5.1 Afghanistan und das Ende der Entspannung
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Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan im Dezember 1979 rief in der ganzen Welt einen Schock hervor, was mich damals äußerst verwunderte. Als ob es nicht vorher schon buchstäblich in jedem Winkel der Erde sowjetische Expansionsbestrebungen gegeben hätte. Politiker und Sowjet-Experten boten um die Wette ihre Theorien an, mit denen das Vorgehen auf passende Weise »erklärt« werden sollte. Die Linken erblickten in der Invasion nach altem Brauch eine »Überreaktion auf das feindselige Verhalten des Westens«, das heißt auf den NATO-Beschluß, neue Raketen in Europa zu stationieren. Die Rechten murmelten etwas von »russischem Imperialismus«, vom »traditionellen Drang Rußlands zu den warmen Meeren«.
Es war allgemein bekannt, daß eine Okkupation nur die letzte (und keine notwendige) Etappe im üblichen sowjetischen »Befreiungs«-Szenarium war; sie bewies nur, daß die sowjetischen Strategen dieses Szenarium schlecht in die Tat umgesetzt hatten und sie deshalb ihre eigenen Truppen entsenden mußten, um den Fehler wettzumachen. Das bedeutete, daß Afghanistan im Augenblick der Besetzung bereits praktisch von der Sowjetunion verschlungen war, was der Westen hartnäckig nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Und er hätte es auch »nicht bemerkt«, wenn der Kreml sich nicht verkalkuliert, wenn also das afghanische Volk nicht verzweifelt Widerstand geleistet hätte.
Die Geschichte der Beziehungen zwischen der UdSSR und Afghanistan ist das beste Beispiel dafür, daß das sowjetische System nicht friedlich mit der übrigen Welt zusammenleben konnte, und liefert eine deutliche Vorstellung davon, was in Europa passiert wäre, wenn die Entspannung gesiegt hätte. Afghanistan war wahrscheinlich von allen nichtsozialistischen Ländern auf der Erde dasjenige, das der Sowjetunion am freundschaftlichsten gesinnt war.
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Es nahm beinahe als erstes Land diplomatische Beziehungen mit Sowjetrußland auf, und sechzig Jahre lang war es eine Art asiatisches Finnland. Im Kreml beeilte man sich nicht, die Revolution dorthin zu exportieren, man »förderte nur den Fortschritt« — baute Straßen, schuf eine Industrie und bildete Fachleute aus.
Aus marxistischer Sicht konnte man von dem rückständigen Feudalstaat nicht den sofortigen Übergang zum Sozialismus verlangen. Es mußten erst die entsprechenden »sozialen Voraussetzungen«, als da sind Industrialisierung, das Wachstum des Proletariats und folglich ihrer »Avantgarde«, geschaffen werden.
Die sowjetische Friedensoffensive der siebziger Jahre führte infolge der Neutralisierung der »Kräfte des Imperialismus« eine ganze Reihe von Ländern der Dritten Welt in den Schoß des Sozialismus. Es war nun an der Zeit, daß Afghanistan den Weg des Fortschritts einschlug und sich von den Fesseln der Monarchie befreite.
Dieser historische »Wechsel der Gesellschaftsformationen« begann im Sommer 1973 durch eine fast unblutige Palastrevolte, die ein Verwandter des Königs, Mohammed Daud, mit Moskaus Billigung inszenierte. Mohammed Daud, der die Republik ausrief und ihr Präsident wurde, war kein Kommunist, sondern ein Sozialdemokrat, der nicht radikaler war als die europäischen Sozialisten. Seine Rolle bestand darin, die politischen Voraussetzungen für den weiteren Fortschritt zu schaffen. Auch hier wollten die Kreml-Strategen nichts überstürzen. Daud war ihnen für die Übergangsetappe der rechte Mann, um so mehr, als die kommunistischen Gruppierungen untereinander zerstritten waren und sich nicht einigen konnten.
»Die Führer der progressiven politischen Organisationen Afghanistans Karmal Babrak (>Partscham<) und Nur Taraki (>Chalq<), die inoffizielle Kontakte mit dem ZK der KPdSU über den residenten des Komitees für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR in Kabul unterhalten, haben kurz nach der Errichtung des republikanischen Regimes im Land im Juli 1973 unter Einbeziehung der progressiv gesinnten Elemente im ZK der Republik, der Regierung und der Armee einen prinzipienlosen internen Kampf um die Stärkung ihrer Positionen und den Einfluß ihrer Gruppierungen und das Recht, die kommunistische Partei im Land zu vertreten, begonnen«,
berichtete die Internationale Abteilung des ZK im Juni 1974.1
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»Außerdem betreiben sie, ebenso wie die prochinesischen und nationalistischen Gruppierungen, in der Armee und im Staatsapparat eine aktive politische Arbeit, was Mohammed Daud, Staatsoberhaupt und Premierminister der Republik, sehr beunruhigt hat.
Besonders alarmierten M. Daud die ihm von den Sicherheitsorganen überbrachten Informationen über angebliche Pläne der linken Kräfte, ihn zu entmachten, wenn er nicht bereit ist, die soziale und ökonomische Umgestaltung zu beschleunigen und einen nichtkapitalistischen und in weiterer Zukunft sozialistischen Weg einzuschlagen.
Im Februar/März 1974 hat Mohammed Daud eine Reihe von Maßnahmen durchgeführt, die die Unterdrückung der progressiven Kräfte zum Ziel haben, und hat Partscham und Chalq verboten, politisch aktiv zu sein. Im Januar 1974 erhielten Karmal Babrak und Nur Taraki die Empfehlung (St-109/31gs vom 8.1.74), die internen Fehden einzustellen, die beiden Gruppen zu einer Partei zusammenzuschließen und ihre gemeinsamen Kräfte für die umfassende Unterstützung des republikanischen Regimes im Land einzusetzen.
Wir halten es für zweckmäßig, ihnen diese Empfehlung nochmals zu geben, wobei man sie dem Informationsmaterial über die Ergebnisse des Besuches vom M. Daud in der Sowjetunion beifügen kann.«In seiner Botschaft an seine afghanischen »Freunde« schrieb das ZK:
»Vor den progressiven Kräften Afghanistans, die treue und zuverlässige Anhänger des republikanischen Regimes sind, steht eine Aufgabe von großer Bedeutung. Unter den Bedingungen des unaufhörlichen Kampfes der inneren und äußeren Reaktion, die die alte Ordnung wiederherzustellen sucht, müssen die Führer der progressiven Organisationen ihre Meinungsverschiedenheiten begraben, denn der interne Kampf schwächt sie und ist Wasser auf die Mühlen der reaktionären Kräfte:
Den Interessen der Festigung der nationalen Unabhängigkeit des Landes entspräche jetzt eine Vereinigung der Kräfte von Partscham und Chalq zur Verteidigung der Interessen der Arbeiter, Bauern und aller arbeitenden Schichten der afghanischen Gesellschaft auf der Grundlage der Zusammenarbeit mit dem republikanischen Regime und der Regierung der Republik unter Mohammed Daud.«
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Jedoch vier Jahre später wurden die »angeblich von den linken Kräften gehegten Pläne« mit aktiver Unterstützung der Sowjetunion in die Tat umgesetzt. Es fand die »April-Revolution« statt. Das Problem der unaufhörlichen Fehden zwischen den kommunistischen Gruppierungen wurde ganz einfach gelöst. Daud wurde von ihnen gestürzt, und Moskau setzte auf die eine von ihnen (Chalq) und überließ die zweite (Partscham) der Gnade ihrer Klassenbrüder. Ihr Führer Babrak Karmal erhielt den Posten des Botschafters in der Tschechoslowakei und entging dadurch den Repressionen, die über seine Freunde hereinbrachen, gab jedoch nicht auf, sondern setzte, wie dereinst Trotzki, seinen Kampf im Exil fort.
