Teil 4 - Der Verrat   

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4.1  Die Politik der Entspannung und ihre Erfinder

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»Was halten Sie von der Détente (Entspannung)?« Das war eine der ersten und die später am häufigsten gestellte Frage nach meiner Ankunft im Westen. Zunächst begriff ich gar nicht, wonach man mich fragte. Statt des Wortes »Détente« wurde in der sowjetischen Presse die ungefüge Konstruktion <Entspannung der internationalen Lage> oder vereinfacht <Entspannung> verwendet. Außerdem wußte ich damals nichts von den westlichen Debatten über dieses Thema. 

Wenn ich mich negativ zu dieser und der damit verbundenen Frage über den »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« äußerte, spürte ich sogar bei der gemäßigten Presse, von der linken ganz zu schweigen, sofort eine abweisende Haltung (mitunter auch Feindseligkeit). Etwas später begannen — zunächst vorsichtig, in vagen Andeutungen und dann immer unverschämter — die Kompromittierungs­versuche.

»Ach, die Rechten haben ihn beeinflußt...« Welche Rechten? — Ich blickte mich erstaunt um und entdeckte in meiner Nähe keine <Rechten>. »Er klingt wie Solschenizyn ...« Aha, jetzt hatten sie mich. Ich war auf frischer Tat ertappt worden.

Aber nach zwei Jahren, als die mich schützende Welle der Publicity abflaute, entfiel auch die Notwendigkeit zur Vorsicht. Ich begann mich selbst einen »Rechten« zu nennen und einen »Extremisten«. Warum sollte ich kein Extremist sein? Ich lehne »gemäßigte« Verbesserungen des kommunistischen Systems ab, ich will auch keinen Sozialismus mit menschlichem Antlitz.

Ich hatte immer geglaubt, daß die Entspannung in den siebziger Jahren eine Erfindung des Kreml war und — hatte unrecht. Die deutschen Sozialisten waren ihre Urheber.

Mein Irrtum ist verständlich.

Der Wechsel von »Spannung« und »Entspannung« war typisch für die gesamte Geschichte der Beziehungen zwischen Ost und West und wurde stets von der sowjetischen Seite inszeniert. Von der Leninschen Neuen Ökonomischen Politik (NEP) der zwanziger Jahre über die Jahre der »großen Allianz« des Zweiten Weltkriegs bis zu Chruschtschows »friedlicher Koexistenz« wurden die Beschlüsse, die Lage zu »entspannen« oder »aufzuheizen«, stets in Moskau gefaßt, und der Westen fand sich lediglich mit dem ihm aufgezwungenen Spiel ab. 

Die Beziehungen zu seiner »kapitalistischen Umgebung« wären für das Regime ideal gewesen, wenn der Westen auf jede »Intensivierung des Klassenkampfes« mit einer Verstärkung der freundschaftlichen Gefühle reagiert hätte. Aber daraus wurde nichts. Der Westen, verschreckt durch den zunehmenden sowjetischen Einfluß, die Eroberung neuer Gebiete und die verstärkte subversive Tätigkeit, zeigte immer mal wieder — meist nur für kurze Zeit — seine Krallen, und es setzte eine Periode des Kalten Krieges ein, der von der gesamten Menschheit verflucht wurde.

Was die linke Propaganda auch immer behauptete, die westliche Politik gegenüber der UdSSR war stets passiv und defensiv, niemals jedoch aggressiv. Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges war Zurück­haltung die vorherrschende Doktrin des Westens, wodurch die Initiative der sowjetischen Führung überlassen wurde. Wenn das sowjetische Regime der Konfrontation müde wurde, seine Ressourcen erschöpft und die Nerven des Gegners zerrüttet waren, setzte es eine Friedensinitiative in Gang, von der es sich eine Pause im Wettrüsten, westliche Kredite und Technologie sowie günstige Bedingungen für die Erweiterung seines Einflusses erhoffte. Es ist nie vorgekommen, daß der Westen dieses Werben um »Freundschaft« abwies, obwohl das Regime keinen Hehl daraus machte, daß sein Wesen gleich blieb.

Chruschtschows berühmtes Versprechen »Wir werden euch zu Grabe tragen!« schreckte den Westen weit mehr auf als die Berliner Mauer, obwohl er eigentlich nichts Neues gesagt hatte, sondern nur mit eigenen Worten das marxistische Dogma vom Proletariat als dem »Totengräber des Kapitalismus« wiederholte. Breschnew, der im Gegensatz zu Chruschtschow nie etwas mit eigenen Worten ausdrückte, wiederholte trotzdem immer und überall, daß »die Entspannung keinesfalls die Gesetze des Klassenkampfes außer Kraft setzt«.1) Das klingt nebulöser, und niemand regte sich besonders darüber auf.


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Natürlich endeten diese Entspannungsperioden immer auf die gleiche Weise — mit einer Invasion, einer Annexion eines fremden Staates durch die Sowjetunion, mit offener Feindseligkeit gegenüber dem Westen und mit Drohungen. Wie eine Affenherde, der ein Tiger eine Affin geraubt hat, gerieten die westlichen Länder für kurze Zeit in helle Aufregung, beruhigten sich dann wieder, und alles begann von vorn — mit dem einzigen Unterschied, daß die Zyklen mit der Zeit immer kürzer wurden. Immer weniger hielt das Regime die Spannung aus, und immer weniger konnte seine Wirtschaft ohne westliche Hilfe bestehen. Aber auch die Atempausen wurden mit der Zeit für das Regime immer gefährlicher, weil es ohne »Spannung« die Kontrolle über verschiedene Teile des Imperiums zu verlieren drohte.

Es gab also Grund zur Annahme, daß die Entspannung der siebziger Jahre auch auf eine sowjetische Initiative zurückging. Zudem kam sie der Breschnewschen Führung sehr gelegen, die gerade die Tschechoslowakei unterworfen hatte, sich in der Isolation befand und außerdem noch die »Kossyginschen Reformen« eingeleitet hatte und daher besonders dringend westlicher Hilfe bedurfte. Aber die Tatsachen lassen sich nicht leugnen. Das wenige, was ich in den Archiven zu dieser Frage fand, hat selbst mich in Erstaunen versetzt.

Kehren wir noch einmal zu dem bereits am Anfang des Buches zitierten Dokument zurück, das von der Zusammenkunft des Krupp-Direktors Zedtwitz von Arnim, einem Vertrauten des SPD-Politikers Egon Bahr, mit einem KGB-Vertreter berichtet.2 Dies ist ein eindeutiger Beleg dafür, daß die Initiative zur Politik der Entspannung nicht von sowjetischer Seite, sondern von den deutschen Sozialdemokraten ausging.

Wie man sieht, begann diese Politik auf heimliche Weise — sozusagen als Komplott und dazu noch über die Kanäle des KGB. Aber das ist nicht die Hauptsache — es gibt schließlich viele Beispiele in der Geschichte dafür, daß das Notwendige heimlich getan wurde —, sondern das Entscheidende ist, daß das Dokument die Behauptungen der Sozialdemokraten, die sie später als Rechtfertigung für ihre Politik vorbrachten, als Lügen entlarvt.


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Zum Beispiel wurde die Abhängigkeit der Bundesrepublik Deutschland vom sowjetischen Nachbarn, auf die sich die Sozialdemokraten dann als »Realität« beriefen und mit der »gerechnet« werden mußte, von ihnen bewußt geschaffen. 

Oder das laute Geschrei, daß sie »die Welt mit ihrer Ostpolitik vor einem Atomkrieg bewahrten«, und all die Beschwörungen, daß es »keine Alternative zur Entspannung« gebe. Aber Deutschland war doch 1969 nicht real bedroht (zumindest nicht mehr als in den Jahren zuvor auch), und die viel beschworene »internationale Spannung« beherrschte die Welt keineswegs. Man brauchte gar keine »Alternative« zu suchen. Im Gegenteil, die »Spannung« war eine Folge der Entspannung, denn die UdSSR begann, sich die Gutgläubigkeit des Westens zunutze zu machen und Ende der siebziger Jahre aufzurüsten.

