3.10 Die Rolle der Intelligenz
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Es ist kaum zu beschreiben, in welche Ekstase die sowjetische Intelligenzija geriet, als Gorbatschow mit seiner Glasnost auf den Plan trat. Das konnte auch nicht anders sein, denn die Glasnost war ja gerade für sie bestimmt. Für sie und ihresgleichen im Westen — für alle diejenigen, denen sie als Rechtfertigung für ihr Kollaborantentum diente: »Nun, sehen Sie?« triumphierte man bei uns, »wozu brauchen wir Schriftsteller diesen ganzen Lärm, diese <Bewegungen>?« — »Sie sehen«, pflichteten die im Westen bei, »wir brauchen keine Konfrontation, sondern Zusammenarbeit.«
Auf dem Höhepunkt der Glasnost, im Frühjahr 1987, schrieben wir, zehn im Westen lebende Schriftsteller, Künstler und Dissidenten, wütend über diese phantastischen Lügen und besonders über die westliche Euphorie, einen gemeinsamen Brief an die Presse, um die öffentliche Begeisterung wenigstens etwas zu dämpfen. Dieses später als der »Brief der Zehn« bekannt gewordene Schreiben erschien damals in den Zeitungen der meisten westlichen Länder, im »Le Figaro«, in der Londoner »The Times«, der »New York Times« unter anderen61 sowie auch — völlig überraschend für uns — in den »Moskowskie nowosti«, dem damals »fortschrittlichsten« sowjetischen Perestroika-Blatt.
Wir brachten nur zum Ausdruck — und das noch in einem sehr zurückhaltenden Ton —, daß die Begeisterung für Gorbatschows »Reformen« verfrüht sei, solange sie nur aus Versprechungen, zudem noch äußerst unklaren, bestehen und das Land von der menschenfresserischen Ideologie des Marxismus-Leninismus beherrscht wird. Der Brief war an den Westen und nicht an die sowjetischen »Reformer« gerichtet, aber ach, mit welchen Schimpfwörtern bedachten uns die sowjetischen »Liberalen«! So viele fanden sich selbst in der alten Zeit nicht in der »Prawda«: »Abtrünnige«, »eingefleischte Sowjetfeinde« und natürlich »Agenten der CIA«.
Den Brief hatten sie selbst zwar auch abgedruckt (um die »Echtheit« ihrer Glasnost zu demonstrieren), bekamen dann aber wohl Angst vor der eigenen Courage und begannen zu schimpfen, wobei sie nicht einmal vor der Wiederholung der abgedroschensten KGB-Schablonen zurückschreckten.
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Aber natürlich, hatten wir doch gewagt, ihre Glasnost anzutasten! Wir, die Abtrünnigen und Verräter, die die Heimat auf der Suche nach einem leichten Leben (!) verlassen hatten, während sie geblieben seien, um zu leiden und zu kämpfen. Wir seien die Feinde der Heimat, sie — die Kämpfer für ihre Verbesserung. So unwahrscheinlich es klingt, jetzt erklärten sie uns, was Menschenrechte sind. Doch je mehr sie schimpften — Argumente hatten sie ja nicht —, desto stärkere Verbreitung fand unser Brief im Land. Er wurde in der Aushängevitrine am Verlagsgebäude der »Moskowskie nowosti« fotografiert und dann von Tausenden von Hand abgeschrieben.
Das war wohl das erstemal in der Geschichte, daß der Samisdat sein Material aus einer offiziellen Publikation erhielt. Die Partei mußte ernsthafte Verteidigungsanstrengungen unternehmen. Nicht mehr nur die Zeitung »Moskowskie nowosti«62, die hauptsächlich für Ausländer und einen kleinen Kreis von zuverlässigen »Perestroika«-Leuten herausgegeben wurde, sondern auch alle übrigen »fortschrittlichen« Presseerzeugnisse, das heißt diejenigen, welchen das Politbüro erlaubte, ein klein wenig Kühnheit zu demonstrieren und dem Fortschritt vorauszulaufen, wurden gezwungen, sich an der Polemik zu beteiligen und auf ihren Seiten »Leserbriefe von Werktätigen« und »Diskussionen am Runden Tisch« zu publizieren.
Auch die Zeitschriften »Ogonjok« und »Nowoje wremja« stimmten ein — alle in den besten Traditionen der Propaganda à la Jakowlew und aus der Zeit unserer Prozesse.63 Der Skandal zog sich über mehrere Monate hin, aber es ging den Reformern wie den Fliegen — je mehr sie zappelten, desto fester hingen sie am Klebestreifen. War das ein Vorzeichen, wohin diese ihre Glasnost-Spiele führen würden?
Während die »Perestroika«-Kämpfer uns auf den Seiten ihrer »liberalen« Presse beschimpften, bekamen wir von privaten Bekannten ganz andere Vorwürfe zu hören:
»Na Jungens, ihr habt uns schön hereingelegt, uns dazu <provoziert>, euren Brief abzudrucken, und jetzt kriegen wir dafür einen aufs Dach. Die <Moskowskie nowosti> sollen ganz dichtgemacht werden, droht man. Warum habt ihr uns das angetan? Wir stören doch niemanden, sondern machen nur dem Westen etwas vor. Wir verstehen doch so gut wie ihr, was vor sich geht.«
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Was sollten wir ihnen entgegnen, wenn es für sie etwas »Normales« war, »dem Westen etwas vorzumachen« — ebenso normal, wie Ausländer zu denunzieren? Wir waren also auch noch schuld an allem, hatten sie »hereingelegt«, »provoziert«.
Wie eine meiner Mitschülerinnen mir einmal sagte: »Du kannst dir nicht vorstellen, wie du uns alle hereingelegt hast!«
»Wieso das?«Abb. Karikatur aus der »Literaturnaja gaseta«
Der Text in der Karikatur ist ein schwer übersetzbares Wortspiel.
"Wie steht's bei dir mit den Menschenrechten?"
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»Deinetwegen haben wir uns für den Samisdat interessiert. Einige sind erwischt worden, konnten beinahe nicht fertig studieren und ihre Dissertationen machen.«
»Nun, entschuldige ...«, konnte ich nur sagen. Was hätte ich noch antworten sollen? Es stimmt, hätten sie mich nicht als Beispiel vor Augen gehabt, dann hätten sie alle viel glücklicher gelebt.
Als Gorbatschow und Jakowlew ihr abgekartetes Perestroika-Spiel begannen, wußten sie sehr wohl, daß sie sich auf die sowjetische Intelligenzija verlassen konnten. Wenn ihnen irgend etwas Sorgen bereitete, dann war es die Möglichkeit, daß wir Dissidenten irgendwelchen Einfluß nehmen könnten. Deshalb waren sie darauf bedacht, uns zu isolieren und von der weiteren Entwicklung abzuschneiden. Diese Bemühungen begannen, wie aus den Dokumenten zu ersehen ist, lange vor dem »Brief der Zehn«, ja überhaupt lange vor der Glasnost.
»Die dem Komitee für Staatssicherheit der UdSSR vorliegenden Materialien zeugen davon, daß der Gegner bei seinen zielgerichteten subversiven Aktionen mit dem Ziel, den Kurs der Partei in Richtung auf eine Beschleunigung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes und einer weiteren Vervollkommnung der gesellschaftlichen Prozesse zu diskreditieren, sein Hauptaugenmerk auf die Vertreter der sowjetischen schöpferischen Intelligenzija, in erster Linie auf die Literatur- und Kunstschaffenden, richtet«, berichtete der Chef des KGB Tschebrikow im Juni 1986.64)
»In Anbetracht des allgemeinen Aufschwungs der politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten im Leben unseres Landes modernisieren die westlichen Geheimdienste und Zentren für ideologische Diversion die Formen und Methoden ihrer subversiven Tätigkeit, die auf die ideologische Deformation der sozialistischen Gesellschaft und das Anheizen revisionistischer und oppositioneller Stimmungen ausgerichtet ist, und versuchen, die sowjetischen Schriftsteller zur Abkehr von den Prinzipien des sozialistischen Realismus und der Parteilichkeit in der Literatur zu veranlassen.
Zur Erreichung seiner feindlichen Absichten ist der Gegner bestrebt, das Bewußtsein der sowjetischen Intelligenzija mit einer nihilistischen Bewertung der Praxis des sozialistischen Aufbaus der UdSSR zu durchsetzen. Politisch entartete Elemente, wie Solschenizyn, Kopelew, Maximow, Axjonow, Wladimow und ihresgleichen, die sich aktiver feindlicher Tätigkeit verschrieben haben, werden >reanimiert< und in die Arena des ideologischen Kampfes geschickt.
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Es ist bemerkenswert, daß gerade diese Fragen in Solschenizyns provokantem Brief an den 4. Schriftstellerkongreß der UdSSR im Jahre 1967 dargelegt sind, den damals 80 Mitglieder des Schriftstellerverbandes unterstützten, darunter Rybakow, Swetow, Solouchin, Okudschawa, Iskander, Moschajew, Roschtschin und Komilow.Viele von ihnen haben unmittelbar an antisowjetischen Provokationen und Propagandaaktionen großen Umfangs teilgenommen. Im Auftrag der Geheimdienste machen sie Gesinnungsgenossen ausfindig und versuchen, illegale Verbindungskanäle zu negativ eingestellten Vertretern der schöpferischen Intelligenzija unseres Landes herzustellen.
Im Hinblick auf den Kurs der Partei in Richtung auf eine weitere Demokratisierung ist der Gegner in erster Linie bestrebt, jene Schriftsteller massiv zu beeinflussen, die schon früher ideologische Schwankungen erkennen ließen, die nicht immer staatsbürgerliche Reife und Klassenbewußtsein unter Beweis stellten, direkt oder versteckt die Richtigkeit der Parteilinie bei der Kollektivierung der Landwirtschaft, der Beseitigung des Kulakentums, dem Kampf gegen den Trotzkismus und in der Nationalitätenpolitik der KPdSU in Zweifel zogen; die das Fehlen sozialer Gerechtigkeit und schöpferischer Freiheit in unserem Lande beanstandeten und die >Abschaffung der Zensur< sowie der Kontrolle der Parteiorgane über die Literatur und die Kunst forderten.
Die vorliegenden Angaben beweisen, daß diese Schriftsteller in der nachfolgenden Periode von den Geheimdiensten und Zentren für ideologische Diversion des Gegners genau beobachtet wurden. Gegenwärtig wird ihn ideologische Beeinflussung sowohl seitens der Vertretungen der kapitalistischen Länder in Moskau als auch bei Auslandsreisen im Rahmen des internationalen Kulturaustauschs bedeutend verstärkt ...
... Der Gegner versucht, die Sache so darzustellen, als hätte zur Zeit in der russischen Literatur wie auch im gesellschaftlichen Bewußtsein Rußlands eine neue Epoche begonnen, die weit weniger von der ideologischen Politik der Partei abhängig wäre ... Im Denken der Gesellschaft erfolge eine grundlegende Neubewertung der gesamten geistigen und historischen Situation. Im Hinblick darauf haben die Geheimdienste die These von der <Einheit der russischen Kultur in der Welt> aufgestellt und versuchen, diese den Vertretern der literarischen Öffentlichkeit in der UdSSR aufzuoktroyieren.
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Aufgrund ihrer Auffassung von >einheitlichen geistigen Grundlagen und Zielen< des Schaffensprozesses propagieren sie ihre Idee einer Verschmelzung der künstlerischen Intelligenzija in unserem Lande mit ihren ehemaligen Vertretern, die im Westen antisowjetische Aktivitäten betreiben und als >Genien der russischen Literatur< in den Himmel gehoben werden.
Nach vorliegenden Angaben sprechen sich einzelne sowjetische Schriftsteller in der Öffentlichkeit und in privaten Gesprächen für eine Revision in der Bewertung der Person und des Schaffens einiger Renegaten aus und bestehen darauf, daß deren Werke als integrierender Bestandteil der >einheitlichen russischen Kultur< betrachtet werden. Im einzelnen vertraten Michail Roschtschin und Pristawkin die Ansicht, daß die Möglichkeit der Rückkehr Solschenizyns in die UdSSR bestehe und seine >Werke< in nächster Zeit in unserem Land veröffentlicht werden sollten. W. Leonowitsch rief im April dieses Jahres auf einer Versammlung der Moskauer Dichter öffentlich dazu auf, die Haltung gegenüber den im Westen lebenden Abweichlern Woinowitsch und Brodski zu überdenken. Im März 1986 äußerte er sich auf einem Abend im Majakowski-Museum äußerst positiv über das Schaffen des Sowjetfeindes Galitsch und drückte seine Unzufriedenheit darüber aus, daß man >bei uns seine mutigen Werke nicht druckt<. Okudschawa nannte ihn auf einem Allunions-Slawisten-Seminar in der Ortschaft Narwa-Jöesuu, Estnische SSR, den bedeutendsten Liedermacher Rußlands<.
In der letzten Zeit erhalten verschiedene Behörden Erklärungen und Briefe zugunsten bestimmter wegen gesetzwidriger Aktivitäten verurteilter Personen, die vom Westen aktiv für sowjetfeindliche Ziele benutzt werden und deren Schmähschriften im Westen zu einem >integrierenden Bestandteil der russischen Literatur< erklärt worden sind. ... Das Komitee für Staatssicherheit der UdSSR ergreift die erforderlichen Maßnahmen, diesen subversiven Bestrebungen des Gegners innerhalb der schöpferischen Intelligenzija entgegenzuwirken.«Das hat das ZK beunruhigt. Gorbatschow selbst ordnete bezüglich dieses Berichts an:
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»1. An alle Mitglieder des Politbüros des ZK der KPdSU, Kandidaten des Politbüros des ZK der KPdSU und Sekretäre des ZK der KPdSU zu verschicken.
