3.3 Wir sind zu wenige
Bukowski-1995
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Man hat immer zu uns Dissidenten gesagt: »Ihr seid zu wenige. Was könnt ihr schon bewirken?« Wir bestätigten stets: »Ja., wenige.« Auf die Frage nach der Zahl der Anhänger unserer Bewegung oder der Zahl der politischen Häftlinge haben wir stets lieber etwas untertrieben als übertrieben. Es waren eben so viele, wie es waren. Unsere Gesellschaft, unser Land war eben so, daß sich nicht mehr fanden. Wenn ich von meinen Altersgenossen danach gefragt werde, füge ich hinzu: »Nun, wenn Sie sich uns angeschlossen hätten, wäre es einer mehr gewesen.« Sie finden aber gewichtige Gründe, mit denen sie überzeugend nachweisen, warum das absolut nicht ging.
Wir antworteten, daß es nicht auf die Anzahl ankam und auch nicht so sehr auf die praktischen Ergebnisse, sondern im Prinzip auf die innere Freiheit und die moralische Verantwortung des Menschen, das heißt, daß wir ein natürliches Bedürfnis — wie das Bedürfnis zu atmen, zu essen und sich zu bewegen — befriedigten. Aber das wollte keiner hören. Philosophie gab es in unserem Leben ohnehin zu viel und praktische Ergebnisse zu wenig. Ergibt es denn irgendeinen Sinn, für sein eigenes Wohl auf ein normales Leben, auf eine Karriere zu verzichten und ins Gefängnis zu gehen? Worin besteht dann das eigene Wohl?
Erstaunlich ist jedoch, daß wir angesichts solcher Perspektivlosigkeit und nach so vielen Jahrzehnten des Terrors, der in den Menschen anscheinend jede menschliche Regung getilgt hatte, weit mehr waren, als wir erträumt hatten, und daß unser Einfluß auf das Regime bedeutender war, als wir selbst vermuteten. Man kann sich schon bei einer nur oberflächlichen Einsicht in die Dokumente leicht davon überzeugen. Vor allem fällt die große Zahl solcher Dokumente auf. Der KGB berichtete dem ZK buchstäblich alles, jede Kleinigkeit über unsere Bewegung, und über jede Kleinigkeit mußte das ZK oder das Politbüro einen Beschluß fassen. Nicht nur mit jeder Verhaftung, jedem Gerichtsverfahren, jeder Verbannung und Haussuchung, sondern sogar mit jeder operativen Kleinigkeit befaßten sich also diese fünfzehn sehr alten und äußerst beschäftigten Herren.
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»Das Komitee für Staatssicherheit (KGB) erstattet Bericht darüber, daß nach vorliegenden Informationen der in der Stadt Obninsk, Verwaltungsgebiet Kaluga, wohnhafte, am Institut für medizinische Radiologie tätige Kandidat der biologischen Wissenschaften Schores Medwedjew und sein guter Bekannter Waleri Pawlentschuk die Vervielfältigung des unveröffentlichten Romans >Der erste Kreis der Hölle< von Alexander SOLSCHENIZYN zum Zweck seiner Verbreitung unter den wissenschaftlichen Mitarbeitern der Stadt Obninsk in Angriff genommen haben«, teilte der Chef des KGB Andropow seinen Kollegen im ZK mit.15)
»Zu diesem Zweck plant auch der wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der UdSSR Pjotr JAKI R, von dem bekannt ist, daß er an mehreren gesellschaftsfeindlichen Manifestationen teilgenommen hat und mit politisch schädlichen Äußerungen hervorgetreten ist, eine Reise nach Obninsk. Angesichts der Tatsache, daß der Roman Alexander SOLSCHENIZYNS >Der erste Kreis der Hölle< ein politisch schädliches Werk ist, halten wir es für notwendig, daß JAKIR, falls er von Moskau nach Obninsk fährt und die Exemplare des Romans entgegennimmt, festgenommen wird und ihm diese Manuskripte abgenommen werden, und im Falle von Schores MEDWEDJEW soll das Obninsker Stadtkomitee der KPdSU Maßnahmen zur Unterbindung seiner gesellschaftsfeindlichen Tätigkeit ergreifen. Ich bitte um Behandlung der Angelegenheit.«
Und sie berieten sich. Am Rand steht der handschriftliche Vermerk »Einverstanden«, und darunter sind die Unterschriften von Suslow, Ponomarjow, Kirilenko ...
Erstaunlich! Sogar unsere gesamte Samisdat-Produktion hat Andropow an das ZK geschickt. »Auf operativem Weg wurde festgestellt, daß LITWINOW, GORBANEWSKAJA, JAKIR und einige ihrer Gesinnungsgenossen ein Dokument mit dem Titel >Das Jahr der Menschenrechte in der Sowjetunion< (eine Kopie ist beigefügt) mit einer verleumderischen Darstellung der Prozesse in Moskau und Leningrad und einer kurzen Inhaltsangabe von Briefen und Aufrufen, die die sowjetischen Staats- und Verwaltungsorgane diskreditieren, verfertigt haben und verbreiten. Diese Mitteilung dient zur Information.«16
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Wenn man damals versuchte, eine Beschwerde an das Politbüro zu schicken, war das ein hoffnungsloses Unterfangen. Alles blieb im Apparat hängen und wurde an den weitergeleitet, über den man sich beschwerte. Aber auf diese Weise las man im Politbüro nicht nur alles, sondern mußte auch noch einen Beschluß darüber fassen. Ein Wunder! Es war der effektivste Weg, die Obrigkeit zum Nachdenken zu zwingen. Und da waren ja nicht nur der Samisdat und die operativen Erkenntnisse. Über unsere Verhaftungen, Prozesse und Urteile kam es mitunter sogar zu kontroversen Diskussionen, und die Entscheidung mußte aufgeschoben und das Problem noch einige Male erneut behandelt werden. Nun, die Männer haben wirklich gearbeitet, nachgedacht, erwogen und nicht nur automatisch ihre Unterschrift geleistet.
