Start   Weiter

3.7  Woran haben sie geglaubt?  

 

188-189

Zweifellos war die Benutzung der Psychiatrie als Instrument der politischen Repression eines der schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Nachkriegszeit. Noch Jahrhunderte nach uns wird man sich daran erinnern, ebenso wie wir uns jetzt an die Guillotine der Französischen Revolution erinnern und Stalins GULAG und Hitlers Gaskammern von der Geschichte nicht vergessen werden.

Die oben zitierten Dokumente belegen eindeutig, daß dies die bewußte Politik des Politbüros war, ohne dessen Willen uns kein Härchen gekrümmt wurde. Verstand das Politbüro eigentlich, was es da tat? Trotz all ihrem Pragmatismus lebten sie in der phantastischen Welt des sozialistischen Realismus, in der nicht unterschieden werden kann zwischen Tatsachen und Fiktion, Information und Desinformation. 

Es waren Leute, für die es auf Grund ihrer Ideologie nur eine »Klassenwahrheit« gab. 

Die Wahrheit wurde bei ihnen ebenso wie das Gesetz dem Prinzip der »Zweckmäßigkeit« untergeordnet.

Sind in Bezug auf diese Leute wirklich Begriffe wie Gut und Böse, Lüge und Wahrheit anwendbar?  

Ich weiß es nicht — um so mehr als in ihrem kommunistischen Newspeak diese, ebenso wie viele andere unserem Ohr vertraute Worte, eine völlig andere Bedeutung hatten.

Als sie uns der »Verleumdung der sowjetischen Gesellschafts- und Staatsordnung« beschuldigten und in allen ihren Dokumenten, Beschlüssen und Schreiben immer wieder bis zum Überdruß wie eine Beschwörung das Wort »verleumderisch« als Attribut für unsere Äußerungen, Publikationen und Samisdat-Erzeugnisse verwendeten — glaubten sie da wirklich, daß wir bewußt oder unbewußt die Realität entstellten? 

Natürlich nicht, aber selbst die Begriffe »Realität«, »Wirklichkeit« haben in ihrer Sprache einen ganz anderen Sinn. 

Die Ideologie verwarf alles allgemein Menschliche: Es konnte nicht einfach »Realität« oder »Wirklichkeit« geben, sie war »bürgerlich« oder »sozialistisch«. So bedeutete also »Verleumdung der sozialistischen Wirklichkeit«, daß das Gesagte oder Geschriebene nicht dem Bild vom »wahren Sozialismus« entsprach, das das Politbüro geschaffen hatte. In diesem Bild gibt es per definitionem keine systemimmanenten Fehlentwicklungen, es gibt nur »einzelne Unzulänglichkeiten« oder »Wachstumsprobleme«.

Man kann sich leicht vorstellen, zu welchem Grad von Absurdität das schon im rein sprachlichen Bereich führen mußte. So schreibt zum Beispiel Andropow in einem Brief an Breschnew anläßlich der Ausweisung Solschenizyns,49) daß nach Auffassung einiger angesehener Schriftsteller das Buch <Der Archipel GULAG> zweifellos antisowjetisch sei, aber die »Fakten, die in diesem Buch beschrieben werden«, seien »wirklich geschehen«.

In einigen Dokumenten taucht sogar der Ausdruck »verleumderische Fakten« auf, der außerhalb der Sowjetunion überhaupt nicht zu erklären ist. 

Wie sollte man sich da noch zurechtfinden, was wirklich und was »wirklich« wirklich war.

Nachdem ich so viele Dokumente, die sie geschrieben (oder unterschrieben) hatten, gelesen habe, kann ich immer noch nicht mit Sicherheit sagen, ob sie an ihre Ideologie glaubten oder ob alles nichts als Heuchelei war. Mit einiger Sicherheit kann behauptet werden, daß Lenin und seine engsten Mitarbeiter daran glaubten. Ich nehme an, daß bei all seinem Zynismus auch Stalin glaubte, daß seine Tätigkeit »historisch gerechtfertigt« sei. Am Ende fühlte er sich sogar wie ein Halbgott, der in seiner Person die »historische Wahrheit« verkörperte.


