSR von der Verwaltung des NKWD der Region Chabarowsk, 50 Kilometer von Chabarowsk entfernt, im Gebiet des Dorfes Kasakewitschi in der Nähe der Grenze zur Mandschurei, eine fiktive sowjetische Grenzwache, ein <mandschurischer Polizeigrenzposten> und eine <japanische Kreismilitärmission> geschaffen wurden, die die Mitarbeiter der Staatssicherheitsorgane <Mühle> nannten.

Der Zweck, den die Mitarbeiter des NKWD mit der Imitation einer sowjetischen Grenzwache sowie japanischer Grenz- und Aufklärungsstellen verfolgten, war die Überprüfung sowjetischer Bürger, die die Organe der Staatssicherheit feindlicher Tätigkeit verdächtigten.

In der Praxis wurde mit dieser Maßnahme jedoch großer Mißbrauch getrieben, und es wurde gegen unschuldige sowjetische Bürger anstatt gegen wirkliche Feinde des Sowjetstaats vorgegangen.

Der ehemalige Leiter der Chabarowsker Verwaltung des NKWD Gogolidse und der ehemalige Leiter der Zweiten Verwaltung des NKWD Fedotow benutzten die <Mühle> für staatsfeindliche Ziele, um Belastungs­material gegen sowjetische Bürger zu fabrizieren.

Die <Überprüfung> in der berüchtigten <Mühle> begann damit, daß man der Person, die der Spionage oder anderer antisowjetischer Tätigkeit verdächtigt wurde, vorschlug, Aufgaben im Gebiet hinter der Grenze für den NKWD auszuführen. Nachdem der <Verdächtige> seine Zustimmung gegeben hatte, wurde seine Einschleusung in die Mandschurei von der fiktiven sowjetischen Grenzwache aus und seine Festnahme durch angebliche japanische Grenzbehörden inszeniert. Dann wurde der <Festgenommene> in das Gebäude der <japanischen Militärmission> gebracht, wo er einem Verhör durch die NKWD-Mitarbeiter unterzogen wurde, die die Rolle von offiziellen Mitarbeitern der japanischen Aufklärungsorgane und russischen weißgardistischen Emigranten spielten.

Das Verhör sollte erreichen, daß der <Verdächtige> gegenüber den <japanischen Behörden> Verbindungen zur sowjetischen Aufklärung gestand. Zu diesem Zweck fanden die Verhöre unter äußerst harten Bedingungen statt, die den moralischen Zusammenbruch des Menschen beabsichtigten, wobei verschiedene Drohungen sowie physische Gewalt angewendet wurden.

Viele Personen, die künstlich in eine für sie ungewöhnliche und schwere Lage versetzt worden waren, berichteten den als Japaner auftretenden Mitarbeitern des NKWD, in der Annahme, daß sie sich wirklich in Feindeshand befänden und jederzeit physisch vernichtet werden könnten, über ihre Verbindungen mit den Organen des NKWD und über die Aufgaben, die sie in der Mandschurei ausführen sollten. Einige dieser Bürger lieferten angesichts der Lebensgefahr, in der sie sich wähnten, und unter der Einwirkung physischer Gewalt Informationen über die Sowjetunion.

Nach dem Ende der Verhöre, die mitunter einige Tage oder sogar Wochen dauerten, wurde der <Festgenommene> von den japanischen <Aufklärungsorganen> abgeworben und auf sowjetisches Gebiet geschickt, um Aufklärungsaufgaben auszuführen. Das Schlußkapitel dieses Provokationsspiels bestand darin, daß der <Überprüfte> von den Organen des NKWD verhaftet und danach als Vaterlandsverräter von den Sonderkollegien zu langem Freiheitsentzug oder zur Erschießung verurteilt wurde.«(9)