Ich war direkt gerührt, als ich sah, daß das gesamte Politbüro eine Sitzung abhielt, um zu entscheiden, ob nach meinem Prozeß 1967 eine kleine Notiz darüber in der Zeitung <Wetschernjaja Moskwa> erscheinen sollte.
berichtete Andropow dem ZK.17 — »Im Zusammenhang damit, daß im Westen über den Prozeß Mitteilungen verbreitet werden, die sein Wesen verfälschen, erscheint es angebracht, in der Zeitung <Wetschernjaja Moskwa> hierüber eine kurze Notiz zu veröffentlichen (wird beigefügt).«»Der Angeklagte BUKOWSKI, dessen Schuld vor allem darin bestand, daß er Hauptorganisator gesellschaftsfeindlicher Demonstrationen war, versuchte in seinen Äußerungen vor Gericht dem Verfahren eine politische Färbung zu geben und erklärte, daß die Staatsorgane und das Gericht verfassungswidrig gehandelt hätten. Sein Verhalten vor Gericht verriet deutlich den Wunsch, in der ausländischen Presse nicht als gesellschaftsfeindlicher Straftäter, sondern als ein eines politischen Vergehens Beschuldigter dargestellt zu werden«,
Der Text der Notiz von ganzen 14 Zeilen mit der Überschrift »Im Moskauer Stadtgericht« liegt wirklich bei. Der Sinn der Sache war, der Öffentlichkeit mitzuteilen, ich hätte tatsächlich meine Schuld gestanden und alle Gerüchte über eine Rede, die ich vor Gericht gehalten hätte, seien reine Phantasie der bürgerlichen Propaganda. Das war alles, eine der gewöhnlichen kleinen Lügen zum Wohle des Sozialismus. Und dafür tagten sie nun, diskutierten und stimmten ab.
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Das Resultat der Abstimmung war gleich beigefügt: Breschnew - dafür, Kirilenko - dafür, Kossygin - im Urlaub, Masurow - keine Einwände, Pelsche - einverstanden, Suslow - im Urlaub ...
Ein anderes Mal kam es unter ihnen aber auch zu unerfreulichen Meinungsverschiedenheiten. Da sind zum Beispiel die Dokumente über den Prozeß gegen die Demonstranten, die gegen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei im August 1968 protestiert hatten. Alles schien völlig klar zu sein — »eine gesellschaftsfeindliche Straftat« wie ein Jahr zuvor bei meinem Prozeß. Alle ab ins Lager, und damit basta! Aber hier war nicht alles so einfach. Einer der Verhafteten war Pawel Litwinow, und seine Großmutter, die Witwe des ehemaligen Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten Maxim Litwinow, eine alte Bekannte Mikojans, wandte sich an ihn mit der Bitte, ihren Enkel nicht einzusperren. Mikojan sandte den Brief mit seinem handschriftlichen Kommentar direkt an Breschnew weiter.
Maschinenschriftlicher Text des Dokuments:
»Lieber Anastas Iwanowitsch!
Ich schreibe Ihnen im Unglück — mein Enkel Pawel Litwinow sitzt im Gefängnis von Lefortowo. Ich weiß nicht, wessen er beschuldigt wird. Ich weiß nur, daß er ein edelmütiger und ehrlicher Junge ist, dem seine Heimat teuer ist. Maxim Maximowitsch hat ihn sehr geliebt.
Lieber Anastas Iwanowitsch! Wenn Sie können, helfen Sie! Er ist noch jung, und ich bin schon ganz alt.
In Hoffnung und mit Hochachtung
A. Litwinowa
4. September 1968«Handschriftliche Anmerkungen:
A. Mikojan, 13. IX.«»Leonid Iljitsch!
Ich bitte Sie, der Sache Ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Im gegenwärtigen Augenblick einen Prozeß gegen den Enkel Litwinows und andere zu führen — was geplant sein soll —, würde bedeuten, unseren Feinden neues Futter zu liefern. Sie haben doch schon gesessen. Sich für diesmal auf eine Warnung zu beschränken wäre vernünftiger.
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Abb.
Und darunter von der Hand Breschnews: »Den Mitgliedern des Politbüros vorlegen« und die Unterschriften der Mitglieder.
Nicht schlecht! Obwohl der Prozeß trotzdem stattfand, kamen Litwinow und zwei weitere Angeklagte nicht ins Gefängnis, sondern wurden in die Verbannung geschickt, obwohl in dem Gesetzesartikel, der dem Urteil zugrunde lag, Verbannung überhaupt nicht vorgesehen war.
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Solche Dokumente gibt es zu Tausenden, das heißt, daß Tausende von Arbeitsstunden für sie aufgewendet wurden. Wenn wir sonst nichts weiter getan und nichts erreicht hätten, so hatte unsere Tätigkeit doch wenigstens den Sinn, dem Machtapparat Zeit zu rauben, die sonst der Weltrevolution gewidmet worden wäre.