2. An die Genossen J. K. Ligatschow und A. N. Jakowlew. Ich bitte um Rücksprache mit mir.
M. Gorbatschow. 16. Juni 1986.«
»Streng geheim
Einziges Exemplar
(Arbeitsaufzeichnung)
SITZUNG DES POLITBÜROS DES ZK DER KPDSU
26. Juni 198665
Den Vorsitz führte Genosse M. S. GORBATSCHOW Anwesend waren die Genossen W. I. Worotnikow, A. A. Gromyko, L, N, Saikow, J. K. Ligatschow, N, I. Ryschkow, M. S. Solomenzew, E. A. Schewardnadse, P. N, Demitschew, W. I. Dolgich, S, L. Sokolow, N. W. Talysin, A. P. Birjukowa, A. F. Dobrynin, M. W. Simjanin, W, A. Med-wedew, W, P. Nikonow, G. P. Rasumowski, A. N. Jakowlew, I. W. KapitonowGORBATSCHOW: Hören wir uns die Informationen des Genossen A. N. Jakowlew über den Verlauf des Kongresses des Schriftstellerverbandes der UdSSR an.
JAKOWLEW: Im großen und ganzen verläuft der Schriftstellerkongreß in den von den Parteibeschlüssen vorgegebenen Bahnen, aber in stürmischer Atmosphäre. In den Sektionen wurden scharfe persönliche Urteile gefällt. Dabei kam es zu Ausfällen. Der Dichter Kunjajew hat sich mit einem anderen Schriftsteller gerauft. In den Diskussionen wird die Frage, ob die Mitglieder des Vorstands des Schriftstellerverbandes in periodischen Abständen abgelöst werden sollten, diskutiert. Es wurde vorgeschlagen, sie für nicht länger als zwei Perioden zu wählen. Die gegenwärtigen Mitglieder der Führung des Schriftstellerverbandes wurden >Kinder ihrer Zeit< genannt, und es wurde gesagt, daß sie mit dieser Zeit auch abtreten sollten. Der Saal reagierte auf solche Erklärungen mit Beifall.
Die Führung des Schriftstellerverbandes wurde wegen ihrer Geheimniskrämerei, ihres Mangels an Demokratie und ihres Bürokratismus kritisiert. Es wird der Mangel an Transparenz in der Arbeit des Vorstands und der Führung des Schriftstellerverbandes hervorgehoben.
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Es wird viel davon gesprochen, daß es keine >unantastbaren Schriftsteller< die außerhalb jeglicher Kritik stehen, geben sollte.
Das Thema der Vetternwirtschaft wurde angesprochen. Das gegenwärtige System der Autorenrechte wurde kritisiert.
Wosnessenski machte den Vorschlag, das ZK der KPdSU zu bitten, zu dem seinerzeit gefaßten Beschluß bezüglich der Zeitschriften >Swesda< und >Leningrad< Stellung zu nehmen. Dieser Vorschlag wurde mit Applaus bedacht ...
... Jetzt zur möglichen Zusammensetzung der neuen Führung des Schriftstellerverbandes. Markow befindet sich zur Zeit im Krankenhaus. Man könnte vielleicht folgende Variante ins Kugefassen: Markow - Vorsitzender des Vorstands, Bondarew - Erster Sekretär. Aber daneben könnte ein Arbeitsausschuß, bestehend aus den Genossen Bykow, Salygin, Rasputin, Aitmatow und einigen anderen Schriftstellern, gebildet werden. Auch die Genossen Jewtuschenko, Wosnessenski und Roschdestwenski sind im Spiel. Es ist damit zu rechnen, daß die allgemeine Stimmung sich so entwickelt, daß die alte Führung durchfallen kann.
GORBATSCHOW: Ich glaube, wir sollten nicht auf eine einzige Person setzen, man sollte nicht für eine Begrenzung der Kandidatenzahl für den Vorstand kämpfen.
JAKOWLEW: Wenn in die Kandidatenliste für die Abstimmung weitere zehn Personen aufgenommen würden, könnte die alte Führung durchfallen. Für diesen Fall könnte sich als Alternative anbieten: Vorsitzender des Vorstands - Genosse Salygin, und Erster Sekretär - Genosse Karpow. Aber auch in diesem Fall wäre es empfehlenswert, einen Arbeitsausschuß zu bilden.
GROMYKO: Für welche Variante sprechen sich die Schriftsteller selbst aus?
JAKOWLEW: Was die erste Variante - die Wahl des Genossen Markow zum Vorsitzenden - betrifft, so ist in Betracht zu ziehen, daß er schon sehr lange in der Führung des Schriftstellerverbandes ist, und dergleichen wird ja gerade kritisiert.
GORBATSCHOW: Natürlich wäre die Wahl des Genossen Markow die beste Variante. Aber wie ist die Kandidatur des Genossen Bondarew einzuschätzen?
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GROMYKO: Er ist ein großer Schriftsteller.
SOLOMENZEW: Er hält sich an die richtige Linie.
WOROTNIKOW: Man könnte den Genossen Bykow und einige andere dazunehmen.
MEDWEDEW: Aber wird der Genosse Bondarew durchfallen?
JAKOWLEW: Das ist nicht anzunehmen.
GORBATSCHOW: Wenn der Genosse Markow nicht durchkommt, könnte man auf den Genossen Salygin setzen. Aber er ist alt, hat wenig Kraft, Man sollte wohl doch am besten auf den Genossen Bondarew setzen.
SIMJANIN: Aber was soll aus dem Sekretariat des Vorstands des Schriftstellerverbands werden?
GORBATSCHOW: Es soll bestehen bleiben.
JAKOWLEW: Wenn wir auf den Genossen Bondarew als Ersten Sekretär setzen, müssen wir darüber mit dem Genossen Markow sprechen.
GORBATSCHOW: Mit dem Genossen Markow muß über alles gesprochen werden. Man muß seine Verdienste würdigen. Auch wenn er nicht gewählt wird, muß man ihn gut behandeln.
JAKOWLEW: Aber sollte man auch mit dem Genossen Bondarew reden?
LIGATSCHOW: Nach der Wahl des Vorstands des Schriftstellerverbandes.
GORBATSCHOW: Richtig. Man muß ja ohnehin die Wahl unter denen treffen, die in den Vorstand gewählt worden sind. Filipp Denissowitsch, was ist Ihre Meinung?
BOBKOW: (Stellvertretender Vorsitzender des KGB) Wenn Nachrichten über unsere Favorisierung des Genossen Bondarew durchdringen, dann kann es passieren, daß er nicht gewählt wird. Diese Tatsache sollte also nicht verfrüht bekannt gemacht werden. - Was den Genossen Bondarew angeht, so ist das eine gute Kandidatur.
SOLOMENZEW: Vielleicht braucht man die Tatsache, daß es einen Wechsel in der Führung geben wird, nicht zu verheimlichen, aber nicht sagen, welche Person man konkret für die Wahl vorgesehen hat.
GORBATSCHOW: Ja, man sollte den Genossen Bondarew vor Unannehmlichkeiten bewahren.
LIGATSCHOW: Ein Führungswechsel im Schriftstellerverband ist also fällig.
GROMYKO: Wir dürfen den Führungswechsel im Schriftstellerverband
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nicht als schmerzhaft empfinden. Es ist wichtig, daß die neue Führung schöpferisch ist und Autorität genießt. Es gab Zeiten, als kein Schriftstellerverband existierte, es aber trotzdem Autoritäten in der Literatur gab.
GORBATSCHOW: Man muß natürlich der allgemeinen Stimmung zugunsten einer Erneuerung der Führung Rechnung tragen. Dramatisieren sollte man das nicht. Jegor Kusmitsch (Ligatschow, W, B.) hat recht, daß ein Wechsel in der Führung des Schriftstellerverbandes fällig ist. Einigen wir uns in erster Linie darauf, uns auf die Wahl des Genossen Markow als Vorsitzenden und des Genossen Bondarew als Sekretär zu orientieren. Dafür müssen wir unsere Einflußmöglichkeiten nützen. Auf dem Kongreß gibt es doch eine Sitzung der Parteigruppe?
JAKOWLEW: Ja.
GORBATSCHOW: Gehen wir also davon aus, und der Genosse A. N. Jakowlew soll auf den Kongreß gehen.«
Im Ergebnis wurde der Genosse Markow Vorsitzender und Sekretär die »Reservevariante«, der Genosse Karpow, ein patriotischer Generalmajor a.D., der als Liberaler galt. Welche Begeisterung herrschte sowohl im Osten als auch im Westen über diesen revolutionären Wechsel! So begann die neue Ära — ihre Glasnost.
Vor mir liegt das Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 11. März 198566), auf der Gorbatschow zum Generalsekretär gewählt wurde, und zwar einstimmig. Das ist ein langes und langweiliges Dokument, voller Lobhudelei der Anwesenden gegenüber Gorbatschow. Daher beschränke ich mich hier nur auf die Reden derjenigen, die am häufigsten als Gorbatschows Konkurrenten für dieses Amt, als Feinde seiner Politik, »Konservative« und »Reaktionäre« genannt wurden.
»GRISCHIN: Wir entscheiden heute eine außerordentlich wichtige Frage. Es handelt sich um die Weiterführung der Sache der Partei, die Kontinuität der Führung. Der Generalsekretär des ZK — das ist derjenige, der die Arbeit des Zentralkomitees organisiert. Deshalb sollte dieses Amt eine Person bekleiden, die die höchsten Anforderungen erfüllt. Sie soll Wissen, Prinzipientreue, Erfahrung und außerdem ein hohes Maß an Toleranz besitzen.
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Wir haben gestern abend, nachdem wir von Konstantin Ustinowitschs (Tschernenko, W. B.) Tod erfahren hatten, dadurch, daß wir Michail Sergejewitsch zum Vorsitzenden der Kommission für die Trauerfeierlichkeiten bestimmten, in gewisser Weise eine Vorentscheidung getroffen. Nach meiner Ansicht erfüllt er in höchstem Grade die Anforderungen, die an einen Generalsekretär des ZK gestellt werden. Er ist ein gebildeter Mensch. Er hat die juristische Fakultät der Moskauer Universität und die Ökonomische Fakultät des Landwirtschaftsinstituts absolviert. Er hat große Erfahrung in der Parteiarbeit. Deshalb kann es, so denke ich, für uns keinen anderen Vorschlag geben, als M. S. Gorbatschow für das Amt des Generalsekretärs des ZK der KPdSU zu nominieren. Was uns anbetrifft, so wird jeder auf seinem Posten ihn aktiv unterstützen.
ROMANOW: Michail Sergejewitsch Gorbatschow hat reiche Lebenserfahrungen. Er begann ganz unten mit der Arbeit im Komsomol, danach in den Parteiorganisationen. Hier hat er seine Fähigkeiten als Organisator und Führungspersönlichkeit für die Massen unter Beweis gestellt. Aufgrund meiner früheren Arbeit kann ich sagen, daß das Parteiaktiv die Tätigkeit M. S. Gorbatschows hoch einschätzt. Er ist ein gebildeter Mensch. Er hat zum Beispiel sehr schnell Zugang zu vielen überaus komplizierten Fragen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts gefunden, wobei er nicht nur die Dinge erfaßte, sondern auch Lösungswege vieler Probleme erkannte, die mit der Einführung wissenschaftlich-technischer Errungenschaften in die Produktion verbunden sind. Nikolai Alexandrowitsch Tichonow hat hier von Michail Sergejewitsch Gorbatschows Arbeit in der Kommission zur Verbesserung der Wirtschaftsabläufe gesprochen. Den Ton in dieser Kommission gibt der Genosse Tichonow an, und Michail Sergejewitsch bringt auf taktische Weise seine Vorschläge ein, wobei er sich auf die Arbeit der ZK-Abteilungen stützt. Die meisten dieser Vorschläge finden bei der Kommission Unterstützung.
In seiner Arbeit ist Michail Sergejewitsch sehr anspruchsvoll. Aber diese Strenge geht zusammen mit aktiver Hilfsbereitschaft und Vertrauen zu den Menschen. Deshalb bin ich der Meinung, daß er voll und ganz die Kontinuität der Führung unserer Partei gewährleistet und ohne Einschränkung die Verpflichtungen, die ihm auferlegt werden, erfüllen wird.TSCHEBRIKOW: Den Ton unseres heutigen Gesprächs hat Andrej Andrejewitsch Gromyko vorgegeben. Er hat sehr richtig gesagt, daß wir in die Zukunft blicken müssen. Die Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken, ist jetzt wichtiger als alles andere.
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Mir haben auch sehr die Worte A. A. Gromykos gefallen, daß die Einheit des Politbüros, des Zentralkomitees und unserer gesamten Partei gewahrt und gefestigt werden muß. Wenn wir beute vom Amt des Generalsekretärs des ZK der KPdSU sprechen, müssen wir genau bestimmen, was das für ein Mensch sein soll, der diese äußerst schwierige Aufgabe zu erfüllen hat. leb bin überzeugt, daß Michail Sergejewitsch Gorbatschow sich dieser Aufgabe bestens gewachsen zeigen wird. L. I. Breschnew, J. W. Andropow und K. U. Tschernenko haben ihn wegen dieser Eigenschaften sehr geschätzt.
