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3.8.  Der NTS — ein »Subversives Zentrum«?

 wikipedia  NTS_-_Bund_der_russischen_Solidaristen 

 

 

194-199

So trat bei uns der berüchtigte NTS — der Volks-Arbeits-Bund der Russischen Solidaristen (Narodno-Trudowoj Sojus rossijskich solidaristow) — auf den Plan. Der KGB versuchte auf Biegen und Brechen, jedem von uns die Verbindung mit dem NTS nachzuweisen. Schon das unschuldigste von Possew, dem NTS-Verlag, herausgegebene Buch konnte, wenn es bei jemandem gefunden wurde, als Begründung für eine solche Beschuldigung gelten. Auf jeden Fall wurde dieser Umstand in der Presse so breitgetreten, als ob der Betreffende nur deshalb ins Gefängnis gekommen wäre. Wie konnte man dem entgehen, wenn es doch fast bis Mitte der siebziger Jahre so gut wie keine anderen russischen Verlage im Westen gab? Ein Manuskript, das ins Ausland mitgenommen wurde — selbst von einem Touristen, den man zufällig kennengelernt hatte — gelangte unausweichlich zum NTS.

Dementsprechend erwähnten die Berichte des KGB und die Schreiben des ZK den NTS als »eines« der subversiven Zentren (andere wurden, da nicht existent, auch nicht genannt) und schrieben ihm die ausgeklügeltsten Machenschaften zu, die sowjetische Propaganda bauschte seine Tätigkeit ins Phantastische auf.

Als das Politbüro über das Schicksal Solschenizyns entschied, stellte es seine »Kontakte mit dem NTS« als ganz besonders bösartiges Vergehen dar. Im Bewußtsein der Sowjetmenschen — ganz gleich ob unten oder oben — war der NTS eine gigantische Superkrake, allgegenwärtig und allmächtig, eine Verkörperung des Satans.

In Wirklichkeit war der NTS eine unbedeutende Emigrantenorganisation mit dubioser Vergangenheit, zweifelhafter Gegenwart und unbestimmter Zukunft. Er wurde 1930 in Jugoslawien von der profaschistischen Emigrantenjugend gegründet (zunächst nannte er sich Nationaler Arbeiterverband und stand unter starkem Einfluß Mussolinis), in den Jahren des Krieges arbeitete er mit den Deutschen zusammen und gab unter anderem Zeitungen in den von den Deutschen besetzten Gebieten heraus. Nach dem Krieg geriet er zusammen mit anderem Beutegut in die Hände der Amerikaner und Engländer, und im Kalten Krieg wurde er fast bis zum Tode Stalins zur Einschleusung von Spionagegruppen in die UdSSR, zur Anwerbung von Agenten und Informations­beschaffung benutzt. Da seine Gruppen aber immer wieder scheiterten, kam bei vielen der Verdacht auf, daß der KGB die NTS-Führung auf höchster Ebene infiltriert hatte. Die Organisation wurde durch eine Spaltung 1955 praktisch zerstört. Bis in die jüngste Zeit fristeten die zwei- bis dreihundert Mitglieder ein jämmerliches Dasein und wurden als Doppel­agenten­organisation sowohl vom KGB als auch von der CIA unterstützt.51)

 

Selbstverständlich hatten die meisten Mitglieder des NTS keine Ahnung von der Rolle, die ihre Organisation spielte. Davon wußte nur die Spitze, der sogenannte Führungskreis, dem ZK vergleichbar. Die Organisation hatte einen ausgesprochen konspirativen Charakter und war nach ähnlichen Prinzipien wie die bolschewistische Partei organisiert.  

Wie ich mich hier in der Emigration überzeugen konnte, waren die meisten Mitglieder ehrliche, oft tief religiöse Menschen, die ihren Ideen und ihrer Führung fanatisch ergeben waren. Vor allem waren das Vertreter der »zweiten Welle« der Emigration, das heißt jene, die Krieg, Gefangenschaft, die Lager für displaced persons und die Auslieferung durch die Alliierten an Stalin überlebt hatten. Für sie war der Dienst an Rußland, für seine Befreiung fast eine religiöse Sendung, und es war völlig unmöglich, ihnen zu erklären, was wirklich vorging.


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In den sechziger Jahren wußten wir das alles noch nicht. Dagegen wußte der KGB genau, was er tat. Man verstand dort sehr gut, daß wir mit dem NTS schon allein deshalb keine Verbindung haben konnten, weil wir das genaue Gegenteil von ihm waren. Während der NTS eine ausgesprochen subversive und zentralisierte Organisation war, die sich den bewaffneten Kampf gegen das Sowjetregime zur Aufgabe gemacht hatte und zur Revolution aufrief, handelten wir offen, gewaltlos, vertraten eine legalistische Position und hatten von Anfang an prinzipiell auf organisatorische Strukturen verzichtet.

