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3.4 Zweckmäßigkeit oder Gesetzmäßigkeit

 Bukowski-1995

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»Sehr geehrte Herren Richter! Heute ist für mich ein ungewöhnlicher Tag, zum erstenmal in meinem Leben stehe ich in dieser Stadt nicht als Angeklagter, sondern als Zeuge vor Gericht ...«

Die Komik der Situation verstärkte sich dadurch, daß ich, als ich 1967 das erstemal angeklagt war, von genau denselben Dingen gesprochen hatte — nämlich daß sowohl die KPdSU als auch die von ihr zu verantwortenden politischen Repressionen gesetz- und verfassungswidrig seien. Jetzt, 25 Jahre später, im Verfassungsgericht Rußlands bei dem Prozeß gegen die KPdSU, hätte ich meine Ansprache von damals Wort für Wort wiederholen können, ohne daß irgend jemand etwas gemerkt hätte. 

Ich erinnerte mich daran, wie ich mich damals auf mein »letztes« Wort vor Gericht vorbereitet hatte (bis dahin war ich zweimal für unzurechnungs­fähig erklärt und in Abwesenheit verurteilt worden), wie ich mir durch Drohung mit Hungerstreik von der Leitung des Gefängnisses von Lefortowo Gesetzbücher beschaffte und sie sogar dazu zwang, ein Exemplar der Verfassung der UdSSR zu kaufen. Im ganzen Untersuchungs­gefängnis des KGB gab es kein einziges Exemplar. 

Dann — die banale Trostlosigkeit des Gerichtsverfahrens und das gespannte Warten auf das Ende, bei dem mir »das letzte Wort« zustand, die einzige Form der unzensierten Äußerung im Land. (Freilich, sie konnten mich unterbrechen und nicht ausreden lassen. Auch das kam vor.) Und schließlich der Höhepunkt des ganzen Dramas, als ich, die KGB-Verfassung hin- und herschwenkend, es fertigbrachte, fast anderthalb Stunden zu sprechen, wobei ich jeden Augenblick eine Rüge seitens des Richters erwartete. Daher war ich in der Frage der »Verfassungswidrigkeit der KPdSU« wirklich ein Experte. Während das damals jedoch als »Verleumdung der UdSSR« galt, so war es jetzt die höchste Staatsweisheit, die durch die Autorität des Präsidenten Rußlands gestützt wurde.

Sollte ich mich darüber freuen oder betrübt sein, vielleicht sogar stolz sein, daß ich meinen Landsleuten ein Vierteljahrhundert voraus gewesen war? Oder fassungslos darüber sein, daß ihnen diese einfache Weisheit nicht schon vor zweieinhalb Jahrzehnten aufgegangen war?

Die klare Ausrichtung unserer Bewegung auf die Verteidigung von Bürgerrechten ist oft auf Unverständnis und sogar Kritik gestoßen. Jeder sah und wußte, wie es um die Gesetzestreue der Partei stand, doch welchen Sinn sollten unsere Forderungen haben?

»Wollt ihr vielleicht die Sowjetmacht vervollkommnen?« geiferten die Sowjetmenschen — meistens solche, die meinten, wir seien ohnehin viel zu wenige, als daß man sich uns anschließen sollte.

»Sagen Sie, wann hört Ihre Bewegung endlich auf, sich auf die sowjetischen Gesetze zu berufen, und geht zu offenen Taten über?« sprachen im Westen diejenigen, welche nie unter dem Stiefel des Regimes gelebt hatten.

Es war unmöglich, einer bestimmten Sorte von Leuten zu erklären, daß die Tatsache, daß sich unsere Bewegung auf Recht und Gesetz berief, keine Mimikry, kein taktisches Manöver war, sondern Verzicht auf Gewalt und Untergrundtätigkeit bedeutete und unserer Grundhaltung entsprach. Das Problem lag also eigentlich nicht darin, daß unsere Position schwer verständlich war.

Verstand denn nicht schon in den sechziger Jahren jeder, daß Gewalt nicht zu einem Rechtsstaat führt und Untergrundarbeit nicht zu einer freien Gesellschaft? Von einem pragmatischen Standpunkt aus hätte man argumentieren können: Wenn es schon im Land nicht genügend Leute gibt, die ihre gesetzmäßigen Rechte einzufordern wagen, woher sollten dann die Tapferen kommen, die mit Waffen gegen den KGB, den Parteiapparat und den Großteil der Sowjetarmee losgehen würden? Wenn es jedoch eines Tages genügend Leute sein würden, die ihre Rechte einfordern, dann braucht nicht mehr geschossen zu werden.

Man begegnete uns mit Ausreden und Selbstrechtfertigungen. Der Sowjetmensch konnte es nicht über sich bringen, irgend etwas von einer atomaren Supermacht zu fordern. Stehlen konnte er, aber fordern — da versagte ihm die Stimme. Viele konnten sich nicht einmal dazu entschließen, mit den Machthabern wenigstens nicht länger zusammenzuarbeiten.


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Deshalb mußte es jemand vor ihrer aller Augen, in aller Öffentlichkeit, ganz demonstrativ tun, um den mystischen, irrationalen Schrecken vor der Staatsmacht, den Nimbus ihrer Allmacht hinwegzublasen. In diesem Sinne konnte für die Staatsmacht nichts verhängnisvoller sein als eine Demonstration ihrer Ineffektivität auf der einen und ihrer Gesetzlosigkeit auf der anderen Seite.

Ja, und was hätte man denn noch tun können? Flugblätter verteilen oder mit einigen Freunden Untergrund-»Parteien« gründen — das konnten schon Schulkinder, aber selbst die verstanden, daß das zu nichts führt. Es waren Formen einer legalen Opposition erforderlich, durch die die unabhängigen gesellschaftlichen Kräfte im Land hätten geeint und gestärkt werden können. Legale Formen, das bedeutet — solche, bei denen die Gesetze geachtet und in ihrem Rahmen gehandelt wurde.

Das Regime hatte indessen seine Probleme mit dem Gesetz, die es von den Tagen der Revolution bis zum Schluß nicht lösen konnte. Vor allem deshalb, weil eine Ideologie ganz allgemein und die marxistisch-leninistische insbesondere mit dem Begriff »Gesetz« unvereinbar ist. Ideologie — das ist Legende, Mythos und somit widersprüchlich, während der Sinn des Gesetzes seine innere Eindeutigkeit ist. Um so widersprüchlicher war die kommunistische Praxis, die ein Kompromiß zwischen Ideologie und Realität war. Was im Augenblick »richtig« und »nicht richtig« war, wußten nur die ganz oben. Sogar bei geheimen Instruktionen mußte man wissen, wie sie zu interpretieren waren.

Tatsächlich existierte das Gesetz nur auf dem Papier. Das Land wurde durch zahllose Verordnungen oder Beschlüsse der Verwaltungs­organe, der Staatsorgane oder der Partei, die sich häufig widersprachen und größtenteils geheim waren, regiert. Selbst die Partei hatte nicht genügend Kraft, Klarheit und Eindeutigkeit in diesen Wirrwarr zu bringen. Es gedieh das »Telefonrecht«: Der Anruf des Parteichefs war gleichbedeutend mit einem legislativen Akt.

Gesetz und Recht waren deshalb von Anfang an unsere Waffe, weil die Staatsmacht sich dieser Waffe gegen uns bediente. Man muß uns zugestehen, daß wir diese Waffe so vervollkommnet haben, daß jeder Prozeß gegen einen von uns sich in eine moralische Niederlage der Staatsmacht verwandelte.


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Das zeigte sich darin, daß die Prozesse gegen uns — im Gegensatz zu Stalins Schauprozessen — weitestgehend geheim geführt wurden. Sie wurden, soweit das physisch möglich war, vor dem Publikum versteckt, und wenn sie in der Presse erwähnt wurden, dann nur zu dem Zweck, um den »Verleumdungen der bürgerlichen Propaganda« zu widersprechen.

Natürlich war es nicht leicht, einen solchen Status zu erreichen. Es erforderte große Selbstbeherrschung, ein genau kalkuliertes Verhalten, mit dem erreicht werden sollte, daß man nicht einfach saß, sondern »zu den eigenen Bedingungen« saß. Der Schaden mußte für das System so groß wie möglich sein, das heißt, dieses mußte das Gesetz auf die größtmögliche Weise verletzen. So organisierte ich 1967 nicht einfach eine Demonstration und ging für drei Jahre ins Gefängnis — nein, ich versuchte, die Verfassungswidrigkeit des Artikels 190/3 des Strafgesetzbuches zu beweisen. So waren auch die Demonstrationen und die Argumente, die wir uns zurechtgelegt hatten, für die Ermittlungen und das Gerichtsverfahren darauf ausgerichtet, daß die Staatsmacht uns nur im Widerstreit mit dem Gesetz und bei Verzicht auf jeden Anschein von Legalität verurteilen konnte, im vorliegenden Fall im Widerstreit mit dem Verfassungsartikel, der die Demonstrationsfreiheit gewährleistete. 