190

Zweifellos hatte auch Chruschtschow irgendeinen naiven Bauernglauben an den Sozialismus. Aber wer kann mir sagen, woran Breschnew, Andropow oder Tschernenko glaubten? Natürlich waren sie alle nicht gerade mit einem überragenden Intellekt ausgestattet und neigten nicht zur Selbstanalyse, aber auch sie mußten doch an irgend etwas geglaubt haben. Sie mußten doch ein Ziel haben, das ihr Handeln bestimmte.

Vielleicht, weil ich zu viele Aufzeichnungen und Berichte Andropows gesehen hatte, beschäftigte mich die Frage, woran Andropow glaubte, besonders stark. Während solche typischen Apparatschiks, wie Suslow, denen das Heucheln zur Gewohnheit geworden war, wohl wirklich nicht mehr die Ideologie von der Realität unterscheiden konnten und solche Fossile, wie Breschnew und Tschernenko, wohl selbst in ihren besten Jahren nicht zum Denken fähig waren, scheint Andropow weder ein Fanatiker noch ein Idiot gewesen zu sein. Im Unterschied zu seinen Parteikollegen macht er nicht den Eindruck eines Menschen, der an seine eigene Desinformation glaubte. Im Gegenteil, er verstand allem Anschein nach sogar, daß die Ideologen (oder auch die Ideologie) selbst Feinde des Systems hervorbrachten, gegen die dann er, Andropow, zu kämpfen hatte.

Bei seinem Machtantritt 1983 galt Andropow im Westen als Liberaler. Dieser Ruf wurde zur Legende. In Wahrheit war er ebensowenig ein Liberaler wie Berija, der den Prozeß der Entstalinisierung in Gang gesetzt hatte. Ebenso wie Berija wollte er die Macht erringen, und ihm schmeichelte keinesfalls der Gedanke, als Feind der Intelligenzija zu gelten. Außerdem verstand er ebenso wie Berija, daß die Politik seiner Vorgänger, die das Regime in eine Sackgasse geführt hatte, gewisser Korrekturen bedurfte. Da er beobachtete, wie 1968 direkte Repressionen nur zum Wachstum unserer Bewegung beitrugen, empfahl er immer mehr präventive, »prophylaktische« Maßnahmen, die zudem noch den außenpolitischen Zielen des Regimes förderlich waren. Als er um 1970 zum Chefarchitekten der sowjetischen Außenpolitik und also auch zu dem für sie verantwortlichen Mann geworden war, nahm seine Vorliebe für geheim­dienstliche »operative« Maßnahmen noch stärker zu.


191

Diese Maßnahmen sollten das Ansehen des Sozialismus sowohl nach innen als auch nach außen verbessern und dem Regime einen zivilisierten Anstrich geben. Das war zweifellos eine seiner Absichten. Aber wenn man die von ihm stammenden Dokumente liest und sein geschicktes Spiel im Politbüro betrachtet, drängt sich der Verdacht auf, daß er aufgrund seiner inneren Neigungen solche Methoden bevorzugte. Nicht zufällig blühten und gediehen unter seiner Leitung der internationale Terrorismus, das System der sowjetischen Desinformation und die »Befreiungsbewegungen« in der Dritten Welt. 

Es gedieh auch die Entspannung — jene für den Westen so verhängnisvolle Erfindung, die es dem Regime erlaubte, einen einseitigen ideologischen Krieg zu führen — und das noch auf Kosten des Westens. Als die Entspannung 1980 in eine Krise geriet, entfaltete sich unter seiner Leitung eine mächtige »Friedens­bewegung«.

Schließlich verwandelte sich unter seinem Schüler und Nachfolger Gorbatschow die gesamte Innen- und Außenpolitik des Regimes in eine gigantische geheimdienstliche operative Maßnahme unter der Bezeichnung Perestroika.