134/135

Im Laufe mehrerer Jahre wurden 150 Personen durch diese »Mühle« geschickt. Obwohl sie später rehabilitiert wurden (die meisten postum) und dieser ganze Einfall des NKWD zu Chruschtschows Zeiten als »staatsfeindlich« verurteilt wurde, hatte das für keinen der beteiligten Tschekisten ernstere Folgen gehabt. Im allgemeinen wurden sie in Rente geschickt, und selbst der Erfinder dieser teuflischen »Mühle« und ihr treuer Hüter, der General Fedotow, wurde lediglich in einem Parteiverfahren »zur Verantwortung gezogen«. Verwunderlich ist das nicht, da praktisch die gesamte Führung des Landes auf die eine oder andere Weise in die »stalinistischen« Repressionen verwickelt war — von General Serow, der unmittelbar mit der »Mühle« von Chabarowsk zu tun hatte(10) und inzwischen KGB-Chef geworden war, bis hin zu Chruschtschow selbst.

*

Sogar Breschnew, dessen Karriere verhältnismäßig spät, erst in den letzten Jahren der Herrschaft Stalins begann, hat sich auch noch an dieser Schlächterei beteiligt. Nachdem er im Jahre 1950 Erster Sekretär des ZK Moldawiens geworden war, beeilte er sich nachzufragen, ob nicht auch er »zusätzliche Limits« für den Abschuß feindlicher Elemente bekommen könnte.

Zu dieser Zeit hatte der »Klassenkampf« schon sehr nachgelassen. Da war nicht mehr soviel zu leisten. Einige klägliche Überbleibsel, die wie durch ein Wunder die vorangegangenen Säuberungen überlebt hatten: ganze 735 Kulaken-Familien (2382 Personen), 735 alleinstehende Kulaken und dann noch Sektierer — 850 Familien der Zeugen Jehovas, 400 Familien der Innokentjewzy, Archangelisten, Sabbatisten, Anhänger der Pfingstbewegung und Adventisten —, insgesamt 1600 Personen. Viel war es nicht, aber er konnte seine Wachsamkeit unter Beweis stellen.11

Es waren Stalinsche Kader, die die Repressionen verurteilten, daher konnte von ihnen keine Strenge bei der Verurteilung »einzelner Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit in der Periode des Personenkults« erwartet werden — zumal sie gar keine Anstalten machten, die politischen Repressionen als solche einzustellen.


136

Trotz entgegengesetzter Meinungen war das »Tauwetter« nur ein sehr relatives. Es änderten sich nur Ausmaß und Stil, aber nicht das Wesen der Repression. Bemerkenswert ist, daß viel später, 1975, der damalige KGB-Chef Andropow, der über unsere Kampagne zum Schutz der Menschenrechte verärgert war, sich gegenüber dem ZK damit rechtfertigte, daß unter dem »liberalen« Chruschtschow viel mehr Leute ins Gefängnis gekommen seien als unter ihm:

»Was die Strafverfolgungsmaßnahmen gegen die sogenannten >Dissidenten< angebt, mit denen man im Westen Personen meint, deren Handlungen unter die Artikel 70 ... und 190/1 des Strafgesetzbuches der RSFSR fallen, so liegen hierzu folgende Ziffern vor: Von 1967 ... bis 1975 sind aufgrund der genannten Artikel 1583 Personen verurteilt worden. Im vorausgegangenen Jahrzehnt (1958-1966) belief sich die Zahl der für antisowjetische Agitation und Propaganda Verurteilten auf 3448. Im Jahre 1958 wurden 1416 Personen nach Artikel 70 verurteilt, das heißt fast ebenso viele wie in den vergangenen neun Jahren, und dies gerade in jener Zeit, die im Westen oft als >die Periode der Liberalisierung< bezeichnet wird. Nikita Sergejewitsch Chruschtschow erklärte (27. Januar 1959) daß es in dieser Periode keine >Fälle von Gerichtsverfahren wegen politischer Verbrechen< gegeben habe.«12

 

Der Westen dachte stets gern in Schablonen und machte aus jedem neuen sowjetischen Führer einen Liberalen. Diesem Ruf entging keiner — weder Stalin noch Chruschtschow, weder Breschnew noch Andropow, ganz zu schweigen von Gorbatschow. Darin äußerte sich, wie man annehmen muß, der ewige Traum des Westens, daß die kommunistische Gefahr irgendwie — ohne Kampf und ohne Risiko — von selbst verschwinden würde. Wie in dem Liedchen:

"Eines Morgens — aufgestanden, 
  Die Sowjetmacht — nicht mehr vorhanden."