»Der Resident des Komitees für Staatssicherheit in Kabul berichtet, daß der ehemalige Botschafter der Demokratischen Republik Afghanistan in Prag Karmal Babrak, dem die tschechischen Genossen politisches Asyl gewährt haben, nachdem er seines Postens als Botschafter der Demokratischen Republik Afghanistan enthoben worden war und sich geweigert hatte, in seine Heimat zurückzukehren, sich bemüht, die im Ausland (in kapitalistischen und sozialistischen Ländern) und in Afghanistan lebenden Partschamisten (Mitglieder der ehemaligen von Babrak geleiteten Gruppierung Partscham) zum Kampf gegen das in Afghanistan herrschende Regime, gegen die regierende Volksdemokratische Partei und die Regierung der Demokratischen Republik Afghanistan zu vereinigen«,
berichtete die Internationale Abteilung Ende 1978 alarmiert.2
»Wir halten es für zweckmäßig, dem ZK der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei den Vorschlag zu machen, daß sie mit K. Babrak ein Gespräch führt, in dem ihm klargemacht wird, daß er diese Aktivitäten, die gegen das progressive Regime in Afghanistan gerichtet sind, einzustellen habe.«
Das waren nur noch Kleinigkeiten, das Wichtigste war geschehen - auf der Landkarte war eine weitere »Volksrepublik« entstanden, was die These von der Veränderung der Machtkonstellation in der Welt zugunsten der Kräfte des Friedens, Fortschritts und Sozialismus bestätigte. Es folgten der Freundschaftsvertrag, die massive Wirtschaftshilfe, die Militärberater und die Lieferung von »Sondergütern« (das heißt Waffen) — das alles entweder völlig kostenlos oder für ein Viertel des normalen Preises.3
Das fortschrittliche Regime nahm den Aufbau des »neuen Lebens« in Angriff und vernichtete Tausende von »Reaktionären«, »Gläubigen« und »Revisionisten«, und niemand regte sich über das Vordringen des Kommunismus bis an die »warmen Meere« auf, wie sich übrigens auch niemand über sein Vordringen nach Südjemen, Somalia oder Äthiopien aufgeregt hatte.
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5.2 Alarm im Kreml
Es blieb da noch eine Kleinigkeit, über die man sich im Eifer des Klassenkampfes keine Klarheit verschafft hatte — die Meinung der Afghanen über den Fortschritt und den Sozialismus. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam im März 1979 die Nachricht, daß Herat, mit 200.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt des Landes, sich in den Händen von »Aufrührern« befand.
Die Nachricht kam für Moskau offensichtlich völlig unerwartet. Niemand wußte, was los war. Breschnew war krank, das Politbüro trat eiligst am Samstag, dem 17. März, in seiner Abwesenheit unter dem Vorsitz von Kirilenko zusammen. Gromyko referierte:4
Dort ist, wie aus vorangegangenen Telegrammen bekannt, die 17. Division der afghanischen Armee stationiert, die damit betraut war, die Ordnung wiederherzustellen, aber jetzt erhielten wir die Nachricht, das diese Division sich praktisch aufgelöst hat. Ein Artillerieregiment und ein Infanterieregiment dieser Division sind zu den Aufständischen übergelaufen. Banden von Diversanten und Terroristen, die von Pakistan aus eingedrungen und unter Mitwirkung der pakistanischen Behörden sowie auch Chinas, der Vereinigten Staaten von Amerika und des Iran ausgebildet und ausgerüstet worden sind, treiben in Herat ihr Unwesen.»GROMYKO: Nach den letzten Berichten, die wir in Form von chiffrierten Telegrammen und auch durch Telefongespräche mit unserem Obersten Militärberater, dem Genossen Gorelow, und dem interimistischen Geschäftsträger, dem Genossen Alexejew, aus Afghanistan erhalten haben, hat sich die Lage in Afghanistan sehr verschärft. Das Zentrum der Unruhen ist die Stadt Herat.
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Die innere Konterrevolution hat sich den aus Pakistan und dem Iran auf das Gebiet der Provinz Herat eingedrungenen Unruhestiftern angeschlossen. Darunter sind besonders viele Gläubige. Die Anführer der reaktionären Massen gehören ebenfalls vor allem zu den religiösen Funktionären. Es ist schwer zu sagen, wie groß die Zahl der Aufständischen ist, aber unsere Genossen sagen, es seien wirklich Tausende.
Bezeichnend ist, daß ich um elf Uhr vormittags ein Gespräch mit Amin, dem Außenminister und Stellvertreter Tarakis, hatte und er sich nicht beunruhigt über die Lage in Afghanistan äußerte, sondern mit stoischer Ruhe davon sprach, daß die Lage nicht so schwierig sei, die Armee alles kontrolliere und so weiter. Er meinte also, die Lage bei ihnen sei stabil.
KIRILENKO: Das heißt also, daß - nach Amins Bericht zu urteilen - die afghanische Führung wegen der Ereignisse nicht beunruhigt ist.
GROMYKO: Genau das. Amin sagte sogar, daß die Lage in Afghanistan normal sei. Er sagte, daß kein einziger Gouverneur den Gehorsam verweigert habe, das heißt, alle Gouverneure sind auf der Seite der gesetzmäßigen Regierung. In Wirklichkeit ist aber, wie unsere Genossen berichten, die Lage in Herat und einer Reihe weiterer Orte besorgniserregend, dort haben die Aufrührer die Macht in den Händen.
Was Kabul angebt, so ist dort die Lage im wesentlichen ruhig. Die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan sowie zwischen Afghanistan und dem Iran ist geschlossen oder — genauer gesagt — halb geschlossen. Eine große Zahl von Afghanen, die früher im Iran gearbeitet haben, ist jetzt aus dem Iran ausgesperrt und natürlich sehr unzufrieden. Viele von ihnen haben sich den Aufrührern angeschlossen.
Welche Hilfsmaßnahmen wir für Afghanistan im Auge haben, ist aus den Vorschlägen zu ersehen, die Sie in Ihren Händen halten. Ich möchte nur sagen, daß wir Afghanistan zusätzlich zehn Millionen Valutarubel für den Schutz seiner Grenzen zur Verfügung stellen.
Da vor allem aus Pakistan Terroristen auf afghanisches Gebiet eindringen, sollte die afghanische Führung eine Protestnote an Pakistan schicken oder eine entsprechende Erklärung abgeben, also mit irgendeinem Dokument an die Öffentlichkeit treten. Die afghanische Führung hat das aber bis jetzt nicht getan, was sehr seltsam erscheint.Ich habe Amin gefragt, was wir nach seiner Meinung tun sollten. Ich sagte ihm, welche Hilfe wir ihm in etwa leisten können.
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Weitere Bitten hat er nicht geäußert. Er antwortete nur, daß unsere Hilfe von großem Nutzen sein wird und daß sich alle Provinzen unter der Kontrolle der gesetzmäßigen Staatsmacht befinden, leb fragte ihn, ob er keinen Arger mit den Nachbarstaaten, der inneren Konterrevolution, religiösen Kreisen und so weiter erwarte. Amin verneinte das mit Bestimmtheit und sagte, daß eine Bedrohung für das Regime nicht bestünde. Am Ende ließ er Grüße an die Mitglieder des Politbüros und an L. I. Breschnew persönlich übermitteln. Das war der Inhalt meines heutigen Gesprächs mit Amin.
Einige Zeit, etwa drei bis vier Stunden, später erhielten wir von unseren Genossen die Nachricht, daß in Herat Unruhen ausgebrochen seien. Ein Artillerieregiment erhob sich, wie ich schon sagte, gegen die eigenen Truppen, und Teile eines zweiten Regiments schlossen sich den Aufrührern an. Folglich steht nur noch etwa eine Einheit der 17. Division auf der Seite der Regierung... Die Genossen berichten außerdem, daß morgen und übermorgen neue Massen von Aufrührern, die in Pakistan und im Iran ausgebildet worden sind, nach Afghanistan eindringen könnten.
Etwa eine halbe Stunde danach erhielten wir von unseren Genossen erneut eine Nachricht, nach der der Genosse Taraki den Obersten Militärberater, den Genossen Gorelow, und den interimistischen Geschäftsträger, den Genossen Alexejew, zu sich gebeten habe. Was wurde dort mit Taraki besprochen? Er bat die Sowjetunion in erster Linie um Militärtechnik, Munition und Nahrungsmittel, was von uns bereits in den Dokumenten, die dem Politbüro zur Beratung vorliegen, vorgesehen ist.
Bezüglich militärischen Beistands sagte Taraki wie nebenbei, daß vielleicht Unterstützung auf dem Land und in der Luft erforderlich sein würde. Das wäre so zu verstehen, daß die Entsendung sowohl von Bodentruppen als auch Truppen der Luftstreitkräfte notwendig sein wird.