Ich muß sagen, daß mir das damals großartig gelungen ist. Sogar der Direktor des Lefortowo-Gefängnisses gab offen zu, daß wir »gesetzwidrig« eingesperrt worden waren. Die Staatsanwaltschaft lehnte es unter einem passenden Vorwand ab, sich mit der Sache zu befassen, und mein KGB-Untersuchungsrichter schüttelte nur traurig den Kopf. Nicht zufällig mußte das Politbüro eine Sitzung anberaumen, um den Beschluß zu fassen, daß eine verlogene Meldung über diesen Fall in der Zeitung gedruckt werden soll. Für mich war das so etwas wie eine Goldmedaille oder die Verleihung eines wissenschaftlichen Grades.

Wahrscheinlich wird es nachfolgenden Generationen schwerfallen, zu verstehen, welchen praktischen Sinn dies alles hatte, um so mehr, als wir im engen, pragmatischen Sinne keine praktischen Ziele verfolgten. Selbstverständlich erwartete niemand, daß die Sowjetmacht durch die Prozesse gegen uns, durch den Samisdat oder die winzigen, rein symbolischen Demonstrationen zusammenbräche.


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Und natürlich hat auch keiner eine »Verbesserung« des Regimes erwartet. Das Paradox bestand gerade darin, daß unsere Bewegung, die einen so großen politischen Einfluß ausübte, eigentlich keinen politischen, sondern einen sittlich-moralischen Charakter hatte. Was uns im Grunde stimulierte, war nicht der Wunsch, das System zu verändern, sondern der, an seinen Verbrechen nicht beteiligt zu sein. Alles andere kam später als logische Folge aus dieser Position hinzu.

Die Position der »Nichtteilnahme« entstand ihrerseits als Reaktion der Gesellschaft auf die Stalinschen Repressionen — genauer auf ihre — wenn auch nur teilweise — Aufdeckung unter Chruschtschow. Die Gesellschaft, zumindest ihr bester Teil, wurde von der Frage gequält, wie es zu derartig entsetzlichen Verbrechen kommen konnte und wer die Schuld daran trug. Sie kam unwillkürlich zu dem Schluß, daß jeden ein Teil der Schuld traf: alle waren freiwillig oder unfreiwillig, passiv oder aktiv Mittäter, nicht nur diejenigen, welche hingerichtet und gefoltert, sondern auch diejenigen, welche auf den Versammlungen die Hand gehoben und damit die Gewalttaten »einstimmig« gebilligt hatten; nicht nur diejenigen, welche befohlen, sondern auch diejenigen, welche ergeben geschwiegen hatten.

Alexander Galitsch drückt es folgendermaßen aus:

Das Schweigen, das Schweigen, das Schweigen 
Reiht ein dich in der Mörder Reigen.
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Ebenso wie im Nachkriegsdeutschland hatte das natürlich eine besonders starke Wirkung auf die nachfolgenden Generationen, die an den Verbrechen ihrer Väter unbeteiligt waren. So ist nun einmal das Leben, daß die Kinder für die Sünden ihrer Eltern büßen müssen. Obwohl die sowjetischen Führer nicht in Nürnberg auf der Anklagebank saßen, galt im weiteren Sinne das Urteil dieses Tribunals in vollem Umfang auch für sie. Wir mußten uns — ebenso wie unsere deutschen Altersgenossen — daran erinnern, daß weder die Meinung der Mehrheit noch der Befehl der Obrigkeit, ja nicht einmal die Gefahr für das eigene Leben uns von der Verantwortung für die eigene Wahl entbindet. Für uns bedeutete das aber — anders als für sie — die Konfrontation mit unserem noch nicht zerschlagenen Reich, mit dem zudem noch der Westen eine »friedliche Koexistenz« anstrebte.


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Wir konnten also nicht von irgendwelchen praktischen Zielen träumen. Selbst eine Definition dessen, was wir als unseren »Sieg« angesehen hätten, wollte keiner geben. Unsere Aufgabe war es, immer wieder die Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Gesetz und seiner ungeschriebenen ideologischen Interpretation aufzuzeigen, und somit die Machthaber zu zwingen, so weit wie möglich ihr gesetzwidriges Wesen zu offenbaren. Was das für einen selbst für Folgen hatte — darüber dachte man besser nicht nach. Etwas anderes als die Höchststrafe hatte man ohnehin nicht zu erwarten. Deshalb war es wichtig, unabhängig von irgendwelchen praktischen Resultaten all das zu tun, was von einem selbst abhing, um danach mit reinem Gewissen seine Strafe abzusitzen. Allmählich wurde unter Sieg immer mehr das Recht verstanden, seinen Nachkommen sagen zu können:
     »Ich habe getan, was ich konnte.«

Als ich jetzt, nach 25 Jahren, die uns betreffenden Dokumente des ZK betrachtete, mußte ich mit Erstaunen feststellen, daß so gut wie jedes von ihnen auf den Tisch des 1992 stattgefundenen Gerichts hätte gelegt werden können, als ob sich unsere Bewegung viele Jahrzehnte nur damit befaßt hätte, ein Verfassungs­gerichts­verfahren gegen die KPdSU vorzubereiten ... Diese Bewegung begann, zumindest formal, mit unserer ersten Demonstration 1965 unter der Losung »Achtet die eigene Verfassung!« und mit der Forderung nach Glasnost. Es ist kaum zu glauben!

 

   

5.   Der Kampf um Öffentlichkeit

 

 

Damals, im Dezember 1965, ließen wir uns zum erstenmal auf einen offenen Kampf mit dem Regime ein. Anlaß war der Sinjawski-Daniel-Prozeß, der damals viel Aufsehen erregte: Es ging um zwei Schriftsteller, die heimlich im Westen ihre Bücher publiziert hatten. Das Kuriose an der Situation war, daß vom ganzen Land wie zu Stalins Zeiten verlangt wurde, »einstimmig die Abtrünnigen und Heuchler zu verurteilen«, ohne jemals ihre Bücher zu Gesicht bekommen zu haben.


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 Damals kam auch die Rede von der Glasnost, das heißt Öffentlichkeit, Transparenz, auf. Unser »Gesetzes­spezialist« Alexander Wolpin hatte es in der Strafprozeßordnung im Teil über die »Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen« gefunden.34

Die von uns dahingehende Forderung kam für das Regime überraschend. Das hatte es noch nie gegeben, daß ein Sowjetbürger etwas forderte. So waren sie gezwungen, ihre eigene Glasnost zu erfinden:

»Zur Zeit werden vom Komitee für Staatssicherheit gemeinsam mit der Kulturabteilung des Zentralkomitees und dem Schriftstellerverband übereinstimmende Veröffentlichungen in der Presse vorbereitet, in denen der wahre Charakter der >literarischen Tätigkeit< von Sinjawski und Daniel enthüllt wird. Um eine detailliertere Information der Öffentlichkeit sowie die Unterbindung einer analogen Tätigkeit von seiten einzelner feindlich gesonnener Personen zu gewährleisten, erscheint es zweckmäßig, den Prozeß gegen Sinjawski und Daniel in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung des Obersten Gerichts der RSFSR durchzuführen und die Verbrecher wegen der Herstellung und Verbreitung literarischer Werke, die verleumderische Hirngespinste über die sowjetische Staats- und Gesellschaftsordnung enthalten, nach Absatz 1 von Artikel 70 des StGB der RSFSR zu einer Freiheitsstrafe zu verurteilen.»

 

Dies schrieben der Chef des KGB Semitschastny und Generalstaatsanwalt Rudenko am 23. Dezember 1965 an das ZK (das ZK stimmte gnädig zu). Das war zwei Monate vor der Gerichtsverhandlung.