Trotzdem war dieses außerordentliche Interesse der Staatsmacht an unserer Bewegung keineswegs paranoid. Man verstand sehr wohl, wie gefährlich die Tatsache unserer Existenz war, weil man sich keine Illusionen über die Liebe des Volkes zum Regime machte. Für ein totalitäres System ist schon ein einziger Andersdenkender gefährlich, vor allem, wenn es sich zu einem vollkommenen System erklärt hat. Es durfte keine Unzufriedenen im sozialistischen System geben. Nach der marxistischen Ideologie ist Unzufriedenheit — zumal fünfzig Jahre nach der Revolution — undenkbar.
Hierin lag das Grunddilemma der kommunistischen Macht. Einerseits hätte die Zahl der Unzufriedenen, Andersdenkenden und erst recht der offenen Feinde des Regimes entsprechend den Fortschritten beim »Aufbau des Sozialismus« immer geringer werden müssen. Andererseits war es gefährlich, die Aktivitäten der politischen Gegner angesichts der in weiten Bevölkerungskreisen vorhandenen Unzufriedenheit ungestraft zu lassen. Daher ihre Taktik, die Zahl der politischen Häftlinge zu verringern, aber gleichzeitig den Druck auf die Dissidenten zu verstärken. Das Regime hatte es sich zur Aufgabe gemacht, diese Andersdenkenden geistig zu brechen, »ideologisch unschädlich zu machen«. Später sollten sie sogar aus dem Land gewiesen, aber nicht ins Gefängnis gesperrt werden. Das nannten sie recht umständlich »prophylaktische Arbeit zur Verhinderung von Verbrechen«.
So spiegelte die Zahl der politischen Häftlinge an sich nicht die Stimmung im Land wider, sondern war eher ein Maßstab für menschliche Standhaftigkeit. Die Gebrochenen kamen in der Regel nicht ins Gefängnis. Angesichts dessen waren wir trotzdem nicht wenige. Wie aus dem oben zitierten Bericht Andropows an das ZK vom Dezember 1975 hervorgeht18, wurden in den Jahren 1958-1967 allein wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda 3448 und von 1967 bis 1975 1583 Personen verurteilt.
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Aus nachfolgenden Mitteilungen des KGB geht hervor19, daß es trotz aller Bemühungen und »prophylaktischer Maßnahmen« nicht gelang, dieses Niveau wesentlich zu senken. In der Zeit von 1977 bis 1987 wurden 905 Personen verurteilt. (Die Zahl für 1976 war nicht zu ermitteln.) Dies sind allerdings nur diejenigen Verfolgten, welche das Regime offen als seine Gegner anerkannt hatte. Die in Irrenanstalten Verbrachten, die Ausgewiesenen, die für den Versuch des illegalen Grenzübertritts, des Vaterlandsverrats, wegen »religiöser Delikte« und aufgrund fiktiver Beschuldigungen Verurteilten sind hier nicht mitgezählt. Über sie wissen wir einfach nichts.
Das heißt, in der gesamten Periode nach Stalin ist das Regime mit mindestens 6000 Menschen nicht »fertig geworden«. Selbst noch in der Periode der Gorbatschowschen Freilassungen, als die Eingekerkerten gegen das Versprechen, keine gesellschaftsfeindliche Tätigkeit mehr zu betreiben, unverzüglich entlassen wurden, waren am 15. Januar 1987 in den Gefängnissen und Lagern noch 233, in der Verbannung 55, auf Grund der »antireligiösen« Gesetze in Haft zehn und in den psychiatrischen Kliniken 96 Personen verblieben; 51 waren aus der Straf- und 31 aus der Untersuchungshaft entlassen worden, insgesamt waren also 476 Personen betroffen.20
Die Zahl war jedoch nicht das Entscheidende. Allein die Tatsache, daß es Menschen gab, die das totalitäre Sklavensystem herausforderten und gegen die ganze Wut des Staates standhielten, hatte eine kolossale moralische Bedeutung für das Land — so wie es für einen Gläubigen, der von der Sünde der Welt besudelt ist, wichtig ist zu wissen, daß irgendwo in einem Kloster ebensolche Sterbliche wie er ein »gerechtes Leben« führen. Schon dieses Wissen kann sie mitunter vor der Versuchung bewahren. Auf jeden Fall empfanden sowohl die Aufseher als auch die Strafgefangenen uns gegenüber eine Art Hochachtung. Ich vergesse nie, wie aus dem Lager, in dem ich der einzige politische Häftling war, der dortige Anführer in ein anderes Lager verlegt werden sollte. Er versammelte seine »Diebe« um sich und erteilte ihnen seine letzten Anweisungen. Schließlich sagte er streng, mit dem Finger auf mich weisend: »Den dort müßt ihr schonen. Wir sitzen hier jeder für das Seine, er aber — für das Gemeinsame.«
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Es ist doch erstaunlich, daß die Jahrzehnte des Kommunismus es nicht vermochten, den Menschen solche Auffassungen zu nehmen. Die Aufseher begegneten uns politischen Häftlingen mit fast abergläubischer Ehrfurcht. Überall, sogar im Wladimir-Gefängnis, fand sich einer von ihnen bereit, einen Brief verbotenerweise abzusenden oder eine Nachricht in eine andere Zelle weiterzugeben. Wenn man bedenkt, wieviel und wie ausführlich die ausländischen Radiosender damals über uns berichteten, kann man nur erahnen, welche Wirkung unser Aufenthalt beispielsweise im Gefängnis von Wladimir auf die Bevölkerung der Stadt hatte, besonders während unserer Streiks und Hungerstreiks. Deshalb wollte uns offensichtlich kein Gebietskomitee auf dem Territorium seines Verwaltungsgebiets behalten. Sie dachten sich alle möglichen Gründe aus, um uns loszuwerden, und das ZK wußte nicht immer, wohin es uns weiter verfrachten sollte. Die Debatten hierüber zogen sich über Jahre hin:
»Das Ministerium für Innere Angelegenheiten der UdSSR und das Komitee für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR unterstützt den Vorschlag des Gebietskomitees der KPdSU von Wladimir über die Verlegung der besonders gefährlichen Staatsverbrecher aus dem Gefängnis Nummer 2 der Verwaltung für Innere Angelegenheiten des Gebietsexekutivkomitees Wladimir in eine andere Strafvollzugsanstalt des Ministeriums für Innere Angelegenheiten«, schrieben Tschebrikow und Schtscholokow an das ZK.21
»Die Frage der Verlegung der besonders gefährlichen Staatsverbrecher wurde erneut 1977 von den Behörden erörtert. Damals wurde es aufgrund derselben Erwägungen, die im Schreiben des Gebietskomitees der KPdSU von Wladimir dargelegt sind, für sinnvoll erachtet, die genannten Verbrecher (ihre Zahl liegt zwischen 40 und 60) in das Gefängnis Nummer 4 des Ministeriums für Innere Angelegenheiten der Tatarischen ASSR zu verbringen. Dabei wurde in Betracht gezogen, daß es in der Stadt Tschistopol, wo sich das Gefängnis Nummer 4 befindet, keine militärischen oder sonstigen besonders wichtigen Objekte gibt.