Der Führer unserer Partei muß über ein solides theoretisches und praktisches Fundament verfügen. Man könnte sich auf eine ganze Reihe von Aufsätzen und Reden Michail Sergejewitschs berufen. Ich möchte hier aber nur seine Rede auf der neulich abgehaltenen Allunions-Theoriekonferenz nennen. Ich glaube, daß jeder von uns bemerkt bat, was für eine kühne und gute Rede das war.
Michail Sergejewitsch Gorbatschow ist ein kontaktfreudiger Mensch. Er kann gut zuhören und zeigt Verständnis für die Probleme, mit denen er konfrontiert wird. Und es gibt viele Probleme in unserem Land. Für ihre Lösung brauchen wir einen Mann, der diese Probleme gut versteht - einen Mann, der eine große Schaffenskraft und Bildung besitzt. Eine solche Bildung und Schaffenskraft besitzt M. S. Gorbatschow in hohem Maße.Als ich heute ins Plenum ging, habe ich mich natürlich mit meinen Arbeitskollegen beraten. Unsere Behörde muß nicht nur mit außenpolitischen, sondern auch mit innenpolitischen und sozialen Problemen gut vertraut sein. In Anbetracht all dieser Umstände haben die Tschekisten mich beauftragt, mich für die Kandidatur des Genossen Michail Sergejewitsch Gorbatschow für das Amt des Generalsekretärs des ZK der KPdSU auszusprechen. Sie verstehen, daß die Stimme der Tschekisten, die Stimme unseres Aktivs, die Stimme des Volkes ist. Was uns anbetrifft, so werden wir unsererseits in unserer Arbeit die Aufgaben, die vor dem Komitee für Staatssicherheit stehen, nach bestem Vermögen erfüllen. Das fest geschlossene Kollektiv der Tscheka wird alles tun, um unter der Führung des Politbüros des ZK der KPdSU, an dessen Spitze der neue Generalsekretär des ZK der KPdSU M. S. Gorbatschow stehen wird, noch besser zu arbeiten.
DEMITSCHEW: Ich möchte mich sehr kurz fassen. Ich bin überzeugt, daß wir heute die bestmögliche Wahl treffen, Michail Sergejewitsch Gorbatschow ist im ganzen Lande wohlbekannt.
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Auch im Ausland kennt man ihn recht gut. Daß er auch im Ausland seinen Mann steht, haben seine Reisen nach England, Kanada und in die Volksrepublik Bulgarien überzeugend bewiesen.
GROMYKO: Auch nach Italien.
DEMITSCHEW: Michail Sergejewitsch Gorbatschow hat ein Gespür für das Neue, eine umfassende Bildung und Organisationstalent, und er hat Charme. Es ist kein Geheimnis, daß er sich nach dem Tod J. W. Andropows mit allen Fragen der Arbeit des Zentralkomitees befaßt hat, aber besonders viel hat er für die Entwicklung des agrarindustriellen Sektors geleistet. Ohne Übertreibung kann gesagt werden, daß sich unsere Wissenschaftler, unsere schöpferische Intelligenz und unsere Schriftsteller zu ihm hingezogen fühlen. Er ist dieses hoben Amtes in jeder Beziehung würdig.
LIGATSCHO W: Vor allem möchte ich hier auf das hinweisen, was A. A. Gromyko in seiner Einleitung gesagt hat. Michail Sergejewitsch Gorbatschow besitzt zweifellos alle Qualitäten eines großen Politikers. Außerdem verfügt er über große intellektuelle und physische Kraftreserven. Es ist wichtig zu erwähnen, daß für M. S. Gorbatschow ein großer Arbeitseifer, das Bestreben, im großen und im kleinen neue Wege zu geben, und die Fähigkeit, die Arbeit zu organisieren, charakteristisch sind. Das hat, wie Sie alle verstehen, große Bedeutung für die gesamte parteiorganisatorische Arbeit und die Verbesserung ihres Stils und ihrer Methoden. Diese Arbeit umfaßt die Kaderpolitik, die Tätigkeit der Sowjets, der Gewerkschaften und des Komsomol, und mit ihr ist Michail Sergejewitsch Gorbatschow, der in den Partei-, Gewerkschafts- und Komsomolorganisationen, in unserem Parteiaktiv und im ganzen Volk hohes Ansehen genießt, gut vertraut. Davon haben 'mir heute zahlreiche Sekretäre von Gebiets- und Regionskomitees berichtet. Die 'Nominierung M. S. Gorbatschows wird ein Gefühl des Stolzes in unserem Volke hervorrufen und die Autorität des Politbüros des ZK der KPdSU stärken.«
In diesem Stil äußerten sich alle anwesenden Mitglieder des Politbüros und Sekretäre des ZK. (Es fehlte nur Schtscherbizki, der sich zu einem Besuch in den USA befand und bis zum Beginn der Sitzung noch nicht zurückgekehrt war.) Wo ist denn der »Kampf um die Thronfolge«? Nicht der geringste Hinweis darauf, nicht der Schatten eines Zweifels.
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Woher kommen die Gerüchte (und sogar Behauptungen), daß Gorbatschow beinahe nur von einer Minderheit gewählt wurde? Aber vielleicht war für sie die Idee der Perestroika eine Überraschung? Im Gegenteil, die Versammelten wußten sehr gut, welchen Plan der neue Generalsekretär in die Tat umzusetzen hatte. Deshalb unterstrichen sie die Energie und die Aufgeschlossenheit des Kandidaten für das Neue sowie die Probleme, vor denen das Land stand. Die Nachfolgerfrage war wohl schon lange vorher entschieden worden, möglicherweise schon zu Andropows Zeiten, und das, was am 11. März geschah, war eine reine Formalität.
In den Dutzenden von Sitzungsprotokollen des Politbüros Gorbatschows fand ich nicht das geringste Anzeichen eines »Kampfes«. Natürlich gab es Meinungsverschiedenheiten, Zweifel, ja sogar Streit in Zusammenhang mit konkreten Problemen. Diese gab es aber schon unter Breschnew. Jetzt waren es eher weniger Meinungsverschiedenheiten, und sie verliefen weniger heftig als Andropows Auseinandersetzungen mit den »Ideologen«.
Wenn einer »konservativ« war, dann war es Gorbatschow selbst, der stets eine vorsichtige Position einnahm. Dafür wurden die »unangenehmen« Probleme bewußt denen übertragen, die als Konservative gelten sollten, und die »angenehmen« den »Reformern«.
11. Lebendige Seelen
Natürlich war bei einer so großangelegten Vorspiegelung von Demokratie die Hauptaufgabe für die Machthaber, die Initiative nicht aus den Händen zu geben und nicht zuzulassen, daß sich eine reale Opposition konsolidierte. Das Beispiel der polnischen Solidarnosc mußte ihnen als düstere Mahnung vor Augen stehen. Deshalb mußten, bevor die eigenen »Fronten« gegründet wurden, erst einmal die oppositionellen Gruppen, die sich in einem zwanzig Jahre währenden Kampf mit dem Regime herausgebildet hatten, zerschlagen werden. Vor allem mußte man die widerspenstigen politischen Gefangenen kleinkriegen, ihrer moralischen Autorität berauben und zur »geistigen Abrüstung« zwingen. Andererseits konnte man nicht auf Erfolg im Westen rechnen, wenn man das Problem der politischen Gefangenen nicht aus der Welt schaffte.
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Mit dieser Frage befaßte sich der zukünftige Friedensnobelpreisträger gleich nach seinem Machtantritt. Äußerlich war 1985 keinerlei Milderung von oben festzustellen, im Gegenteil, die Verhaftungen und Verfolgungen nahmen eher wieder zu. Das Land mußte von potentiellen Oppositionellen »gesäubert« werden. So wird im Bericht des KGB-Chefs Tschebrikow an Gorbatschow persönlich über die von seiner Behörde 1985 geleistete Arbeit unter anderem mitgeteilt:67
klerikaler Organisationen von vornherein unterbunden oder gestoppt. Es wurden 300 Personen ausgewiesen, 322 Personen die Einreise in die UdSSR verweigert.»In der Berichtsperiode haben die Organe des KGB den Kampf gegen die ideologische Diversion des Klassenfeindes aktiviert. Die Tschekisten haben sich überall an der Arbeit der Partei zur Beseitigung verschiedener negativer Prozesse und Erscheinungen beteiligt und die vorbeugende Tätigkeit verbessert.
Dank der ergriffenen Maßnahmen wurden die Pläne der gegnerischen Geheimdienste, die gesellschaftsfeindlichen Elemente zu feindlichen Aktivitäten größeren Ausmaßes zu ermuntern, vereitelt.
In Moskau, Leningrad, den Hauptstädten der Unionsrepubliken und anderen Städten werden subversive ideologische Aktionen einiger hundert Emissäre und Funktionäre ausländischer antisowjetischer, nationalistischer, zionistischer und
In der Ukraine, in den baltischen Republiken und an einigen anderen Orten wurden 25 illegale nationalistische Gruppierungen im Stadium ihrer Entstehung aufgedeckt und liquidiert. Mehrere Versuche zu illegaler Gruppenbildung durch zionistische Elemente wurden unterbunden. Achtundzwanzig der aktivsten Inspiratoren feindlicher Aktivitäten wurden strafrechtlich belangt. Es wurden rechtzeitig Maßnahmen ergriffen, um die Bildung von 93 Gruppierungen von Jugendlichen mit ideologisch schädlicher Ausrichtung zu unterbinden.
Für feindliche Aktivitäten und andere Rechtsverletzungen wurden elf kirchliche Sektenführer, die keinen legalen Status hatten, strafrechtlich belangt, die ungesetzliche Tätigkeit vieler religiöser Extremisten wurde
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unterbunden, mehrere Druckereien, Umschlagpunkte und Lager wurden liquidiert. Die durchgeführten Maßnahmen führten in den mittelasiatischen und nordkaukasischen Republiken zur Schließung von etwa 170 illegalen >Schulen<, in der Kinder in Religion unterwiesen wurden, mehrere Sektengemeinden wurden dazu veranlaßt, einen legalen Status anzunehmen.
1275 Autoren und Verbreiter anonymen antisowjetischen und verleumderischen Materials wurden ausfindig gemacht und 97 von ihnen strafrechtlich belangt.
Die KGB-Organe beteiligten sich aktiv an der Tätigkeit der Partei und des Staates bei der Erziehung der sowjetischen Menschen zu großer politischer Wachsamkeit und Respektierung von Recht und Gesetz. Sie leisteten einen großen Beitrag zur Verhinderung verbrecherischer und staatsfeindlicher Handlungen, politisch schädlicher Prozesse und Erscheinungen. Bei 15271 Personen wurden vorbeugende Maßnahmen durchgeführt.
Die humane Behandlung irregeführter sowjetischer Bürger ging einher mit festem und entschlossenem Vorgehen bei der Unterbindung verbrecherischer Handlungen feindlicher Elemente. Vor Gericht gestellt wurden: für besonders gefährliche Staatsverbrechen - 57 Personen, andere Staatsverbrechen - 417 Personen, andere Verbrechen - 61 Personen. Die Ermittlungen wurden unter strenger Befolgung der Strafprozeßordnung und unter der Kontrolle der Staatsanwaltschaft geführt.«
Gleichzeitig verstärkte sich der Druck auf die Gefangenen, die man zwingen wollte, Reue zu zeigen und ihren Ansichten in Anbetracht der »Beschlüsse des April-Plenums des ZK« abzuschwören. Dieser Druck nahm in den Jahren 1985 und 1986 immer mehr zu und erreichte seinen Höhepunkt Ende 1986. Gorbatschow war sichtlich in Eile. Mit dem Beginn der Glasnost mußte für dieses Problem schnell eine Lösung gefunden werden.
»GORBATSCHOW: Ich habe Wiktor Michailowisch gebeten zu berichten, was das für Leute sind, die Strafen für Verbrechen abbüßen, die die westliche Propaganda als politische einstuft.
TSCHEBRIKOW: Nach unseren Gesetzen gelten diese als besonders gefährliche Staatsverbrechen. Insgesamt sind es 240 Personen, die für die genannten Verbrechen vor Gericht gestellt worden sind und Haftstrafen verbüßen.
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der KPdSU und dem 27. Parteitag.Es sind Personen, die für Spionage, Überschreiten der Staatsgrenze, Verbreitung feindlicher Flugblätter, Devisenvergehen und so weiter verurteilt wurden. Viele dieser Personen erklärten, diesen feindlichen Aktivitäten abschwören zu wollen. Ihren Entschluß begründen sie mit den politischen Veränderungen nach dem April-Plenum der ZK
Man könnte so vorgehen, daß man zunächst ein Drittel, danach die Hälfte dieser Personen auf freien Fuß setzt. In diesem Fall verbleiben nur diejenigen in Haft, die weiterhin feindliche Positionen gegenüber unserem Staat einnehmen.GORBATSCHOW: Diesen Vorschlag könnte man unterstützen.
TSCHEBRIKOW: Wir werden das auf wohldurchdachte Weise tun. Um sicher zu gehen, daß die genannten Personen ihre feindliche Tätigkeit nicht fortsetzen, werden sie unter Beobachtung gestellt.