 

»Die Gerichtsverhandlung soll Anfang Februar 1966 unter Leitung des Vorsitzenden des Obersten Gerichts der RSFSR Gen. L. N. Smirnow unter Beteiligung des staatlichen Anklägers, des Assistenten des General­staatsanwaltes der UdSSR Genosse O. P. Temuschkin, im Gerichtssaal des Obersten Gerichts der UdSSR stattfinden, der für 100 Personen Platz bietet. Zu dem Prozeß sind Vertreter des sowjetischen Parteiaktivs und aus Schriftstellerkreisen einzuladen. Unserer Meinung nach wäre die Teilnahme eines öffentlichen Anklägers am Prozeß aus den Reihen der Schriftsteller zweckmäßig. In diesem Zusammenhang würden wir es für notwendig halten, den Schriftstellerverband zu beauftragen, einen Kandidaten für die Rolle des öffentlichen Anklägers zu benennen. Nach Abschluß des Prozesses sind entsprechende Publikationen in der Presse und im Rundfunk zu verbreiten. Wir bitten um Prüfung.«31a


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Das waren aber bloß allgemeine Wunschvorstellungen. Die konkrete Konzeption des sowjetischen Begriffes von Glasnost lieferte ein anderer, und zwar jemand, der 20 Jahre später Autor und Architekt der Glasnost unter Gorbatschow werden sollte — Alexander Jakowlew. Zu dieser Zeit war er Abteilungsleiter für Agitation und Propaganda des ZK. Was eine »öffentliche Gerichtsverhandlung« ist, bestimmte er damals wie folgt:

 

»Es ist beabsichtigt, daß die Gerichtsverhandlung in Anwesenheit von Vertretern aus der Arbeiterschaft, von sowjetischen Parteifunktionären sowie von Schriftstellern und Journalisten der Stadt Moskau durchgeführt wird. Für die Modalitäten ihrer Einladung ist das Moskauer Stadtkomitee der KPdSU zuständig.
Im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Prozeß halten wir es für notwendig, Vorschläge über die Veröffentlichung dieses Prozesses in der Presse und im Rundfunk zu unterbreiten:
1. Die >Iswestija< und die >Literaturnaja Gaseta< sollen täglich eine Reportage ihrer Korrespondenten aus dem Gerichtssaal sowie spezielle Mitteilungen von TASS über den Verlauf der Gerichtsverhandlung publizieren. Die Redaktionskollegien der >Prawda< und der >Komsomolskaja Prawda<, der >Sowjetskaja Kultura< und der >Sowjetskaja Rossija< können nach Gutdünken Notizen eigener Korrespondenten aus dem Gerichtssaal veröffentlichen.
Alle anderen Zeitungen bringen über die Gerichtsverhandlung nur die offiziellen TASS-Mitteilungen; im Rundfunk werden über den Verlauf des Prozesses die TASS-Berichte und einzelne Korrespondentenberichte aus den Zeitungen gesendet.
APN wird gemeinsam mit dem KGB beim Ministerrat der UdSSR beauftragt, entsprechende Artikel über den Prozeß zur Veröffentlichung im Ausland vorzubereiten.


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Die Korrespondenten der genannten Zeitungen sowie von TASS und APN werden zum Gerichtssaal (ohne Fotoapparate) mit dienstlichen Passierscheinen zugelassen, die vom KGB beim Ministerrat der UdSSR ausgestellt werden.
Ausländische Korrespondenten werden zur Gerichtsverhandlung nicht zugelassen.
2. Zur Vorbereitung offizieller Mitteilungen und zur Durchsicht der Zeitungsberichte über den Verlauf der Gerichtsverhandlung ist eine spezielle Pressegruppe bestehend aus den Gen. ... zu bilden (Kulturabteilung des ZK der KPdSU, Abteilung für Agitation und Propaganda des ZK der KPdSU, Abteilung der Verwaltungsorgane des ZK der KPdSU, KGB beim Ministerrat der UdSSR).«
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Es schien, als hätten sie sich um alles gekümmert, für alles vorgesorgt. Von einem sorgfältig ausgewählten Publikum wurde »das Gerichtsurteil mit Applaus begrüßt«. Die Presse, die Parteiorganisatoren und der KGB bemühten sich: »Die strafrechtliche Verurteilung von Sinjawski und Daniel wurde von der sowjetischen Öffentlichkeit positiv aufgenommen. Beim Gericht und den Zeitungsredaktionen ging im Laufe der Gerichtsverhandlung eine große Anzahl an Briefen und Telegrammen von Sowjetbürgern ein, die eine strenge Bestrafung der Verleumder forderten«, berichtete der KGB mit Stolz über die geleistete Arbeit.36 Aber allen Anstrengungen zum Trotz wurden im Land bereits Tausende von Flugblättern auf Seidenpapier mit den Texten der Schlußworte der Angeklagten verbreitet, und alle wußten — sie hatten sich als nicht schuldig bekannt. Die Proteste nahmen zu, die ganze Welt entrüstete sich über diese Abrechnung mit Sinjawski und Daniel. Das war das Werk unserer Glasnost.

Was blieb Jakowlew anderes übrig, als zu versuchen, die Proteste zu übertönen:

 

»Zur Aufklärung über das Wesen des Prozesses gegen Sinjawski und Daniel sowie zur Entlarvung der verleumderischen Erfindungen der bürgerlichen Presse ... halten wir folgende Maßnahmen für angebracht:
In Kulturorganisationen, Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen und Verlagen ..., in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten unserer Hochschulen, in Kunsthochschulen, in den geisteswissenschaftlichen For-


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schungseinrichtungen Informationsveranstaltungen und Aufklärungsgespräche durchzuführen, wobei angesehene Persönlichkeiten aus Literatur, Kunst und Wissenschaft als Vortragende heranzuziehen sind;
- Politisdat ist zu beauftragen, in Kürze die Prozeßmaterialien herauszugeben (Anklageschrift, Rede des staatlichen und der öffentlichen Ankläger, Urteil et cetera), zum Zwecke der Information von Partei- und Kulturfunktionären, der Korrespondenten von Zeitungen der sozialistischen Länder sowie der Presseorgane der kommunistischen Parteien der kapitalistischen Länder;
- in der >Literaturnaja Gaseta< und der >Iswestija< ist ein Brief vom Sekretariat des Vorstands des Schriftstellerverbandes zu veröffentlichen, der die Antwort auf Stellungnahmen ausländischer Schriftsteller und Persönlichkeiten aus dem Kulturleben zum Prozeß enthalten soll;
- die Redaktionen der >Iswestija<, der >Komsomolskaja Prawda<, der >Literaturnaja Gaseta< und der >Sowjetskaja Kultura< sollen Reaktionen von Lesern sowie von angesehenen Vertretern aus Literatur, Kunst und Wissenschaft veröffentlichen, die das Gerichtsurteil billigen und die antisowjetische Tätigkeit von Sinjawski und Daniel verurteilen ...;
- die Redaktionen der >Prawda<, der >lswestija<, der >Literaturnaja Gaseta<, der >Komsomolskaja Prawda< und der Zeitschrift >Kommunist< sollen theoretische Artikel über das marxistische Verständnis von Freiheit und Verantwortung der Persönlichkeit in der sozialistischen Gesellschaft veröffentlichen.
Das Komitee für Rundfunk und Fernsehen beim Ministerrat der UdSSR soll für das Ausland folgendes vorbereiten und übermitteln:
- Auftritte von Vertretern der sowjetischen Öffentlichkeit, die das Gerichtsurteil gegen Sinjawski und Daniel unterstützen;
- ein Gespräch mit einem angesehenen sowjetischen Juristen, der die Korrektheit des Urteils vom Standpunkt der sowjetischen Gesetzgebung begründet ...;
- Materialien, die den verleumderischen Charakter der Schriften von Sinjawski und Daniel entlarven, ihre Aufrufe zum Terror, ihre bösartigen antisemitischen Äußerungen, die verbreitete Ausnutzung ihrer Werke zu Zwecken des Kalten Krieges ...;
- Materialien, die die moralische Unsauberkeit und die politische Doppelzüngigkeit von Sinjawski und Daniel aufzeigen;

- Kommentare und Gespräche über die Freiheit des Schaffens in der UdSSR und die Verfolgung progressiver Künstler im Westen.«37


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Wie zu Stalins Zeiten fanden nun in allen Betrieben Versammlungen statt, auf denen die »einstimmige Verurteilung« der Schriftsteller gefordert wurde, ohne daß man ihre Bücher gelesen hatte. Hunderttausende von Menschen in der UdSSR wurden gezwungen, zwischen ihrem Gewissen und ihrem Wohlergehen zu wählen. Ein paar weigerten sich, die Mehrheit stimmte zu.