Vergessen wir auch nicht die Tatsache, daß Deutschland Mitglied der NATO war und die Sozialdemokraten 1969 an der Regierungskoalition in der Bundesrepublik beteiligt waren, sie somit ihre Gespräche in Moskau hinter dem Rücken ihrer Bündnis­partner führten und damit eindeutig einen Verrat begingen. In einer Demokratie konnte ihnen natürlich niemand verbieten, ihre Politik der Unterstützung der NATO aufzugeben und sogar Moskaus Partner zu werden, aber dann hätten sie zunächst aus der Regierungskoalition austreten und ihre Entscheidung offen verkünden müssen. Da sie weder das eine noch das andere taten, wurden sie zu Moskau »Einflußagenten« in der NATO. Durch diese Politik hat Deutschland nichts Wesentliches gewonnen, aber die Beziehungen zwischen Ost und West waren für lange Zeit vom Virus des Kapitulantentum angegriffen.

Indessen war das von Andropow in seinem Bericht über das Gespräch mit Zedtwitz empfohlene ausgewogene Verhalten gegenüber »beiden Parteien« nicht mehr als ein Spiel. Genau zur gleichen Zeit, im Mai 1969, schickte der KGB dem ZK folgendes Schreiben:3


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»Streng geheim
Sonderakte 
An das ZK der KPdSU
Gemäß dem Beschluß des Sekretariats des ZK der KPdSU (St-57/59gs vom 16. September 1968) hat das Komitee für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR im Oktober 1968 dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR Fotokopien der Archivdokumente über die nationalsozialistische Vergangenheit des westdeutschen Kanzlers KIESINGER übergeben.

Jetzt bittet das MfS der DDR, ihnen für einige Zeit die Originale zusätzlicher Dokumente, die zur Vorbereitung von Maßnahmen zur Kompromittierung KIESINGERS benutzt werden sollen, zu überlassen.
Wir sind der Meinung, daß die Bitte der deutschen Freunde erfüllt werden kann und daß ihnen die genannten Dokumente über die nationalsozialistische Vergangenheit des Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland KIESINGER, die bei der Hauptarchivverwaltung beim Ministerrat der UdSSR aufbewahrt werden, zur zeitweiligen Benutzung überlassen werden können.
Wir bitten um Zustimmung.
Der Entwurf des Beschlusses des ZK der KPdSU wird beigefügt. 

DER STELLVERTRETER DES VORSITZENDEN DES KOMITEES FÜR STAATSSICHERHEIT BEIM MINISTERRAT DER UDSSR 
SACHAROW
DER STELLVERTRETER DES LEITERS DER HAUPTARCHIVVERWALTUNG BEIM MINISTERRAT DER UDSSR
JAKOWLEW 

27. Mai 1969"

 

Warum indes die Sozialdemokraten freiwillig den Hals in die sowjetische Schlinge steckten, ist schwer zu verstehen. Sie redeten viel von ihrer edlen Mission zur Verteidigung der Menschenrechte, die angeblich ohne gewisse Zugeständnisse an die UdSSR, ohne ein bestimmtes Spiel auf der Grundlage des »gegenseitigen Vorteils« mit Moskau nicht durchführbar gewesen wäre. Das ist jedoch nur ein propagandistischer Rauchschleier, um nicht zu sagen eine LÜGE, denn die wichtigsten Zugeständnisse an Moskau mußten genau in der Frage der Menschenrechte gemacht werden.


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Man erinnere sich, daß das ganze Spiel nur ein halbes Jahr, nachdem der »Prager Frühling« von den russischen Panzern niedergewalzt worden war, angezettelt wurde und die Empörung der Menschheit darüber noch nicht abgeklungen war. In einem solchen Augenblick war schon der Vorschlag, »besondere Beziehungen« mit dem Aggressor einzugehen, ein großes Zugeständnis, um nicht zu sagen Verrat. Die mit einer solchen Note eingeleitete Ostpolitik wurde zum Verrat an den Menschenrechten.

Hier sei noch ein Dokument angeführt, das den »Einsatz« der Regierung der Bundesrepublik Deutschland »für die Menschenrechte« 1972 deutlich illustriert:4)

»UdSSR
Streng geheim 
Komitee für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR 

30. April 1972 Nummer 1176-A 
Moskau

An das ZK der KPdSU 
Am 5. März 1972 ist auf private Einladung des Präsidenten HEINEMANN der wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts für Allgemeine Geschichte der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und Doktor der historischen Wissenschaften Michail Sergejewitsch WOSSLENSKI, geboren im Jahre 1920, Russe, parteilos, unverheiratet, mit einem privaten Visum ausgereist.
Am 29. April dieses Jahres teilte der Staatssekretär des Außenministeriums der BRD, FRANK, dem sowjetischen Botschafter in Bonn, dem Genossen FALIN mit, daß WOSSLENSKI bei den Behörden der Bundesrepublik Deutschland die Verlängerung des Visums für die Aufenthaltsdauer im Land um zwei bis drei Jahre beantragt und auch gebeten habe, ihm bei der Verlängerung des sowjetischen Reisepasses um die genannte Frist behilflich zu sein. WOSSLENSKI begründete seinen Antrag mit dem Wunsch, wissenschaftlich zu arbeiten und nannte keine politischen Motive. Laut FRANKS Erklärung erregt das Verhalten WOSSLENSKIS einen bestimmten Verdacht, so daß die Regierung der Bundesrepublik Deutschland an


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einer Verlängerung des Aufenthalts im Lande nicht interessiert sei. Andererseits könne die westdeutsche Seite die Verlängerung des Visums nicht direkt ablehnen, weil sie befürchte, daß WOSSLENSKI an die Öffentlichkeit appellieren könnte, und nicht ausschließe, daß er sich im äußersten Fall an die Polizei mit einem Antrag auf Asylgewährung mit all den sich daraus ergebenden Konsequenzen wenden könnte.
Angesichts der schwierigen politischen Lage in der BRD wäre nach FRANKS Meinung eine solche Wendung äußerst unerwünscht. Hiervon ausgehend, erklärte FRANK, daß nach Ansicht der westdeutschen Seite eine Verlängerung der Geltungsdauer des sowjetischen Reisepasses und des westdeutschen Visums um zwei bis drei Monate der beste Ausweg aus dieser Situation wäre.
In Anbetracht der Tatsache, daß sich WOSSLENSKI auf eine persönliche Einladung des Präsidenten HEINEMANN in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, wird es als zweckmäßig erachtet, dem Vorschlag FRANKS zuzustimmen, das Visum für WOSSLENSKI zu verlängern, wobei ausbedungen wird, daß die westdeutschen Behörden Maßnahmen zur Verhinderung unerwünschter Handlungen seitens WOSSLENSKIS ergreifen. Gleichzeitig sollte durch den sowjetischen Botschafter in Bonn sowie die dem Komitee für Staatssicherheit zur Verfügung stehenden Möglichkeiten die westdeutsche Seite mit der Frage einer vor der Öffentlichkeit geheimgehaltenen Verbringung WOSSLENSKIS in die Sowjetunion, falls sie sich als notwendig erweisen würde, konfrontiert werden.
Wir bitten um Entscheidung.
DER VORSITZENDE DES KOMITEES FÜR STAATSSICHERHEIT 
ANDROPOW«

 

Die deutsche Führung hatte sich also 1972 in der Frage der Menschenrechte mit Moskau gegen die eigene Gesellschaft und sogar die eigene Polizei verschworen. Bis 1974 hatte sich diese »vertrauensvolle Zusammenarbeit« so weit gefestigt, daß zum Beispiel die Frage der Ausweisung Solschenizyns aus der UdSSR praktisch gemeinsam vom sowjetischen Politbüro und den sozialdemokratischen Führern der Bundesrepublik Deutschland gelöst wurde (offensichtlich auch diesmal, ohne daß ihre Partner in der Koalitionsregierung eingeweiht wurden).


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Auf Diskussionen im Politbüro wurden viele Argumente für einen Prozeß gegen den Schriftsteller laut, andererseits begriffen aber alle (besonders Andropow und Gromyko), daß eine solch krasse Verletzung der Menschenrechte ihnen auf internationalem Feld schaden würde. Besonders beunruhigte sie der bevorstehende Abschluß des Helsinki-Abkommens, in dem sie als Gegenleistung für die »Anerkennung der durch den Krieg entstandenen Grenzen« (das heißt die Legitimierung der Besetzung halb Europas durch die Sowjetunion) umfassende Garantien für die Wahrung der Menschenrechte geben sollten — natürlich ohne die geringste Absicht, diese Versprechungen einzuhalten. Aber es ist eine Sache, die Verträge nach ihrer Unterzeichnung zu verletzen — eine andere, es vorher zu tun. Eine Verhaftung Solschenizyns hätte ihnen das ganze Spiel verderben können. Ihn gegen seinen Willen auszuweisen, wie Andropow vorschlug, war schwierig, wenn sich kein Land für seine Aufnahme bereit fand. Hier verfielen sie auf Willy Brandt. An wen hätten sie sich sonst um Hilfe wenden sollen, wenn nicht an die am meisten an der Entspannung interessierte Seite?