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Die Stadt liegt 144 Kilometer von Kasan entfernt, weitab von den großen Industrie- und Kulturzentren des Landes, und verfügt nicht über entwickelte Verkehrsverbindungen mit anderen Regionen. Das Gefängnis Nummer 4, das im 18. Jahrhundert erbaut wurde, beherbergte in der Vergangenheit keine Revolutionäre und fortschrittlichen Persönlichkeiten ... Der Vorschlag über eine mögliche Verlegung der besonders gefährlichen Staatsverbrecher in das Gefängnis Nummer 4 wurde im Jahre 1977 mit Vertretern des Tatarischen Gebietskomitees der KPdSU erörtert. Da sie befürchten, die Verlegung könnte negative Auswirkungen auf die Lage in der Republik haben, wurde der Vorschlag von ihnen abgelehnt. Das Innenministerium der UdSSR und der KGB beim Ministerrat der UdSSR sind der Meinung, daß keine triftigen Gründe für solche Befürchtungen vorliegen.«
Natürlich war das nur die Spitze des Eisbergs. Eine Vorstellung von der realen Lage kann man aufgrund der Angaben über die geheimpolizeiliche »Prophylaxe« erhalten:
In den letzten fünf Jahren sind 3096 solcher Gruppierungen aufgedeckt worden. 13602 Personen, die ihnen angehörten, sind einer Prophylaxe unterzogen worden; im einzelnen waren es 502 Gruppen mit 2196 Mitgliedern im Jahre 1967, 625 Gruppen mit 2870 Mitgliedern im Jahre 1968, 733 Gruppen mit 3130 Mitgliedern im Jahre 1969, 709 Gruppen mit 3102 Mitgliedern im Jahre 1970 und 527 Gruppen mit 2304 Mitgliedern im Jahre 1971.»Streng geheim
Sonderakte
An das ZK der KPdSU zurückzugeben (Allgemeine Abteilung, 1. Sektor) An alle Mitglieder des Politbüros, Kandidaten des Politbüros und Sekretäre des ZK der KPdSU verschickt
Nummer P1756An das ZK der KPdSU
Entsprechend den Anweisungen des ZK der KPdSU leisten die Organe des Komitees für Staatssicherheit eine große prophylaktische Arbeit zur Verhinderung von Verbrechen, zur Unterbindung von Versuchen organisierter subversiver Tätigkeit nationalistischer, revisionistischer und anderer antisowjetischer Elemente sowie zur Lokalisierung von Gruppierungen politisch schädlichen Charakters, die sich an einigen Orten herausbilden.
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Nach unserer Ansicht würde ein solches Vorgehen das moralische Verantwortungsgefühl der einer Prophylaxe Unterzogenen wesentlich erhöhen, und es hätte, sollten diese Personen kriminelle Handlungen begehen und strafrechtlich belangt werden, Bedeutung für die Einschätzung der Persönlichkeit des Verbrechers durch die Ermittlungsorgane und das Gericht.Derartige Gruppen wurden in Moskau, Swerdlovsk, Tula, Wladimir, Omsk, Kasan, Tjumen, in der Ukraine, in Lettland, Litauen, Estland, Weißrußland, Moldawien, Kasachstan und an anderen Orten aufgedeckt.
Infolge der getroffenen Maßnahmen hat sich die Zahl der jährlichen Verhaftungen wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda merklich verringert.
Die Mehrzahl der prophylaktisch Bebandelten bat die richtigen Schlußfolgerungen gezogen, sich aktiv in das gesellschaftliche Leben eingefügt und erfüllt gewissenhaft die ihnen zugewiesene Tätigkeit im Produktions- und Verwaltungsbereich, jedoch gehen einige von ihr weiterhin Aktivitäten nach, die unter bestimmten Bedingungen verbrecherischen Charakter annehmen und den Interessen unseres Staates erheblichen Schaden zufügen können.