SCHTSCHERBIZKI: Wie ist es zu erklären, daß relativ wenige Personen wegen besonders gefährlicher Staatsverbrechen vor Gericht gestellt werden? Mit der Perestroika?
TSCHEBRIKOW: Das erklärt sich aus dem Gewicht, das die Organe des KGB auf die prophylaktische Arbeit legen. Viele Personen fallen uns sozusagen noch unmittelbar vor der Gesetzesübertretung auf. Zur Einflußnahme auf sie werden die Möglichkeiten der KGB-Organe wie auch der Öffentlichkeit genutzt.
GROMYKO: Welche Verbrechen sind die gefährlichsten, und welche Strafen sind für sie vorgesehen?
TSCHEBRIKOW: Spionage. Das Strafmaß dafür ist Erschießung oder 15 Jahre Freiheitsentzug.
Für Spionage ist Polischtschuk erschossen worden. Gestern wurde das Urteil gegen Tolkatschow vollstreckt.GORBATSCHOW: Der amerikanische Geheimdienst hat ihn großzügig entlohnt. Bei ihm wurden zwei Millionen Rubel gefunden.
TSCHEBRIKOW: Dieser Agent hat dem Gegner sehr wichtige militärtechnische Geheimnisse verraten.
GORBATSCHOW: Einigen wir uns dahingehend, daß wir die vom Genossen Tschebrikow vorgebrachten Erwägungen im Prinzip billigen. Der KGB soll in der vorgegebenen Weise Vorschläge machen.
MITGLIEDER DES POLITBÜROS: Einverstanden.«68
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Wie bedacht sie darauf waren, Devisenschieber, Spione und politische Opponenten in einen Topf zu werfen. Man könnte meinen, daß sie die Unterschiede nicht begriffen. Wer war es, der »in Anbetracht der Beschlüsse des April-Plenums ihre feindliche Tätigkeit nicht fortsetzen« wollte — doch nicht die Devisenschieber und Spione. Aber es war offensichtlich leichter, nicht alles beim Namen zu nennen.
Entsprechend wurden am Ende des Jahres »in der vorgegebenen Weise« folgende Vorschläge gemacht:
»In den letzten Jahren ... ist es gelungen, die gesetzwidrigen Aktivitäten der Drahtzieher, Organisatoren und aktiven Teilnehmer folgender illegaler Gruppen lahmzulegen: die >Helsinki-Gruppe<, >Freie Branchenübergreifende Vereinigung der Werktätigen< die russische Sektion von >Amnesty International<, >Hilfsfonds für politische Häftlinge< und andere, die der Gegner als >Kräfte, die in der Lage sind, die gegenwärtige Staats- und Gesellschaftsordnung in der UdSSR zu verändern<, ansieht«, berichten Tschebrikow, Rekunkow, Terebilow und Krawzow im Dezember 1986 der Führung.
»In der Zeit von 1982 bis 1986 haben mehr als 100 Personen ihren gesetzwidrigen Aktivitäten abgeschworen und den Weg zur Besserung beschritten. Einige von ihnen ... haben sich im Fernsehen und in der Presse öffentlich geäußert und die Geheimdienste des Westens und ehemalige Gesinnungsgenossen entlarvt.
1986 wurde vom Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR und denen der Unionsrepubliken auf Antrag der KGB-Organe, der Staatsanwaltschaften und Gerichte 21 Personen die Strafe erlassen. Bei vier Personen wurde die Haftstrafe durch Verbannung ersetzt. Die Mehrheit der Betroffenen hat richtig auf diese Beschlüsse reagiert, mit Ausnahme der Ratuschinskaja, die privat in den Westen gefahren ist und dort weiterhin mit feindlichen Äußerungen an die Öffentlichkeit tritt.
Gegenwärtig verbüßen 301 Personen Haftstrafen für die in den oben erwähnten Artikeln genannten Vergehen, und gegen 23 Personen wird ermittelt.Die vorliegenden Angaben zeugen davon, daß die nach dem Aprilplenum (1985) des ZK der KPdSU und dem 27. Parteitag vollzogenen Veränderungen ihre Wirkung auf die Denkweise und das Verbalten einiger Personen
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ausüben, die sich seinerzeit unter dem Einfluß der bürgerlichen Propaganda und feindlich gesinnter Elemente befanden, gesetzwidrige Handlungen begingen und Strafen verbüßten. Einige von ihnen haben erkannt, daß sie den Interessen der Gesellschaft geschadet haben, andere nehmen eine abwartende Haltung ein. Eine Reihe von Personen haben ihre antisowjetischen Ansichten nicht aufgegeben.
Unter den gegenwärtigen Bedingungen der Demokratisierung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, der sich festigenden Einheit von Partei und Volk erscheint es möglich, die Freilassung eines bestimmten Teils der Verurteilten aus den Haftanstalten und der Verbannung sowie den Verzicht auf ein Gerichtsverfahren bei den Personen, gegen die Ermittlungen wegen der oben genannten Verbrechen laufen, in Betracht zu ziehen.Personen der genannten Kategorie könnte vorgeschlagen werden, sich an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR mit einer Erklärung zu wenden, in der sie für die Zukunft jeglichen feindlichen und gesetzwidrigen Aktivitäten abschwören. Bei Eingang der Erklärungen würden auf Antrag der Staatsanwaltschaft der UdSSR, des Obersten Gerichts der UdSSR, des Justizministeriums der UdSSR, des Ministeriums des Inneren der UdSSR und des KGB der UdSSR auf dem Wege der Begnadigung durch das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR diese Personen zu gleicher Zeit aus der Haft entlassen. Nicht freigelassen würden besonders gefährliche Rückfalltäter sowie Personen, die auf eindeutig feindlichen Positionen beharren und sich weigern, eine schriftliche Versicherung abzugeben, daß sie ihre gesellschaftsfeindlichen Aktivitäten einzustellen beabsichtigen.
Diese Maßnahmen würden es denjenigen, welche weiteren gesetzwidrigen Aktivitäten abschwören, erlauben, ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen und andererseits auch erkennen lassen, wer früher unter der Losung des Kampfes für >Demokratisierung< und >Menschenrechte< nur das antisowjetische Wesen seiner Bestrebungen verborgen hat.
Eine positive Entscheidung in dieser Frage würde politischen Gewinn bringen und ein weiteres Mal die Humanität der Sowjetmacht unter Beweis stellen. Bei der Durchführung der genannten Maßnahmen könnten wir es mit Rückfällen in gesellschaftsfeindliche Aktivitäten zu tun bekommen, aber nach unserer Meinung dürfte das keine ernsten negativen Folgen haben.«69
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So begann also Gorbatschows Demokratisierung damit, daß die politischen Gefangenen erpreßt wurden, während im Westen begeisterte Lobeshymnen auf den Parteichef gesungen wurden. Natürlich versteht der Uneingeweihte nicht, was es bedeutete, drei Monate lang mitten im Winter in einer unbeheizten Zelle des Lagers zu sitzen, jeden zweiten Tag 400 Gramm Brot zu bekommen und zwei- oder dreimal in der Woche dieselbe Frage des KGB-Offiziers hören zu müssen: »Nun, haben Sie den Sinn des April-Plenums begriffen?«
Das war aber noch nicht alles. Auf die Verwandten wurde Druck ausgeübt, und es wurde mit Haftverlängerung gedroht. Mitunter wurden die Häftlinge auch verprügelt. Die Phantasie des KGB kannte keine Grenzen. Es wurden Häftlinge in Zivilkleider gesteckt und nach Hause gefahren, damit sie sahen, wie schön es in der Freiheit war. Am Ende stand dann wieder die Frage:
»Nun, unterschreiben Sie die Erklärung?«Über dieses grausame Spiel war Anatoli Martschenko so entrüstet, daß er in einen unbefristeten Hungerstreik trat, die bedingungslose Freilassung aller politischen Häftlinge forderte, ungefähr drei Monate lang hungerte und starb.70) Der Tod Martschenkos beunruhigte jedoch das Politbüro — Mord war in ihren Plänen nicht vorgesehen. Auch im Westen gab es darauf eine Reaktion. Die Freilassungen mußten »beschleunigt«, der Druck vermindert und die Anforderungen gesenkt werden. Nunmehr reichte für eine Freilassung jede Art von Erklärung selbst ohne das Versprechen, »den gesellschaftsfeindlichen Aktivitäten abzuschwören«. Mit dem bloßen Gnadengesuch gaben sie sich schon zufrieden.
»Am 15. Januar 1987 verbüßten 288 Personen Strafen für Verbrechen gemäß Art. 70 und 190/1 des Strafgesetzbuches der RSFSR und entsprechenden Artikeln der Unionsrepubliken«, berichteten Tschebrikow und der Generalstaatsanwalt Rekunkow im Februar 1987 Gorbatschow persönlich.71)
»Davon befanden sich in den Besserungs- und Arbeitsanstalten 114 Personen wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda (Art, 70), 119 Personen wegen wissentlich falscher Behauptungen, durch die die sowjetische.
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Staats- und Gesellschaftsordnung verleumdet wird (Art. 190/1), 55 Personen befinden sich aufgrund der genannten Artikel in Verbannung.
In Ausführung des Beschlusses des ZK der KPdSU Nummer 47/54 OP vom )l Dezember 1986 hatten die Generalstaatsanwaltschaft und das Komitee für Staatssicherheit der UdSSR unter diesem Personenkreis die erforderliche Arbeit durchgeführt. Im Ergebnis gaben 51 Personen eine schriftliche Erklärung des Inhalts ab, daß sie sich fürderhin aller gesetzwidrigen Aktivitäten enthalten. Das Präsidium des Obersten Sowjets hat ihre Begnadigung beschlossen.
Es sind erneut 13 Erklärungen zur Bearbeitung eingegangen. Mit den übrigen Verurteilten wird die Arbeit fortgesetzt und im Februar beendet sein.
Außerdem werden die Verfahren gegen vier Personen, gegen die aufgrund von Art. 70 ermittelt wird, eingestellt. Die Verfahren gegen 17 Personen, gegen die Ermittlungen aufgrund von Art. 190/1 laufen, werden ebenfalls eingestellt.
In den Besserungs- und Arbeitsanstalten und in der Verbannung befinden sich 25 besonders gefährliche Rückfalltäter, die nach diesen Artikeln verurteilt sind und auf die sich das Verfahren zur Haftentlassung nicht erstreckt.
Es erscheint möglich, mit ihnen auf streng individueller Grundlage Erziehungsarbeit zu leisten. Für diejenigen von ihnen, die fest entschlossen sind, den Weg der Besserung einzuschlagen, ihre frühere verbrecherische Tätigkeit zu verurteilen und erklären, sich ihrer in Zukunft zu enthalten, ist die Begnadigung nach den allgemeinen Regelungen vorzuschlagen ...Was die nach Artikel 142 (Verstoß gegen die Gesetze über die Trennung von Kirche und Staat und von Schule und Kirche) des Strafgesetzbuches der RSFSR und den entsprechenden Artikeln der Strafgesetzbücher der anderen Unionsrepubliken Inhaftierten (zehn Personen) anbetrifft, die sich die Einrichtung illegaler Untergrunddruckereien, die Verleitung der Gläubigen zu gesellschaftsfeindlichen Taten und die ungesetzliche Heranführung von Kindern an die Religion zuschulden kommen ließen, so erscheint es zweckmäßig, auch in diesen Fällen die Begnadigung nach den allgemeinen Regelungen zu beantragen, wenn sie erklären, daß sie sich fürderhin gesetzeswidriger Handlungen entbalten werden.
Eine besondere Kategorie stellen die Personen dar, die sich Gesetzesverstöße nach den genannten Artikeln im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit zuschulden kommen ließen und vom Gericht zur zwangsweisen Behandlung eingewiesen worden sind (96 Personen).
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Nach den Bestimmungen über die zweimal im Jahr durchzuführenden Begutachtungen werden diejenigen, deren gesundheitlicher Zustand es erlaubt und die nicht länger eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen, in gewöhnliche psychiatrische Krankenhäuser oder unter die Aufsicht ihrer Angehörigen überführt. Gegenwärtig werden aufgrund medizinischer Gutachten mehrere Personen (Gerschuni, Perwuschin, Klebanow und andere) aus der Zwangsbehandlung entlassen.«
Solche Berichte gelangten — wie Rapporte vom Schlachtfeld — bis Mitte 1987 fast jeden Monat auf Gorbatschows Schreibtisch. Der letzte Bericht, den ich zu Gesicht bekam, stammte vom 11. Mai.72)
»Auf Beschluß der zuständigen Instanzen wurden durch Teilbegnadigung im März und April dieses Jahres 108 Personen, die wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda, und 64 Personen, die wegen Verbrechen nach Artikel 190/1 des Strafgesetzbuches der RSFSR und den entsprechenden Artikeln der Strafgesetzbücher der anderen Sowjetrepubliken verurteilt wann, aus der Haft entlassen.