"Wie ich Ihnen telefonisch mitgeteilt habe, hat Brandt erklärt, daß Solschenizyn in der BRD frei leben und arbeiten kann«, teilte Andropow in einem persönlichen Schreiben an Breschnew mit.

 

»Heute, am 7. Februar, fliegt Genosse Keworkow zu einem Treffen mit Bahr, um die praktischen Fragen der Ausweisung Solschenizyns aus der Sowjetunion in die BRD zu erörtern. Wenn Brandt nicht in letzter Minute einen Rückzieher macht und die Gespräche Keworkows erfolgreich enden, werden wir schon am 5. oder 10. Februar eine gemeinsame Lösung haben, worüber ich Sie unverzüglich in Kenntnis setzen werde. 

Wenn die genannte Vereinbarung erzielt wird, sollte meines Erachtens spätestens am 9. oder 10. Februar ein Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR über die Ausbürgerung Solschenizyns und seine Ausweisung aus unserer Heimat verabschiedet werden. (Ein Entwurf des Erlasses ist beigefügt.) Die Operation zur Ausweisung Solschenizyns könnte in diesem Fall am 10. oder 11. Februar stattfinden.
Es muß alles schnell gehen, weil — wie aus operativen Dokumenten zu ersehen ist — Solschenizyn allmählich unsere Absichten ahnt und mit einer
Erklärung an die Öffentlichkeit treten könnte, die uns und Brandt in eine schwierige Lage versetzen würde.«5


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Zwei Tage später berichtete er vom Gelingen der Aktion:

»... am 8. Februar hatte unser Vertreter ein Treffen mit einer Vertrauensperson Brandts, um praktische Fragen zu besprechen, die die Ausweisung SOLSCHENIZYNS aus der Sowjetunion in die BRD betreffen.
Auf der Besprechung einigte man sich auf eine vom Vertreter der Bundesrepublik Deutschland vorgeschlagene Lösung. Am Abend des 12. Februar wendet sich der sowjetische Botschafter, Genösse FALIN, an den Staatssekretär P. FRANK (speziell an ihn) mit der Bitte, ihn am 13. Februar, 8.30 Uhr, in einer dringenden Angelegenheit zu empfangen.
Am 13. Februar um 8.30 Uhr empfängt FRANK den Genossen FALIN, der eine Erklärung über die Ausweisung SOLSCHENIZYNS abgibt. (Der Text der Erklärung wird gemeinsam mit dem Außenministerium gesondert vorgelegt.) Um 10.00 Uhr beginnt eine Kabinettssitzung. BRANDT weist BAHR, FRANK und einen Vertreter des Innenministeriums an, eine positive Entscheidung zu treffen. Auf Bitten der westdeutschen Stellen soll SOLSCHENIZYN am 13. Februar um 17 Uhr Ortszeit mit einem Linienflug in Frankfurt am Main eintreffen.
Nachdem SOLSCHENIZYN das Flugzeug verlassen haben wird, sind die sowjetischen Vertreter nicht länger an der Aktion beteiligt ... Wenn Brandt trotz all seinen Zusicherungen aus irgendeinem Grund in letzter Minute seinen Entschluß ändert, bleibt SOLSCHENIZYN in Haft und die Staatsanwaltschaft wird Ermittlungen gegen ihn einleiten.«6

 

Das war ein Kuhhandel, ein Komplott. Als das Abkommen von Helsinki unterzeichnet wurde, verstanden die deutschen Sozialdemokraten sehr wohl, daß die UdSSR nicht vorhatte, ihre Verpflichtungen bezüglich der Menschenrechte zu erfüllen, beabsichtigten jedoch keineswegs, dagegen zu protestieren. Ohne Zweifel war die Entspannung — allen öffentlichen Erklärungen der SPD zum Trotz — in ihrer Vorstellung nicht mit dem Problem der Menschenrechte verbunden. Der Kanzlerwechsel 1974 änderte nichts an dieser Politik. Es kam nicht auf den Kanzler, sondern auf seine Partei an.


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Als die globale Kampagne für die Wahrung der Menschenrechte in der UdSSR 1977 ihren Höhepunkt erreicht hatte und der neue US-Präsident Jimmy Carter sich ihr anschloß, wurde dieses Problem von den deutschen Sozialdemokraten nicht länger »eine der Grundlagen der Ostpolitik« genannt. Carter erschreckte sie mit seiner Kampagne für die Menschenrechte und plötzlich wurden diese zu einem zentralen Problem in den Beziehungen zur UdSSR.

»Die Führung der SPD war zu Beginn der Amtsführung von Präsident Carter äußerst alarmiert und besorgt. Die Unklarheiten über den zukünftigen Kurs der neuen US-Administration in Sachen Abrüstung, Beziehungen zur UdSSR und bezüglich der wichtigsten Bereiche der Wirtschafts- und Finanzpolitik erschwerten die Ausarbeitung des Regierungs­programms der sozialliberalen Koalition und hatten negative Auswirkungen auf den Beginn der Tätigkeit des Kabinetts Schmidt«, teilte die sowjetische Botschaft in ihrem Bericht für 1977 mit.7

Brandt und Bahr beeilten sich, Carter in die Schliche der europäischen Politik einzuweihen, und jede Erwähnung der vermaledeiten »Menschenrechte« war von unzähligen Ausflüchten begleitet. Der Botschafter der UdSSR in der Bundesrepublik Deutschland Falin berichtete:8

 

"Einerseits fühlen sie sich verpflichtet, ihren Ruf als Kämpfer für die >Menschenrechte< zu wahren, und können sich nicht erlauben, hinter ihren innenpolitischen Konkurrenten und ihren Verbündeten zurückzustehen. Nach der Veröffentlichung des Briefes von Carter an Sacharow erklärte Kanzler Schmidt (20.2.77), daß die Beweggründe Carters mit den ihren übereinstimmten und die Regierung der Bundesrepublik Deutschland >auch in Zukunft beabsichtige, in geeigneter Weise darauf hinzuwirken, daß Menschen, die andere Meinungen vertreten, nicht diskriminiert oder verfolgt würden.<  Genscher nannte in diesem Zusammenhang die Durchsetzung der Menschenrechte >im Weltmaßstab< das zentrale Ziel der Liberalen und erinnerte an seinen Vorschlag, einen >internationalen Menschenrechtsgerichtshof< zu schaffen.
Andererseits ist nach zuverlässigen Informationen die Führung der SPD
über Carters Behandlung des Dissidentenproblems beunruhigt.


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Schmidt sprach über die Absicht, >in geeigneter Weise< zu handeln, und Bahr erhielt vor seiner Reise in die USA den Auftrag, der neuen Administration ausführlicher zu erläutern, was nach sozialdemokratischer Meinung unter >geeigneter Weise< zu verstehen sei und daß es dabei darauf ankomme zu verhindern, daß die Entspannung über Bord geworfen werde. Dasselbe Thema wird wahrscheinlich von Brandt und Ehmke bei ihren bevorstehenden Gesprächen mit Carter und Vance angeschnitten ... In inoffiziellen Gesprächen äußern sich westdeutsche Politiker aus dem Regierungslager mit deutlich größerer Besorgnis über die gegenwärtige Lage ...«

 

Es waren zweifellos die Sozialdemokraten, die zusammen mit ihren sozialistischen Verbündeten in Europa die Lüge, das Aufsehen im Westen schade den Dissidenten — trotz der Tatsache, daß die Dissidenten selbst anderer Meinung waren —, und andere Lügen über uns verbreiteten, wodurch sie zum »Sprachrohr des KGB« für Kompromittierungs­maßnahmen wurden. Darüber hinaus beeilten sie sich, den sowjetischen »Partnern« über die Erfolge in ihrer »Arbeit« zu berichten:

 

»Wir haben Kenntnis davon erhalten, daß Schmidt, Brandt und Wehner eine nützliche Arbeit mit Hans-Dietrich Genscher durchgeführt und ihm ein besseres Verständnis der sozialdemokratischen außenpolitischen Konzeption nahegebracht haben. Die Sozialdemokraten betonen, daß der Außenminister sich unter diesem Einfluß mit antisowjetischen Äußerungen in der Öffentlichkeit außerordentlich zurückhält.«9

 

Alle Kräfte des europäischen Sozialismus wurden also eingesetzt, um die »Entspannung« vor dem Problem der Menschenrechte zu retten, das heißt — um es einfacher auszudrücken — vor uns, diesem kleinen Häuflein, das seine Freiheit (mitunter sogar das Leben) riskierte, um diese Rechte zu verteidigen. Man erinnere sich nur, daß 1977—1978, als sich unsere Bewegung in einem kritischen Stadium befand und das Schicksal der verhafteten Kameraden, der Mitglieder der Helsinki-Gruppe, an einem seidenen Faden hing, die meisten europäischen Regierungen sozialistisch waren, ganz zu schweigen von der Presse, den Intellektuellen, den Gewerkschaften und sogar einigen Kreisen der Wirtschaft.