Zur Verstärkung der Vorbeugung gegenüber Personen, die auf dem Weg dazu sind, besonders gefährliche Verbrechen zu begeben, sowie zur entschlossenen Unterbindung unerwünschter Handlungen seitens gesellschaftsfeindlicher Elemente wird es für zweckmäßig erachtet, den Organen des KGB zu erlauben, erforderlichenfalls offizielle schriftliche Warnungen im Namen der Organe der Staatsmacht zu erteilen, in denen die Einstellung der schädlichen politischen Aktivitäten gefordert und die Folgen erläutert werden, die bei ihrer Fortsetzung eintreten können.
Die Entwürfe für einen Beschluß des ZK der KPdSU und einen Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR werden beigefügt.
Wir bitten um Behandlung der Angelegenheit.
J. ANDROPOW
R. RUDENKO
11. Oktober 1972
Nummer 2594-A«
Natürlich wurde ihre Bitte erfüllt, und ein entsprechender Erlaß des Präsidenten des Obersten Sowjets der UdSSR folgte am 25. Dezember 1972.22
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Trotz aller Bemühungen der Tschekisten nahm seltsamer-weise der Widerstand im Land zu. So berichtete Andropow drei Jahre nach der Verabschiedung des Erlasses:
»In der Zeit von 1971 bis 1974 wurden 63.108 Personen einer Prophylaxe unterzogen. In dieser Periode ist mittels Prophylaxe die Tätigkeit von 1839 antisowjetischen Gruppen im Stadium ihrer Entstehung verhindert worden.«23
Die Zahl der Gruppen hatte sich im Jahresdurchschnitt nicht verringert, und die Zahl der einer »Prophylaxe Unterzogenen« war etwa um das Zehnfache gestiegen. Nicht alle aktiven Feinde des KGB wurden einer Prophylaxe unterzogen: »Neben der Prophylaxe wurden und werden auch weiterhin operative und andere Maßnahmen ergriffen, die nicht mit einer strafrechtlichen Verfolgung verbunden sind«, fuhr Andropow in seinem Bericht fort.
»Es ist gelungen, eine Reihe gefährlicher Gruppierungen mit nationalistischer, revisionistischer und anderen antisowjetischen Ausrichtungen im Stadium ihrer Entwicklung aufzulösen. Die Kompromittierung der Autoritäten, die diese gesellschaftsfeindlichen Erscheinungen inspiriert haben, führte dazu, daß unerwünschte Folgen in einigen Gebieten des Landes verhindert werden konnten. Es haben sich auch Maßnahmen wie die Aberkennung der sowjetischen Staatsbürgerschaft und die Ausweisung ins Ausland bewährt ... Zu einer Beruhigung der operativen Lage hat auch die Erteilung der Genehmigung an zahlreiche Extremisten zur Ausreise nach Israel beigetragen.«
Waren wir also viele oder wenige? Andropow glaubte, daß allein unter der erwachsenen Bevölkerung, die den Krieg überlebt hat, »sich die Zahl solcher Personen auf Hunderttausende beläuft.« Ich glaube jedoch, daß er ihre Zahl stark unterschätzte.
So werden in seinen Rechenschaftsberichten die »bestraften« (unter Stalin vertriebenen) Völker, die religiösen Bewegungen, insbesondere die verbotenen Konfessionen, fast überhaupt nicht erwähnt. Das waren doch Millionen von Menschen, für die die Sowjetunion ein Gefängnis war, und zu ihnen hatten wir bereits seit den sechziger Jahren Kontakte.
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»Das Komitee für Staatssicherheit hat auf operativen Wegen Informationen darüber erhalten, daß GRIGORENKO in einem Gespräch mit einem seiner Bekannten erklärt hat, ihm sei die Absicht von Vertretern der >Autonomisten< der Krim bekannt, einen Appell an die UNO auszuarbeiten und zu übermitteln, der von 250.000 Tataren unterschrieben werden solle und in dem die UNO zur Unterstützung ihrer Forderungen aufgerufen werde. GRIGORENKO, der diese Aktion gutheißt, erklärte, daß sie eine >kolossale Resonanz< haben werde«, teilte Andropow dem ZK mit.24)
»Das Komitee für Staatssicherheit unternimmt Maßnahmen zur Verhinderung möglicher feindlicher Handlungen seitens der nationalistisch eingestellten Krimtataren und anderer gesellschaftsfeindlicher Elemente.«
Noch ein kleines Beispiel aus jener Zeit:
»Dem Komitee für Staatssicherheit liegen Informationen über die Absicht einzelner in Kasachstan und Moldawien lebender deutscher Extremisten vor, für den Fall, daß ihre Forderung, in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen zu dürfen, nicht erfüllt wird, Sowjetbürger deutscher Nationalität zur massenweisen Verweigerung der Teilnahme an den Wahlen zu den Obersten Sowjets der Republiken und der örtlichen Sowjets der Deputierten der Werktätigen zu veranlassen ...
Gleichzeitig organisierte der >Aktivist< der sogenannten Bewegung für die Ausreise der Deutschen in die Bundesrepublik Deutschland< LEIS (Moldawien) in den Tagen vor der Wahl einen kollektiven Gang der Deutschen (70 Personen), die die Genehmigung ihrer Anträge auf Ausreise aus der UdSSR verlangen, zum Innenministerium und zum KGB. Die Extremisten aus Kasachstan verfaßten eine Reihe von Appellen verleumderischen Inhalts, die mit gesammelten Unterschriften an internationale Organisationen geschickt werden sollten. Sie versuchten, einen Vertreter nach Moskau zu entsenden, der sie an ausländische Korrespondenten übergeben oder über Andrej SACHAROW ins Ausland weiterleiten sollte ...