Zum 1.05.1987 verbüßten weiterhin 98 Verurteilte dieser Kategorie ihre Strafen (78 in Haftanstalten und 20 in der Verbannung), unter ihnen 24 Rückfalltäter und 74 Personen, die bisher keine Verpflichtung abgegeben haben, sich in Zukunft verbrecherischer Aktivitäten zu enthalten.«
Am Ende geschah, was wir am meisten befürchtet hatten. Sie ließen nur diejenigen frei (sogar ohne jegliche Erklärung), die bekannt waren und für die der Westen sich einsetzte. Meistens wurden sie in den Westen abgeschoben, und ihnen wurde die Staatsbürgerschaft aberkannt. Das interessierte oder empörte aber niemanden. Im Gegenteil, der Westen begeisterte sich für Gorbatschows Liberalismus und seinen unermüdlichen Kampf gegen die »Konservativen«. Es wird wohl so in die Geschichte eingehen, daß der Reformer Gorbatschow die politischen Gefangenen befreit hat. Nicht alle auf einmal, nach und nach, weil »die Konservativen im Politbüro Widerstand leisteten«, aber befreit hat er sie doch.
In Wirklichkeit befreite erst Jelzin im Februar 1992 die letzten politischen Gefangenen.
12. Das »Problem Sacharow«
Ohne das »Problem Sacharow«, der immer noch in der Verbannung war, gelöst zu haben, konnte Gorbatschow den Westen nicht lange an der Nase herumführen. Daher befaßte er sich sogleich mit dieser Frage nach seinem Machtantritt und lange vor der Verkündung seiner Glasnost.73
»GORBATSCHOW: Ende Juli dieses Jahres hat der uns allen wohlbekannte Sacharow mir einen Brief geschrieben. Er bittet, seiner Frau Jelena Bonner zu erlauben, ins Ausland zu einer medizinischen Behandlung und zum Besuch von Verwandten zu fahren.
TSCHEBRIKOW: Das ist eine alte Geschichte. Sie zieht sich schon über 20 Jahre hin. Im Laufe dieser Zeit haben sich unterschiedliche Situationen ergeben. Es wurden entsprechende Maßnahmen sowohl in Bezug auf Sacharow seihst wie auch auf Frau Bonner ergriffen. Aber in all diesen Jahren wurden keine Handlungen begangen, mit denen gegen die Gesetzlichkeit verstoßen wurde. Das ist ein wichtiger Punkt, der betont werden muß.
Sacharow ist jetzt 65 Jahre alt und Frau Bonner 63 Sacharows Gesundheit ist nicht die beste. Im Augenblick unterzieht er sich einer onkologischen Untersuchung, weil er abgenommen hat.
Was Sacharow anbetrifft, so hat er als politische Figur praktisch sein Gesicht verloren und in der letzten Zeit nichts Neues gesagt. Man sollte die Bonner wohl für drei Monate ins Ausland lassen. Nach unseren Gesetzen kann die Verbannung für eine bestimmte Zeit unterbrochen werden (und die Bonner befindet sich bekanntlich in der Verbannung). 'Natürlich könnte sie im Westen an die Öffentlichkeit treten, sie könnte irgendeine Auszeichnung oder ähnliches erhalten. Es ist auch nicht auszuschließen, daß sie von Italien, wohin sie zur Behandlung reisen will, nach Amerika fährt. Die Reiseerlaubnis für die Bonner sähe wie ein humaner Akt aus.
Es bestehen zwei Möglichkeiten für ihr weiteres Verhalten. Die erste - sie kehrt nach Gorki zurück. Die zweite - sie bleibt im Ausland und verlangt die Familienzusammenführung, das beißt die Erteilung der Ausreisegenehmigung für Sacharow. In diesen Fällen könnten Demarchen von Politikern westlicher Länder und auch einiger Vertreter kommunistischer Parteien erfolgen. Wir können aber Sacharow nicht ins Ausland lassen.
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>Minsred-wasch< (Abkürzung für >Ministerium für mittleren Maschinenbau< eine Tarnbezeichnung für das Ministerium für die Atomindustrie, W. B.) ist dagegen, weil Sacharow den ganzen Entwicklungsweg unserer Atomwaffen im Detail kennt.
Wenn man Sacharow ein Laboratorium gäbe, könnte er nach der Meinung von Fachleuten so fort seine Arbeit auf dem Gebiet der militärischen Forschung fortsetzen. Sacharows Verhalten wird durch den Einfluß der Bonner bestimmt.
GORBATSCHOW: Da haben wir den Zionismus.
TSCHEBRIKOW: Er steht zu 100 Prozent unter Bonners Einfluß. Wir rechnen damit, daß sieb sein Verhalten in ihrer Abwesenheit ändern kann. Er hat zwei Töchter und einen Sohn aus erster Ehe. Sie verhalten sich untadelig und könnten einen bestimmten Einfluß auf ihren Vater ausüben.
GORBATSCHOW: Können wir Sacharow nicht dazu bewegen, in einem Brief zu erklären, er verstehe, daß er selbst nicht ins Ausland reisen könne. Sollten wir von ihm nicht eine solche Erklärung verlangen?
TSCHEBRIKOW: Es sieht so aus, als ob wir uns jetzt mit dieser Frage befassen müssen. Wenn wir erst kurz vor oder sogar erst nach Ihrer Begegnung mit Mitterrand oder Reagan einen Beschluß fassen, dann wird das als Nachgiebigkeit von unserer Seite aufgefaßt, was nicht wünschenswert ist.
GORBATSCHOW: Ja, es muß ein Beschluß gefaßt werden.
SIMJANIN: Es gibt keinen Zweifel, daß die Bonner im Westen gegen uns ausgenutzt wird. Aber ihren Versuchen, die Familienzusammenführung zu verlangen, könnten unsere Wissenschaftler eine Abfuhr erteilen. Sie könnten entsprechende Erklärungen abgeben. Genösse Slawski (Minister für mittleren Maschinenbau. W. B.) hat recht, daß wir Sacharow nicht ins Ausland lassen können. Und von der Bonner ist nichts Gutes zu erwarten. Sie ist eine Bestie im Weiberrock, eine Kreatur des Imperialismus.
GORBATSCHOW: Was bringt uns mehr Schaden - wenn wir die Bonner ausreisen lassen oder wenn wir ihr die Genehmigung nicht erteilen?
SCHEWARDNADSE: Es gibt natürlich schwerwiegende Bedenken gegen die Erteilung einer Ausreisegenehmigung an die Bonner. Trotzdem bringt sie uns politischen Gewinn, Ein Beschluß muß jetzt gefaßt werden.
DOLGICH: Könnte man nicht auf Sacharow einwirken?
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RYSCHKOW: Ich bin dafür, die Bonner ins Ausland fahren zu lassen. Das ist ein humaner Akt. Wenn sie dort bleibt, erregt das natürlich Aufsehen. Aber wir bekommen die Möglichkeit, auf Sacharow einzuwirken, denn jetzt läuft er sogar schon ins Krankenhaus, um sich etwas freier zu fühlen.
SOKOLOW (Minister für Verteidigung der UdSSR): Mir scheint, daß wir diesen Schritt tun müssen. Nachteile werden wir davon nicht haben.
KUSNEZOW: Ein schwieriger Fall. Wenn wir die Bonner nicht zur Behandlung ausreisen lassen, so kann das in der Propaganda gegen uns verwendet werden.
ALIJEW: Es ist schwer, auf diese Frage eine eindeutige Antwort zu geben. Jetzt steht die Bonner unter Kontrolle. In den letzten Jahren hat sich ihr Haß auf uns verstärkt. Sie wird ihn voll aus sich herauslassen, wenn sie sich im Westen befindet. Die bürgerliche Propaganda wird eine konkrete Person zur Durchführung verschiedener Pressekonferenzen und anderer antisowjetischer Aktionen zur Verfügung haben. Die Lage wird sich komplizieren, wenn Sacharow die Ausreise zu seiner Frau begehrt. Ein Risikofaktor besteht hier, aber riskieren wir es.
DEMITSCHEW: Ich denke vor allem an die Treffen des Genossen Gorbatschow mit Mitterrand und Reagan. Wenn wir die Bonner vorher ins Ausland lassen, wird im Westen eine lautstarke antisowjetische Kampagne entfacht, so daß es sicherlich am besten erst nach diesen Besuchen geschieht.
KAPITONOW: Wenn wir die Bonner reisen lassen, wird sich die Geschichte lange hinziehen. Sie wird die Familienzusammenführung verlangen.
GORBATSCHOW: Vielleicht verfahren wir so: Wir bestätigen den Eingang des Briefes und sagen, daß sein Inhalt zur Kenntnis genommen worden ist und entsprechende Anordnungen erteilt worden sind. Man muß zu verstehen geben, daß wir der Bitte der Bonner entgegenkommen können, daß aber alles davon abhängt, was die Bonner im Ausland tun wird. Es empfiehlt sich, daß wir uns erst einmal darauf beschränken.«
Bekanntlich versprach Sacharow, für sich selbst die Ausreise nicht zu beantragen, und die Bonner — keine politischen Erklärungen abzugeben, und die Reise verlief ohne jegliche Zwischenfälle. Das war nur eine Episode in dem Spiel, das das Politbüro mit Sacharow trieb.
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In den Jahren 1985-1986 verfolgte Gorbatschow alles sehr genau, was den verbannten Wissenschaftler betraf. Der KGB sandte ihm persönlich die Aufzeichnung der von Sacharow abgehörten Gespräche74 und Teile der vom KGB gestohlenen »Erinnerungen«75, die Andrej Dmitrijewitsch in jener Zeit zu schreiben versuchte. Im Juni 1986 kommt das Politbüro erneut auf das Thema Sacharow zurück, nachdem dieser einen Brief an Gorbatschow geschrieben hatte, in dem er die Praxis der politischen Verfolgungen kritisierte. Tschebrikow erklärte hierzu im einzelnen:76)
»Es ist festzustellen, daß die Zahl der Personen, die für die genannten Verbrechen vor Gericht gestellt wurden, gering ist und eine sinkende Tendenz aufweist. Gegenwärtig verbüßen in den Besserungs- und Arbeitsanstalten und in der Verbannung 172 Personen ihre Strafe wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda, 179 Personen wegen Verbreitung wissentlich falscher Behauptungen, die die sowjetische Staats- und Gesellschaftsordnung verleumden, und vier Personen wegen Vergehen gegen die Gesetze über die Trennung von Kirche und Staat sowie von Schule und Kirche. Die von Sacharow genannten zwölf Personen (Martschenko, Ossipowa, Kowaljow (Iwan, W. B.), Nekipelow, Schichanowitsch und andere) wurden für konkrete verbrecherische Handlungen, die unter das Strafrecht fallen, und unter strikter Befolgung des Gesetzes verurteilt... Einige dieser Personen, die ihre Strafe verbüßen, darunter auch die im Brief erwähnten Kowaljow, Ossipowa und Schichanowitsch, haben infolge der systematischen Erziehungsarbeit ihre Handlungen verurteilt, Reue gezeigt und erklärt, sich gesetzwidriger Aktivitäten in Zukunft zu enthalten ...
Die von Sacharow aufgeworfenen Fragen beruhen offenbar auf Irrtümern, die durch den ständigen negativen Einfluß seiner Frau Jelena Bonner verstärkt werden.
Angesichts dessen halten wir es für zweckmäßig, Sacharow keine schriftliche Antwort zu erteilen. Man könnte einen der verantwortlichen Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft beauftragen, mit ihm ein ausführliches Gespräch zu führen, in dem begründete Antworten auf die im Brief angeschnittenen fräsen weben werden.«
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In ihren im Auftrag des ZK vorgelegten »Vorschlägen im Falle Sacharow« schrieben der KGB-Chef Tschebrikow, das Mitglied des Politbüros Ligatschow und der Präsident der Akademie der Wissenschaften Martschuk:
77»Der Beschluß, die feindlichen Aktivitäten Sacharows zu unterbinden, wurde notwendig, weil er über einen langen Zeitraum subversive Tätigkeit gegen den sowjetischen Staat betrieben hatte. Er stiftete die aggressiven Kreise der kapitalistischen Staaten zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten der sozialistischen Staaten und zur militärischen Konfrontation mit der Sowjetunion an, rief zu Aktionen gegen die Politik des sowjetischen Staates auf, die auf die internationale Entspannung und friedliche Koexistenz ausgerichtet ist. Darüber hinaus unternahm er Schritte zum organisatorischen Zusammenschluß der antisowjetischen Elemente innerhalb des Landes, hetzte sie zu extremistischen Handlungen auf, versuchte, Kontakte zu den antisozialistischen Gruppen in der CSSR herzustellen, solidarisierte sich mit den tschechoslowakischen >Chartisten< und Vertretern des polnischen sogenannten >Komitees zur Gesellschaftlichen Selbstverteidigung< und rief sie zum organisatorischen Zusammenschluß zum Zwecke der Durchführung antisozialistischer Aktivitäten auf.«
Dank des Einflusses des weisen KGB und besonders dank der Abwesenheit seiner Frau beruhigte sich Sacharow in Gorki, besann sich eines Besseren, interessierte sich wieder für die Wissenschaft,
»kritisierte das amerikanische Programm des >Krieges der Sterne<, kommentierte positiv die Friedensinitiativen der sowjetischen Führung und bewertete objektiv die Ereignisse im Atomkraftwerk Tschernobyl.
Den genannten Veränderungen im Verhalten und der Lebensweise Sacharows stellt sich die Bonner nach wie vor beharrlich entgegen. Sie drängt ihren Mann dazu, sich nicht mit wissenschaftlicher Tätigkeit zu befassen, veranlaßt ihn, provokatorische Dokumente zu verfassen, und zwingt ihn, Tagebuchaufzeichnungen im Hinblick auf eine Veröffentlichung im Ausland zu machen. Trotzdem erscheint es angezeigt, die Anstrengungen fortzusetzen, ihn zu wissenschaftlicher Arbeit heranzuziehen, was schon an
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und für sich von Nutzen ist und obendrein dazu beitragen kann, ihn von der aktiven Beteiligung an gesellschaftsfeindlichen Aktivitäten fernzuhalten.