Es waren nicht die Schlimmsten, die das erträumten; die Schlimmsten wollten die sowjetische Schlange »durch Güte erdrücken«, nachdem sie sich ihr mit Seele und Körper hingegeben hatten.


137

Ich erinnere mich, wie die englischen Intellektuellen mich nach dem Erscheinen meines Buches »Wind vor dem Eisgang« anfeindeten, weil ich Chruschtschow und seinem »Tauwetter« nicht genügend Respekt entgegen­gebracht hatte. Wie könnte ich mich nur am Allerheiligsten vergreifen! 

Die Entrüstung kannte keine Grenzen, besonders in der Zeitung »Guardian«, die bekanntlich immer alles besser wußte über unser Leben als wir selbst. In Wirklichkeit unterschied sich jedoch Chruschtschow von allen anderen Führern höchstens durch seinen etwas naiven Glauben an den baldigen Triumph des Kommunismus. Darauf bereitete er sich mit aller Kraft genau in jener Zeit vor, als der Westen ihm einen Kranz für seinen Liberalismus flocht.

 

»Streng geheim
Sonderakte 
ZENTRALKOMITEE DER KOMMUNISTISCHEN PARTEI DER SOWJETUNION 
BESCHLUSS
Über die Bildung der 12. (Sonder-) Abteilung bei. der Zweiten Haupt-(Aufklärungs-)Verwaltung des Ministeriums für Innere Angelegenheiten des UdSSR

9. September 1953  --  Moskau 

1. Das Ministerium für Innere Angelegenheiten (Genosse Kruglow) wird beauftragt, bei der 2. Haupt-(Aufklärungs-)verwaltung des Ministeriums für Innere Angelegenheiten die 12. (Sonder-) Abteilung zur Durchführung von Diversionsakten gegen wichtige militärstrategische Objekte und Verkehrswege auf dem Territorium der wichtigsten Aggressionsstaaten USA und England sowie auf dem Territorium anderer kapitalistischer Länder, die von den Hauptaggressoren als Aufmarschgebiet gegen die UdSSR genutzt werden, zu bilden.

Die Durchführung von Terrorakten (durchgestrichen und darüber von Hand hinzugefügt: »aktiven Handlungen«) gegen die aktivsten und bösartigsten Feinde der UdSSR unter den Persönlichkeiten der kapitalistischen linder, die besonders gefährlichen ausländischen Kundschafter, die Anführer der antisowjetischen Emigrantenorganisationen und Vaterlandsverräter wird als zweckdienlich angesehen.


138

2. Es wird festgelegt, daß alle Maßnahmen des Ministeriums für Innere Angelegenheiten der UdSSR im Rahmen der 12. (Sonder-)Abteilung zuvor im Präsidium des ZK zu erörtern und von diesem zu sanktionieren sind.

3. Das Statut, die Struktur und der Personalbestand der 12. (Sonder-) Abteilung bei der 2. Haupt-(Aufklärungs-)verwaltung des Ministeriums für Innere Angelegenheiten der UdSSR werden bestätigt. 

DER SEKRETÄR DES ZK DER KPDSU 
N. CHRUSCHTSCHOW«

 

Er war ein guter Liberaler, nicht wahr? Für uns, die wir noch zu Zeiten seines »Tauwetters« eingesessen haben, ist dieses Dokument keine Überraschung. Auch darüber, daß führende Köpfe der Emigranten­organisationen ermordet und entführt wurden, wußte man zu jener Zeit gut Bescheid, ebenso wie über Chruschtschows Erfindung, die Gegner in Irrenhäuser bringen zu lassen.