Ich glaube, wir müssen bei der Unterstützung Afghanistans in erster Linie davon ausgehen, daß wir Afghanistan unter keinen Umständen verlieren dürfen. Schon sechzig Jahre leben wir in Frieden und Freundschaft mit ihnen. Wenn wir Afghanistan jetzt verlieren und das Land von der Sowjetunion abrückt, so ist das ein harter Schlag für unsere Politik. Es ist natürlich eine Sache, zum äußersten Mittel zu greifen, wenn die afghanische Armee auf der Seite des Volkes ist, doch eine ganz andere, wenn sie die gesetzmäßige Regierung nicht unterstützt.
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Ein drittes schließlich ist es, wenn die Armee sich gegen die Regierung und folglich auch gegen unsere Truppen stellen wird. Dann wird die Sache sehr schwierig. Wie die Genossen Gorelow und Alexejew berichten, ist die Stimmung der Führung, auch des Genossen Taraki, nicht die beste.
USTINOW: Wir haben dem Genossen Taraki geraten, einige Einheiten in die Gebiete zu entsenden, wo der Aufruhr ausgebrochen ist. Er antwortete seinerseits, daß er sich schwer dazu entschließen könne, weil es an anderen Orten auch unruhig sei. Er erwartet also einen großen Einmarsch von sowjetischen Boden- und Luftstreitkräften.
ANDROPOW: Die afghanische Regierung hofft, daß wir einen Schlag gegen die Aufrührer führen.
KIRILENKO: Es erhebt sich die Frage, gegen wen unsere Truppen kämpfen werden, wenn wir sie dorthin schicken. Gegen die Aufrührer, aber zu den Aufrührern bat sich eine große Anzahl von muslimischen Gläubigen gesellt, und unter ihnen gibt es viele einfache Leute. Wir werden also zu einem beträchtlichen Teil gegen das Volk kämpfen müssen.
KOSSYGIN: Was hat Afghanistan für eine Armee? Wie viele Divisionen gibt es dort?
USTINOW: Die afghanische Armee hat zehn Divisionen mit über 100.000 Mann.
ANDROPOW: Auf Grund operativer Angaben ist uns bekannt, daß aus Pakistan etwa 3000 Aufrührer auf dem Weg nach Afghanistan sind. Das sind vor allem religiöse Fanatiker aus dem Volk.
KIRILENKO: Wenn das Volk sich erhebt, so werden neben den Personen, die aus Pakistan und dem Iran kommen und zu einem beträchtlichen Teil Terroristen und Aufrührer sind, viele einfache Menschen Afghanistans sein, gegen die unsere Truppen eingesetzt werden. Das sind allerdings Anhänger der Religion, des Islam.
GROMYKO: Bis jetzt ist das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den Regierungsanhängern und den Aufrührern sehr unklar. In Herat ist es, nach allem zu urteilen, zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen, denn es sind mehr als tausend Menschen umgekommen. Aber auch dort ist die Lage ziemlich unklar.
ANDROPOW: Natürlich befassen sich die Aufrührer, die auf das Territorium Afghanistans eindringen, vor allem damit, Unruhe zu stiften und das afghanische Volk auf ihre Seite zu ziehen.
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KOSSYGIN: Ich bin der Meinung, daß der Beschlußentwurf, der vorgelegt wurde, erheblich verbessert werden muß. Vor allem dürfen wir erstens die Waffenlieferung nicht bis zum April hinauszögern, wir müssen jetzt unverzüglich, im März, alles geben. Zweitens müssen wir die Führung Afghanistans irgendwie moralisch stützen, und ich würde folgende Maßnahmen vorschlagen: Wir teilen Taraki mit, daß wir den Preis für Gas von 15 auf 25 Rubel pro tausend Kubikmeter erhöhen. Mit dieser Preiserhöhung können die Kosten bestritten werden, die ihnen für die Anschaffung von Waffen und anderem Material entstanden sind. Wir müssen meines Erachtens Afghanistan diese Waffen kostenlos überlassen und sollten auch nicht von 25 Prozent reden.
ALLE: Richtig.
KOSSYGIN: Und das dritte, wir haben vor, ihnen 75.000 Tonnen Getreide zu geben. Ich glaube, wir sollten das abändern und ihnen 100.000 Tonnen liefern. Diese Maßnahmen sollten meines Erachtens in den Beschluß eingehen. So würden wir die afghanische Führung moralisch unterstützen. Für Afghanistan müssen wir kämpfen, schließlich waren wir 60 Jahre lang mit ihnen ein Herz und eine Seele. Natürlich wird der Kampf gegen Iraner, Pakistanis und Chinesen hart sein, der Iran wird Afghanistan Hilfe leisten, er hat die Mittel dazu, um so mehr, als sie die gleiche Religion haben. Das muß man im Auge haben, Pakistan wird dasselbe tun, von den Chinesen ganz zu schweigen. Deshalb glaube ich, müssen wir einen Beschluß im Sinne der Kameradschaftlichkeit fassen und die afghanische Führung aktiv unterstützen. Über Bezahlung sollte, wie ich schon sagte, jetzt nicht gesprochen werden, erst recht nicht, wie hier geschrieben steht, über Bezahlung in frei konvertierbarer Währung. Wie sollten sie zu frei konvertierbarer Währung kommen? Wir kriegen von ihnen ohnehin nichts.
Ich möchte noch eine Frage ansprechen. Sagen Sie, was Sie wollen, aber sowohl Taraki als auch Amin verheimlichen uns, wie die Lage wirklich ist. Wir wissen bis jetzt noch nicht genau, was in Afghanistan geschieht, wie sie die Lage einschätzen. Sie liefern doch bis jetzt ein geschöntes Bild, und in Wirklichkeit sehen wir doch, was da los ist. Es sind anscheinend gute Leute, aber vieles verschweigen sie. Woran das liegt, ist schwer zu verstehen.
Außerdem halte ich es für notwendig, eine zusätzliche Zahl von qualifizierten Militärexperten hinzuschicken. Sie sollen dort genau feststellen, was in der Armee geschieht.
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Darüber hinaus halte ich es für erforderlich, einen weitreichenden politischen Beschluß zu fassen. Vielleicht könnten Genossen aus dem Außenministerium, dem Verteidigungsministerium, dem KGB und der Internationalen Abteilung den Entwurf für einen solchen politischen Beschluß erarbeiten. Es ist klar, daß der Iran, China und Pakistan sich gegen Afghanistan stellen, mit allen Mitteln der gesetzmäßigen Regierung Schwierigkeiten bereiten und alle ihre Handlungen in Mißkredit bringen werden. Gerade deshalb müssen wir Taraki und seiner Regierung politische Unterstützung erweisen. Natürlich wird sich auch Carter gegen die Führung Afghanistans stellen.
Gegen wen werden wir kämpfen müssen, wenn wir Truppen entsenden, wer stellt sich gegen die jetzige Führung Afghanistans? Sie sind doch alle Moslems, Menschen eines Glaubens, und der Glaube bei ihnen ist so stark, der religiöse Fanatismus so mächtig, daß sie sich alle auf dieser Grundlage vereinigen können. Mir scheint, wir müssen Taraki und Amin geradeheraus sagen, welche Fehler sie in dieser Zeit begangen haben. Die Erschießungen derjenigen, die mit ihnen nicht einverstanden sind, gehen doch weiter. Sie haben fast die ganze obere und mittlere Führungsschicht aus der Partschampartei liquidiert. Natürlich ist es schwierig, jetzt ein politisches Dokument zu formulieren, dafür müssen wir den Genossen, wie ich schon sagte, etwa drei Tage Zeit geben.USTINOW: Es ist alles richtig, was Alexej Nikolajewitsch sagt. Es muß so schnell wie möglich gehandelt werden.
GROMYKO: Die Dokumente müssen so schnell wie möglich erarbeitet werden.
KOSSYGIN: Ich bin der Meinung, daß wir die afghanische Führung nicht dazu ermuntern sollten, uns um die Entsendung von Truppen zu ersuchen. Sie sollen selbst Sonderabteilungen bilden, die an den am meisten umkämpften Abschnitten zur Niederschlagung der Aufrührer eingesetzt werden könnten.
USTINOW: Ich meine, auf keinen Fall sollten wir unsere Truppen mit den afghanischen vermischen, falls wir uns für die Entsendung entscheiden.
KOSSYGIN: Wir müssen Truppenverbände bilden, Bestimmungen für ihren Einsatz ausarbeiten und sie unter einem besonderen Kommando entsenden.