Zu diesem Zweck erscheint es uns gegenwärtig möglich, Sacharow die Rückkehr nach Moskau zu erlauben, weil sein weiteres Verbleiben in Gorki seinen antisowjetischen Aktivitäten Auftrieb geben könnte, wenn man dazu noch den negativen Einfluß seiner Frau auf ihn und das fortgesetzte Interesse des Westens am >Problem Sacharow< in Betracht zieht.
Dabei scheint auch die Erklärung Sacharows glaubhaft, daß er nach seiner Rückkehr nach Moskau dazu bereit ist, sich gesellschaftlicher Tätigkeit< zu enthalten.
Die Rückkehr Sacharows nach Moskau kann angesichts der antisowjetischen Einstellung der Bonner, ihres deutlichen Bestrebens, Sacharow zur Konfrontation mit uns zu provozieren, und ihres unverhohlenen Wunsches, mit den Kreisen im Westen zusammenzuarbeiten, die sich unserer Politik in den Weg stellen, auch einige negative Folgen haben. Ihre Wohnung kann erneut ein Schauplatz aller möglichen Pressekonferenzen unter Beteiligung ausländischer Journalisten werden, ein Treffpunkt gesellschaftsfeindlicher Elemente, wo Erklärungen und Forderungen negativen Charakters ausgearbeitet werden. Sacharow selbst wird sich kaum von der Mitwirkung in Sachen der sogenannten >Verteidigung der Menschenrechte< fernhalten. Trotz dieser Einwände bringt die Rückkehr Sacharows im Augenblick weniger politischen Schaden als seine weitere Isolierung in Gorki. Dabei ist vorgesehen, daß seitens des Komitees für Staatssicherheit Maßnahmen zur Neutralisierung möglicher negativer Erscheinungen ergriffen werden.«
Sacharow und die »begnadigten« politischen Gefangenen kehrten nicht als Sieger und nicht einmal als unschuldig Verfolgte, sondern als »Neutralisierte«, denen man gnädig verziehen hat, zurück. Von Rehabilitierung, wie zum Beispiel einst bei Chruschtschow, war nicht die Rede. Der Beschluß war wieder einmal von der parteilichen »Zweckmäßigkeit«, der Notwendigkeit, den »Schaden« so gering wie möglich zu halten, bestimmt. Ein »Sieg der Demokratie« war das nicht, es war ein Sieg des Politbüros, ein Sieg ihrer Glasnost.
So endete unsere Bewegung mit einer Spaltung in diejenigen, welche »Gorbatschow unterstützten«, und diejenigen, welche sich weigerten, dem Generalsekretär der KPdSU als Aushängeschild für seine Machenschaften zu dienen.
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Sogar diejenigen von uns, die in den Westen ausgewiesen worden waren, teilte das Regime recht schnell in »gute« und »schlechte« Dissidenten ein - in solche, die die Perestroika anerkannten, und solche, die sie nicht akzeptierten.
13. Letzte Versuche
In Zukunft galt es vor allem, die Entstehung einer neuen Opposition zu verhindern.
«»Eine Gruppe von Personen ... versucht, vom 10. bis 14. Dezember dieses Jahres in Moskau ein sogenanntes >Seminar unabhängiger gesellschaftlicher Organisationen der Unterzeichnerstaaten des Helsinki-Abkommens über humanitäre Fragen< zu veranstalten.
... An der Spitze der Sektion sollen Grigorjanz, Kowaljow (Sergej, W. B.), Bogoras-Bruchman, Tschemowil, Airikjan und andere stehen, die in der Vergangenheit wegen antisowjetischer Aktivitäten verurteilt und im laufenden Jahr durch Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets begnadigt worden sind. Zum Vorsitzenden des >Organisationskomitees< erklärte sich Timofejew.
Es wird ein >Aufruf< verbreitet, in dem die Veranstalter des >Seminars< demagogisch im einzelnen erklären, daß internationale Garantien geschaffen werden müßten, die die Erfüllung der Verpflichtungen hinsichtlich der Menschenrechte durch die Teilnehmerstaaten (der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) gewährleisten. Außerdem seien Methoden für die internationale Kontrolle der Erfüllung der KSZE-Beschlüsse im humanitären Bereich auszuarbeiten. ... Fragen der Vorbereitung des >Seminars< werden ständig auf Treffen der genannten Personen unter Beteiligung ausländischer Korrespondenten besprochen. In ihrer Gesellschaft befinden sich Mitglieder des >Presse-Clubs Glasnost<, die aus ihrem Bestreben, die gesellschaftsfeindlichen Elemente in unserem Land organisatorisch zu vereinigen, und ihrem Anspruch, hierbei eine führende Rolle zu spielen, keinen Hehl machen.
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Dies geschieht nicht 1968 oder 1977, sondern 1987 auf dem Höhepunkt der im Westen hochgelobten Perestroika. Für die »Vorbeugungsmaßnahmen« ist immer noch jener Alexander Jakowlew, der Erfinder der parteilichen Glasnost, verantwortlich.
»Im großen und ganzen ist es offensichtlich, daß es sich hier um die Vorbereitung einer Provokation handelt, die nach der Absicht ihrer Organisatoren und deren ausländischer Drahtzieher in jedem Fall Gewinn bringen muß, Wenn das Seminar stattfindet, verleiht das der Glasnost zuviel Gewicht und stellt eine Art Präzedenzfall dar; wenn die Veranstaltung unterbunden wird, dann wird Anlaß zu antisowjetischem Geschrei geliefert, um so mehr, als das Unterfangen auf den 10. Dezember, den Tag der Menschenrechte, anberaumt wurde und zeitlich auch mit dem sowjetisch-amerikanischen Gipfeltreffen zusammenfällt.
Unter diesen Umständen wird vorgeschlagen, folgendermaßen vorzugeben:
- Der Antrag der Veranstalter des >Seminars< an das Exekutivkomitee des Mossowjets betreffs Vermietung von Räumlichkeiten für diesen Zweck ist abschlägig zu bescheiden mit der Begründung, daß bis zum Inkrafttreten entsprechender Gesetze die Verordnung des Exekutivkomitees des Mossowjets vom n. August 1^67 gelte, die im Interesse der Gewährleistung der Staatsund Gesellschaftsordnung erlassen worden sei und in der im einzelnen die unbedingte Einhaltung der Verfassung der UdSSR und anderer Gesetze festgelegt sei. Außerdem sei der >Presse-Club Glasnost< nicht offiziell registriert, und es sei unklar, mit welcher Berechtigung diese Organisation internationale Veranstaltungen durchführe. Es ist anzunehmen, daß im falle der Weigerung, ihnen Räumlichkeiten zu vermieten, das >Seminar< in Privatwohnungen durchgeführt wird. Der propagandistische Effekt wird in diesem Fall weit geringer sein.
- Mit derselben Begründung sollen den ausländischen Bürgern, die am Seminar teilnehmen wollen, die Visa verweigert werden. Es ist nicht auszuschließen, daß eine bestimmte Anzahl von Ausländern als Touristen einreist und einige westliche in Moskau akkreditierte Journalisten an der Aktion teilnehmen.
- Da das Hauptziel der Veranstalter des >Seminars< darin besteht, einen Skandal zu provozieren, sollte im gegenwärtigen Stadium von Zwangsmaßnahmen ihnen gegenüber Abstand genommen werden.
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- Wenn die Veranstalter die Entscheidung des Mossowjets unbeachtet lassen, soll sie die Staatsanwaltschaft davon in Kenntnis setzen, daß die geplante Veranstaltung gesetzwidrig ist.
Es erhebt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie die Aktivitäten derartiger gesellschaftsfeindlicher Elemente nicht nur mit administrativen, sondern auch mit politischen Methoden neutralisiert werden können. Wie diese erste Erfahrung im Handeln unter den Bedingungen der Demokratisierung zeigt, verspricht die intensive individuelle Arbeit, die von den staatlichen, gesellschaftlichen und Parteiorganisationen unter anderem in der Wohnung der Betreffenden durchgeführt wird, den größten Erfolg, wobei erforderlichenfalls auf differenzierte Weise zu verfahren ist und in den Massenmedien das wahre Gesicht dieser >Kämpfer für die Menschenrechte< entlarvt werden soll.«78
In diesem Sinne hat das Politbüro in bezug auf das »Seminar für die Menschenrechte« unter anderem folgendes verfügt:
»Das Moskauer Stadtkomitee der KPdSU (Genösse J. S. Karabassow) soll zusammen mit der Kommission für Internationale Zusammenarbeit im Bereich der humanitären Fragen und der Menschenrechte beim sowjetischen Komitee für Europäische Sicherheit und Zusammenarbeit (Genösse F. J. Burlazki) unter Heranziehung der Partei-, Komsomol-, Staats- und anderer Organisationen eine systematische Arbeit zur Neutralisierung der Tätigkeit gesellschaftsfeindlicher Gruppierungen, wie zum Beispiel des >Presse-Clubs Glasnost<, durchführen. Hierbei soll das wahre Gesicht dieser >Verteidiger der Menschenrechte< in den Massenmedien entlarvt werden."79
Diese »Kommission« und dieses »Komitee« mit dem Partei-»Liberalen« Burlazki an der Spitze wurden eben deshalb geschaffen, damit die »Helsinki-Aktivitäten« nicht außer Kontrolle gerieten.
»Entsprechend dem Beschluß sind Maßnahmen zur Verhinderung der von gesellschaftsfeindlichen Elementen mit Unterstützung imperialistischer Geheimdienste und ausländischer subversiver Zentren geplanten provokatorischen Aktion - der Durchführung eines sogenannten >Seminars der unabhängigen gesellschaftlichen Organisationen der Unterzeichnerstaaten des
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Helsinki-Abkommens über humanitäre Fragen< sowie der Schaffung eines ständigen Kontrollorgans über die Einhaltung der Menschenrechte in der UdSSR auf seiner Grundlage - ergriffen worden«, berichteten stolz die Hauptorganisatoren der Perestroika Jakowiew, Schewardnadse, Tschebrikow, Dobrynin und andere an das ZK über die erfolgreich geleistete Arbeit.80
»Um diese politische Provokation auf Moskau zu begrenzen, wurde den Vertretern mehrerer ausländischer antisowjetischer Vereinigungen, im Westen lebenden ehemaligen Sowjetbürgern und Renegaten, Mitgliedern der polnischen Solidarnosc, der Gruppe >Frieden und Menschenrechte< (DDR) sowie den Drahtziehern nationalistischer und anderer gesellschaftsfeindlicher Aktivitäten Airikjan (Armenien), Tschernowil, ... Horyn, Hei (Ukraine), Sadunaite (Litauen) und einigen anderen die Teilnahme verwehrt.
Die durchgeführten Maßnahmen erlaubten es bis zu einem gewissen Grade, den Teilnehmerkreis des sogenannten >Seminars< einzuengen, die organisatorische Vereinigung feindlich eingestellter Personen mit antisozialistischen Elementen in anderen sozialistischen Ländern zu verhindern und den Versuch der Bildung eines ständig arbeitenden Zentrums in der Sowjetunion zu vereiteln. Da sie keine Erlaubnis für die Nutzung staatlicher Räumlichkeiten für die Durchführung des Seminars erhielten, trafen sich die Provokateure in Privatwohnungen und bildeten Sektionen ... An ihrer Spitze standen Timofejew, Grigorjanz, Bogoras-Bruchman, Kowaljow, Gamsachurdija, Ogorodnikow und andere in der Vergangenheit wegen antisowjetischer Aktivitäten verurteilte Personen. Es gelang den Organisatoren, im ganzen etwa 180 Sowjetbürger (darunter mehr als 40 Personen aus jo anderen Städten des Landes) in die provokatorische Aktion einzubeziehen. Die meisten von ihnen haben, wie festgestellt wurde, früher an gesetzwidrigen Aktionen teilgenommen, wofür sie strafrechtlich belangt wurden, und unterhalten nach wie vor Kontakte zu ausländischen subversiven Organisationen.«
Was haben denn diese »Kriminellen«, diese Feinde des Fortschritts gesagt? Warum wurde ihnen nicht einmal zu Zeiten der Gorbatschowschen Glasnost erlaubt, ihr Seminar durchzuführen? Vielleicht weil sie die »Konservativen« unterstützten oder sich gegen die Demokratisierung wandten?