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Ist es daher verwunderlich, daß sie »gesiegt«, genauer gesagt, daß sie uns und die Idee der Menschen­rechte verraten haben? Mit vereinten Kräften brachten sie es fertig, Carter dazu zu bewegen, von seiner Menschenrechtspolitik gegenüber der UdSSR Abstand zu nehmen. Aber das war noch nicht alles.

Schon lange vor der Belgrader Konferenz, auf der im Herbst 1977 die Einhaltung der Helsinki-Vereinbarungen »überprüft« werden sollte, trafen sich die europäischen sozialistischen Parteien heimlich hinter verschlossenen Türen in Amsterdam und beschlossen, auf dieser Konferenz »von der UdSSR nicht zuviel zu verlangen«. Und ein halbes Jahr später in Belgrad verlangten sie — gar nichts. Die Konferenz, auf die die Menschen solche Hoffnungen gesetzt hatten und bei der vom Westen eine feste Haltung erwartet worden war, endete mit einem neutralen Kommunique, in dem die Repressionen in den sozialistischen Ländern nicht einmal erwähnt wurden.

Schließlich wurde die »menschenrechtliche« Rechtfertigung der Entspannung, die Sorge um die »Brüder im Osten«, die vielleicht anfangs ganz aufrichtig gemeint war, sehr schnell dieser Entspannung zum Opfer gebracht und verwandelte sich in eine propagandistische Tarnung. Ich glaube gern, daß die Sozialdemokraten bei der Unterzeichnung des Moskauer und des Warschauer Vertrags 1972 noch an ihre Losung »Wandel durch Annäherung« glaubten. Die Popularität der SPD begann indes sehr schnell zu fallen, und 1977 befand sie sich nach der Einschätzung des sowjetischen Botschafters in Bonn »auf dem tiefsten Stand seit ihrem Machtantritt«.10)

»... in politischen Kreisen hören die Diskussionen über das weitere Schicksal der westdeutschen Sozial­demokratie und damit über die Lebensfähigkeit der sozialliberalen Koalition nicht auf. Wie zahlreiche Begegnungen und Gespräche von Vertretern der sowjetischen Botschaft mit Sozialdemokraten gezeigt haben, ist die Führung der SPD beharrlich darum bemüht, Wege zur Erreichung positiver Resultate in ihrer Außen- und Innenpolitik zu finden und stärkeres Vertrauen in der Bevölkerung für ihren politischen Kurs zu gewinnen.


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Unter diesen Bedingungen«, so berichtet die Botschaft weiter, »wird die außenpolitische Tätigkeit der SPD-Führung als eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Stärkung der Partei im Land angesehen.
Große Hoffnungen setzt die SPD-Führung auf einen erfolgreichen Verlauf des Besuchs des Genossen L. I. Breschnew in der BRD. Sie rechnet damit, daß neue Impulse für eine weitere Verbesserung der sowjetischwestdeutschen Beziehungen es erlauben werden, den für die Sozialdemokraten ungünstigen Eindruck, daß seit dem Amtsantritt der Regierung Schmidt im Mai 1974 in politischer Hinsicht kein Fortschritt in diesen Beziehungen zu beobachten ist, aus der Welt zu schaffen. Der sowjetisch-amerikanische Dialog über SALT-II, der Besuch des Genossen Breschnew in der BRD und der konstruktive Verlauf der Belgrader Konferenz müssen nach der Meinung der SPD-Führung in diesem Jahr zu wichtigen zusammenhängenden Etappen auf dem Weg zur weiteren Entspannung werden.
Es verdient Aufmerksamkeit, daß im Zuge der Vorbereitung des Besuchs des Genossen L. I. Breschnew die Sozialdemokraten es vermeiden, sich aktiv an der lautstarken Kampagne für die >Menschenrechte< zu beteiligen, und sich mißbilligend über ihre Organisatoren aus den Reihen der CDU/CSU äußern.«

 

Sogar einige kommunistische Parteien (die französische und die italienische) legten sich zu dieser Zeit in ihrer Kritik an der repressiven sowjetischen Politik keine allzu große Zurückhaltung auf. Die SPD war somit abhängiger von Moskau als die europäischen kommunistischen Parteien. Nicht nur Moskau, sondern sogar der unbedeutende Marionettenstaat DDR konnte seinem »westlichen Bruder« seine Bedingungen diktieren.

 

»Die SPD-Führung arbeitet beharrlich daran, eines der Hauptargumente der Opposition zu entkräften, nämlich daß die Politik der von Schmidt geführten Regierung in der deutschen Frage >in eine Sackgasse geraten< und zu völliger Wirkungslosigkeit verurteilt sei. Das Kanzleramt unternimmt auf verschiedenen Wegen energische Anstrengungen, um die DDR zu Verhandlungen über einen umfangreichen Maßnahmenkatalog zu bewegen, der — sollte er zu Vereinbarungen führen — es erlaubte, ein im Sinne der Interessen der Bundesrepublik Deutschland >positives Gleichgewicht< in den Beziehungen zur DDR zu schaffen.


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Diese Maßnahmen sind politisch und Ideologisch deutlich darauf ausgerichtet, ein so dichtes Netz von Interessenverflechtungen zu knüpfen, daß sich die DDR nur zu ihrem eigenen Schaden von ihm losreißen kann. Man müsse danach streben, erklärt Herbert Wehner, >daß die Konfrontation zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR von einem Nebeneinander in eine loyale Nachbarschaft übergeht<.
Der Kanzler ist sich aller Schwierigkeiten bei der Lösung dieser Aufgabe bewußt und macht sich keine großen Illusionen. Die SPD-Führung unterstreicht ständig die Notwendigkeit, Vorsicht und Geduld in den Beziehungen mit der DDR an den Tag zu legen und vor allem die bereits erreichten >grundlegenden Veränderungen< nicht durch demonstrative und unüberlegte Aktionen aufs Spiel zu setzen. Damit ist vor allem die Erweiterung der Kontaktmöglichkeiten zwischen den Bürgern der BRD und der DDR gemeint. Die Zunahme der Besuchsreisen aus der BRD in die DDR auf acht Millionen im Jahre 1976 wird von der SPD-Führung als >Verbesserung der Lage der Menschen im geteilten Deutschland< und als einer der größten Erfolge der Politik der Bundes­republik Deutschland seit 1969 in der deutschen Frage angesehen.«

 

Die Sorge um die »Brüder im Osten« führte zu der paradoxen Situation, daß das »Modell des erfolgreichen Sozialismus« in der DDR mit dem Geld der westdeutschen Steuerzahler finanziert wurde, von denen dann jährlich acht Millionen einreisen durften, um es zu betrachten. Es ist klar, wessen »Einfluß« bei einer solchen »Annäherung« überwog. Sogar der sowjetische Botschafter berichtet in ironischen Tönen über diesen »größten Erfolg« der sozialdemokratischen Politik in den sieben Jahren der Entspannung.

Als schließlich weder die Menschenrechte noch die »Einflußnahme« auf die DDR ernsthaft als Grundlagen der Politik herhalten konnten, wurde als rationale Begründung für die Entspannung etwas völlig anderes genannt — Frieden und Abrüstung. Aber auch das klingt wenig überzeugend. Als die Sozialdemokraten 1969 das Konzept ihrer »Ostpolitik« entwarfen und in die Tat umzusetzen begannen, war die Kriegsgefahr weit geringer als im Ergebnis dieser Politik 1980.