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USTINOW: Wir haben zwei Varianten für diese Militäraktion ausgearbettet. Nach der ersten Variante entsenden wir innerhalb von 24 Stunden die 105. Luftwaffendivision und schicken eine motorisierte Infanterieeinheit nach Kabul, die 68. motorisierte Division verlegen wir an die Grenze, die 5. motorisierte Schützendivision steht schon an der Grenze. Wir werden innerhalb von drei Tagen zur Entsendung der Truppen bereit sein. Aber der politische Beschluß, von dem die Rede war, muß gefaßt werden.
KIRILENKO: Der Genosse Ustinow sieht das Problem richtig, wir müssen uns den Aufrührern entgegenstellen. In dem politischen Dokument muß das klar und deutlich zum Ausdruck kommen.
Außerdem muß Druck auf Taraki ausgeübt werden; wenn es schon um die Entsendung von Truppen gehen soll, dann muß diese Entscheidung mit aller Gründlichkeit geprüft werden. Wir können keine Truppen ohne ein entsprechendes Ersuchen der Regierung Afghanistans entsenden, das soll der Genosse Taraki wissen. Im Gespräch des Genossen Kossygin mit Taraki muß das diesem deutlich gesagt werden.
Außerdem muß Taraki gesagt werden, daß sie ihre Taktik ändern sollen. Es darf keine Massenerschießungen, Folterungen und so weiter mehr geben. Eine besondere Bedeutung erhält die religiöse Frage, das Verhältnis zu den religiösen Gemeinden, zur Religion überhaupt und zu den religiösen Führern. Das ist eine Frage der großen Politik. Hier muß Taraki mit aller Entschiedenheit gesagt werden, daß sie sich keiner unzulässigen Methoden bedienen sollen.
Die Dokumente müssen bis morgen fertig sein. Morgen werden wir mit Leonid Iljitsch zu Rate gehen, wie wir am besten verfahren.
USTINOW: Es gibt eine zweite Variante, die auch schon im einzelnen ausgearbeitet ist. Nach dieser würden zwei Divisionen nach Afghanistan entsandt.
PONOMARJOW: Wir müssen etwa foo Mann als Berater und Experten nach Afghanistan entsenden. Diese Leute müssen alles wissen, was sie zu tun haben.
ANDROPOW: Bei Herat haben 20.000 Zivilisten am Aufruhr teilgenommen. Wir müssen mit Taraki sprechen. Mir scheint, es ist am besten, wenn der Genosse Kossygin mit Taraki spricht.
ALLE: Richtig. Am besten spricht der Genosse Kossygin mit ihm.
ANDROPOW: Eine politische Entscheidung muß getroffen werden, und wir müssen im Auge haben, daß man uns wahrscheinlich als Aggressor abstempeln wird, aber trotz alledem dürfen wir Afghanistan auf keinen Fall verlieren.
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PONOMARJOW: Leider wissen wir nicht viel darüber, was in Afghanistan los ist. Mir scheint, daß im Gespräch mit Taraki alle Probleme behandelt werden müssen; vor allem soll er sagen, wie die Lage in der Armee und im Land ganz allgemein ist. Sie haben doch eine Armee von 100.000 Mann, und mit der Hilfe unserer Berater könnte die Armee viel ausrichten. Sonst erringen da noch diese 20.000 Aufrührer den Sieg. Zunächst muß alles Erforderliche mit den Kräften der afghanischen Armee geleistet werden, und erst dann, wenn sich wirklich die Notwendigkeit ergibt, müssen unsere Truppen entsandt werden.
KOSSYGIN: Ich bin der Meinung, daß Waffen geschickt werden müssen, aber nur dann, wenn wir sicher sind, daß sie nicht in die Hände der Aufrührer fallen. Wenn sich ihre Armee auflöst, dann werden folglich die Aufrührer die Waffen an sich nehmen. Dann entsteht die Frage, wie wir in der Meinung der Weltöffentlichkeit dastehen werden. Das alles muß genau begründet werden, das heißt, wenn wir Truppen entsenden, müssen wir entsprechende Argumente parat haben, alles ausführlich erklären ...
GROMYKO: Wir müssen darüber sprechen, wie wir uns im schlimmsten Fall verhalten sollen. Bis jetzt ist vielen von uns die Situation in Afghanistan nicht klar. Nur eines ist klar - wir dürfen Afghanistan nicht dem Feind überlassen. Wie das zu erreichen ist, darüber muß nachgedacht werden. Vielleicht brauchen wir gar keine Truppen zu entsenden.
KOSSYGIN: Wir sind alle einer Meinung - Afghanistan darf nicht aufgegeben werden. Deshalb müssen wir vor allem ein politisches Dokument erarbeiten, alle politischen Mittel nutzen, um der afghanischen Führung zu helfen, ihre Stellung zu festigen. Wir müssen die vorgesehenen Hilfen gewähren und uns als äußersten Schritt den militärischen Eingriff vorbehalten.
PONOMARJOW: Die afghanische Armee hat den revolutionären Umschwung vollführt, und ich glaube, daß sie bei geschickter Führung durch die Regierung sich fest der Sache der Verteidigung des Landes verschreibt.
KIRILENKO: Die Sache ist die, daß viele militärische Führungskräfte eingekerkert oder erschossen wurden, was einen sehr negativen Einfluß auf die Armee hatte.
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GROMYKO: Eine der wichtigsten Aufgaben ist die Konsolidierung der Armee, das ist das Grundlegende. Alles muß sich auf die politische Führung des Landes und die Armee orientieren. Trotzdem muß gesagt werden, daß die afghanische Führung uns vieles verheimlicht. Sie möchte aus irgendeinem Grund uns gegenüber nicht offen sein. Das ist sehr bedauerlich.
ANDROPOW: Mir scheint, wir müssen die sozialistischen Länder über diese Maßnahmen informieren.
KIRILENKO: Wir haben schon viel geredet, Genossen, unsere Meinungen sind klar, ziehen wir Bilanz.
(Er liest den Beschluß vor: Kossygin soll mit Taraki sprechen; Gromyko, Andropow, Ustinow und Ponomarjow sollen das >politische Dokument< ausarbeiten; die afghanische Armee soll Hilfe in Form von Waffen, Beratern und >Kräften unserer militärischen Einheiten< erhalten; die Regierung soll, entsprechend dem Vorschlag Kossygins, unterstützt werden; Pakistan soll gewarnt werden; das Verteidigungsministerium soll zwei Divisionen an der Grenze aufmarschieren lassen; es soll Material zusammengestellt werden, das die Einmischung Pakistans, der USA, des Iran und Chinas in die afghanischen Angelegenheiten entlarvt; Argumente gegen den Vorwurf der Aggression sollen formuliert werden; die sozialistischen Länder informiert werden und so weiter.)
Haben die Genossen noch weitere Vorschläge?
ALLE: Es ist alles berücksichtigt.
KIRILENKO: Gut. Ich werde mich jetzt mit Tschernenko in Verbindung setzen und ihm unsere Vorschläge mitteilen.
ALLE: Richtig.
KIRILENKO: Ich habe soeben mit dem Genossen Tschernenko gesprochen. Er meint, wir haben das Richtige vorgeschlagen, er bemüht sich, Leonid lljitsch zu informieren. Beschließen wir die heutige Sitzung damit.«
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Die grundlegende Entscheidung über die Entsendung sowjetischer Truppen nach Afghanistan wurde also schon im März 1979 gefaßt, das heißt neun Monate vor dem NATO-Beschluß über die Stationierung neuer Raketen in Europa, ohne daß der Traum von den »warmen Meeren« eine besondere Rolle dabei gespielt hätte. Wenn sie sich von irgendwelchen geopolitischen Erwägungen leiten ließen, dann erschöpften sich diese in der simplen Formel »Afghanistan soll nicht dem Feind gehören« (das heißt dem afghanischen Volk).
Doch die Situation änderte sich schnell, es trafen immer neue Nachrichten über die Lage in Afghanistan ein, und das »äußerste Mittel« wurde erst einmal aufgeschoben. Hierzu trug in besonderem Maße das Telefongespräch Kossygins mit Taraki bei, das auf Beschluß des Politbüros am folgenden Tag, dem 18. März, unter Zuhilfenahme eines Dolmetschers stattfand und sofort auf einer Sitzung des Politbüros von Kossygin vollständig verlesen wurde:5
»A. N. KOSSYGIN: Sagen Sie dem Genossen Taraki, daß ich ihn von Leonid lljitsch und von allen Mitgliedern des Politbüros herzlich grüßen soll.