Offensichtlich war er ein geborener Manipulator, der, wenn überhaupt an etwas, dann nur daran glaubte, daß die Geschichte eine Serie von Komplotten sei. In einem Bericht von 1978 (den zu kopieren mir nicht gelang und den ich auch nur zufällig überhaupt zu Gesicht bekam) mit dem Titel »Über unsere Beziehungen zum Vatikan« wird allen Ernstes die Wahl des polnischen Kardinals Wojtyla zum Papst als Teil eines internationalen Komplotts angesehen, mit dem Ziel, Polen vom Sowjetblock abzuspalten.

In der Tat wurden die Polen von den Imperialisten in die erste Reihe gestellt: in Washington — Brzezinski und im Vatikan Wojtyla. Das konnte kein Zufall sein, obwohl von einer Einflußnahme Brzezinskis auf die Papstwahl nichts bekannt ist. Mein KGB-Untersuchungsrichter pflegte zu sagen: »Wenn mehr als drei Zufälle zusammenkommen, dann ist es kein Zufall mehr.«

Obwohl ich keine Beweismittel dazu finden konnte, habe ich keinen Zweifel, daß es Andropow war, der einige Jahre später das Attentat auf Johannes Paul II inszenierte, denn er hatte recht gehabt — Polen begann sich abzuspalten.


192

Wie es für beschränkte Menschen, die zudem das westliche Leben wenig kannten, typisch ist, schrieben die kommunistischen Parteiführer dem Gegner ihre Methoden, Absichten und ihre Moral zu und reagierten auf eingebildete Machenschaften mit wirklichen und auf eingebildete Verleumdung mit echter. So konnten sie wie ein Boxer, der gegen seinen Schatten kämpft, niemals gewinnen. Verstanden sie die ganze Absurdität der Situation? Ja und nein. Wie alle Sowjetmenschen hatten sie die erstaunliche Fähigkeit, das eine zu sagen, etwas anderes zu denken und ein drittes zu tun. Ohne unter einer solchen Persönlichkeits­spaltung zu leiden, konnten die Parteimenschen gleichzeitig an ihre Ideologie glauben und nicht glauben, das System, das sie einerseits unterjochte und ihnen andererseits fast übermenschliche Macht verlieh, gleichzeitig lieben und hassen.

Andropow, so muß man annehmen, bildete hier keine Ausnahme. Er soll die Ideologie — oder genauer die Ideologen — nicht gemocht haben. Sie störten ihn bei der Arbeit, schränkten ihn bei seinen Handlungen ein und bereiteten ihm unnötige Probleme. Wer liebt schon seine Aufseher? Das bedeutet jedoch nicht, daß er die Ideologie bewußt ablehnte oder ihre Absurdität begriff. Wenn er mit dem Widerspruch zwischen Ideologie und realem Leben konfrontiert wurde, schrieb er, wie die meisten seiner Kollegen, diese Widersprüche den Machenschaften der Feinde zu und löste sie mit Hilfe von Machenschaften der »Freunde«. So war es am bequemsten, um so mehr, als sich stets Feinde und Freunde fanden, wenn man danach suchte. Welch anderen Ausweg gab es denn für einen Menschen, der unbeirrt an die Unfehlbarkeit der Ideologie glaubte? Entweder ist die Idee vollkommen, dann wird ihre Verwirklichung von den Feinden sabotiert, oder sie ist unvollkommen, dann wird man selbst zu ihrem Feind.

 

Das Vorhandensein unserer Bewegung bereitete dem Politbüro nicht nur praktische Probleme, sondern auch theoretisches Kopf­zerbrechen. Lenin hatte es leicht — er hatte mit dem echten Klassenfeind zu tun. Sogar bei Stalin stimmte die Sache noch irgendwie. Seine »Feinde« waren wenigstens noch vor der Revolution geboren, hatten sich »unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft« entwickelt und konnten somit in ihrem Bewußtsein »Reste des Kapitalismus« bewahrt haben. Wie aber war das Auftauchen von Feinden im klassenlosen sozialistischen Paradies zu erklären?  