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Ungeachtet dieser Folgen beharrten sie mit manischer Halsstarrigkeit auf der Entspannung, wobei sie die Verstärkung des sowjetischen Einflusses im Land und in ihrer Partei förderten — oft mit ihrem eigenen Geld, zum Beispiel durch

»einen solchen propagandistischen Kanal wie die sozialdemokratische Friedrich-Ebert-Stiftung, mit deren Mittel eine Anzahl von Journalisten aus der BRD in die UdSSR reisen könnte und Vorträge sowjetischer Lektoren vor einem westdeutschen Publikum durchgeführt werden könnten. Über die Stiftung könnten die notwendigen Kontakte mit der SPD hergestellt werden. Wie der SPD-Vorsitzende Brandt sagte, ist die Tätigkeit der Stiftung in den letzten Jahren grundlegend neu geregelt worden. Sie befaßt sich nicht länger mit Maßnahmen, die die DDR als ihren Interessen abträglich ansehen könnte, und arbeitet unter der Aufsicht und nach den Anweisungen des SPD-Vorstands. Nach Brandts Ansicht könnte die Stiftung die Rolle eines Verbindungskanals zwischen beiden Ländern spielen, der unter der Kontrolle der SPD und der KPdSU steht.«11

 

Selbst der sowjetische Einfall in Afghanistan, der die öffentliche Meinung des Westens stark ernüchterte, hatte nur geringe Auswirkungen auf die Politik der Sozialdemokraten. Nach wie vor sahen sie es als ihre Hauptaufgabe an, »die Entspannung zu retten«. Vor wem? Vor Breschnew? Nein, vor einer »undurchdachten und übertriebenen Reaktion, die dem Wesen der Situation nicht entspricht und zu einer Verschlechterung der Situation führen kann.« Nicht zufällig wandte sich das Politbüro mit einer persönlichen Botschaft sofort nach der Invasion an Brandt. Es machte sich berechtigte Hoffnung darauf, die politische Isolation mit seiner Hilfe zu überwinden.12)

»Das Wichtigste ist«, schrieben sie, »eine gemeinsame Sprache in den Fragen zu finden, die seit vielen Jahren Gegenstand Ihrer und unserer Sorge sind — die Festigung der internationalen Sicherheit.«

Dieses Suchen nach einer gemeinsamen Sprache fand jedoch in den Bereichen statt, in denen man es am wenigsten erwartet hätte. So begann beispielsweise 1981 die Zusammenarbeit in Fragen der Theorie des Aufbaus des Sozialismus zwischen dem theoretischen Organ der SPD, der Zeitschrift »Die Neue Gesellschaft«, und der Redaktion des Organs des ZK der KPdSU, der Zeitschrift »Kommunist«.13 Welche Beziehung hatte das zum Frieden und zur internationalen Sicherheit?


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Was war das eigentlich — diese Entspannungspolitik, Detente, Ostpolitik oder wie man es sonst noch nannte? Mit Dummheit, Feigheit oder Infiltration der SPD durch den KGB (obwohl das alles zweifellos eine Rolle spielte) allein ist das alles nicht zu erklären — schon deshalb, weil diese Politik nicht nur von den Deutschen betrieben wurde. So gut wie alle sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien Europas unterstützten diese Politik mehr oder weniger. Ja, auch nichtsozialistische Regierungen, wie die französische (Giscard d'Estaing) oder die amerikanische (Nixon und Kissinger), sahen »keine Alternative zur Entspannung«. Besser gesagt, sie suchten keine Alternative, ließen sich voll und ganz auf das Spiel der Sozialisten ein und übernahmen ihre Argumentation.

Wie mir ein alter Sozialdemokrat, ein durch und durch ehrlicher Mann einmal sagte, hat die Sozialdemokratie nur so lange eine Existenzberechtigung, wie ihrer Politik ein konsequenter Antikommunismus zugrunde liegt. Die erste Etappe des Kalten Krieges in den vierziger und fünfziger Jahren war deshalb erfolgreich für den Westen, weil die europäische Sozialdemokratie eine deutlich antikommunistische Haltung einnahm. Brandt, der als Bürgermeister der »Frontstadt« Berlin ein konsequenter Antikommunist war, soll gebrochen worden sein, als er sah, daß die Alliierten bereit waren, Berlin zu opfern und 1961 nichts gegen die Errichtung der Mauer unternahmen. Er schreibt selbst darüber:14

»Meine politischen Erwägungen in den folgenden Jahren waren wesentlich von der Erfahrung dieses Tages bestimmt, und auf diesem Hintergrund nahm meine sogenannte Ostpolitik ihre Gestalt an.«

So mag es gewesen sein.
Ich war nicht dabei und maße mir kein Urteil an.

Ende der sechziger Jahre verschob sich die Position der europäischen Sozialdemokraten nach links in die Richtung der Zusammenarbeit mit den Kommunisten. Hier waren sowohl rein taktische Erwägungen im Spiel (die gemeinsame Kampagne gegen den Krieg in Vietnam, die Apartheid in Südafrika und das Pinochet-Regime in Chile) als auch das »Tauwetter« Chruschtschows und die Spaltung zwischen Moskau und Peking, die das »sowjetische Modell des Kommunismus« als das geringere Übel erscheinen ließen.


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Die Verlockung zur Zusammenarbeit wurde mit der Entstehung des Eurokommunismus noch stärker, denn er erneuerte bei den Sozialisten den alten Traum von einer Wandlung der Kommunisten zu Sozialdemokraten. Eine größere Rolle aber spielten zynische konjunkturbedingte Erwägungen, nur ein größerer Einfluß der Kommunisten sowie auch der Sowjetunion machten die Sozialdemokraten zu einer akzeptablen, ja sogar unvermeidlichen Alternative in den Augen des Westens.

In den sechziger Jahren war es den Sozialdemokraten klargeworden, daß die sozialistischen Ideen, die die Religion der »Elite« geblieben waren, beim breiten Publikum keine Akzeptanz fanden und daß die westliche Welt den von ihnen gepriesenen Dritten Weg — den Weg des Lavierens der gemäßigten Sozialdemokratie zwischen den »Extremen des Kommunismus und des Kapitalismus« — höchstens als geringeres Übel wählen würde. Nur die Verstärkung des sowjetischen Einflusses konnte sie zu erwünschten Vermittlern zwischen Ost und West, zu einer Art Retter der Menschheit machen und ihnen nach ihrer Meinung erlauben, beide Seiten zu beeinflussen, nach und nach die ideologischen Gegensätze zu glätten und auf diese Weise die sich feindlich gegenüberstehenden Welten zu Frieden und Zusammenarbeit, zur Konvergenz, zu führen.

Mit ihrer Behauptung, daß das Ziel ihrer Politik der Entspannung die Festigung des Friedens und der Sicherheit, die Verbesserung der Lage der Menschen und die Einhaltung der Menschenrechte im Osten und andere Wohltaten waren, logen die Sozialdemokraten nur zum Teil. Ja, das waren ihre Träume, allerdings keinesfalls uneigennützige Träume, denn die Erfüllung hätte bedeutet, daß wir alle ihre Version des Sozialismus und auch sie selbst als unsere mehr oder weniger ständigen Herrscher und Retter hätten akzeptieren müssen.

Sie verschwiegen das. Da die Sozialdemokraten verstanden, daß die meisten Menschen ihrer Utopie nicht freiwillig folgten, förderten sie bewußt die Verstärkung des sowjetischen Einflusses, ohne das Volk, ihre Verbündeten oder ihre Partner in den verschiedenen Regierungskoalitionen einzuweihen. Ähnlich wie der eine oder andere Vertreter unserer Intelligenzija sich auf ein Spiel mit dem KGB einließ (»Wir sind klüger als sie und werden sie hereinlegen!«), begann auch die europäische Sozialdemokrade ihre geheimen Spiele mit Moskau und verhedderte sich in ihnen.