Am 7. Juni 1975 wurden auf dem Bahnhof in Dschambul einem gewissen TERMER, der nach Moskau fahren wollte, >Appelle< an die UNO, an die Genfer Konferenz, den Kanzler der Bundesrepublik Deutschland und andere Empfänger im Namen von 900 deutschen Familien (mehr als 6000 Personen) mit einer tendenziösen Schilderung der Lage der Deutschen in der UdSSR und der Bitte um Hilfe bei der Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland abgenommen.«25
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Das Leben in der UdSSR konnte also nur westlichen Politikern ruhig und friedlich erscheinen, ihre sowjetischen Kollegen wußten sehr wohl, auf welchem Vulkan sie saßen. Es knisterte im Gebälk des Imperiums lange vor Gorbatschow.
»Bei einem gewissen Teil der alteingesessenen Bevölkerung des autonomen Gebiets der Karatschaier und Tscherkessen sind negative Prozesse zu beobachten, die von nationalistischen und antirussischen Strömungen bestimmt sind. Vor diesem Hintergrund finden gesellschaftsfeindliche Handlungen und auch Straftaten statt. Es werden Maßnahmen zur Vorbeugung und Unterbindung getroffen.«26 Dort handelte es sich bereits um Morde und Massenunruhen.
Tataren und Deutsche, Juden und Balten, Ukrainer und Moldawier kämpften vereinzelt und in Gruppen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln für ihre nationale Eigenständigkeit. Aber die Fäden liefen von allen Enden des riesigen Landes in Moskau zusammen, wo unsere Verbindungskanäle, unsere Kontaktmöglichkeiten mit der Außenwelt und unsere Form der Glasnost, also eine Art Gegenöffentlichkeit, genutzt wurden. Wir Dissidenten waren für sie das inspirierende Beispiel und der organisierende Faktor. Andropow hatte also guten Grund zur Beunruhigung. Das Politbüro konnte nicht umhin, jede unserer Regungen zu verfolgen.
Schließlich waren die passivsten Formen des Widerstandes — Mitgliedschaft in verbotenen Religionsgemeinschaften, Verbreitung von Samisdat-Literatur, anonyme Proteste — auch die am meisten verbreiteten. Wie soll jetzt festgestellt werden, wie viele Millionen Menschen in diese Tätigkeiten einbezogen waren? Selbst der KGB konnte das nicht hundertprozentig.
Die religiösen Verfolgungen kann man zahlenmäßig festhalten — im Durchschnitt wurden zwei- bis dreihundert Personen im Jahr eingesperrt27 und an die 10000 einer Prophylaxe unterzogen, doch eine genaue Zahl der Gläubigen kann nicht festgestellt werden. Ebenso unmöglich ist es, die Zahl derer festzustellen, die das Samisdat-Material lasen, vervielfältigten und weitergaben. Es handelte sich ohne Zweifel um Millionen. Deshalb mußte auch das Politbüro dieses Material lesen: Sie wollten doch wissen, was Millionen von Menschen in dem von ihnen beherrschten Land lasen, in dem kein einziges Komma auf einem Etikett ohne Genehmigung durch die Zensur gesetzt werden durfte.
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Diese Frage wurde allein 1971 dreimal im ZK erörtert und danach wurde fast jedes Jahr erneut darüber beraten.28 »Die Analyse der sogenannten <Samisdat>-Literatur, die in den Kreisen der Intelligenzija und der studierenden Jugend Verbreitung findet, zeigt, daß im <Samisdat> in den letzten Jahren qualitative Veränderungen vor sich gegangen sind«, berichtete Andropow im Dezember 1970.29
»Während vor fünf Jahren in erster Linie die Weitergabe ideologisch schädlicher schöngeistiger Literatur beobachtet wurde, so finden gegenwärtig immer mehr Dokumente politisch-programmatischen Charakters Verbreitung. Seit 1965 sind mehr als 400 verschiedene Untersuchungen und Aufsätze über wirtschaftliche, politische und philosophische Fragen erschienen, in denen aus verschiedenen Perspektiven die historische Erfahrung des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion kritisiert, die Innen- und Außenpolitik der UdSSR analysiert wird und verschiedene Programme für oppositionelle Aktivitäten vorgelegt werden ... Aufgrund der Herstellung und Verbreitung der >Samisdat<-Literatur erfolgt eine bestimmte Konsolidierung unter den Gesinnungsgenossen, es werden deutliche Versuche der Schaffung einer Art Opposition festgestellt.
Ungefähr Ende 1968 / Anfang 1969 bildete sich aus den oppositionell eingestellten Elementen ein politischer Kern, der sich >demokratische Bewegung< nennt und nach eigener Einschätzung die drei Merkmale einer Opposition besitzt: >Es gibt eine Führung, Aktivisten und eine beträchtliche Zahl von Sympathisanten; ohne eine klare Organisationsform anzunehmen, stellt sie sich klar definierte Ziele, wählt eine bestimmte Taktik und strebt ihre Legalisierung an.<
... Die Zentren für die Verbreitung der unzensierten Materialien bleiben Moskau, Leningrad, Kiew, Gorki, Nowosibirsk und Charkow. In diesen und anderen Städten sind etwa 300 Personen ausfindig gemacht worden, die sich >Antistalinisten<, >Kämpfer für demokratische Rechte<, >Mitglieder der demokratischen Bewegung< nennen und einzelne Dokumente sowie auch Sammelbände — <Chronik der laufenden Ereignisse> <Bote der Ukraine> <Gesellschaftliche Probleme> und andere — herausgeben. Eine Gruppe zionistisch eingestellter Elemente in Moskau, Leningrad und Riga begann im Jahre 1970 mit der Herausgabe einer Zeitschrift mit dem Titel >Exodus<.