Wie wir jetzt aus den Dokumenten ersehen13, war eine teilweise Entstalinisierung nach dem Tod des Führers unausweichlich geworden, und nicht Chruschtschow, sondern Berija schlug sie als erster vor. Natürlich bewogen diesen weder Seelengüte noch das Bestreben, den Leninschen Ideen ihre Reinheit wiederzugeben, sondern der grausame Kampf um die Macht. Er war zum Zeitpunkt von Stalins Tod Chef des Innenministeriums und des KGB und verfügte auch über die Archive dieser Institutionen, die er natürlich gegen seine Feinde nutzte.

Da Berija die Rehabilitierungen mit den Fällen begann, in die nicht er, sondern seine Gegner verwickelt waren, gab er gleichsam die Bedingungen für den gesamten Machtkampf nach Stalin vor. Chruschtschow und seine Truppe hatten keine andere Wahl, als ihn physisch zu vernichten und sich danach seiner Methoden zu bedienen. Der Geist war ohnehin schon aus der Flasche gelassen, und es war unmöglich, ihn dorthin zurückzujagen.


Im übrigen war die Rehabilitierung unter Chruschtschow längst nicht so aufrichtig, wie die Mehrheit damals annahm. So geht aus einem Vermerk des damaligen KGB-Chefs Semitschastny hervor, daß praktisch bis zum Ende der Regierungszeit Chruschtschows die Angehörigen der Personen, die aufgrund eines Urteils der Troikas erschossen worden waren, über das Schicksal ihrer verschwundenen Verwandten belogen wurden:14

»Mit Wissen der Instanzen und nach Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft der UdSSR wurde 1955 den KGB-Organen vom Komitee für Staatssicherheit eine Instruktion Nummer 108ss hinsichtlich der Bearbeitung von Bürgeranfragen gegeben, die sich für das Schicksal von Personen interessieren, die auf Beschluß außergerichtlicher Organe erschossen worden sind (des ehem. Kollegiums der OGPU, der Troikas der OGPU-NKWD-UNKWD, der Kommission des NKWD der UdSSR, des Generalstaatsanwalts der UdSSR).

Dieser Instruktion gemäß teilen die Organe der Staatssicherheit Familienmitgliedern der Verurteilten mit, daß ihre Verwandten zu zehn Jahren Besserungs-Arbeitslager verurteilt worden und am Ort der Strafverbüßung verstorben seien. Sollte es zur Lösung von Eigentums- oder anderen rechtlichen Fragen notwendig sein, registrieren sie den Tod der Erschossenen auf den Standesämtern und stellen den Antragstellern Bescheinigungen aus, in denen das Todesdatum innerhalb dieser Zehnjahresfrist sowie eine fiktive Todesursache angegeben werden.

Das Motiv für diese 1955 getroffene Regelung war die Tatsache, daß zur Zeit der Massenrepressionen eine große Anzahl von Personen grundlos verurteilt worden war. Deshalb hätte eine Mitteilung über das wirkliche Schicksal der Verurteilten negative Auswirkungen auf die Situation ihrer Familien haben können. Darüber hinaus wurde angenommen, daß eine Information der Familienmitglieder über das wirkliche Schicksal ihrer Verwandten zu jener Zeit von einzelnen feindlichen Elementen zum Schaden der Interessen des sowjetischen Staates hätte ausgenutzt werden können.

Die bestehende Regelung über die Mitteilung fiktiver Angaben betrifft im wesentlichen unschuldig zu Schaden gekommene Sowjetbürger, die auf Beschluß außergerichtlicher Organe zur Zeit der Massenrepressionen erschossen worden sind.

Im Ergebnis der Revision der Strafverfahren wurden von 1954 bis 1961 von den nach außergerichtlichen Verfahren Erschossenen ungefähr die Hälfte rehabilitiert. In der Mehrzahl der Fälle wurden den Verwandten keine der Wahrheit entsprechenden Informationen über den angeblich am Ort der Strafverbüßung erfolgten Tod erteilt.«

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Bukowski 1995