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In Moskau ließ man sich nur zu gern auf diese Spiele ein. Wenn die Bolschewik! irgend etwas in ihrer Geschichte gelernt haben, so war es die Ausnutzung der Menschewiki für ihre Zwecke. Alle »Verschnaufpausen«, beginnend mit der Neuen Ökonomischen Politik unter Lenin, kam durch die Einbeziehung verschiedener »reformatorischer« linker Bewegungen in ihre Politik zustande — meist durch die Bildung von »Einheitsfronten«, in denen selbstverständlich die Kommunisten die Führung innehatten. Indem Moskau die offizielle »Zusammenarbeit« mit inoffizieller Infiltration der »gemäßigten« Bewegungen durch ihre Agenten und linksradikalen Aktivisten kombinierte, manipulierte sie diese stets geschickt. Auch diesmal war das der Fall. Einerseits begrüßten die sowjetischen Führer diese »Zusammenarbeit im Namen des Friedens, Fortschritts und Sozialismus«. Sogar Breschnew versäumte es nicht, auf dem 25. Parteitag der KPdSU die große Bedeutung einer Annäherung an die westlichen Sozialisten zu unterstreichen. Der Chef der Internationalen Abteilung des ZK Boris Ponomarjow erklärte mit noch größerer Begeisterung: »In der sozialdemokratischen Bewegung finden positive Veränderungen in der Einstellung zu zahlreichen Fragen von internationaler Bedeutung statt.«15

In einem Artikel, der anläßlich der Konferenz der Sozialistischen Internationale 1976 erschien, schrieb er: »Eine ständige und umfassende Zusammenarbeit zwischen Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten könnte einer der entscheidenden Faktoren für Frieden und sozialen Fortschritt werden.«16

Andererseits erhielt der KGB die spezielle Aufgabe, seine Tätigkeit auf diese Parteien zu konzentrieren. Der damalige Chef der Verwaltung Aufklärung des KGB General Krjutschkow instruierte seine Agenten in Westeuropa:17

 

»Das neue Kräfteverhältnis in der internationalen Arena, der Fortgang der Entspannung und die weitreichenden Veränderungen der internationalen Lage haben die Führer der Sozialistischen Internationale (SI) zusammen mit den sie konstituierenden Parteien gezwungen, entsprechende Korrekturen ihres politischen Kurses und ihrer Taktik vorzunehmen.


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Der letzte Kongreß der Sozialistischen Internationale (November 1976) billigte im großen und ganzen die Ergebnisse der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und bekundete seine Absicht, die Umsetzung der Schlußakte in die Tat zu unterstützen.
In einer Resolution des Kongresses zur internationalen Entspannung wurde festgestellt: >Es ist möglich und erforderlich, die Entspannung auszuweiten, zu intensivieren und in einem größeren Maßstab zu konsolidieren.<
In Fragen der Abrüstung nahm der Kongreß im großen und ganzen eine konstruktive Haltung ein. In der Resolution heißt es: >Abrüstung und die Festlegung von Kontrollen für Waffen und den Waffenhandel sind von entscheidender Bedeutung für die ganze Welt angesichts des zunehmenden Wettrüstens und der Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation in den meisten Ländern.<
Der Kongreß sprach sich für einen baldigen Abschluß der Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion über die qualitative und quantitative Reduzierung der strategischen Waffen aus und unterstrich die große Bedeutung der gegenwärtig in Wien stattfindenden Verhandlungen über die beiderseitige Reduzierung der Waffen und Streitkräfte.
Der Kongreß forderte, der Weiterverbreitung der Kernwaffen Einhalt zu gebieten, und bezeichnete die allgemeine Abrüstung als das entscheidende Ziel.
Anders als zur Zeit des Kalten Krieges verzichtet die Führung der Sozialistischen Internationale nunmehr auf eine einseitige und zu stark vereinfachende Beurteilung der Außenpolitik der Länder der sozialistischen Gemeinschaft und erkennt den Beitrag der Sowjetunion zum Fortschritt in der Entspannungspolitik an.
Andererseits halten die sozialdemokratischen Führer der wichtigen westeuropäischen Länder, die die führende Rolle in der Sozialistischen Internationale spielen, an ihrer Auffassung fest, daß die NATO gefestigt werden müsse. Sie wirken auch an der Umwandlung der EWG in ein militärpolitisches Bündnis mit, wobei sie sich der demagogischen Losung >Das Europa der Monopole soll zu einem Europa der Arbeiter werden!< bedienen ...
Der letzte Kongreß der Sozialistischen Internationale erklärte, daß >Kapitalismus und Kommunismus weiterhin die wichtigsten Formen der Unterdrückung in der modernen Gesellschaft< seien und daß angeblich der


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>Sozialismus die einzige Alternative zu Kapitalismus und Kommunismus< sei, und zwar in der Form, die die Sozialdemokratie vertritt.
Somit bleibt das charakteristische Merkmal des politischen Standpunkts der Sozialdemokratie dessen Zwiespältigkeit, ebenso wie die Sozialdemokraten unfähig sind, den ewigen Gegensatz zwischen Wort und Tat zu überwinden.
Eine Analyse der Tätigkeit der neuen Führung, die auf dem letzten Kongreß der Sozialistischen Internationale gewählt wurde (BRANDT, CARLSSON), erlaubt die Annahme, daß aktive Anstrengungen unternommen werden, ein neues Programm zu entwickeln. Nach Brandts Auffassung muß ein solches Programm zur Modernisierung der Sozialistischen Internationale beitragen und zu einer Festigung ihrer Organisationsstruktur, zu, einem weiteren Zusammenschluß der sozialdemokratischen Bewegung und die Verbreitung ihrer Ideen und ihres Einflusses in der ganzen Welt führen.
Die sozialdemokratischen Führer haben, von ihrer Theorie vom >demokratischen Sozialismus als dem Dritten Weg< (im Gegensatz zum Kapitalismus und Kommunismus) für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ausgehend, im einzelnen eine >sozialistische Strategie für die Dritte Welt< vorgelegt und eine Kampagne zur Stärkung ihres Einflusses auf die verschiedenen Gruppierungen der nationalen Befreiungsbewegungen in' Asien, Afrika und Lateinamerika gestartet.
Umwicklungen in der internationalen kommunistischen Bewegung, insbesondere der sogenannte >Eurokommunismus<, werden von den Führern der Sozialistischen Internationale mit großem Interesse verfolgt.
Was die Entwicklungen in einigen kommunistischen Parteien Westeuropas angeht, so würden die Sozial­demokraten gern eine Wiedergeburt einzelner
kommunistischer Parteien aus dem Geiste der Sozial­demokratie sehen, und sie unternehmen Schritte, diese Parteien auf den Weg des Reformismus zu drängen. Die Frage der Normalisierung oder der Entwicklung der Zusammenarbeit mit den kommunistischen und Arbeiterparteien wurde in der Resolution des Kongresses ausgeklammert. Bekanntlich herrscht in dieser Frage große Uneinigkeit innerhalb der sozialdemokratischen Bewegung. Trotzdem sah sich die Sozialistische Internationale letztlich gezwungen, auf Sanktionen gegen die Parteien, die in der einen oder anderen Form den Weg der Kontakte oder der Zusammenarbeit mit den Kommunisten eingeschlagen haben, zu verzichten.


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Die sozialdemokratischen Führer spielen jedoch wie schon früher einige kommunistische Parteien gegen andere aus, um die kommunistische Bewegung zu spalten.
Die Führung der Sozialistischen Internationale trachtet letztlich danach, diese Organisation in die führende Kraft im Kampf der sozialdemokratischen Bewegung gegen die internationale kommunistische Bewegung zu verwandeln.
So erfordert einerseits die der Sozialistischen Internationale innewohnende antikommunistische Tendenz ein erhöhtes Interesse unserer Organisation für ihre Tätigkeit. Andererseits geben uns die positiven Veränderungen, die sich in der Sozialistischen Internationale vollziehen, spezifische Möglichkeiten in die Hand, Einfluß auf bestimmte Funktionäre der Sozialistischen Internationale in unserem Sinne auszuüben und die Folgen von Aktivitäten der Sozialistischen Internationale, die der UdSSR zum Schaden gereichen, abzuschwächen.
Die obengenannten Probleme sind in der Zentrale sorgfältig analysiert worden, und angesichts ihrer Bedeutung ist es wünschenswert, daß die Residenten eine Einschätzung der Lage innerhalb der sozialdemokratischen (sozialistischen) Partei ihres jeweiligen Landes liefern. Außerdem sollten sie ihre Meinung darüber äußern, welche Richtung wir in unserer Arbeit in bezug auf die Sozialistische Internationale als Ganzes einschlagen sollten.
Bei der Analyse dieser Probleme wäre es von Vorteil, die Ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten für die Einleitung aktiver Maßnahmen einzuschätzen, durch die führende Aktivisten und Funktionäre der sozialdemokratischen (sozialistischen) Parteien und angeschlossener Organisationen, die sich für die Erweiterung und Verstärkung der Entspannung, die Einstellung des Wettrüstens und die internationale Zusammenarbeit einsetzen, unterstützt werden können.
Es wäre ebenfalls wünschenswert, Wege aufzuzeigen, wie die negativen Aspekte der Tätigkeit der sozial­demokratischen (sozialistischen) Parteien in ihrem Lande und in der Sozialistischen Internationale als Ganzes neutralisiert werden könnten, indem ihre rechten Führer bloßgestellt, kompromittiert und diskreditiert werden und der Schaden deutlich gemacht werden, der der weltweiten sozialdemokratischen Bewegung durch antikommunistische und antisowjetische Aktivitäten entsteht, welche im Widerspruch zur Entspannung stehen und lediglich dazu dienen, die reaktionären Kräfte zu stärken.