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... Das Komitee für Staatssicherheit ergreift die erforderlichen Maßnahmen zur Unterbindung der Versuche einzelner Personen, den >Samisdat< zur Verbreitung von Verleumdungen der sowjetischen Staats- und Gesellschaftsordnung zu benutzen. Aufgrund der geltenden Gesetze wurden sie strafrechtlich belangt, und gegen Personen, die unter ihren Einfluß geraten sind, werden prophylaktische Maßnahmen ergriffen.
Im Zusammenhang damit wird es angesichts der ideellen Wandlung des >Samisdat< zu einer Plattform zur Propagierung oppositioneller Stimmungen und Ansichten und der Bestrebungen der imperialistischen Reaktion, die >Samisdat<-Literatur zu antisowjetischen Zwecken auszunutzen, für angebracht gehalten, den ideologischen Apparat anzuweisen, aufgrund des Studiums des Problems die notwendigen ideologischen und politischen Maßnahmen zur Neutralisierung und Entlarvung der im >Samisdat< zum Ausdruck gebrachten antibolschewistischen Tendenzen vorzubereiten sowie Vorschläge zu machen, wie in der Politik den Faktoren, die die Entstehung und Verbreitung der >Samisdat<-Materialien fördern, Rechnung getragen werden kann.«
Das Regime erkannte uns als politische Opposition an und war trotz seiner äußerlichen Starrheit bereit, seinen Kurs entsprechend zu ändern. Andererseits war es nicht mehr zu politischer Flexibilität fähig. Als das ZK schließlich die Verordnung »Über Maßnahmen gegen die illegale Verbreitung von antisowjetischen und anderen politisch schädlichen Materialien« verabschiedete, erwies sich diese als ein überaus unsinniges Dokument, das sich mit einer Kombination von repressiven und erzieherisch-propagandistischen Maßnahmen begnügte.30
Das einzige Zugeständnis war der letzte, neunte Punkt des Programms:
»Die Kulturabteilung des ZK der KPdSU, das Pressekomitee beim Ministerrat der UdSSR und der Schriftstellerverband der UdSSR sollen die Frage über die Zweckmäßigkeit der Herausgabe der Werke von Schriftstellern prüfen, denen seitens eines Teils der schöpferisch Tätigen und Studierenden Interesse entgegengebracht wird und deren Werke seit den zwanziger Jahren nicht mehr erschienen sind und dem ZK der KPdSU diesbezügliche Vorschläge machen.«
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Das Ergebnis war anscheinend die Herausgabe der Gedichte Gumiljows — in einer sehr geringen Auflage. Aber das Anwachsen des Samisdat konnte dadurch nicht gebremst werden. Er entwickelte sich weiter, schuf eine Alternative zur offiziellen Presse und bereitete Andropow Kopfschmerzen. Es entstanden neue Formen — Kinosamisdat, Magnetisdat und so weiter. Es bildete sich praktisch eine alternative Kultur heraus, wodurch die Kontrolle der Partei über die schöpferische Intelligenz und besonders über die Jugend geschwächt wurde.
Eine umfangreiche Studie31, die vom KGB 1976 erstellt wurde, lieferte äußerst interessante Angaben, obwohl in ihr der Versuch unternommen wurde, alles dem Einfluß der bürgerlichen Propaganda und den westlichen »subversiven Zentren« zuzuschreiben. Von den 3324 gesellschaftsfeindlichen Handlungen, die innerhalb von drei Jahren von 4406 Jugendlichen begangen wurden, entfielen 60,3 Prozent auf Studenten und 22,4 Prozent auf Schüler. 3174 Personen (72 Prozent) begingen die Handlungen allein, die übrigen 1232 in 384 Gruppen.
Handlungen, die aufgrund von sozialismusfeindlichen ideologischen Positionen begangen wurden, machten 32,4 Prozent der Gesamtzahl der Handlungen aus. Sie wurden von 1269 Personen (29 Prozent) begangen.