Gerade deshalb wollte der KGB uns mit dem NTS in Verbindung bringen. Man konnte uns nicht schlimmer kompromittieren.

Wir begriffen ziemlich schnell, was der NTS darstellte und gingen dem KGB nicht auf den Leim, und zwar vor allem deshalb, weil der KGB uns diese Verbindung allzu beharrlich aufdrängte und uns in die Umarmung des NTS stoßen wollte. Auch der NTS ging zu grob vor, offensichtlich um seinen Auftrag schnell auszuführen. 

Ich hatte einen ersten Verdacht 1965, als ein Freund mir einen Umschlag von einem NTS-Kurier übergab. Dies erstaunte mich sehr, denn ich hatte mich nie um Kontakte mit dem NTS bemüht. Was sich im Umschlag befand, verwunderte mich noch mehr. Er enthielt eine eng mit der Maschine geschriebene »Instruktion« für die Bildung von »Fünfergruppen« (im Untergrund tätige Gruppen von je fünf Personen — die bevorzugte Taktik des NTS) sowie einen an mich adressierten Brief mit dem Vorschlag, das Lenin-Mausoleum in die Luft zu sprengen. Es lag auch farbloses Durchschlagpapier für geheime Mitteilungen bei und eine Anweisung, wie der Kontakt mit dem NTS aufrechtzuerhalten sei. Kurz gesagt, alles, was man braucht. Wäre der KGB in jenem Moment in meine Wohnung gestürmt, wäre das für ihn ein gefundenes Fressen gewesen.

Damals mußte ich jedoch nur über die unbeholfenen Verschwörer lachen und verbrannte sogleich die unwillkommenen Geschenke, trotzdem ging mir diese Episode lange Zeit nicht aus dem Kopf.


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Erstens war ich gerade aus der psychiatrischen Klinik entlassen worden, was meinem ungebetenen »Instrukteur« offensichtlich bekannt war. Zweitens, für wen und zu welchem Zweck hätte das Mausoleum in die Luft gesprengt werden sollen? Wahrscheinlich für den, der sich zu dieser »Operation« bekennen würde — und für den KGB, dem vielleicht nicht gerade die Sprengung selbst, wohl aber der Versuch einer Sprengung zupaß gekommen wäre. Diese Tat hätte nicht nur mich selbst, sondern auch alle meine Freunde ins Gefängnis gebracht. Was aber, wenn ich wirklich wahnsinnig gewesen wäre?

Der Verdacht einer Provokation erhärtete sich jedoch noch mehr, als 1968 der KGB im Prozeß gegen Ginsburg und Galanskow deren Verbindung mit dem NTS zum Hauptanklagepunkt machte und sich dabei so anstrengte, daß er übers Ziel hinausschoß.

Der Prozeß, der am 11. Dezember 1967 stattfinden sollte, wurde plötzlich ohne Angabe eines Grundes verschoben, er begann erst am 8. Januar. In der Zwischenzeit war etwas sehr Wichtiges geschehen. Wie auf Bestellung war eiligst ein NTS-Kurier mit Material »zur Verteidigung von Ginsburg und Galanskow« nach Moskau gereist. Er wurde verhaftet und trat beim Prozeß als Haupt-»Zeuge« oder lebendiger Beweis für die verbrecherischen Kontakte der Angeklagten auf. Der Trick war so offensichtlich, daß bei niemandem mehr Zweifel über die Verbindung zwischen NTS und KGB bestanden. Entweder hatte der KGB den Kurier einfach bestellt, oder er wußte zumindest von seiner bevorstehenden Ankunft und hatte den Prozeß verschoben, um auf ihn zu warten.

Damit war die Geschichte mit dem NTS jedoch noch nicht zu Ende. Der KGB hängte uns diese Verbindung in jedem weiteren Prozeß an, um von seinem heroischen Kampf gegen die »subversiven Zentren des Gegners« berichten zu können. NTS-Zellen zu »prophylaktischen« Zwecken wurden mitunter ganz aus KGB-Mitarbeitern gebildet, um »ideologisch unreife« Mitbürger ausfindig zu machen und gleichzeitig mit dem ausländischen Zentrum ein Spiel zu treiben. Mitunter ging ihnen irgendeine Jugendgruppe in die Falle, welche von der »Reputation« des NTS als schrecklichstem Feind des Regimes angelockt worden war. Aber öfter wurden Beweise bei den Verhören herausgepreßt.