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Die Zentrale ist daran interessiert, von ihren Residenten Anregungen zu erhalten, wie wir unseren Vorteil ziehen könnten aus:
den Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Parteien der Sozialistischen Internationale in bezug auf bestimmte Fragen der Ideologie und Taktik (verschiedene Vorstellungen über die Lösung wirtschaftlicher Probleme, die kapitalistischen Monopole, das politische Konzept eines vereinten Europa< und die Zusammenarbeit mit den kommunistischen Parteien);
der Rivalität zwischen den Führern der deutschen Sozialdemokraten, der französischen Sozialistischen Partei, der Sozialistischen Partei Österreichs, der schwedischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der britischen Labour Party um die führende Rolle in der Sozialistischen Internationale;
— den Widersprüchen zwischen den Bekundungen und der tatsächlichen Politik der Sozialdemokratie;
— den Fällen von egoistischer, neokolonialistischer Politik von Sozialdemokraten in den industriell entwickelten Ländern gegenüber Ländern der
Dritten Welt und so weiter.«

 

Diese ganze gigantische kommunistische Aufklärungsmaschinerie in Europa erhielt also die Aufgabe, die Jagd auf die führenden Köpfe der Sozialisten und Sozialdemokraten aufzunehmen, um diese Bewegungen in ein Instrument der sowjetischen Politik zu verwandeln.

"Es sind Vorschläge für eine verstärkte und stärker zielgerichtete Nutzung der vorhandenen personellen Ressourcen von Agenten bei der Beschaffung der notwendigen Informationen und der Durchführung aktiver Maßnahmen zu unterbreiten. Im einzelnen sollten Anregungen über die Richtung, die die Arbeit mit den gegenwärtigen Agenten und vertraulichen Kontakten innerhalb der Sozialdemokraten nehmen soll, gemacht werden; es sollten uns Angaben darüber gemacht werden, auf welchem Wege weitere prominente, in der Bewegung aktive Personen als Agenten oder als vertrauliche Kontaktpersonen angeworben werden und zur Infiltration der führenden Gremien sowie, der Propaganda- und Informationsmedien genutzt werden könnten."18)


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2.  Die  Geheimdiplomatie  

 

 

Die Frage der Menschenrechte in den kommunistischen Ländern war kein nebensächliches humanitäres Problem der Entspannung, das man zeitweise vernachlässigen konnte, um dem Traum der Konvergenz nachzuhängen. Im Gegenteil, diese Idee der Sozialdemokraten setzte Veränderungen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs voraus. Eine notwendige Bedingung für ihre Verwirklichung war, daß das sowjetische Modell des Sozialismus ein »menschliches Gesicht« bekam; doch sogar der idealistischste Einfaltspinsel mußte begreifen, daß die ganze Idee der Entspannung ihren Sinn verlor, wenn das sowjetische Regime sich weigerte, ein solches Gesicht anzunehmen. Auch das Helsinki-Abkommen, in dem der Westen Moskau mit der Anerkennung der nach dem Krieg erfolgten territorialen Expansion wesentliche Zugeständnisse im Tausch gegen das Versprechen, die Menschenrechte zu wahren, gemacht hatte, hätte seinen Sinn verloren.

Zum Prüfstein für das Helsinki-Abkommen wurde das Verhalten des Regimes gegenüber der »Helsinki-Gruppe«, an deren Spitze Professor Juri Orlow stand, denn im Text des Abkommens war das Recht der Öffentlichkeit auf Kontrolle über seine Befolgung festgeschrieben. Die Verhaftung Orlows und seiner Kollegen durch Moskau war eine offene Herausforderung an die ganze Welt, und der Westen kapitulierte gleichsam im Kalten Krieg, als er diese Pille schluckte. Sogar der einfältigste Idealist mußte begreifen, daß man Prinzipien verriet, wenn man nun die Entspannungspolitik und die Zusammenarbeit mit der UdSSR fortsetzte, als ob nichts geschehen wäre. Nicht einmal eine Infiltration durch den KGB könnte als Entschuldigung für ein solches Verhalten herhalten.

Zugegeben, die öffentliche Meinung des Westens verstand dieses Dilemma sehr wohl: »Der Prozeß gegen Orlow zeigt, daß die Helsinki-Vereinbarung eine Farce und der Glaube vieler westlicher Politiker an die Entspannung naiv ist«, schrieb zum Beispiel die britische »Daily Mail« am Vorabend der Urteilsverkündung.19)


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»Das britische Außenministerium fand, daß der Prozeß gegen Orlow eine <sehr alarmierende Tatsache> ist ... Es wäre aber viel besser, wenn die westlichen Staaten zeigten, daß die Zeiten der Nachgiebigkeit vorbei sind ... Auf die Spieler dieser globalen Schachpartie aus dem Kreml machen Gesten keinerlei Eindruck, sondern nur entschlossene Taten.«

 

Nicht weniger deutlich äußerten sich sogar sonst gemäßigte Kreise, wie die »Financial Times«:

»... Offensichtlich waren sowohl der Prozeß gegen Juri Orlow als auch die Vereinbarungen von Helsinki eine Art Spiel, in dem die UdSSR den Anschein erwecken wollte, daß ein auf Gewalt gegründetes ideologisches System ... die Menschenrechte respektieren kann, ohne seine eigene Existenz zu gefährden ... Der Prozeß gegen Orlow ist ohne jeden Zweifel eine Herausforderung an die westlichen Unterzeichnerstaaten der Helsinki-Vereinbarung. Jetzt muß der Westen entscheiden, wie er darauf reagieren will.«

 

»The Economist«:  »... Die Parodie, die der Prozeß gegen Orlow darstellte... zeigte deutlich die zynische Einstellung des sowjetischen Regimes zu seinen internationalen Verpflichtungen ... 1975 glaubte niemand, daß die sowjetische Regierung unverzüglich alle übernommenen Verpflichtungen erfüllen würde. Es gab jedoch Anlaß zur Hoffnung, daß irgendwelche Anzeichen sichtbar würden, die darauf hindeuteten, daß eine Entwicklung in die richtige Dichtung eingeleitet würde. Auf der Belgrader Konferenz hatte Rußland die Möglichkeit, dafür Beweise zu liefern, hat aber nichts dergleichen getan. Die krasseste Verletzung der Vereinbarung von Helsinki war die Verfolgung der sowjetischen Bürger, die über ihre Einhaltung wachten ... Das Urteil gegen Orlow zeigt deutlich, daß Breschnew es nicht für nötig hält, auch nur den Anschein zu erwecken, daß die Vereinbarungen des Jahres 1975 erfüllt würden ... Die westlichen Länder sind verpflichtet, alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um das Sowjetregime zur Einhaltung der Vereinbarung von 1975 zu veranlassen ... Jeder westliche Wissenschaftler oder Spezialist auf einem anderen Gebiet muß sich fragen: Soll ich ignorieren, daß die Tapfersten meiner sowjetischen Kollegen verfolgt werden, oder soll ich so lange, wie die Regierung ihren Versprechungen nicht nachkommt, auf alle beruflichen Kontakte verzichten und damit zur Einstellung dieser Verfolgungen beitragen?"


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In der Tat boykottierten Hunderte von Wissenschaftlern in der ganzen Welt die UdSSR durch den Abbruch ihrer offiziellen Kontakte. Die allgemeine Entrüstung über die Repressalien gegen die Helsinki-Gruppe war so groß, daß sogar kommunistische Parteien sie nicht ignorieren konnten. Nicht nur die größeren von ihnen, wie die französische und italienische, sondern auch kleinere stärker von Moskau abhängige drückten offen ihre Mißbilligung aus. Nur die Sozialdemokraten und Sozialisten, unter deren Führung damals die meisten Regierungen in Europa standen, beschränkten sich darauf, ihrer »Besorgnis« Ausdruck zu verleihen:

 

»In Zusammenhang mit den kürzlich erfolgten Urteilen gegen die sowjetischen Bürger, die über die Einhaltung der in Helsinki unterzeichneten Schlußakte wachten, darunter gegen Orlow, erklären die Regierungen von neun Teilnehmerstaaten der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa folgendes:
Diese neun Staaten haben ihre Kräfte in dem nachdrücklichen Bestreben vereint, zur Entspannung in Europa beizutragen. Sie haben ihre Entschlossenheit durch die aktive Teilnahme an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und nach dieser Konferenz bekundet.
Diese neun Länder, die der Meinung sind, daß die Schlußakte der Konferenz von Helsinki ein Aktionsprogramm zur Erreichung von Entspannung darstellt, erinnern daran, daß in diesem von den Staats- und Regierungschefs unterzeichneten Dokument die Teilnehmerstaaten sich verpflichtet haben, die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu achten und das Recht des einzelnen, seine Rechte und Pflichten zu kennen und nach ihnen zu handeln, bestätigt haben.
Deshalb halten es die Regierungen der neun Staaten für unvereinbar mit der Schlußakte und der Entspannung, daß jemand für seine Forderung nach Einhaltung der Schlußakte in seinem eigenen Land verfolgt und verurteilt wird."