Dies war das Muster für alle unsere folgenden Gerichtsverfahren, ihre Art von Partei-Glasnost: »öffentliche« Prozesse hinter verschlossenen Türen, mit speziell ausgewähltem Publikum, mit einigen Freunden der Angeklagten und ausländischen Korrespondenten vor dem Eingang. Und natürlich, mit dem unveränderten Dröhnen der Jakowlewschen Propaganda nach jedem Prozeß, die ohnehin unsere Glasnost nicht zum Schweigen bringen konnte und nur das Vertrauen in die offizielle Presse noch weiter untergrub. So hatte sich von Anfang an die Frontlinie in dieser Gegenüberstellung ergeben: unsere Glasnost gegen ihre »Glasnost«, Gesetz gegen Ideologie.

Das Regime beging gerade dann die ungeschicktesten Gesetzesverletzungen, wenn es uns nicht einsperren oder zumindest nicht mit »der vollen Strenge des Gesetzes bestrafen« wollte. Die ideologische »Zweckmäßigkeit« ließ sich in keiner Weise mit dem Gesetz vereinbaren, wodurch ganz unwahrscheinliche Paradoxe entstanden, die auch einem juristischen Laien auffallen mußten. So waren unsere Verbannungen, unsere Exilierungen, die »Austausche«, die Aberkennungen der Staatsbürgerschaft nichts anderes als eine ausschließlich politische Abrechnung ohne jegliche juristische Grundlage.

Die Entscheidung über eine Aberkennung der Staatsbürgerschaft war völlig willkürlich. Der erste Fall einer solchen Aberkennung aus politischen Gründen in der Zeit nach Stalin war der des Schriftstellers Waleri Tarsis. Nachdem man ihn zunächst zu einem Besuch nach England hatte reisen lassen, wußte das Politbüro lange nicht, wie mit ihm weiter verfahren werden sollte. Der KGB jedoch berichtete, wie es ihm gelungen sei, Tarsis im Westen zu diskreditieren:


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»Das Komitee für Staatssicherheit setzt seine Maßnahmen fort, um Tarsis im Ausland weiterhin als einen psychisch kranken Menschen zu kompromittieren. Im Zusammenhang mit den verleumderischen antisowjetischen Erklärungen, die Tarsis im Ausland abgegeben hat, sowie mit der positiven Reaktion sowjetischer Bürger auf die in bezug auf seine Person getroffenen Maßnahmen halten wir seine Rückkehr in die Sowjetunion für nicht wünschenswert und schlagen vor, Tarsis die sowjetische Staatsbürgerschaft zu entziehen und ihm die Einreise in die UdSSR zu verweigern.«38

 

Das Politbüro gab seine Zustimmung, und das Präsidium des Obersten Sowjets verabschiedete einen entsprechenden Erlaß.

Bei mir verhielt es sich umgekehrt: Man »vergaß«, mir die Staatsbürgerschaft zu entziehen und mein Urteil zu annullieren, nachdem man mich als Bürger der UdSSR außer Landes »gewiesen« und mir sogar einen Paß mit einer Geltungsdauer von fünf Jahren ausgehändigt hatte. Die Frage meines Austausches wurde im Politbüro mindestens dreimal diskutiert, das letzte Mal drei Tage vor dem Austausch. Es wurde offensichtlich ein Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR verabschiedet, der geheim blieb. Der Vorschlag wurde von Andropow, Gromyko und Ponomarjow zur Diskussion eingebracht, und das Ganze wurde hochtrabend als »Maßnahmen im Zusammenhang mit der Freilassung des Genossen L. Corvalan« bezeichnet:

 

»Der Botschafter in Washington teilte mit, daß die chilenischen Behörden sich einverstanden erklärt haben, Genossen L. Corvalan mit seiner Familie in Genf zu übergeben. Es wird beabsichtigt, dort auch von unserer Seite Bukowski mit seiner Mutter zu übergeben.
Die Chilenen schlagen vor, die Übergabe am 18. Dezember des Jahres (Telegramm aus Washington Nummer 3130) durchzuführen. Wir halten es für zweckmäßig, diesem Datum zuzustimmen.
Es ist wünschenswert, nach Genf zum Treffen mit Gen. L. Corvalan Vertreter der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU sowie einen Arzt zu entsenden.
Für die Reise des Gen. L. Corvalan aus Genf in die UdSSR sollte ein Sonderflugzeug zur Verfügung gestellt werden. Mit diesem Flugzeug wird auch Bukowski nach Genf gebracht werden.

Es wird als notwendig angesehen, daß vor der Übergabe von Bukowski an die chilenische Seite im Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR ein Erlaß über seine Ausweisung vom Ort der Strafverbüßung ins Ausland angenommen wird. Das ermöglicht es, Bukowski unter Bewachung und ohne sein Einverständnis nach Genf zu bringen ...«39


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Abb.

 


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Das heißt, daß sie nur, um nicht nach meinem Einverständnis fragen zu müssen und um die Befriedigung zu haben, mich in Handschellen zu transportieren, einen ganzen Erlaß verabschiedeten. Zugleich durften sie das Urteil nicht annullieren und mußten mir die Staatsbürgerschaft belassen — jemanden, der nicht Bürger ihres Staates und nicht verurteilt war, hätten sie nicht unter Bewachung halten können.

Bei Andrej Sacharow konnten sie sich jedoch nicht zu einer Ausweisung entschließen. Ihn verbannten sie ohne Gerichtsurteil nach Gorki, einfach so, ohne sich überhaupt auf ein Gesetz zu berufen.

 

»Um der feindlichen Tätigkeit von Sacharow, seinen verbrecherischen Kontakten zu Bürgern kapitalistischer Staaten und dem in diesem Zusammenhang für die Interessen des sowjetischen Staates möglicherweise erwachsenden Schaden vorzubeugen, ist es notwendig, sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf eine administrative Ausweisung Andrej Dmitrijewitsch Sacharow s aus der Stadt Moskau in eine der Regionen des Landes, die für Ausländerbesuche gesperrt sind, zu beschränken.
A. D. Sacharows Lebensbedingungen sind so einzurichten, daß sie Kontakte zu Ausländern und gesellschaftsfeindlichen Elementen ausschließen, ebenso wie Reisen in andere Gebiete des Landes ohne besondere Erlaubnis dazu von seiten des entsprechenden Organs des Innenministeriums der UdSSR. Die Kontrolle über die Einhaltung dieser Vorschriften durch A. D. Sacharow obliegt dem Komitee für Staatssicherheit und dem Innenministerium der UdSSR.«

 

  

6.  Psychatrisierung statt Gefängnis  

 

 

Ich suchte vor allem Dokumente über den Einsatz der Psychiatrie für Repressionen, aber diese waren am schwersten zu finden. Wer wußte, ob es solche Dokumente überhaupt gab, oder ob die ehemaligen Apparatschiks meine Nachforschungen sabotierten. Die Zeit verging, der Zeitpunkt für meine Aussage vor dem Verfassungsgericht rückte näher, und ich geriet in Panik.


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Sie sollten doch der Clou der Veranstaltung werden, diese Zeugnisse des schlimmsten Verbrechens der Periode nach Stalin, die — wie Solschenizyn es treffend ausgedrückt hatte — »sowjetische Variante der Gas­kammern«.

Für mich war dieses Thema besonders wichtig — für die Kampagne gegen den Mißbrauch der Psychiatrie als Einrichtung für den Strafvollzug hatte ich meine letzte Haftstrafe abgebüßt, war aus dem Land gewiesen worden, hatte im Westen weiter gekämpft und schließlich gesiegt. Natürlich bin ich weit davon entfernt, mir allein diesen Sieg zuzuschreiben — im Gegenteil, die Leistung bestand gerade darin, daß in diese Kampagne eine große Anzahl von Psychiatern, Juristen und Personen des öffentlichen Lebens in der ganzen Welt einbezogen worden waren. Ungeachtet der politischen Entwicklung erstarkte die Kampagne und erreichte 1977 ihren Höhepunkt, als der Weltkongreß der Psychiatrie in Honolulu die sowjetischen Mißbräuche anprangerte. Aber auch danach beeinflußte sie weiter die öffentliche Meinung in der ganzen Welt. Die sowjetische Delegation wurde 1983 aus dem Weltbund der Psychiater ausgeschlossen, genauer gesagt, die Sowjets gingen von selbst, weil sie begriffen hatten, daß ihr Ausschluß nicht zu verhindern war.