N, M. TARAKI: Vielen Dank.
A. N. KOSSYGIN: Wie steht es um die Gesundheit des Genossen Taraki. Ist er nicht müde?
N. M. TARAKI: Ich bin nicht müde. Heute war eine Sitzung des Revolutionsrates.
A. N. KOSSYGIN: Das ist gut, ich freue mich sehr. Bitten Sie den Genossen Taraki, daß er die Lage in Afghanistan schildern soll.
N. M, TARAKI: Die Lage ist nicht gut und verschlechtert sich. in den vergangenen anderthalb Monaten wurden vom Iran etwa 4000 Kämpfer in Zivilkleidung in die Stadt Herat entsandt und sind in die Armee eingedrungen. Jetzt befindet sich die gesamte 17. Infanteriedivision in ihrer Hand, einschließlich eines Artillerieregiments und einer Flakabteilung, die jetzt auf unsere Flugzeuge schießt. In der Stadt wird immer noch gekämpft.
A. N. KOSSYGIN: Wieviel Mann hat die Division?
N, M. TARAKI: An die 5000. Die gesamte Munition und alle Depots sind in ihrer Hand, Aus Kandahar bringen wir unseren Kameraden, die gegen sie kämpfen, mit Flugzeugen Lebensmittel und Munition.
A. N. KOSSYGIN: Und wie viele sind dort noch auf eurer Seite?
N. M. TARAKI: joo Mann befinden sich auf dem Flugplatz von Herat mit dem Divisionskommandeur an der Spitze. t.u ihrer Verstärkung haben wir eine operative Gruppe mit dem Flugzeug aus Kabul entsandt. Sie befindet sich seit dem Morgen auf dem Flugplatz von Herat.
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KOSSYGIN: Sind die Offiziere der Division auch übergelaufen, oder befindet sich ein Teil von ihnen beim Divisionskommandeur auf dem Flugplatz?
TARAKI: Ein kleiner Teil ist auf unserer Seite, die anderen befinden sich beim Gegner.
KOSSYGIN: Erhalten Sie von den Arbeitern, dem städtischen Kleinbürgertum und den Angestellten Unterstützung? Ist sonst noch irgend jemand auf Ihrer Seite?
TARAKI: Von der Bevölkerung erhalten wir keine aktive Unterstützung. Sie befindet sich fast vollständig unter dem Einßuß der schiitischen Losungen. >Glaubt den Gottlosen nicht, geht mit uns!< - mit dieser Parole machen sie Propaganda.
KOSSYGIN: Wie viele Einwohner hat Herat?
TARAKI: 200.000 bis 250.000, ihr Verhalten wird von der Lage bestimmt. Wohin man sie führt, dorthin gehen sie. Jetzt sind sie auf der Seite des Gegners.
KOSSYGIN: Gibt es dort viele Arbeiter?
TARAKI: Sehr wenige - ganze 2000.
KOSSYGIN: Welche Aussichten bestehen nach Ihrer Meinung in Herat?
N. M. TARAKI: Wir rechnen damit, daß Herat heute abend oder morgen fällt und ganz in der Hand des Gegners sein wird.
A. N. KOSSYGIN: Wie sind die weiteren Aussichten?
N. M. TARAKI: Wir sind überzeugt, daß der Gegner neue Truppen zusammenstellen und seine Angriffe fortsetzen wird.
A. N. KOSSYGIN: Reichen Ihre Kräfte nicht aus, um ihnen eine Niederlage beizubringen?
N. M. TARAKI: Wenn ...
A. N. KOSSYGIN: Was schlagen Sie in dieser Sache vor?N. M. TARAKI: Wir bitten darum, daß Sie uns praktische und technische Hilfe leisten und Truppen und Waffen entsenden.
A. N. KOSSYGIN: Das ist eine sehr schwierige Frage.
N. M. TARAKI: Andernfalls wenden sich die Aufrührer gegen Kandahdr und weiter gegen Kabul. Sie werden den halben Iran unter der Flagge der Division von Herat mitführen.
Die Afghanen, die nach Pakistan geflüchtet sind, werden zurückkehren.
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Der Iran und Pakistan handeln nach einem einheitlichen Plan gegen uns. Und deshalb könnten Sie, wenn Sie jetzt wirklich einen Schlag gegen Herat führten, die Revolution retten.
KOSSYGIN: Davon würde sofort die ganze Welt erfahren. Die Aufrührer haben Sprechfunkgeräte und würden sofort alles bekanntmachen.
TARAKI: Ich bitte Sie um Hilfe.
KOSSYGIN: Wir müssen uns über diese Frage beraten.
TARAKI: Während Sie beraten, fällt Herat, und die Schwierigkeiten für die Sowjetunion und für Afghanistan werden noch größer sein.
KOSSYGIN: Vielleicht sagen Sie mir jetzt, was nach Ihrer Meinung von Pakistan und vom Iran zu erwarten ist? Haben Sie keine Verbindung mit fortschrittlichen Menschen des Iran? Können Sie ihnen nicht sagen, daß ihr Haupt feind jetzt die Vereinigten Staaten sind? Die Iraner sind sehr erbost über die Vereinigten Staaten, und das kann sicher für die Propaganda ausgenutzt werden.
N. M. TARAKI; Wir haben uns heute an die iranische Regierung mit einer Erklärung gewandt, die wir im Radio übertragen haben und in der darauf hingewiesen wird, daß sich der Iran im Gebiet um Herat in unsere inneren Angelegenheiten einmischt.
A. N. KOSSYGIN: Halten Sie es nicht für notwendig, gegenüber Pakistan auch eine Erklärung abzugeben?
N. M. TARAKI: Morgen oder übermorgen werden wir auch gegenüber Pakistan eine Erklärung abgeben.
A. N. KOSSYGIN: Können Sie auf die Armee rechnen? Ist sie zuverlässig? Können Sie keine Truppen zusammenziehen, um einen Schlag gegen Herat zu führen?
N. M. TARAKI: Wir meinen, daß die Armee zuverlässig ist. Aber aus anderen Städten Truppen abziehen, um sie nach Herat zu schicken, können wir nicht, weil das unsere Position in den anderen Städten schwächt.
A. N. KOSSYGIN: Wenn wir unverzüglich zusätzliche Flugzeuge und Waffen schicken, könnten Sie dann neue Einheiten zusammenstellen?
N. M. TARAKI: Das erfordert viel Zeit, und Herat fällt.
A. N. KOSSYGIN: Meinen Sie, daß - sollte Herat fallen - Pakistan eine ähnliche Operation von seiner Grenze aus beginnen wird?
N. M. TARAKI: Die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß. Die Moral der Pakistanis wird dadurch steigen. Die Amerikaner erweisen ihnen die
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erforderliche Hilfe. Nach dem Fall von Herat werden auch die Pakistanis Soldaten in Zivil schicken, die die Eroberung von Städten in Angriff nehmen werden, und auch die Iraner werden sich aktiv einmischen. Der Erfolg in Herat ist der Schlüssel zu allen weiteren Fragen, die diesen Kampf betreffen.
A. N. KOSSYGIN: Welche außenpolitischen Aktionen und Erklärungen unsererseits wären nach Ihrer Meinung wünschenswert? Haben Sie irgendwelche Vorstellungen über diese Frage im Hinblick auf die Propaganda?
N. M. TARAKI; Die propagandistische Hilfe muß mit der praktischen verknüpft werden. Ich schlage vor, daß Sie auf Ihren Panzern und Flugzeugen afghanische Zeichen anbringen, und niemand wird etwas erfahren. Ihre Truppen könnten von Kuschka oder Kabul aus eingreifen.
A. N. KOSSYGIN: Bis nach Kabul muß man erst einmal kommen.
N. M. TARAKI: Kuschka liegt ganz nahe bei Herat. Und nach Kabul könnten Truppen mit Flugzeugen gebracht werden. Wenn Sie Truppen nach Kabul schickten und sie von Kabul nach Herat marschieren ließen, erfährt nach unserer Meinung niemand etwas. Man wird denken, es seien Regierungstruppen.
A. N, KOSSYGIN: Ich will Sie nicht betrüben, aber das wird nicht zu verbergen sein. Die ganze Welt wird innerhalb von zwei Stunden Bescheid wissen. Alle werden zu schreien anfangen, daß die Sowjetunion eine Intervention in Afghanistan begonnen hat. Sagen Sie, Genosse Taraki, wenn wir Ihnen mit Flugzeugen Waffen, einschließlich Panzer, nach Kabul schicken, werden Sie dann Panzersoldaten dafür finden?N. M. TARAKI: Eine sehr geringe Zahl.