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Selbst die Labour-Regierung in Großbritannien, die unter ihren sozialdemokratischen Kollegen als die konservativste galt, reagierte mit nichts als Geschwätz. Außenminister Owen erklärte, daß das Urteil gegen Orlow »hart und ungerechtfertigt« sei und die Entspannungspolitik gefährde (»Financial Times« vom 19. Mai 1978).

 

»Die Entrüstung der Öffentlichkeit über das Urteil gegen Juri Orlow darf keinen Abbruch der Beziehungen zwischen der britischen und der sowjetischen Regierung herbeiführen, sagte der Premierminister gestern im Unterhaus ...
Es gebe keine Rechtfertigung für das Urteil..., aber die zwischenstaatlichen Beziehungen sollten auf anderen Prinzipien basieren als das Verhalten der Parlamente und einzelner Personen, die mit Recht ihren Absehen über die Ereignisse zum Ausdruck bringen ... Es handelt sich um eine der beiden Supermächte in der Welt, und wir müssen entweder mit ihr leben oder mit ihr untergehen.
11) 

 

Sogar der traditionell der Labour Party wohlgesonnene »Daily Mirror« hielt sich nicht zurück.

»... die Grausamkeit und Gesetzwidrigkeit dieses Prozesses hat selbst die Kommunistische Partei Großbritanniens schockiert. Sie bat die sowjetischen Machthaber, das Urteil aufzuheben. Das war mehr, als die britische Regierung tat. Wir legten keinen offiziellen Protest ein, obwohl wir Unterzeichner der Vereinbarung von Helsinki und der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen sind. Unser Standpunkt ist klar. Wir fürchten du Sowjetunion, und deshalb wagen wir nicht, sie zu beleidigen. Wir glaube», daß offizielle Proteste nichts Gutes bringen. Hier irren wir uns ... Die Grobiane im Kreml sind nicht immer so entschlossen, wie es scheint... Der Kreml respektiert nur Stärke und Entschlossenheit. Den Kreml zu beschwichtigen bedeutet dasselbe, wie Hitler zu beschwichtigen. Es gibt keinen Unterschied zwischen den barbarischen Diktatoren in Moskau und den Faschisten.«20) 

 

Das bezog sich auf die englische Labour Party, die als gemäßigte sozialistische Partei galt. Was war da von den anderen zu erwarten?


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Natürlich unterließen sie es nicht, ihrer »Besorgnis« Ausdruck zu verleihen und auf den Schaden »für die Sache der Entspannung« hinzuweisen — aber in einem ausgesprochen unterwürfigen Tonfall. Einige, die sich in der Vergangenheit gut betragen hatten, erhielten über die sowjetischen Botschafter eine Antwort:

 

»An die Adresse des Genossen Breschnew ist ein Telegramm des Vorsitzenden der Norwegischen (sozialdemokratischen) Arbeiterpartei R. Steen und des Generalsekretärs der Norwegischen Arbeiterpartei I. Leveraas mit der Bitte um eine Revision des Verfahrens gegen den Sowjetbürger J. Orlow, der wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda verurteilt wurde, eingegangen.
R. Steen gehört zu den gemäßigten Kreisen der Partei, die für die Herstellung offizieller Kontakte mit der KPdSU, für die Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen und für Zusammenarbeit zwischen Norwegen und der UdSSR eintraten.
Wir halten es für angebracht, R. Steen und L Leveraas über den sowjetischen Botschafter eine Antwort zugehen zu lassen«,
empfahl die Internationale Abteilung des ZK.

 

In der Tat wurden den Bittstellern einige Seiten voller eindeutiger und unverfrorener Lügen serviert, womit sie sich offensichtlich zufriedengaben.21

Andere wurden nicht einmal einer Antwort für würdig erachtet, wie zum Beispiel der Vorsitzende der österreichischen Sozialisten Bruno Kreisky, der sich ebenfalls an Andropow gewandt hatte:

 

"Wiederholt wurde ich von Freunden und Bekannten gebeten, mich für den sowjetischen Staatsbürger Juri ORLOW zu verwenden, der sich seit Anfang 1977 in Haft befindet ...
Es liegt mir selbstverständlich fern, mich in die inneren Angelegenheiten der UdSSR einmischen zu wollen. Wenn ich diese Bitte äußere, so geschieht das einzig und allein aus Anteilnahme und in der zuversichtlichen Hoffnung auf Ihre Großmut. Ich glaube auch, daß eine großzügige Geste in dieser Angelegenheit gerade in einer Zeit wachsender Spannungen, die abzubauen, wie ich weiß, uns beiden am Herzen liegt, von positiver Bedeutung wäre.«


292

Abb.

»Juri Wladimirowitsch«, schreibt der Assistent, »ich glaube, die Bittschrift Kreiskys zugunsten des Dissidenten Orlow sollte unerwidert bleiben.«

Weiter unten steht von Andropows Hand: »Einverstanden, Andropow.«

 

Mitunter versuchte Moskau in alter Tschekisten-Manier, den Partner zu korrumpieren, und verstand recht gut, daß die »Vertraulichkeit« in den Beziehungen der erste Schritt zur Korrumpierung war. So teilte zum Beispiel das ZK über den Botschafter dem Generalsekretär der Labour-Party Großbritanniens R. Hayward im September 1973 mit, daß seine Bitte an Suslow wegen einer Ausreisegenehmigung für die als Geheimnisträger unter Ausreiseverbot stehenden Lewitsch, Lerner und Siepak nicht erfüllt werden konnte. Ihre Fälle würden erst in zwei bis drei Jahren erneut überprüft.

In zwei anderen Fällen werde jedoch Ende 1973 / Anfang 1974 eine Lösung gefunden.22) Das ZK instruierte seinen Botschafter jedoch, ausdrücklich auf den vertraulichen Charakter der Information hinzuweisen.

Später, in den achtziger Jahren, dachte keiner mehr an die Helsinki-Vereinbarungen, die 1975 von 35 Ländern feierlich unterzeichnet worden waren. Formal hatte sie natürlich niemand außer Kraft gesetzt, und die 1980 begonnene Madrider Konferenz zur Überprüfung ihrer Ergebnisse zog sich fast fünf Jahre hin. Aber wer außer uns kümmerte sich darum? Die verurteilten Helsinki-Aktivisten saßen weiterhin in Gefängnissen und Lagern (vier von ihnen waren bis dahin bereits umgekommen), und die Sowjetunion genoß jene einseitigen Vorteile, die ihr durch den Vertrag garantiert worden waren.

Schließlich, zum zehnten Jahrestag seiner Unterzeichnung, riefen wir, eine große Gruppe von Dissidenten, dazu auf, mit dieser Verhöhnung des gesunden Menschenverstands Schluß zu machen und die »Vereinbarung«, die sich in eine Farce verwandelt hatte, aufzukündigen.23)

»Wir haben unser Bestes getan, das Abkommen von Helsinki in den Dienst des Friedens und der Demokratie zu stellen. Wir betrachten uns jedoch nicht länger an dieses Abkommen gebunden, das nicht nur seine humanitären Ziele nicht erreicht hat, sondern nicht einmal seine aktivsten Anhänger schützen kann. Das Abkommen ist zu einem Werkzeug der Unterdrückung in den Händen der sowjetischen Machthaber geworden. Wir appellieren an die westlichen Regierungen, das Abkommen von Helsinki für null und nichtig zu erklären.
Wir glauben immer noch, daß Frieden auf den Menschenrechten gegründet sein kann und muß. Deshalb ist jegliches Abkommen über Frieden und Rüstungskontrolle mit den Sowjets eine Selbsttäuschung, solange diese nicht durch konkrete Handlungen ihre Bereitschaft, diese Grundrechte zu achten, unter Beweis stellen.«

Man kann sich vorstellen, welche Empörung unsere Erklärung hervorrief.

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