 

Das war der überzeugendste Sieg unserer Glasnost. Als die Kampagne begann, bei der ich sogar mein Leben aufs Spiel setzte, wußte ich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit, ob meine Vermutungen richtig waren. Natürlich war das Material über die sechs in Nervenheilanstalten eingesperrten politischen Häftlinge, das ich 1970 dem Westen übergeben hatte, echt, und Zweifel an der psychischen Gesundheit dieser Menschen gab es nicht. Aber ob es sich um ein zufälliges Zusammentreffen, Willkürakte örtlicher Behörden, des örtlichen KGB oder eine bewußte Politik des Regimes handelte, konnte ich nicht wissen. Es gab nur Vermutungen, einige indirekte Informationen, die auf letzteres hindeuteten. So wußten wir, daß es die erste Welle der »psychiatrischen« Repressionen schon unter Chruschtschow gegeben hatte, kurz nach seiner Erklärung von 1959, daß es in der UdSSR keine politischen Häftlinge, wohl aber psychisch Kranke gebe. Wir wußten davon auch aus eigener Erfahrung. Ich kam 1963 selbst in eine Nervenklinik.


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Nach Chruschtschows Entmachtung ging die Zahl der Einweisungen für einige Zeit zurück und schwoll Ende 1968 / Anfang 1969 erneut an. In dieser Zeit kamen eine große Anzahl unserer Freunde in Nerven­kliniken.

Der Grund für diese »Wellen« war nicht schwer zu erraten. Einerseits nahmen die Unzufriedenheit und die Proteste zu, andererseits wollten die Machthaber die sichtbaren Repressionen nicht verstärken und in der Periode der Entspannung mit dem Westen außenpolitisch keine negativen Folgen in Kauf nehmen. Es paßte alles zusammen und war logisch, aber blieb doch nur eine Vermutung. Die These, daß das Politbüro nichts von Psychiatrie verstand und den Ärzten einfach »Glauben schenkte«, war nicht widerlegt. Was sollte ich tun, wenn ich keine Dokumente dazu finden würde? Vielleicht gab es gar keine Dokumente darüber. Über die »Endlösung« der Judenfrage wurden in den Archiven des Dritten Reiches zuerst auch keine Dokumente gefunden.

Was ich jedoch fand, übertraf alle meine Erwartungen. Zunächst schien alles gar nicht so einfach mit unserem Fall vom Jahr 1967. Am 27. Januar, das heißt einen Tag, nachdem man den letzten von uns verhaftet hatte, meldeten der damalige KGB-Chef Semitschastny und Generalstaatsanwalt Rudenko dem Politbüro, wie man nach , ihrer Meinung mit uns verfahren solle:

 

»Es hat sich schließlich eine Gruppe von 35 - 40 Personen herausgebildet, deren politisch schädliche Tätigkeit in der Verfertigung und Verbreitung antisowjetischer Literatur sowie in der Organisierung verschiedener Manifestationen und Zusammenrottungen besteht. Die Mitglieder dieser Gruppe appellieren an die westliche Presse, die das von ihnen verbreitete Material veröffentlicht und auf dem Territorium der Sowjetunion zu verbreiten sucht.«

 

Nach einer recht ausführlichen Schilderung unserer Aktivitäten und der Aufzählung unserer Namen sowie der Namen derjenigen, welche uns nach ihrer Meinung »aufhetzten«, steht da wie beiläufig:

 

»Es ist festzustellen, daß einige von diesen Personen an psychischen Erkrankungen leiden.«


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Und weiter: »Es ist auch die feindliche Tätigkeit der zu strafrechtlicher Verantwortung gezogenen und wegen psychischer Erkrankung aus der Haft entlassenen Pjotr G. Grigorenko, geboren 1907, ehemals Generalmajor der Sowjetunion, und A. S. Wolpin, geboren 1924, dokumentiert.«40

 

Danach folgt die übliche Aufzählung propagandistischer und prophylaktischer Maßnahmen.

 

»In der Annahme, daß eine strafrechtliche Verfolgung der genannten Personen zu bestimmten Reaktionen im Lande und im Ausland führen würde, halten wir es für zweckmäßig, die Propaganda-Abteilung des ZK und das Moskauer Stadtkomitee der KPdSU anzuweisen, die erforderliche Aufklärungsarbeit zu leisten, zu welchem Zweck Parteifunktionäre, angesehene Propagandisten, leitende Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft und des KGB in die Betriebe, Behörden und besonders zur studentischen Jugend geschickt werden sollen.
Das Komitee für Staatssicherheit und die Generalstaatsanwaltschaft der UdSSR beabsichtigen ihrerseits, prophylaktische Maßnahmen an den Arbeits- und Studienplätzen der Personen, die gesellschaftsfeindliche Handlungen aus politischer Unreife oder ungenügender Lebenserfahrung begehen, durchzuführen.
Gleichzeitig wird es als zweckmäßig erachtet, für die Zeitung >Iswestija< einen ausführlichen Bericht mit einer Erläuterung der durchgeführten Maßnahmen vorzubereiten sowie das Innenministerium der UdSSR, den KGB und die Generalstaatsanwaltschaft zu beauftragen, unsere Vertretungen im Ausland zu informieren.
«

 

Es entsteht der Eindruck, daß der KGB und die Generalstaatsanwaltschaft vor allem befürchteten, die Reaktion in der ganzen Welt würde ebenso stark sein wie die auf den Prozeß gegen Sinjawski und Daniel. Sie schienen im wesentlichen zur Anwendung der »psychiatrischen Methode«, zumindest bei »einigen Personen, die an psychischen Krankheiten leiden«, zu neigen. Aber — welch Wunder! — das Politbüro war anderer Meinung:


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»Zum Protokoll Nummer 32 vom 9. Februar 1967 
NICHT INS PROTOKOLL AUFZUNEHMEN 
5. Vermerk des Komitees für Staatssicherheit und der Generalstaatsanwaltschaft der UdSSR vom 27. Januar 1967 Nummer 162-s 
(an die Genossen Breschnew, Suslow, Semitschastny, Rudenko, Podgomy, Poljanski, Masurow, Kulakow, Ponomarjow, Andropow)
1. Die Frage wird von der Erörterung ausgeschlossen.
2. Die Genossen M. A. Suslow, A. J. Pelsche, W. E. Semitschastny werden beauftragt, die Fragen unter Berücksichtigung des Meinungsaustauschs auf der Sitzung des Politbüros zu durchdenken und sie, falls es nötig erscheint, dem ZK vorzulegen (darunter die Frage der Belangung von Autoren für die Übermittlung ihrer Manuskripte zur Publikation ins Ausland, ... unter anderem).«

 

Es folgten keine weiteren Beschlüsse des Politbüros zu diesem Thema, vier Monate später wurde Semitschastny abgesetzt, und Andropow, der an der Sitzung im Februar teilgenommen hatte, nahm seinen Platz ein. Einige Monate später wurden wir alle verurteilt — und keiner von uns wurde für unzurechnungsfähig erklärt. Die psychiatrischen Maßnahmen hatten keine Zustimmung gefunden. Nach Chruschtschows Abgang wurden sie, wahrscheinlich eine Zeitlang als zu mild, als ein zu großes Zugeständnis gegenüber dem Westen angesehen.

Jedoch änderte sich die Lage bereits nach ein paar Jahren, und gegen Ende 1969 wurden einige Personen (Grigorenko, Gorbanewskaja, Fainberg und andere) für unzurechnungsfähig erklärt. Einerseits zeigte sich, daß Semitschastny recht gehabt hatte — unsere Prozesse hatten eine kolossale Resonanz; andererseits begann die »Entspannung« mit dem Westen, und es mußten eiligst effektive Repressionsmethoden gegen die wachsende Zahl der Protestierenden gefunden werden — Methoden, die nicht die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich zogen. Auf jeden Fall wurde 1970 die psychiatrische Methode ernsthaft vom Politbüro als eine mögliche Massenrepressionsmethode diskutiert. Die Dokumente sind schon deshalb interessant, weil sie die allerhöchste Geheimhaltungsstufe erhielten. Nicht nur daß sie als »Sonderakte« aufbewahrt wurden, an den Rändern tragen sie einen Vermerk, den ich sonst nirgendwo gesehen habe:41