A. N. KOSSYGIN: Wie viele?
N. M. TARAKI: Genaue Angaben habe ich nicht.
A. N. KOSSYGIN: Wenn wir Ihnen unverzüglich per Flugzeug Panzer und die nötige Munition schicken und Granatwerfer geben, finden Sie dann Spezialisten, die diese Waffen bedienen können?
N, M. TARAKI: Auf diese Frage kann ich keine Antwort geben. Die sowjetischen Berater können sie beantworten.
KOSSYGIN: Das heißt aber, daß es in Afghanistan kein oder sehr wenig ausgebildetes Militärpersonal gibt. In der Sowjetunion sind Hunderte afghanischer Offiziere ausgebildet worden. Wo sind sie alle hingekommen?
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TARAKI: Ein großer Teil von ihnen sind reaktionäre Muslime, Achwanisten oder, wie sie auch noch genannt werden, Muslim-Brüder. Wir können uns nicht auf sie verlassen, wir trauen ihnen nicht.
KOSSYGIN: Wie viele Einwohner bat Kabul jetzt?
TARAKI: Etwa eine Million.
KOSSYGIN: Können Sie nicht noch 50.000 Soldaten rekrutieren, wenn wir Ihnen die Waffen schnell auf dem Luftweg liefern? Wie viele könnten Sie rekrutieren?
TARAKI: Wir könnten eine gewisse Anzahl rekrutieren, vor allem Jugendliebe, aber es würde viel Zeit kosten, sie auszubilden.
KOSSYGIN: Können sie keine Studenten rekrutieren?
TARAKI: Schüler der Klassen 11 und 12 der Lyzeen und Studenten könnten eingesetzt werden.
KOSSYGIN: Aus der Arbeiterklasse könnte niemand rekrutiert werden?
TARAKI: Die Arbeiterklasse ist in Afghanistan sehr klein.
KOSSYGIN: Und die arme Bauernschicht?
TARAKI: Die Basis könnten nur die Lyzeumsschüler, die Studenten und einige Arbeiter bilden. Aber sie auszubilden, würde viel Zeit kosten. Wenn es jedoch nötig ist, werden wir alle Maßnahmen ergreifen.
A. N. KOSSYGIN: Wir haben den Beschluß gefaßt, Ihnen Militärgüter zu liefern, die Hubschrauber und Flugzeuge zu reparieren — alles kostenlos. Außerdem haben wir beschlossen, Ihnen 100.000 Tonnen Getreide zu liefern und den Gaspreis von 21 auf 37,82 Dollar für tausend Kubikmeter zu erhöhen.
N. M. TARAKI: Das ist gut, aber sprechen wir von Herat.
A. N. KOSSYGIN: Ja. Können Sie jetzt nicht einige Divisionen aus fortschrittlichen Leuten in Kabul rekrutieren, auf die Sie sich verlassen können und nicht nur in Kabul, sondern auch in anderen Orten. Wir würden die entsprechende Ausrüstung geben.
N. M. TARAKI: Es gibt keine Offizierskader. Der Iran schickt Soldaten in Zivil nach Afghanistan. Pakistan schickt seine Leute und Offiziere auch in afghanischer Kleidung. Warum kann die Sowjetunion keine Usbeken, Tadschiken oder Turkmenen in Zivil entsenden? Niemand würde sie erkennen!
A. N. KOSSYGIN: Was können Sie noch zu Herat sagen?
N. M. TARAKI: Wir wollen, daß Sie uns Tadschiken, Usbeken und
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Turkmenen schicken, damit sie die Panzer fahren, denn diese Nationalitäten gibt es in Afghanistan. Sie sollen afghanische Kleidung anziehen und afghanische Kennzeichen tragen, und niemand wird sie erkennen. Das ist unserer Meinung nach sehr leicht zu bewerkstelligen. Die iranischen und pakistanischen Erfahrungen zeigen, daß so etwas leicht zu machen ist. Sie haben es uns vorgemacht.
A. N. KOSSYGIN: Sie vereinfachen natürlich die Frage. Das ist eine komplizierte internationale Frage. Doch unabhängig davon werden wir uns noch einmal beraten und Ihnen eine Antwort geben. Mir scheint, daß Sie versuchen müßten, neue Einheiten zusammenzustellen. Sie sollten nicht nur auf Hilfe von außen rechnen. Am Beispiel der iranischen Revolution haben Sie gesehen, wie das Volk die Amerikaner und alle anderen, die sich als Verteidiger des Iran aufspielten, hinausgeworfen hat.
Verbleiben wir so: Wir beraten uns und werden Ihnen Antwort geben. Und Sie beraten sich Ihrerseits mit Ihren Militärs und unseren Beratern. Es gibt doch Kräfte in Afghanistan, die Sie unter dem Einsatz ihres Lebens unterstützen und für Sie kämpfen werden. Diese Kräfte müssen jetzt mit Waffen ausgerüstet werden.
N. M. TARAKI: Schicken Sie Infanterie-Gefechtfahrzeuge per Flugzeug.
A, N. KOSSYGIN: Haben Sie jemanden, der diese Fahrzeuge fahren kann?
N. M. TARAKI: Für 30 bis 35 Wagen gibt es Fahrer.
A. N. KOSSYGIN: Sind sie zuverlässig? Laufen sie nicht mit den Fahrzeugen zum Gegner über? Unsere Fahrer sprechen doch Ihre Sprache nicht.
N. M. TARAKI: Dann schicken Sie uns doch Fahrzeuge mit Fahrern, die unsere Sprache beherrschen - Tadscbiken und Usbeken.
A. N. KOSSYGIN: Eine solche Antwort hatte ich von Ihnen erwartet. Wir sind Genossen und führen einen gemeinsamen Kampf, deshalb sollten wir voreinander keine Zurückhaltung üben. Alles muß diesem Kampf untergeordnet werden.
N. M. TARAKI: Richten Sie dem Genossen Breschnew und den Mitgliedern des Politbüros die besten Wünsche aus.
A. N. KOSSYGIN: Danke. Grüßen Sie alle Ihre Genossen. Ich wünsche Ihnen Festigkeit bei der Losung der Fragen, Zuversicht und Wohlergehen. Auf Wiedersehen.«
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Man kann sich vorstellen, daß dieses Gespräch (und ein weiteres - Kossygin, der seinen Ohren nicht traute, rief zweimal an) auf die Mitglieder des Politbüros einen niederschmetternden Eindruck machte. Sie schienen nun erst zu begreifen, in welche unangenehme Geschichte sie sich in Afghanistan eingelassen hatten, um so mehr als Taraki im zweiten Gespräch noch aufrichtiger war:6
»KOSSYGIN: ... Er teilte mir mit, daß sich auf den Straßen von Herat die aufständischen Soldaten mit denen, die die Regierung unterstützten, verbrüdem. Die Lage in dieser Stadt sei sehr schwierig. Wenn, so sagt Taraki, die Sowjetunion jetzt nicht helfe, werden sie sich dort nicht halten ... Genösse Taraki sagte sogar, daß sich alles innerhalb von 24 Stunden entscheiden könne. Wenn Herat falle, dann sei alles verloren. ... Wer ihn denn unterstütze, fragte ich. Fast ohne nachzudenken, antwortete Taraki, daß ihn fast niemand unterstütze. Es gebe bei ihnen in Kabul keine Arbeiter, sondern nur kleine Handwerker. Dann brachte er das Gespräch erneut auf Herat und sagte, wenn Herat falle, könne die Revolution nicht gerettet werden. Wenn andererseits die Stadt gehalten werde, sei die Revolution gerettet. Nach seiner Meinung sei die Armee zuverlässig, die Regierung verläßt sich auf sie. Aber im ganzen Land seien Aufstände ausgebrochen, und die Kräfte der Armee reichten nicht, um überall die Aufständischen niederzuhalten. Der Genösse Taraki erklärte erneut, daß unsere Unterstützung erforderlich sei.
Bezüglich Kabul geht aus den heutigen Telegrammen hervor, daß dort solche Zustände herrschen wie im Iran, Kundgebungen fänden statt, es käme zu Menschenaufläufen. Aus Pakistan und dem Iran käme eine große Zahl von Personen nach Afghanistan, die mit iranischen und chinesischen Waffen ausgerüstet seien.USTINOW: Was die Tadschiken angeht, so gibt es bei uns keine solchen Einheiten. Im Augenblick ist sogar schwer zu sagen, wie viele von ihnen in den Panzereinheiten unserer Armee dienen .,. Als ich mit Amin sprach, bat er ebenfalls darum, daß wir Truppen nach Herat entsenden und den Gegner zerschlagen ...