Es handelte sich also um Personen, die ihre ideologische Position deutlich formulieren konnten (oder wagten, es zu tun). Aber auch die »Nicht-Ideologischen« waren nicht besser:
»Die Teilnehmer der in Moskau, Leningrad, Kiew, Vilnius, Tallinn, Rostow am Don, Odessa und einigen anderen Städten aufgedeckten Gruppen sogenannter Nachahmer der westlichen >Hippies< traten für eine Erneuerung der moralisch-ethischen Normen des sozialistischen Zusammenlebens ein, stellten die revolutionären Traditionen der Vergangenheit und das geistige Erbe der >konservativen< Väter in Frage und riefen zur Überwindung der >Trägheit< und zum >Kampf für die Freiheit und eine demokratische Gesellschaft< auf der Grundlage der Ideen der >Hippies< auf.«
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Form der Handlung |
Anzahl der Handlungen |
Anzahl der Personen |
Verleumderische und andere politisch schädliche Äußerungen |
1509 |
1598 |
Teilnahme an Gruppenhandlungen zur Störung der öffentlichen Ordnung |
99 |
495 |
Teilnahme an gesellschaftsfeindlichen Handlungen, die auf Nachahmung der Hippies beruhen |
182 |
382 |
Verfertigung und Verteilung verleumderischer und ideologisch schädlicher Schriften (außer Flugblättern) |
252 |
323 |
Verfertigung und Verbreitung von Flugblättern, Losungen und Plakaten |
167 |
277 |
Schmähung des Staatswappens, der Flagge, von Denkmälern und Porträts |
90 |
115 |
Mündliche und schriftliche Drohungen gegen Personen des sowjetischen Parteiaktivs |
50 |
53 |
Übermittlung (versuchte Übermittlung) verleumderischer und ideologisch schädlicher Materialien ins Ausland |
26 |
33 |
Verfertigung und Verbreitung anonymer Briefe verleumderischen und ideologisch schädlichen Inhalts |
33 |
32 |
Versuch der Kontaktaufnahme und Verbindung mit ausländischen antisowjetischen Zentren |
16 |
17 |
Anfertigung und Aufhängen nationalistischer Flaggen |
6 |
15 |
Andere Handlungen |
894 |
1066 |
157
Art der feindlichen Ideologie
Anzahl der Handlungen
Anzahl der Personen
Ideologie des bürgerlichen Nationalismus (außer Zionismus)
364 33,7%
674 43 %
Ideologie des Zionismus und proisraelische Stimmungen
188 17,5%
242 15 %
Ideologie des Revisionismus und Reformismus
377 35%
445 28 %
Religiöse Ideologie
88 8,2%
128 8 %
Ideologie (Ansichten) des Faschismus und Neonazismus
60 5,6%
80 6 %
Nicht uninteressant sind auch die Angaben aus anderen Untersuchungen, die in diesem Bericht angeführt wurden. So geht aus der Studie »Die Hörerschaft der westlichen Radiosender in Moskau«, die vom Institut für Soziologische Forschungen der Akademie der Wissenschaften der UdSSR angefertigt wurde, hervor, daß »80 Prozent der Studenten und etwa 90 Prozent der Schüler in den höheren Klassen der Ober-, Städtischen Berufs- und Fachschulen mehr oder weniger regelmäßig diese Radiosender hören. Bei der Mehrzahl dieser Personen ist das Hören ausländischer Sender zur Gewohnheit geworden (32 Prozent der Studenten und 59,2 Prozent der Schüler hören mindestens ein- bis zweimal pro Woche ausländische Radiosendungen).« Es war auch unsere Hörerschaft. Sie wurde aus London, München und Washington über unsere Tätigkeit informiert. Diese Generation der Dreißig- und Vierzigjährigen ging fünfzehn Jahre später auf die Straße.
»Viele der einer Prophylaxe unterzogenen Studenten gaben an, daß die ideologisch feindlichen Radiosendungen auf Tonband aufgenommen und dann in Form von Tonbandkopien oder mit Schreibmaschine vervielfältigten Texten verbreitet wurden.
Im einzelnen erhielten sie über diesen Kanal Informationen über verschiedene antisowjetische Erklärungen und Schmähschriften SOLSCHENIZYNS, das Traktat >Gedanken über Frieden, Fortschritt und geistige Freiheit< SACHAROWS, verschiedene Untersuchungen<, >Appelle< und andere Schriften verleumderischen Inhalts, in denen die sowjetische Wirklichkeit entstellt dargestellt wird.
Das illegal im Lande hergestellte Material übt den stärksten Einfluß aus.«
Gleichzeitig werden in dem Bericht das sinkende Interesse am Studium der marxistisch-leninistischen Theorie an den Hochschulen und die »Passivität eines bestimmten Teils der Studenten hinsichtlich des gesellschaftlich-politischen Lebens der Kollektive« konstatiert. Es gibt also gute Gründe zur Annahme, daß in den siebziger Jahren das Regime den größten Teil der Jugend »verloren« hatte und unser Einfluß auf sie ständig wuchs.
Was hatte die altersschwache, durch und durch bürokratisierte Partei dieser für sie so gefährlichen Erscheinung entgegenzusetzen? Nichts als Repression, Prophylaxe, das heißt die Drohung mit Repressionen, sowie die weitere Verstärkung der Propaganda, der ohnehin schon alle überdrüssig waren.
In einem Rechenschaftsbericht über die geleistete Arbeit des kommunistischen Regimes wenige Jahre vor dem Zusammenbruch teilten der KGB-Chef Tschebrikow, der Generalstaatsanwalt Rekunkow, der Justizminister Krawzow und der Präsident des Obersten Gerichts Terebilow dem ZK voller Stolz mit:32)
»Zum Zweck der Entlarvung der subversiven Tätigkeit der imperialistischen Geheimdienste und der mit ihnen verbundenen feindlichen Elemente unter den Sowjetbürgern wurde eine umfangreiche Arbeit unter Nutzung der Massenmedien durchgeführt. In den letzten zehn Jahren wurden 150 Kino- und Fernsehfilme unter Beteiligung und auf Grund von Materialien der Staatssicherheitsorgane hergestellt (im wesentlichen dokumentarische Kurzfilme und Wochenschauen); innerhalb von vier Jahren wurden 262 Bücher und Broschüren herausgegeben, 178 Artikel in Zeitschriften und 250 in Zeitungen publiziert. Zu diesen Fragen werden von den Mitarbeitern der KGB-Organe, der Staatsanwaltschaft, des Gerichts und der Justiz ständig Propagandaveranstaltungen durchgeführt. Unter Heranziehung der Öffentlichkeit wird systematisch Erziehungsarbeit mit den Verurteilten am Ort der Strafverbüßung geleistet, was durchaus positive Resultate zeitigt.«
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