177

»ZUR KENNTNISNAHME 
Der Genosse, der die Geheimdokumente in die Hände bekommt, darf sie niemand anderem überlassen und niemandem davon Kenntnis geben, sofern das ZK keine ausdrückliche Genehmigung dazu erteilt.
Es ist strengstens untersagt, Kopien des vorliegenden Dokuments oder Auszüge daraus anzufertigen.
Auf jedem Dokument hat der Genosse, dem das Dokument überlassen wird, die Kenntnisnahme sowie ihr Datum zu vermerken und die Übergabe durch seine persönliche Unterschrift zu bestätigen.«
»Proletarier aller Länder, vereinigt euch!
Innerhalb von 24 Stunden an das ZK der KPdSU (Allgemeine Abteilung, 1. Sektor) zurückzugeben
Kommunistische Partei der Sowjetunion
ZENTRALKOMITEE
Streng geheim 
Sonderakte
Nummer P151/XIII  
An die Genossen Breschnew, Kossygin, Suslow, Andropow, Baibakow, Petrowski, Schtscholokow, Trapesnikow, Smirtjukow 
Auszug aus dem Protokoll Nummer 151 der Sitzung des Politbüros des ZK der KPdSU vom 22. Januar 1970 
Anfrage des Komitees für Staatssicherheit
Das Ministerium für Gesundheitswesen der UdSSR, das Komitee für Staatssicherheit und das Ministerium für Innere Angelegenheiten der UdSSR werden beauftragt, in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Planungs­komitee der UdSSR und den Ministerräten der Unionsrepubliken im ersten Halbjahr 1970 dem ZK der KPdSU Vorschläge zur Feststellung, Erfassung und Behandlung und bei besonderen Fällen Isolierung von psychisch Kranken im Lande vorzulegen.
ZK-SEKRETÄR«

 

Diese Initiative ging natürlich von Andropow aus, der den Mitgliedern des Politbüros einen Bericht der KGB-Leitung aus der Region von Krasnodar, vorlegte, als Beispiel dafür, was im ganzen Land vor sich geht: »... über die Existenz einer bedeutenden Anzahl psychisch Kranker in der Region, die Terrorakte und andere gesellschaftlich gefährliche Absichten hegen. Eine analoge Situation besteht auch in anderen Bezirken des Landes.«42


178

Dieses einzigartige Dokument verdient vollständig zitiert zu werden:43

 

"Geheim 
An den Vorsitzenden des Komitees für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR
Genossen Ju. W. Andropow Moskau

 

Die Leitung des KGB beim Ministerrat der UdSSR der Region Krasnodar verfügt über Unterlagen, aus denen hervorgeht, daß in der Region eine bedeutende Anzahl psychisch Kranker gesellschaftsgefährliche und feindliche Handlungen durchführt, verbrecherische und politisch schädliche Absichten hegt und demoralisierende Faktoren in das Leben der Sowjetbürger hineinbringt. 

In den letzten zwei Jahren sind mehr als 180 derartiger Personen in das Blickfeld der Staatssicherheitsorgane geraten. Einige von ihnen äußern terroristische Drohungen, Absichten, Funktionäre zu ermorden oder andere Verbrechen zu begehen. So haben G. A. Bytschkow und G. E, Mikow bösartige antisowjetische Äußerungen von sich gegeben und Drohungen an die Adresse einiger Parteiführer und die sowjetische Regierung gerichtet; A. P. Worona hat ebenfalls terroristische Drohungen geäußert, er hat eine Liste von Funktionären des Bezirks der Krim, die >zu vernichten seien <, erstellt und versucht, eine antisowjetische Gruppe zu gründen; S. A. Soin äußert bösartige wahnhafte Absichten, das Lenin-Mausoleum zu besuchen, mit Hilfe von Filmkameras den Revolutionsführer zum Leben zu erwecken und ihn dann erneut zu töten; G. W. Watinzew hat das Mausoleum besucht, wo er einen groben zynischen Akt begangen hat; 0. W. Dmitrijew hat im Wald nahe bei Sotschi einen Sergeanten der Regierungswache überfallen und verletzt; W. M. Pikalow hat im September 1969 einen der leitenden Funktionäre des Stadtparteikomitees von Anapinsk mit physischer Gewalt bedroht, er stellt mit Fototechnik verleumderische Dokumente her und verbreitet sie.

Eine Reihe psychisch Kranker begeht gefährliche Verbrechen an der Staatsgrenze, versucht, auf Schiffe mit ausländischen Bestimmungsorten zu gelangen zum Zweck, die Grenze zu überschreiten.


179

 Im Abschnitt der 32. Grenzabteilung erwiesen sich 1969 von 50 Grenzverletzern bzw. solchen, die versucht hatten, auf Schiffe mit ausländischen Bestimmungsorten zu gelangen, 19 Personen als psychisch gestört. Die gefährlichsten Verbrechen begingen: P. A. Skrylew, der sich eines AN-2-F lugzeugs bemächtigte und damit in Richtung Türkei zu fliehen versuchte, er wurde mit Hilfe der Flugabwehr über neutralen Gewässern abgeschossen; N. A. Korotenko floh von seinem Einberufungsort, der Stadt Kropotkin, aus nach Noworossijsk und versuchte, auf ein italienisches Schiff zu gelangen; W. I. Pawlow schickte sich an, auf einem Boot mit einem Außenbordmotor in der Gegend von Sotschi im Jahre 1968 das Vaterland zu verraten, früher war er für solche Bestrebungen bereits in Batumi festgenommen worden; W. A. Grekalow suchte hartnäckig nach Möglichkeiten, ins Ausland zu fliehen.

Einige Kranke reisen nach Moskau und versuchen mit fanatischer Hartnäckigkeit, sich mit Ausländern zu treffen, dringen in Botschaften kapitalistischer Länder ein und äußern Wahnideen oder Bitten, ihnen politisches Asyl zu gewähren. P. L. Rybka hat im November dieses Jahres die französische Botschaft aufgesucht; A. I. Tscherep hat einige Versuche unternommen, die US-Botschaft aufzusuchen, was ihm im Jahre 1968 auch gelungen ist; S. W. Resak hat versucht, in die US-Botschaft einzudringen; N. I. Leijabski hat sich auf der Ausstellung >Inprodmasch< mit Engländern getroffen und bei ihnen politisches Asyl erbeten, er hat versucht, einige Dokumente zu übergeben.

Viele Personen, die an psychischen Erkrankungen leiden, versuchen, neue >Parteien<, verschiedene Organisationen und Räte zu gründen, sie arbeiten Entwürfe von Statuten, programmatischen Dokumenten und Gesetzen aus und verbreiten sie.

So verfolgt N. S. Schewnin die Wahnidee der Gründung von >Kontrollräten über die Tätigkeit des Politbüros des ZK der KPdSU und der örtlichen Parteiorganisationen< und drängt diese Idee anderen auf. Zu diesem Zweck suchte er Gleichgesinnte, die er entsprechend bearbeitete, reiste nach Moskau, um sich mit Funktionären der Kommunistischen und Arbeiterparteien zur >Diskussion< dieser Frage zu treffen, erpreßt Personen, die ihm ihre Unterstützung versagen, er bedrohte in einem Brief den Sekretär des Nowotscherkassker Stadtkomitees der KPdSU des Rostower Gebiets im Zusammenhang mit den bekannten Ereignissen von 196244; A. I. Bech unternahm Versuche, eine illegale >Partei< zu gründen; W. A. Pak bereitet systematisch Dokumente politisch schädlichen Inhalts vor und verbreitet sie, er fordert die Schaffung einer sogenannten Weltregierung.


180

Viele Kranke schreiben eine große Anzahl von Briefen an verschiedene regionale und zentrale Organisationen mit verleumderischen antisowjetischen Erfindungen und Drohungen. So schrieb D. I. Michaltschuk, der seine Ausreise ins Ausland erreichen wollte, in einem Brief an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR vom f. April 1969 folgendes: >... Wollen Sie, daß ich zu ähnlichen Taten schreite, wie sie am Borowitzki-Tor passiert sind? ...<45 Im Gespräch mit dem Vorsitzenden des Stadtexekutivkomitees von Beloretschensk erklärte Michaltschuk, daß er für sich nicht garantiere und durchaus imstande sei, ein Verbrechen zu begehen.

Unter den psychisch Kranken sind nicht wenige, die einen Hang zu Überfällen, Vergewaltigungen und Morden haben, und einige von ihnen versuchen und begehen solche schweren Verbrechen. Zum Beispiel hat A. G. Busnizki während einer Verschlimmerung seiner Krankheit seinem zehnjährigen Sohn den Kopf abgehackt, E. M. Oweljan hat ihren Ehemann umgebracht, A. M. Ponomarenko seine Schwester.

In der Region sind nach Angaben der psychischen Gesundheitsfürsorgestellen von einer Gesamtzahl von jj 800 psychisch Kranken viele aggressiv und bösartig, und ungefähr 700 Personen stellen eine Gefahr für die Gesellschaft dar. Die meisten von ihnen leben in Krasnodar, Sotschi, Noworossijsk, Majkop, Gelendschik, in den Bezirken von Ejskom und der Krim.