Die afghanische Revolution wird auf ihrem Wege mit großen Schwierigkeiten konfrontiert, so Amin, und ihre Rettung hänge allein von der Sowjetunion ab.
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Was ist da los, warum hat sich das so ergeben? Die Führung Afghanistans hat die Rolle der islamischen Religion unterschätzt. Die Soldaten laufen zur Fahne des Islam über, und die überwiegende Mehrheit - mit vielleicht ganz wenigen Ausnahmen - sind Gläubige. Deshalb bittet die Führung uns um Hilfe beim Zurückschlagen der Angriffe der Aufständischen in Herat, Amin sagte, wenn auch nicht sehr überzeugt, daß sie in der Armee eine Stütze hätten. Auch er wandte sich wie der Genosse Taraki an uns um Hilfe.
KIRILENKO: Sie können sich also nicht auf ihre Armee verlassen. Sie hoffen nur darauf, daß wir beschließen, ihnen Panzer und Panzerspähwagen zu schicken.
KOSSYGIN: Wenn wir den Beschluß fassen, ihnen zu helfen, müssen wir die daraus entstehenden Folgen genau überdenken. Es ist eine sehr ernste Sache.
ANDROPOW: Genossen, ich habe sorgfältig über das ganze Problem nachgedacht und bin zu dem Schluß gekommen, daß wir sehr, sehr ernsthaft die Frage überdenken müssen, in wessen Namen wir Truppen nach Afghanistan entsenden. Es ist klar, daß Afghanistan noch nicht in der Lage ist, alle Fragen auf sozialistische Weise zu losen. Dort hat die Religion großen Einfluß, die Landbevölkerung besteht fast ausnahmslos aus Analphabeten, die Wirtschaft ist rückständig und so weiter. Wir kennen Lenins Lehre von der revolutionären Situation. Von einer solchen Situation kann in Afghanistan nicht die Rede sein. Deshalb meine ich, daß wir die Revolution in Afghanistan nur mit unseren Bajonetten erhalten können, und das ist für uns völlig inakzeptabel. Wir können ein solches Risiko nicht eingeben.
KOSSYGIN: Vielleicht sollten wir unserem Botschafter, dem Genossen Winogradow, die Weisung erteilen, zum iranischen Premierminister Basargan zu gehen und ihm zu sagen, daß eine Einmischung des Iran in die inneren Angelegenheiten Afghanistans unzulässig sei.
GROMYKO: Ich unterstütze voll und ganz den Vorschlag des Genossen Andropow, die Entsendung unserer Truppen nach Afghanistan auszuschließen. Die Armee dort ist nicht zuverlässig. So wird unsere Armee, falls sie in Afghanistan eingesetzt wird, zum Aggressor. Gegen wen wird sie überhaupt kämpfen? Ja, doch vor allem gegen das afghanische Volk, und auf dieses wird sie schießen müssen. Der Genosse Andropow hat richtig festgestellt, daß Afghanistan nicht reif für eine Revolution ist, und in allem, was wir in den
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letzten Jahren mit soviel Mühe im Bereich der Entspannung, der Abrüstung und anderem geleistet haben, werden wir zurückgeworfen. Natürlich werden wir China damit ein willkommenes Geschenk machen. Alle blockfreien Länder werden gegen uns sein. Mit anderen Worten, eine solche Aktion hätte ernste Folgen. Das Treffen zwischen Leonid Iljitsch und Carter fände nicht statt, und der Besuch Giscard d'Estaings Ende März wäre in Frage gestellt.
Es fragt sich, was wir gewännen. Afghanistan mit seiner heutigen Regierung, seiner rückständigen Wirtschaft und seinem geringen internationalen Gewicht. Weiterhin müssen wir bedenken, daß wir die Entsendung von Truppen auch juristisch nicht rechtfertigen können. Nach den UNO-Statuten könnte das Land um militärische Hilfe bitten, und wir könnten Truppen entsenden, wenn es von außen angegriffen werden würde. Afghanistan wird aber nicht von außen angegriffen. Es ist eine innere Angelegenheit, eine revolutionäre Fehde, der Kampf einer Bevölkerungsgruppe gegen eine andere. Außerdem muß gesagt werden, daß die Afghanen nicht offiziell um die Entsendung von Truppen bitten.
Wir haben es damit zu tun, daß die Führung des Landes wegen schwerwiegender Fehler in Schwierigkeiten geraten ist und nicht die nötige Unterstützung des Volkes besitzt.KIRILENKO: Gestern war die Lage in Afghanistan noch eine andere, und wir neigten dazu, eventuell eine bestimmte Anzahl Truppen zu entsenden. Heute präsentiert sich die Lage anders, und unsere Erwägungen gehen mit Recht in eine andere Richtung, und zwar sind wir alle der Meinung, daß es für die Entsendung von Truppen keinerlei Gründe gibt.
ANDROPOW: Als wir gestern die Frage erörterten, hatten die Afghanen noch nicht von der Entsendung von Truppen gesprochen, heute ist die Lage dort eine andere. In Herat ist nicht mehr nur ein Regiment, sondern eine ganze Division zum Feind übergelaufen. Wie wir aus dem heutigen Gespräch mit Amin erfuhren, unterstützt das Volk die Regierung Taraki nicht. Können ihnen hier unsere Truppen helfen? In diesem Fall können auch Panzer und Panzerspähwagen nichts ausrichten. Ich glaube, wir müssen Taraki offen sagen, daß wir alle ihre Aktionen unterstützen und die Hilfe, über die wir uns gestern geeinigt haben, leisten werden, aber keinesfalls Truppen nach Afghanistan entsenden können.
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KOSSYGIN: Vielleicht sollten wir ihn zu uns einladen und ihm sagen, daß wir keine Truppen entsenden können, weil diese nicht gegen die Armee, die zum größten Teil zum Gegner übergelaufen ist oder in Abwartestellung verharrt, sondern gegen das Volk kämpfen würden. Wir hätten mit riesigen Nachteilen zu rechnen. Eine ganze Reibe von Ländern würde sich sofort gegen uns wenden. Dagegen hätten wir keinerlei Vorteile.
ANDROPOW: Wir müssen dem Genossen Taraki offen sagen, daß wir sie auf jegliche Weise außer durch Entsendung von Truppen unterstützen werden.
KOSSYGIN: Wir müssen ihn zu uns einladen und sagen, daß wir ihn in jeder Weise unterstützen werden, aber Truppen werden wir nicht entsenden.
KIRILENKO: Wir haben ihm alles gegeben. Und was hat es gebracht? Nichts ist dabei herausgekommen. Sie haben Erschießungen völlig unschuldiger Menschen angeordnet und zu ihrer Rechtfertigung gesagt, daß wir angeblich zu Lenins Zeiten auch Menschen erschossen hätten. Da seht ihr, was das für Marxisten sind.
Seit gestern hat sich alles geändert. Gestern waren wir uns, wie ich schon sagte, einig, militärische Hilfe zu leisten, haben aber sorgfältig alles erörtert, verschiedene Möglichkeiten in Betracht gezogen und andere Wege als eine militärische Invasion gesucht. Ich glaube, wir müssen Leonid lljitscb unsere Vorstellungen darlegen, den Genossen Taraki nach Moskau einladen und ihm alles mitteilen, was wir beschlossen haben. Vielleicht sollten wir in der Tat besondere Schreiben an Pakistan und den Iran - an Chomeini und Basargan - senden?TSCHERNENKO: Wenn wir Truppen entsenden und gegen das afghanische Volk einen Schlag führen, werden wir auf jeden Fall der Aggression bezichtigt. Das ist nicht zu ändern.
ANDROPOW: Wir müssen den Genossen Taraki einladen.
KOSSYGIN: Ich glaube, wir müssen uns sofort mit Leonid Iljitsch beraten und noch heute ein Flugzeug nach Kabul schicken.
KIRILENKO: Genosse Kossygin muß ein Gespräch mit dem Genossen Taraki führen. Wenn er nach Moskau zu kommen wünscht und nicht nur bis Taschkent fliegt, müssen wir uns beraten, vielleicht wird ihn Leonid Iljitsch empfangen.