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2J Prozent der Bevölkerung keinen Wohnraum habe. In der UdSSR werde angeblich kein einziges in der Verfassung verbrieftes Recht eingehalten."Die Versammlungen in den Privatwohnungen hatten einen antisowjetischen Charakter. So unterstrich zum Beispiel Timofejew (>Presse-Club Glasnost<) in seiner Rede: >Das Seminar soll der Weltöffentlichkeit vor Augen führen, daß es in der UdSSR viele Menschen gibt, die mit der sozialistischen Gesellschaftsordnung unzufrieden sind ,..< Krotschik (>Gruppe Vertrauen <) rief zur Schaffung >freier Gewerkschaften < im Lande auf. Ogorodnikow (^Bulletin der christlichen Öffentlichkeit^ behauptete, daß >die UdSSR ein totalitärer Staat < sei, und sprach sich dafür aus, für die Stärkung der Rolle der Kirche im politischen und gesellschaftlichen Leben zu kämpfen. Die Nowodworskaja (Gruppe >Demokratie und Humanismus<) erklärte: >Es ist ein gewaltloser politischer Kamp f gegen die Regierung der UdSSR erforderlich. Das Hauptziel unserer Bewegung ist eine ständige Opposition gegen die Regierung, Unsere Forderung - ein Mehrparteiensystem im Lande. < Mjasni-kow (>Bulletin Glasnost<) sagte, daß die Hälfte der Bevölkerung der UdSSR im Elend lebe, es im Lande viele Millionen Arbeitslose und Sklavenarbeit gebe und
Die Reden einiger Teilnehmer enthielten Aufrufe, in denen das Recht auf freie Aus- und Einreise, auf Verweigerung des Wehrdienstes und auf freie Weitergabe jeglicher Art von Informationen ins Ausland gefordert wurde. Es wurden Fragen des Widerstands gegen die sowjetischen Staatsorgane und die Politik der KPdSU sowie der Schaffung von Einflußmöglichkeiten auf die innen- und außenpolitischen Entscheidungen der Regierung erörtert.«
Es wurde hier also nicht viel anderes gesagt als in der perestroika-freundlichen Presse. Aber hier sprachen eben nicht die richtigen, sondern »unkontrollierbare« Leute. Obwohl die Autoren des Berichts feststellen, daß »die provokatorische Aktion im großen und ganzen bei den sowjetischen Bürgern wenig Beachtung fand«, beschlossen sie, etwas Derartiges auch in Zukunft zu unterbinden, denn »es unterliegt keinem Zweifel, daß die Organisatoren ihre hetzerischen Aktivitäten fortsetzen werden. Die Abteilung für Propaganda und die Internationale Abteilung des ZK der KPdSU beabsichtigen, zusammen mit dem Ministerium des Inneren und dem KGB der UdSSR zusätzliche Maßnahmen auszuarbeiten, um den feindseligen und provokatorischen Charakter der genannten Aktion zu entlarven und ähnliche Aktionen in Zukunft zu verhindern.«
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Das war der einzige ernsthafte Versuch gewesen, die unabhängige Opposition im Lande zu vereinigen. Was konnte dieses Häuflein angesichts der gigantischen Unterdrückungsmaschinerie, der völligen Gleichgültigkeit (wenn nicht sogar Feindseligkeit) des Westens und der eigenen Gesellschaft und ohne Mittel ausrichten? Wer brauchte diese hausgemachten Zeitschriften und in geringer Auflage erscheinenden kleinen Zeitungen, wenn jedes offizielle für die Pere-stroika plädierende Presseorgan in Millionenauflage erschien?
Nachfolgend sei ein weiteres Beispiel für die Unterdrückung jeder vom Regime nicht kontrollierten Initiative angeführt:
...am 30. Oktober dieses Jahres eine provokatorische Demonstration planen.»Das Komitee für Staatssicherheit der UdSSR hat Informationen darüber erhalten, daß extremistisch gesinnte Teilnehmer des sogenannten Seminars >Demokratie und Humanismus'
Sie wollen die Aktion unter die Losungen >Wir fordern die Freilassung aller politischen Häftlinge<, >Wir fordern eine politische Amnestier Rehabilitation der aus Gewissensgründen Eingekerkerten< >Schluß mit der Unterdrückung des freien Gedankens <, >Wir fordern die Abschaffung der Artikel 70, -/2 und 190/1 des Strafgesetzbuches der RSFSR< stellen.
Um der Provokation Massencharakter zu verleihen, ist die Verbreitung einer >Erklärung< und einer >Deklaration der Teilnehmer der Demonstration für die Befreiung der politischen Gefangenen in der UdSSR< vorgesehen. Die Veranstalter rechnen mit der Teilnahme von Personen, die früher Strafen für antisowjetische Tätigkeit verbüßt haben oder auf Gerichtsbeschluß einer Zwangsbehandlung unterzogen worden waren. Über Ort und Zeit der Aktion wurden ausländische Korrespondenten in Kenntnis gesetzt. Mit der Anwesenheit von Touristen aus westlichen Ländern wird gerechnet.
Die Organisatoren beabsichtigen, beim Exekutivkomitee des Mossowjets eine offizielle Genehmigung zur Durchführung der Demonstration zu beantragen.
Das Komitee für Staatssicherheit ergreift zusammen mit dem Ministerium für Innere Angelegenheiten Maßnahmen zur Verhinderung der Provokation. «81
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In dieser Zeit wurden zwar die politischen Häftlinge freigelassen, und eine Änderung des Strafgesetzbuches in Aussicht gestellt,82 aber eine Demonstration für diese Ziele gilt als »Provokation von Extremisten«, wird vom Mossowjet verboten und von der Miliz auseinandergejagt.83 Der Bürger verstand nicht, warum man sich auf der Straße mit der Polizei für das schlagen sollte, worüber in der offiziellen Presse geschrieben werden durfte. Die Intelligenzija war verschreckt: »Wenn das nur Gorbatschow nicht schadet!« Der Westen schüttelte verständnislos den Kopf und schrieb alles den Intrigen der »Konservativen« im Politbüro zu. Wie hätte man da eine einige und geschlossene Opposition bilden können? Sogar diejenigen, die sie zu bilden versuchten, weil sie begriffen hatten, daß man allein nichts erreichen kann, sondern untergeht, fuhren in ihre Republiken zurück und zersplitterten sich in kleine Häufchen. Aber selbst in dieser ungefährlichen Form wollte das Regime sie nicht dulden. Trotz all des Chaos der Perestroika-Jahre und der schlauen Zickzackpolitik Gorbatschows stand eines doch unverändert und konsequent fest:
Die Bildung wirklich unabhängiger gesellschaftlicher Strukturen und die Konsolidierung einer realen Opposition sollte verhindert werden. Sogar noch zwei Jahre vor dem Zusammenbruch berichtete der damalige KGB-Chef Krjutschkow, der die Bildung einer besonderen »Verwaltung des KGB für die Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung« anregte, seinem Oberkommandierenden:
»... die Geheimdienste und subversiven Zentren des Gegners stellen ihre Tätigkeit auf eine neue strategische und taktische Stufe...... Mittels Anstachelung des Nationalismus, Chauvinismus und Klerikalismus... versuchen sie, gesellschaftliche Spannungsherde zu schaffen, antisozialistische Erscheinungen und Massenunruhen zu provozieren und feindliche Elemente zu Handlungen, die auf den gewaltsamen Sturz der Sowjetmacht ausgerichtet sind, anzustiften. Mit besonderer Beharrlichkeit streben sie danach, legale und illegale Gruppierungen mit verfassungsfeindlicher Tendenz zu bilden, sie direkt anzuführen, ihnen materielle und geistige Hilfe zu leisten und zu extremistischen Handlungen aufzuhetzen ...
In diese Richtung deuten auch die gesetzwidrigen Aktivitäten der antisozialistischen Elemente. Sie benutzen einige durch die politische Aktivität der
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Strukturen, die der KPdSU oppositionell gegenüberstehen (Hervorhebung von mir. W. B.), und anderer organisierter Gruppierungen hin."84Bürger ins Leben gerufene Vereinigungen für ihre Zwecke und arbeiten unter der Parole der Demokratisierung und Erneuerung der sowjetischen Gesellschaft in verfassungsfeindlicher Absicht auf die Schaffung von
Selbst nach der Abschaffung des Artikels 6 der Verfassung, wodurch derartige Handlungen nicht mehr als »verfassungsfeindlich« galten, änderte sich die »Generallinie« der Gorbatschowschen Reformen nicht. Fast bis zum Ende befanden sich alle unabhängigen »Gruppierungen«, selbst solche, die durchaus zu bestimmten Formen der Zusammenarbeit mit der Staatsmacht bereit waren, unter dem Druck des KGB. Man mag meinen, daß das ein Zufall war und der von den »Konservativen« getäuschte Gorbatschow davon nichts wußte. Weit gefehlt!
»Nach vorliegenden Informationen planen vom Ausland aufgehetzte gesellschaftsfeindliche Elemente - sogenannte >Menschenrechtler< und jüdische Nationalisten -, in der ersten Dekade des September ein internationales Seminar über das Thema >Der KGB und die Perestroika< durchzuführen.
Die Organisatoren des Seminars haben es sich zur Aufgabe gemacht, >das Komitee für Staatssicherheit der UdSSR zu diskreditieren<, indem sie unter Berufung auf Glasnost und Demokratisierung die Aufmerksamkeit weiter Kreise der sowjetischen und internationalen Öffentlichkeit auf >seine Tätigkeit und Verbrechen < zu lenken beabsichtigen. Es sind unter anderem öffentliche Diskussionen zu folgenden Vorträgen vorgesehen: >Die Funktion des KGB in der Epoche des neuen Denkens<, >Die Rolle des KGB in Krisensituationen<, >Das Monopol auf Informationen <, >Die Überwindung des Geheimstatus und der Furcht vor dem KGB<, >Der KGB und die national-demokratischen Bewegungen in der UdSSR <, >Der KGB und der Antisemitismus<, Mögliche Sponsoren sind Organisationen, wie >Amnesty International < und die internationale Helsinki-Föderation^ die sich bereits in ausreichendem Maße als >Verteidiger der Menschenrechte in den sozialistischen Ländern < hervorgetan haben.
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Es ist beabsichtigt, zur Teilnahme an dem Seminar bekannte westliche Politiker und Rußlandkenner, wie Zbigniew Brzezinski und Richard Pipes, sowie ehemalige Bürger unseres Landes, wie Alexejewa, Bukowski, Ginsburg, Orlow, Pljuschtsch und andere, die im Ausland antisowjetische Aktivitäten betrieben haben, einzuladen. Es wird angenommen, daß an dem Seminar bekannte >Menschenrechtler<, wie Grigorjanz und Timofejew, Vertreter der >national-demokratischen< Bewegungen Aserbaidschans, Armeniens, Georgiens, Moldawiens, des Baltikums und der Ukraine sowie >Führer< der Krimtataren und Vertreter der 'Religionsgemeinschaften teilnehmen.
Die Organisatoren beabsichtigen, zum Seminar Tschebrikow, Krjutsch-kow, Sucharew, den Leiter der Verwaltung für Visa- und Registrierungsangelegenheiten des Ministeriums des Inneren der UdSSR, die Volksdeputierten der UdSSR Adamowitsch, Afanasjew, Wlassow, Gdijan, Iwanow, Koro-titsch, den Schriftsteller Semjonow, den Dichter Dementjew, die ehemaligen KGB-Vorsitzenden Semitschastny und Schelepin ... sowie einen Redakteur der Zeitung >Moskowskie nowosti< und die Fernsehprogramme >Wsgljad< (Blick) und >Pjatoje koleso< (Das fünfte Rad) einzuladen.«85
Auf dem Bericht steht die Anweisung: »Diese Veranstaltung muß auf jeden Fall vereitelt werden. M. Gorbatschow.«
14. AGONIE
Die Beobachtungen und Maßnahmen des KGB erstreckten sich nach wie vor auch aufs Ausland:
berichtete KGB-Chef Tschebrikow Gorbatschow.86»Nach vorliegenden Informationen ist gegenwärtig in den USA eine Aktivierung der antisowjetischen Kampagne für die Menschenrechte zu beobachten. Sie wird in erster Linie von den reaktionären politischen und zionistischen Kreisen der Vereinigten Staaten unter Beteiligung einiger aus der UdSSR ausgereister Personen, denen die sowjetische Staatsangehörigkeit aberkannt wurde, geführt«,
»Um diese feindlichen Propagandaaktionen zum Scheitern zu bringen, wäre es zweckmäßig, bestimmte Gegenmaßnahmen vorzubereiten und durchzuführen. Im einzelnen sollte bestimmten Kreisen der Politik, der Gesellschaft und der Wirtschaft in den USA, die an der Erweiterung der Beziehungen
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zur UdSSR interessiert sind, klargemacht werden, daß eine neue antisowjetische Kampagne,.. das allgemeine politische Klima der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen bedeutend verschlechtert und den Vereinigten Staaten einen bedeutenden politischen und einen gewissen wirtschaftlichen Schaden zufügt.
Es sind propagandistische Maßnahmen zur Entlarvung der gesetzwidrigen Handlungen einiger Mitarbeiter der Botschaft der USA in der UdSSR, der in unserem Land akkreditierten ausländischen Journalisten sowie der in die Sowjetunion entsandten Emisssäre ausländischer subversiver Zentren und Organisationen, die ihren Aufenthalt zur Beschaffung und Verbreitung antisowjetischen Materials, zur Anstiftung einzelner sowjetischer Bürger zu Staatsverbrechen und anderen gesellschaftsfeindlichen Handlungen benutzen, zu treffen.
Es müssen den beim Außenministerium der UdSSR akkreditierten ausländischen Korrespondenten dokumentarisches Material, durch das die Hirngespinste der bürgerlichen Propaganda über angebliche Menschenrechtsverletzungen in der UdSSR entlarvt werden, und Informationen, durch die jene Renegaten diskreditiert werden, deren Namen die westlichen Massenmedien für ihre antisowjetische Kampagne nutzen, zugänglich gemacht werden.«
In dem vom Gorbatschowschen Zentralkomitee hierzu gefaßten aus sechs Punkten bestehenden Beschluß, wird neben anderen Demarchen und Publikationen empfohlen:
»4. TASS, APN, das Staatliche Femseh- und Rundfunkkomitee der UdSSR (Gosteleradio) und der KGB der UdSSR sollen Material erstellen und ins Ausland lancieren, das die Gesellschaftsfeinde, deren Namen ständig von der bürgerlichen Propaganda zu antisowjetischen Zwecken genutzt werden, kompromittiert sowie die Rolle der Botschaft der USA und der in der UdSSR akkreditierten ausländischen Journalisten entlarvt ...