Um den von dem genannten Personenkreis ausgehenden Gefahren vorzubeugen, sind die Staatssicherheitsorgane der Region gezwungen, notwendige Maßnahmen durchzuführen, wozu viel Kraft und finanzielle Mittel aufgewendet werden müssen.
Den Angaben der regionalen Gesundheitsabteilung zufolge bedürfen zur Zeit n ooo bis 12000 Kranke einer Hospitalisierung, und die entsprechenden Krankenanstalten verfügen nur über 3785 Betten.
Um gefährliche Vorfälle, verursacht von Personen, die an psychischen Erkrankungen leiden, zu unterbinden, ist nach unserer Meinung - die von den Leitern der regionalen Gesundheitsfürsorge geteilt wird - eine weitere Verbesserung der Maßnahmen erforderlich, um diese Personen ausfindig zu machen, zu registrieren, zu hospitalisieren und einer Behandlung zu unterziehen, und um ihr Verhalten außerhalb der Heilanstalten zu kontrollieren.


181

Das regionale Parteikomitee und Parteiexekutivkomitee sind über die dargelegte Frage informiert.

Der Vorsitzende der Leitung des KGB beim Ministerrat der UdSSR in der Region Krasnodar 
Generalmajor S. Smorodinski 
15. Dezember 1969 
Nummer 8951«

 

Das ist ein frappierendes Dokument, der Gipfel des Tschekistentums. Ohne Zweifel wurde es von Andropow selbst inspiriert. Der Vorsitzende der regionalen KGB-Leitung hatte keine Veranlassung, seinem Chef derartige verallgemeinernde Memoranden zukommen zu lassen, das war ganz unüblich. Außerdem hatte er seinerzeit über jeden einzelnen Vorfall wahrscheinlich ohnehin schon Bericht erstattet. Es ist undenkbar, daß man in Moskau nicht über den Abschuß eines entführten Flugzeugs über neutralen Gewässern informiert gewesen wäre. Das gleiche gilt für die Versuche, in ausländische Botschaften zu gelangen und anderes mehr.

Der Schwerpunkt bei der Auswahl der Episoden wird ganz bewußt auf die Gefährdung durch terroristische Akte psychisch Kranker gelegt. Dieser Bericht wurde Ende 1969 verfaßt, das heißt bald nach dem bekannten Anschlag auf Breschnew (dem Vorfall am Borowitzki-Tor) durch Iljin, der sofort für unzurechnungsfähig erklärt und in die Kasaner Sonderklinik zur »ewigen Hospitalisierung« eingesperrt wurde (er kam erst gegen Ende der achtziger Jahre heraus und zeigte keinerlei Anzeichen einer psychischen Krankheit). Sowohl der Autor dieses Berichts als auch der Leser wissen genau, was in diesem Land unter »psychischer Krankheit« und »Gefahr für die Gesellschaft« verstanden wird: Es sind Menschen, die zur Verzweiflung gebracht wurden und die keine Prophylaxe mehr zu beeinflussen vermag.

In diesem Zusammenhang wird klar, warum gerade die Region von Krasnodar ausgewählt wurde. Dort gibt es einerseits viele Regierungskurorte, und andererseits liegt sie nahe der Grenze zu einem kapitalistischen Land, der Türkei. Das heißt, daß die Zahl der Verzweiflungstaten dort höher ist als im Landesdurchschnitt.


182

Natürlich lügt Andropow, wenn er in seinem Begleitschreiben behauptet, daß eine »analoge Situation auch in anderen Bezirken des Landes« bestehe. Im Landesinneren, wo es keinen Zugang zur Grenze gibt, kann dergleichen nicht vorkommen. Niemand wird im Gebiet von Rjasan ein Flugzeug entführen, weil er damit nicht bis zu einem kapitalistischen Land kommen würde. Ebensowenig gibt es dort Schiffe mit ausländischem Bestimmungsort oder ähnliches, was einen Sowjetbürger provozieren könnte. Die Statistik der »psychischen Erkrankungen« wäre dort bedeutend niedriger ausgefallen.

Schließlich noch ein Wort zu den angeführten Zahlen: Die Gesamtzahl psychisch Kranker in der Region beträgt 55.800, von denen 11.000 bis 12.000 hospitalisiert werden müßten, und ungefähr 700 von ihnen sollten eine »Gefahr für die Gesellschaft« darstellen. Die Mitglieder des Politbüros verstanden sehr gut, worum es hier ging, sofern die Situation überall »analog« war, denn es gibt ungefähr hundert solcher Regionen und Gebiete in der UdSSR. Im ganzen müßte es demnach im Land ungefähr 70.000 »gefährlicher« und 1,2 Millionen Kranker gegeben haben, die »der Hospitalisierung bedürften«. Es ging hier nicht mehr und nicht weniger als um die Schaffung eines psychiatrischen GULAG: Und das Politbüro stimmte seiner Einrichtung zu, dies auch noch kurzfristig — die Frage sollte im Laufe eines halben Jahres entschieden werden.

Warum Andropow sich rückversicherte und den »Bericht« seines Untergebenen ins Politbüro schickte, was er weder vorher noch nachher jemals getan hatte, ist leicht zu verstehen. Schließlich lag es nur drei Jahre zurück, daß sein Vorgänger Semitschaschstny über eben diese Frage gestürzt war, nachdem er »Milde« gegenüber dem Feind gezeigt hatte. Wer konnte garantieren, daß das Politbüro sich nicht wiederum sträuben würde, um so mehr, als es sich hier um eine derartig umfassende Aktion handelte, im Grunde genommen um eine Wende in der gesamten Strafpolitik. So strengte sich Andropow an und jagte dem Politbüro einen Schrecken ein mit der Mitteilung über die Ausschreitungen der Verrückten in der Krasnodarsker Region, als wäre diese Situation erst jetzt aus einem ganz unverständlichen Grund entstanden.


183

Als ich 1970 aus dem Lager entlassen wurde, hatte ich nicht die geringste Ahnung, daß das Politbüro gerade zu diesem Zeitpunkt einen Beschluß gefaßt hatte, auf Grund dessen ich erneut ins Gefängnis kommen sollte. Niemand von uns hätte so etwas für möglich gehalten.

Wir stellten lediglich fest, daß die Zahl unserer, für unzurechnungsfähig erklärten, Mitstreiter beträchtlich zugenommen hatte. Außerdem war es offensichtlich, daß die Psychiater gezielt eine spezielle Diagnostik ausarbeiteten, die sich sehr gut für eine Anwendung in großem Maßstab gegen politische Opponenten und überhaupt gegen jeden, der mit dem Regime unzufrieden war, eignete. Es kamen so zweifelhafte Begriffe, wie »Reformwahn«, in Umlauf, und der bis dahin umstrittene Terminus »schleichende Schizophrenie« des Professors Sneschnewski fand Anerkennung. Damit war klar, daß gegen uns Dissidenten Repressionen mit Hilfe der Psychiatrie geplant waren, obwohl wir den Umfang dieser Vorbereitungen nicht erahnten.

Es zeigte sich, daß wir mit unserer Kampagne gegen die Psychiatrie als Einrichtung für den Strafvollzug den Nagel auf den Kopf getroffen hatten. Es verging kein halbes Jahr — das Politbüro hatte noch keinen endgültigen Beschluß gefaßt —, als meine ersten Interviews in der westlichen Presse erschienen, die im Sommer auch im Fernsehen gesendet wurden. Bei ihnen standen die Repressionen mittels der Psychiatrie im Vordergrund. Wir hatten sie sozusagen auf frischer Tat ertappt, und das ganz zufällig. Fast so, als ob im Krieg sich eine Kugel ins Munitionslager verirrte und damit den ganzen Angriffsplan zunichte machte. Das Regime mußte sich mit allen verfügbaren Mitteln verteidigen, und der Beschluß über die Schaffung eines »psychiatrischen GULAG« wurde für mindestens zwei Jahre auf Eis gelegt.

Mitteilung Andropows an das ZK über meine Verhaftung und den geplanten Prozeß im Jahre 1972 wegen »Verleumdung« der sowjetischen Psychiatrie. Unterschriften der Politbüromitglieder auf dem linken Rand.