193

Die meisten von uns waren doch in den Verhältnissen geboren und aufgewachsen, die nach den Rezepten kommunistischer Politiker geschaffen worden waren. Wir waren — bildlich gesprochen (in einigen Fällen sogar buchstäblich) — ihre Kinder.

Daher ist es nicht verwunderlich, daß das Regime sich mit solcher Freude Chruschtschows »psychiatrische« These zu eigen machte, obwohl Suslow bestimmt ins Schwitzen gekommen wäre, hätte er den ideologischen Beweis dafür antreten müssen, daß der Schwachsinn im Sozialismus unweigerlich zunimmt.

Weder Marx noch Lenin hatten das vorausgesehen. Aber auch dieses Schlupfloch wurde durch die mächtige internationale Kampagne gegen den Mißbrauch der Psychiatrie zugestopft. Es blieb nur eines übrig — alles den Ränken der Imperialisten zuzuschreiben.

Das Regime konnte nicht zugeben, daß ein Mensch allein in der Lage ist, die Absurdität des Sowjetregimes zu begreifen. Deshalb findet sich in jedem uns betreffenden Dokument die monotone Wiederholung der Phrasen über die Machenschaften der Geheimdienste und ideologischen Zentren des Gegners, die uns angeblich anleiteten. Daher auch die ausführliche »vom Klassenstandpunkt ausgehende« Begründung, die das Politbüro in seinen Botschaften in den Jahren 1975 bis 197750) an die »Bruderparteien« lieferte und aus der hervorgeht, daß die »Ausbeuterklassen« in der UdSSR »liquidiert« seien und

»das winzige Häuflein von Konterrevolutionären, die mit den Grundlagen unserer Gesellschaftsordnung gebrochen, den Kampf gegen sie aufgenommen haben und in der Regel mit den imperialistischen Kreisen in Verbindung stehen, keinesfalls ein gesetzmäßiges Produkt der inneren Entwicklung in der UdSSR darstellt ...

Die Überbleibsel des Kapitalismus im Bewußtsein einiger Leute werden systematisch von außen, von den imperialistischen Propagandazentren am Leben erhalten und stimuliert. Was die Spionage- und anderen subversiven Organe der bürgerlichen Staaten sowie die mit ihnen verbundenen Emigrantenorganisationen anbetrifft, so versuchen diese, die rückständige Geisteshaltung einiger Leute für ihre Sozialismus feindlichen Zwecke auszunutzen. Die Kommunisten müssen verstehen, daß das unausweichlich ist, solange sich auf der Welt zwei Systeme gegenüberstehen — das sozialistische und das kapitalistische, solange der Hauptinhalt der Weltgeschichte der Klassenkampf zwischen ihnen bleibt

Solcher Art war die ideologische Vorgabe, in deren Rahmen der KGB handeln mußte. Aber die Ideologen im Politbüro konnten sich leicht »vom Klassenstandpunkt ausgehende« Erklärungen ausdenken, die bis zum Ende aller Geschichte tauglich sein sollten. Sie mußten ja keine Politik auf diesen Erklärungen aufbauen. Sie brauchten die Suppe nicht auszulöffeln, wenn eine solche Politik nicht die erhofften Resultate brachte. 

Von Andropow wurde dann aber verlangt, diese angeblichen »Zentren« ausfindig zu machen und ihre Machenschaften zu vereiteln, wohl wissend, daß es sie gar nicht gab. Es war eine Aufgabe, die Kopfzerbrechen verursachte, besonders in der Entspannungsperiode, als die westlichen Regierungen sich ein Bein ausrissen, um den sowjetischen Führern ihre freundschaftlichen Gefühle zu demonstrieren. Was blieb ihm anderes übrig, als wenigstens ein solches »subversives Zentrum« zu erfinden?

194

 #

 

 wikipedia  Juri_Timofejewitsch_Galanskow  (1939-1972, 33)       wikipedia  Anatoli_Tichonowitsch_Martschenko  (1938-1986 48)

 wikipedia  NTS_-_Bund_der_russischen_Solidaristen 

 

www.detopia.de      ^^^^