5. Das Außenministerium, APN und der KGB der UdSSR sollen eine Reihe von Maßnahmen vorbereiten und durchführen, durch die den beim Außenministerium der UdSSR akkreditierten ausländischen Korrespondenten dokumentarisches Material zugänglich wird, das die Hirngespinste der bürgerlichen Propaganda über angebliche >Menschenrechtsverletzungen< in der UdSSR entlarvt.
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Im einzelnen soll eine Pressekonferenz für westliche Journalisten durchgeführt werden, auf der das Wesen unserer Politik bezüglich der Ausreise von Juden aus der UdSSR erläutert wird. Zusammen mit dem Rat für religiöse Angelegenheiten beim Ministerrat der UdSSR sollen Interviews der Journalisten Walker (Großbritannien), Dederichs (Bundesrepublik Deutschland), Eton (USA), An-Nauman (Kuweit) und einiger anderer objektiv über die sowjetische Wirklichkeit schreibender ausländischer Korrespondenten mit den Metropoliten Juvenali und Alexi, dem Vorsitzenden des Allunions-Rates der Evangeliumschristen-Baptisten Logwinenko, dem Generalsekretär des Rates Bytschkow, den religiösen Führern Charksy und Kulakow und dem Mufti Babachanow durchgeführt werden, in denen aufgezeigt werden soll, daß die Behauptungen der westlichen Massenmedien, in der UdSSR würden die Rechte der Gläubigen verletzt, gegenstandslos sind.
6. Das Außenministerium der UdSSR, das Staatliche Femseh- und Rundfunkkomitee der UdSSR (Gosteleradio) und der KGB der UdSSR sollen den westlichen Femsek^Journalisten, die die Politik der Sowjetunion objektiv beleuchten, bei der Produktion von Fernsehsendungen über den praktischen Beitrag der UdSSR und anderer Staaten zur Wiederbelebung des Entspannungsprozesses in Europa behilflich sein, wobei eine antiamerikanische Ausrichtung ins Auge gefaßt und führende sowjetische politische Kommentatoren beteiligt werden sollen.«
Ich habe nicht nachgeprüft, ob die genannten Journalisten die Interviews mit den Metropoliten und den Muftis gemacht haben. Das spielt auch keine Rolle. Mit geringen Ausnahmen berichtete die überwiegende Mehrheit der schreibenden Zunft in jenen Jahren »objektiv über die sowjetische Wirklichkeit«. Jene, die versuchten, zurückhaltender zu sein, wurden von ihren Redakteuren zensiert.
Was die »Maßnahmen zur Kompromittierung der Renegaten« betrifft, so folgten sie unausweichlich und verstärkten die Isolation, zu der uns die westliche »Gorbimanie« verurteilte. Hier ein Artikelchen, dort ein kleines Gerücht, und es verschlossen sich immer mehr Türen für uns. Schließlich wurden auch die letzten Mittel gestrichen, die den wie durch ein Wunder erhalten gebliebenen unabhängigen Presseorganen in der UdSSR das Erscheinen ermöglicht hatten.
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Das geschah nach dem klassischen Muster der KGB-»Maßnahmen«. Die amerikanische Stiftung, die die Gelder gewährte — The National Endowment for Democracy —, war noch zu Reagans Zeiten auf Beschluß des Kongresses der USA als unabhängige gesellschaftliche Organisation, die für die Verbreitung der Demokrade in der Welt wirken sollte, geschaffen worden. Der Direktorenrat bestand aus Vertretern der beiden politischen Parteien der USA, der Gewerkschaften (AFL-CIO) und der Handelskammer, und die finanziellen Hilfen wurden ganz offen und bewußt »ausgewogen« geleistet, das heißt Hilfen erhielten zum Beispiel die schwarzen Gewerkschaften in Südafrika, die polnische Solidarnosc, die Menschenrechtsorganisationen in Argentinien und El Salvador sowie auch wir.
All das geschah, wie gesagt, ganz offen. Eine Liste der Hilfe erhaltenden Organisationen, eine Beschreibung ihrer Projekte und die jeweiligen Summen wurden im Jahresbericht der Stiftung veröffentlicht, der an die Presse, die gesellschaftlichen Organisationen und die Mitglieder des Kongresses geschickt wurde. Die zur Verfügung stehenden Gelder waren gering. Die Stiftung vergab insgesamt etwa 3,5 Millionen Dollar, auf die UdSSR entfielen etwa 200.000 Dollar im Jahr — und das zu einer Zeit, da Gorbatschow Millionen bekam. Das Geld reichte den letzten unabhängigen Presseorganen, wie der Zeitschrift »Glasnost« und der Zeitung »Express-Chronika« gerade zum Überleben, für die Übersetzung ihres Materials und die Verbreitung in den USA.
Aber selbst das duldete die Gorbatschowsche Glasnost nicht. Im März 1988 erschien in dem wenig bekannten linken (um nicht zu sagen - prokommunistischen) amerikanischen Wochenblatt »The Nation« (ich hatte nie zuvor davon gehört) ein Artikel mit dem Titel »U.S. Funds for Soviet Dissidents«,87 der ganz dem Stil des KGB entsprach. O nein, die Autoren waren gar nicht gegen die Dissidenten, sie waren im Gegenteil besorgt, daß den Dissidenten »das amerikanische Geld« schaden könnte, denn die sowjetischen »Konservativen«, die für ihre Paranoia bekannt seien, könnten sich diesen Umstand zum Schaden der Glasnost zunutze machen.
Noch stärker beunruhigte die Autoren, daß wir, im Westen lebende »Emigranten«, die diese Gelder bei der »US-Regierung« beschafften, die Angelegenheit in einer Weise betrieben, daß »es sich mehr um Informationsbeschaffung als um den Kampf für die Menschenrechte zu handeln scheint«.
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Es war das, was man eine Unterstellung nennt. Natürlich hatten die beiden »aufrichtig besorgten ehrlichen« amerikanischen Journalisten sich diese Beschuldigungen aus den Fingern gesogen, damit die »Konservativen« in Moskau sie nach ihren Zwecken deuten und sich zunutze machen konnten. Man unterstellte, wir - die »russischen Emigranten« - würden uns aus Eigennutz und Unbesonnenheit nicht um diese Interpretation kümmern. Aber in der Mitte des Artikels verschwinden die »Konservativen« und der Konjunktiv, und die öffentliche Stiftung verwandelt sich in die »Regierung der USA« und wir in erbarmungslose Ausbeuter der ahnungslosen sowjetischen Dissidenten, nur darauf bedacht, »die sowjetische Menschenrechtsbewegung zur Beschaffung politischer und militärischer Informationen über die UdSSR« zu nutzen.
Das war genau das, was der KGB brauchte und was dieser uns in den vergangenen 25 Jahren anzuhängen versuchte. Wie das bei KGB-Maßnahmen dieser Art zu sein pflegte, erschien der Artikel sofort auch in der sowjetischen und linksgerichteten Presse der ganzen Welt, in Dänemark in der Zeitschrift »Information«, sogar eine ganze Woche vor dem amerikanischen Original.88
Hier begnügte man sich nicht mit Andeutungen, sondern sagte geradeheraus: »Sowjetische Dissidenten arbeiten als Spione für die USA« mit einem großen Foto von mir in der Mitte (obwohl ich im Artikel nur beiläufig erwähnt wurde).
Diese dänische Version wurde sofort (natürlich gekürzt um die Passage, in der die Autoren sich um das Schicksal der Dissidenten »besorgt« zeigen) in der »Sowjetskaja Rossija« unter der marktschreierischen Überschrift »Ausfuhr von Informationen gegen bar« abgedruckt89, und die ursprüngliche Version aus »The Nation« erschien ebenso schnell in »Sa rubeschom«90 unter der nicht weniger reißerischen Überschrift »Spionage unter der Maske des Kampfes für die Menschenrechte« und mit den Zwischentiteln »Der moderne NTS«, »Das Geheime wird offenbar« und so weiter. Und weiterging es in der Tradition der KGB-Glasnost von Zeitung zu Zeitung.91 Die eine bezog sich auf die andere, und jede drückte es schärfer aus. Über ein halbes Jahr zog sich die Kampagne hin, während der KGB die Redaktionen der unabhängigen Zeitschriften demolierte, ihre Mitarbeiter verprügelte und die Einrichtungen zerstörte.92
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Noch schneller war die »Literaturnaja gaseta«, deren New Yorker »Korrespondent« Iona Andronow einen großen Artikel mit dem Titel »Bauern in einem fremden Spiel« verfaßte.93 Ich schreibe das Wort »Korrespondent« in Anführungsstrichen, weil damals schon bekannt war, daß er mit dem KGB zusammenarbeitete, und jetzt habe ich Dokumente gefunden, die diese Zusammenarbeit mindestens seit 1972 beweisen, als er Korrespondent der KGB-Zeitschrift »Nowoje wremja« in New York war.94
Aber entweder hatte er sich mit dem Artikel zu sehr beeilt oder er wollte sich mit seinem Erfolg brüsten — jedenfalls ging aus dem Artikel hervor, daß er es war, von dem diese »Maßnahme« ausgegangen war und der vielleicht sogar den Artikel dieser überaus »besorgten« amerikanischen Autoren redigiert hatte:
»Detaillierter und wahrheitsgetreuer berichtete mir über die Geheimnisse der New Yorker Herausgeber der Pseudo-Glasnost, der hiesige Journalist Kevin Coogan. Er interessierte sich eher als ich für diese neue antisowjetische Zeitschrift und verschaffte sich halbkonspirative Informationen über sie. In dieser Sache arbeitete die Mitarbeiterin der liberalen Wochenzeitschrift >The Nation< Katrina van den Heuvel mit Coogan zusammen. Ihr gemeinsamer Artikel für >The Nation< liegt schon in Korrekturfahnen vor. Coogan ist bereit, seine Informationen an die >Literaturnaja gaseta< weiterzugeben ...«
Es gab allerhand Lärm, die Autoren leugneten alles ab und protestierten gegen die »Benutzung ihres Artikels zum Schaden der Dissidenten«, obwohl sie die Kontakte mit Andronow und besonders auch die Tatsache, daß er den Artikel vor der Veröffentlichung gesehen hatte, nicht leugneten. Sogar die »New York Times«95 setzte sich für uns ein. Stärker mit uns sympathisierende Zeitungen96 druckten entrüstete Zuschriften von Dissidenten ab. Was nutzte das aber schon? Das Geld hatten wir doch verloren. Amerika ist in dieser Beziehung ein erstaunliches Land. Einerseits ist das Recht, Verleumdungen zu drucken, als ein heiliges Recht der Presse anerkannt und durch den ersten Zusatz zur Verfassung der USA verbrieft.
Andererseits ist es ein Land des totalen Konformismus, wo jede Art von Kritik in der Presse dazu führt, daß man nicht mehr akzeptiert wird, besonders wenn man öffentliche Gelder erhält. »Zu umstritten« heißt es hier in solchen Fällen. Man beachte, daß nicht der Verleumder "umstritten" wird, sondern der Verleumdete. Natürlich macht sich diesen Umstand allerlei linker Abschaum zunutze, was bedeutet, daß man ohne ihre Zustimmung kein Geld bekommt. Wir hatten ohnehin einen sehr schwachen Stand, und die bescheidenen Mittel, mit denen wir Emigranten die Dissidenten unterstützten, waren dem linken Establishment noch ein Dorn im Auge. Sobald sich eine Gelegenheit fand, machte man uns zu »Umstrittenen«.
Was konnte ich tun? Ich machte mir zunutze, daß ein winziger Teil der Auflage der »Nation« (nicht mehr als 100 Exemplare) in England vertrieben wurde, und strengte hier einen Prozeß gegen sie an. Die »Beklagten« kamen mit den unwahrscheinlichsten Vorwänden, um einen Prozeß abzuwenden, die Sache auf die lange Bank zu schieben und Gras darüber wachsen zu lassen. Ich will den Leser nicht mit Einzelheiten ermüden — gesagt sei nur, daß das Verfahren über fünf Jahre von Instanz zu Instanz wanderte. Erst kürzlich wurde es vom Oberhaus eingestellt, wohin sich die Beklagten gewandt hatten, weil es zu lange gedauert hatte.
Ich hatte das Vergnügen, ihre Petitionen zu lesen. Es sind Meisterwerke der zynischen und frechen Lüge. Sie schrieben, sie seien zermürbt von der Nervenanspannung durch das fünfjährige Warten auf den Prozeß. Sie erinnerten sich schon nicht mehr an die Einzelheiten, so daß es unbillig wäre, sie jetzt darüber unter Eid zu befragen. Außerdem habe sich inzwischen alles geändert. Es gebe keine UdSSR und keinen KGB mehr. Worüber noch streiten? Warum im Vergangenen wühlen?
So ist es mir nicht gelungen, sie zu zwingen, mir vor Gericht Rede und Antwort zu stehen oder sich wenigstens zu entschuldigen.
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