184

"UdSSR 
Geheim
Komitee für Staatssicherheit bei Ministerrat der UdSSR
18. Juni 1971
Nummer 2572-tsch
Moskau

An das ZK der KPdSU
(Eingangsstempel des ZK der KPdSU: 18. Juni 1971  22182,  An die Allgemeine Abteilung des ZK der KPdSU zurückzugeben)

Die Verwaltung des KGB beim Ministerrat der UdSSR für die Stadt und das Gebiet Moskau hat am 29. März 1971 W. K. BUKOWSKI, geboren 1942, Russe, parteilos, tätig als Sekretär beim Mitglied des Schriftstellerverbandes W. J. MAXIM, verhaftet.
BUKOWSKI ist bereits zweimal vorbestraft.
Im Juni 1963 wurde er wegen Verbreitung des antisowjetischen Buchs >Die neue Klasse< von M. Djilas verhaftet. Während der Ermittlungen wurde er auf Grund eines gerichtspsychiatrischen Gutachtens für unzurechnungsfähig erklärt und auf Beschluß des Gerichtskollegiums des Moskauer Stadtgerichts vom
23. August 1963 zur Zwangsbehandlung in eine psychiatrische Sonderklinik überführt.

Nach seiner Freilassung aus dem Krankenhaus stellte BUKOWSKI seine gesellschaftsfeindliche Tätigkeit nicht ein, sondern organisierte am 22. Januar 1967 mit einer Gruppe von Personen auf dem Puschkin-Platz einen provokatorischen Menschenauflauf zur Unterstützung der Inhaftierten GINSBURG, GALANSKOW und anderen. Nach seinem Geständnis wurde BUKOWSKI im September 1967 vom Moskauer Stadtgericht zu drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt, BUKOWSKI hielt seine Tat nicht für rechtswidrig und erklärte, daß er auch nach Verbüßung seiner Haftstrafe seine Tätigkeit fortzusetzen beabsichtige.«

 

Erst im Januar 1972, gleich nach meinem Prozeß, nahmen sie sich dieser Frage erneut an (eine Koinzidenz oder eine Absicht — verstehe das, wer will! Ich war ja der Verleumdung der sowjetischen Psychiatrie angeklagt worden). Aber es war zu viel von den Repressionen mittels der Psychiatrie gesprochen worden, so daß sie ihren ursprünglichen Plan nicht wieder aufnehmen konnten, ohne eine noch größere Kampagne zu provozieren.


185

Abb.

Wie konnte hier von Geheimhaltung gesprochen werden, wenn von den sowjetischen Repressionen mit Hilfe der Psychiatrie alle Massenmedien des Westens berichteten!

Die Erörterung dieser Frage in der Parteispitze beschränkte sich nun auf eine Analyse des Zustands der Psychiatrie im Land. Es wurde eine Sonderkommission des Ministerrats zur Untersuchung des Problems gebildet — die sogenannte Rakowski-Kommission, die herausfand, daß es — abgesehen von jeder Politik — um die Psychiatrie äußerst schlecht bestellt war.


186

Das Projekt des psychiatrischen GULAG war in jedem Fall schon zum Scheitern verurteilt, bevor es überhaupt in Angriff genommen wurde; bis 1989 mußte sich die Sowjetregierung vor der ganzen Welt rechtfertigen und zu diesem Zweck etliche »Maßnahmen« ergreifen. Der Schandfleck ließ sich bis zum Schluß nicht beseitigen. Darüber hinaus erwies sich unsere Glasnost in diesem Fall als so effektiv, daß Ende der siebziger Jahre der KGB sich schon davor fürchtete, daß irgendeiner der bekannten Dissidenten rein zufällig, ganz ohne Zutun des KGB in eine psychiatrische Klinik geraten könnte. Diesem Umstand verdankt es zum Beispiel Alexander Sinowjew, daß nicht inhaftiert wurde — man zog es vor, ihn in den Westen ausreisen zulassen.

 

»Aus Unterlagen, die dem Komitee für Staatssicherheit vorliegen, geht hervor, daß die gesamte Tätigkeit von Sinowjew widerrechtlich ist und daß es juristische Gründe gibt, ihn zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen", berichtete Andropow 1978 an das ZK.

»Jedoch ist es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zweckmäßig, diese Maßnahme zur Unterbindung der antisowjetischen Tätigkeit von Sinowjew anzuwenden, weil er, nach Aussage einer Reihe von Personen, die Sinowjew gut kennen, früher wegen Alkoholismus in Behandlung war, psychisch unausgeglichen ist und an Größenwahn leidet. Diese Umstände könnten (sollte Sinowjew zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden) für das Gericht ein Grund sein, ihn für psychisch krank zu erklären und eine Zwangsbehandlung anzuordnen. In Anbetracht der im Westen entfesselten Kampagne um die Psychiatrie in der UdSSR ist diese Maßnahme unzweckmäßig.«46

 

Erst auf dem Höhepunkt von Gorbatschows und Jakowlews Glasnost 1989, als es von Vorteil war, sich zu den Verbrechen der Vergangenheit zu bekennen, faßte das Politbüro schließlich den Beschluß »Zur Vervollkommnung der Gesetze über die Bedingungen und Durchführung psychiatrischer Hilfeleistungen«, der Rechtsgarantien gegen den Mißbrauch der Psychiatrie enthielt.47 Allerdings war auch dieses eine teilweise durch den Druck des Westens dem Regime aufgezwungene Maßnahme.


187

Heute gibt es in Rußland und der Ukraine Vereinigungen von Psychiatern, die darüber wachen, daß ihr Beruf nicht erneut für politische Zwecke mißbraucht wird. Sie untersuchen alle verdächtigen Fälle, gehen jeder Beschwerde nach, besuchen Nerven­heilanstalten und stellen, falls erforderlich, Anträge auf Überprüfung zweifelhafter Fälle durch die Behörden. Aber solche Fälle kommen inzwischen äußerst selten vor, nicht öfter als in jedem anderen Land. In der Psychiatrie haben sich — im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen des sowjetischen Lebens — wirklich grundlegende Änderungen vollzogen.

Unsere Erlebnisse sind für die Psychiatrie bereits Geschichte. In der Petersburger Sonderklinik, wo ich einst General Grigorenko kennenlernte, werden unsere »Krankengeschichten« jetzt den Besuchern vorgezeigt, wie die Zelle in der Peter-und-Pauls-Festung, in der seinerzeit Bakunin inhaftiert war.

Im Jahre 1992 besuchte ich, als ich mich auf meine Zeugenaussage vor dem Verfassungsgericht vorbereitete, mit einem Aufnahmeteam des Russischen Fernsehens das Serbski-Zentralinstitut für Gerichtspsychiatrie. Am Eingang empfing uns eine sympathische junge Frau, die Direktorin des Instituts Dr. Tatjana Dmitrijewa. »Ich habe Ihr Buch gelesen und wollte Ihnen schon lange sagen: Alles, was Sie über unser Institut und über die Sonderkliniken geschrieben haben, stimmt.«  Ich weiß, daß sie nicht heuchelte. Sie hatte sich bereits in der Presse darüber geäußert.48)

Es ist dreißig Jahre her, daß ich zum erstenmal die Schwelle dieser einstmals so berüchtigten Anstalt überschritt. Von all denen, die mich als »Patient« kennengelernt hatten, waren nur noch zwei übrig — die alte Krankenpflegerin Schura und der Ehrendirektor, das Akademiemitglied G. W. Morosow, unser Arzt. Niemand hatte unsere Diagnosen für ungültig erklärt, niemand dachte daran, sich für all die Verleumdungen zu entschuldigen, die in Jahrzehnten in der Presse über uns ausgegossen und im Verborgenen hinter vorgehaltener Hand im persönlichen Gespräch über uns verbreitet worden waren.

Keines dieser Akademiemitglieder kam wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit vor Gericht, keinem wurde der Professorentitel wegen Verletzung des hippokratischen Eides aberkannt. Im Gegenteil, viele von ihnen, wie Wartanjan und Babajan, stehen weiterhin an der Spitze der russischen Psychiatrie und vertreten sie sogar im Ausland.

Wenn die heutigen Machthaber die psychiatrische Methode nicht brauchen, so bedeutet das nicht, daß die zukünftigen sie ebenfalls nicht brauchen werden. Schwer ist es bestimmt nicht, zu ihr zurückzukehren. Man braucht nur die sympathische junge Frau von ihrem Direktorenposten zu entlassen und die Psychiater aus den Beobachtergruppen ins Lager zu schicken. Welcher Idee dann die Psychiatrie mit ihren Gehirnwäschemethoden dienen wird — dem Nationalsozialismus oder dem International­sozialismus — spielt dabei keine Rolle.

188

 

 

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Wladimir Bukowski