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Als Belohnung für eine solche Entlarvung folgte meist unverzüglich die Freilassung, ein Auftritt im Fernsehen oder sogar die Erlaubnis zur Emigration.52 So geschah es zum Beispiel mit Jakir und Krasin 1973 — eine tragische Seite unserer Geschichte, über die zu berichten hier kein Platz ist.53

Inzwischen setzte die Führung des NTS ihr Spiel fort, ohne die mindesten Skrupel zu haben wegen ihrer Rolle als Provokateur bei diesen Tragödien. Sie spekulierte offensichtlich auf irgend jemandes Dankbarkeit und stellte diese Rolle noch besonders heraus, als sie mündlich und schriftlich verkündete, daß der NTS das »Dissidententum geschaffen« habe.

Nach dem tragischen Tod Galanskows im Lager 1972 erklärten sie ihn zu einem heimlichen Mitglied ihres Führungskreises. Selbst für diese Leute war das ein ungewöhnlicher Zynismus. Ich zweifle nicht daran, daß mir dasselbe Schicksal beschieden gewesen wäre, wenn ich nicht plötzlich ausgetauscht und befreit worden wäre.

Wie mir später Alik Wolpin erzählte, haben nach seiner Ausreise Vertreter des NTS lange versucht, ihn zum Eintritt in ihre Organisation zu überreden.

»Ihr Freund Bukowski ist unser Mitglied«, sagten sie, offensichtlich in der Annahme, daß ich Alik nicht mehr wiedersehen würde. Ich befand mich zu dieser Zeit im Wladimir-Gefängnis im Hungerstreik, und es waren Gerüchte im Umlauf, in denen mein Zustand als sehr kritisch bezeichnet wurde.

Zu lügen und sich fiktive Erfolge sowie Tausende nichtexistierender Mitglieder in Rußland zuzuschreiben schien dem NTS durch höhere Ziele gerechtfertigt. Von solcher Art ist nun einmal die Psychologie des Untergrunds, die »Dämonengesinnung«, wie wir sie damals nannten und von der wir uns durch unsere prinzipielle Absage an Untergrundtätigkeit unterschieden.

Der ehemalige KGB-Oberst Jaroslaw Karpowitsch berichtete 1990 in der Presse54), daß er lange Jahre Mitglied des Führungskreises des NTS gewesen sei, ihr »Mann in Moskau«. Nach seinen Worten55) wurde diese »Operation« unmittelbar von Andropow geleitet, der dabei von Breschnew selbst kontrolliert wurde.

So sehr der KGB sich auch bemühte, eine Verbindung mit dem NTS konnte er mir nicht anhängen. Er konnte nie offiziell eine solche Anschuldigung gegen mich vorbringen, und selbst als Kompromittierungs­maßnahme wurde sie nicht verwendet, bis 1976.


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Interessant ist, daß sie erstmals in einem Antwortschreiben des Politbüros an den Chef der Kommunistischen Partei Italiens Enrico Berlinguer(56) vier Monate bevor ich ausgetauscht wurde, auftauchte:

»Nach seiner Entlassung aus dem psychiatrischen Krankenhaus setzte Bukowski seine antisowjetische Tätigkeit fort. Im November 1965 gründete er eine >Fünfer-Kampfgruppe< zur Vorbereitung einer bewaffneten Aktion gegen die Sowjetmacht. Zu jener Zeit nahm Bukowski Kontakt mit der bekannten ausländischen antisowjetischen Organisation NTS auf.«

Unwillkürlich fragt man sich, woher das Politbüro über die »Instruktion« informiert war, die ich 1965 so sorgfältig verbrannt hatte. Und warum erinnerten sie sich jetzt, elf Jahre später, an den eigenen Mißerfolg? Sie müssen gewußt haben, daß ich bald ausgetauscht würde und wollten mir nur noch ein entsprechendes Image verschaffen.

In der Tat feuerten sie mir eine kräftige propagandistische Salve hinterher: Ich sei ein Krimineller (was denn sonst — politische Häftlinge gab es ja bei uns nicht) und ein Student, der nie eine Prüfung abgelegt hatte. (Sie selbst hatten mich von der Hochschule gejagt.) Schließlich erwähnten sie diese »Fünfergruppen«. (Ich zerbrach mir damals den Kopf, wie sie daraufgekommen waren.)

Die westliche Presse lachte über die »Fünfergruppen«, aber ich behielt dieses Image eines halbverrückten Terroristen für viele Jahre.

Der Mißerfolg hat dem KGB in solchen Fällen nie etwas ausgemacht, denn man glaubte fest daran, daß eine hundertmal wiederholte Lüge letzten Endes zur Wahrheit wird, wie es schon Beaumarchais formuliert hatte: »Verleumdet, verleumdet! - Irgend etwas wird schon hängenbleiben.«

 


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 wikipedia  Juri_Timofejewitsch_Galanskow  (1939-1972, 33)       wikipedia  Anatoli_Tichonowitsch_Martschenko  (1938-1986 48)

 wikipedia  NTS_-_Bund_der_russischen_Solidaristen 

 

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