GROMYKO: Ich glaube, daß wir mit der Ausarbeitung des politischen Dokuments am besten erst nach den Gesprächen mit dem Genossen Taraki beginnen sollten.
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ANDROPOW: Jetzt muß ein Artikel erscheinen, in dem über die Unterstützung der Aufrührer durch Pakistan geschrieben wird.
USTINOW: Die Hilfsmaßnahmen werden wir so durchführen, wie wir es gestern besprochen haben, nehme ich an.
ALLE: Richtig.
USTINOW: Nur die Entsendung von Truppen muß ausgeschlossen werden.
KOSSYGIN: Wir ändern also nichts, was die Hilfe an Afghanistan betrifft, außer der Entsendung von Truppen. Sie sollen die Fragen der Staatsführung selbst verantwortungsvoller entscheiden. Wenn wir alles für sie tun und die Revolution verteidigen, was bleibt dann für sie zu tun übrig? Nichts. Wir haben in Herat 24 Berater. Sie müssen abgezogen werden.
SAMJATIN: Was die propagandistische Unterstützung dieser Maßnahmen anbetrifft, so ist ein Artikel über Afghanistan vorbereitet. Dann ist noch ein Artikel über die Rolle Pakistans und die Hilfe Chinas für die afghanischen Aufrührer fertiggestellt worden. Diese Artikel müssen heute noch an die Presse weitergegeben werden.
ALLE: Richtig.
TSCHERNENKO: Wir müssen entscheiden, wer den Genossen Taraki einlädt.
KIRILENKO: Das muß der Genosse A. N. Kossygin machen. Er möge ihn anrufen und einladen, nach Moskau oder Taschkent zu kommen, ganz wie er wünscht.«
Und die Maschinerie kam in Gang. Schon am folgenden Tag fand eine erweiterte Sitzung des Politbüros statt, an der alle ZK-Sekretäre teilnahmen (einschließlich des noch jungen Sekretärs für Landwirtschaft Gorbatschow). Sie vollbrachten das Wunder, Breschnew zum Leben zu erwecken, und dieser las von einem Blatt ab, daß er »alle Maßnahmen, die im Entwurf des Beschlusses des ZK der KPdSU, der am Samstag eingebracht wurde, vorgesehen sind und alle Maßnahmen, die im Laufe des Samstags und Sonntags getroffen wurden«, billigte und zählte sie der Reihe nach auf.
»Die Frage über eine direkte Teilnahme unserer Truppen an dem Konflikt, der in Afghanistan entstanden ist, wurde aufgeworfen. Ich meine, daß die Mitglieder des Politbüros richtig entschieden haben, daß wir uns jetzt nicht in diesen Krieg hineinziehen lassen sollten.«
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Gromyko, Kossygin, Ustinow und Andropow schilderten nacheinander die Lage und brachten ihre Überlegungen vor. Sogar eine gewisse Verbesserung der Lage wurde konstatiert.
»GROMYKO: Heute haben wir eine Nachricht darüber erhalten, daß die Lage in Herat nicht ganz so schlecht ist, zwei Regimenter stünden immerhin auf seiten der Regierung, Woher diese Nachrichten kommen, weiß ich nicht, aber sie liegen uns vor ... Es gibt einige ermutigende Anzeichen, die darin bestehen, daß gestern in Kabul eine Massendemonstration zur Unterstützung der Regierung stattfand. Trotzdem hat die Regierung die Lage in Afghanistan nicht hinreichend unter Kontrolle.
Wir haben nicht vor, von unseren Beschlüssen bezüglich Afghanistans abzugehen. Aber ich glaube, wir müssen unsere Politik fortsetzen, unseren Weg gehen und alle Besonderheiten in Betracht ziehen. Wenn wir zum Beispiel ein solches Risiko wie die Entsendung von Truppen eingehen, so bringt uns das bei weitem mehr Nachteile als Vorteile. Wir wissen bis jetzt nicht, wie sich die afghanische Armee verhalten wird. Aber wenn sie unsere Maßnahmen nicht unterstützt oder neutral bleibt, dann werden wir in Afghanistan die Rolle von Besatzern spielen. Damit würden wir uns außenpolitisch in eine äußerst schwierige Lage bringen. Wir würden Rückschläge dort erfahren, wo wir mit solcher Mühe etwas wiederaufgebaut haben, besonders in der Entspannung. Die SALT-II-Gespräche würden scheitern, es käme nicht zu einem Vertragsabschluß (und das ist doch für uns im Augenblick die größte politische Aufgabe), das Treffen zwischen Leonid lljitsch und Carter würde nicht stattfinden, es wäre fraglich, ob Giscard d'Estaing uns besuchte, und die Beziehungen zu den westlichen Ländern, besonders mit der Bundesrepublik Deutschland, wären verdorben.
So können wir uns trotz der schwierigen Lage in Afghanistan nicht auf eine solche Aktion, wie die Entsendung von Truppen, einlassen ,.. Wir erweisen Afghanistan eine sehr große Hilfe. Wie sich die afghanische Regierung verhalten wird, ist schwer zu sagen; die Lage dort in Ordnung zu bringen ist nicht leicht. Aber es gibt absolut keinen Grund für die Behauptung, daß dort alles verloren ist. Ich glaube, wenn die afghanische Führung sich aufrafft und die Aktionen richtig koordiniert, kann der Kampf gewonnen werden,
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KOSSYGIN: ... Natürlich müssen wir uns Afghanistan als Verbündeten erhalten. In diesem Zusammenbang müssen wir Pakistan warnen, daß eine Intervention in Afghanistan inakzeptabel ist. Dasselbe müssen wir in Bezug auf den Iran unternehmen ... Wenn die Grenzen zu Pakistan und dem Iran geschlossen würden, wäre das gut.
Mir scheint, daß es sinnvoll wäre, nach Afghanistan einen guten Botschafter zu schicken. Aus den Gesprächen mit dem Genossen Taraki war zu ersehen, daß er nicht einmal weiß, auf wen sich die Regierung stützen kann. Dort ist große politische Arbeit erforderlich, und nur wenn sie geleistet wird, können wir Afghanistan als unseren Verbündeten erhalten.BRESCHNEW: Die Briefe an Pakistan und den Iran müssen heute abgeschickt werden.
USTINOW: ... Wir haben in der afghanischen Armee eine große Zahl von Beratern, auch Dolmetscher gibt es dort. Ich habe Amin gesagt, daß wir zusätzlich eine Anzahl von Dolmetschern schicken können ... Wir bilden zwei Divisionen im turkestanischen Wehrkreis und eine Division im mittelasiatischen Wehrkreis. Drei Regimenter können buchstäblich innerhalb von drei Stunden in Afghanistan sein. Ich sage das natürlich nur deshalb, um unsere Bereitschaft zu unterstreichen. Ebenso wie die übrigen Genossen unterstütze ich nicht den Gedanken einer Entsendung von Truppen nach Afghanistan. Ich möchte um die Erlaubnis bitten, an der Grenze zu Afghanistan taktische Manöver durchzuführen, die Regimenter und Divisionen aufmarschieren zu lassen.
Man muß sagen, daß die afghanische Führung viele Probleme sehr schlecht löst und es für unsere Berater sehr schwer ist, unter diesen Verhältnissen zu arbeiten.ANDROPOW: ... Trotzdem ist die Lage nicht hoffnungslos. Worum geht es jetzt eigentlich in Afghanistan? Es geht um die Führung. Die Führung verfügt über keine gesellschaftlichen Kräfte, die sie unterstützen und mit denen man rechnen könnte. Heute zum Beispiel fanden ziemlich beachtliche Demonstrationen in Kabul und Herat statt, aber die Führer haben sich diese Massenveranstaltungen nicht in ausreichendem Maße zunutze gemacht.
Um die Aufklärungsarbeit steht es nicht nur in der Armee, sondern in der Bevölkerung überhaupt sehr schlecht. Sie erschießen ihre politischen Gegner. Keiner hört Radio, weil die Sender zu schwach sind. Wir müssen ihnen mit mobilen Radiosendern helfen.
Amin hielt im wesentlichen die ganze Macht in seinen Händen, und erst gestern haben sie einen neuen Chef der Staatsicherheit und einen Stabschef eingesetzt. Somit erweitert sieh die politische Basis in der Führung etwas.
Ich glaube, daß wir keinen Beschluß über die Entsendung von Truppen fassen sollten. Truppen zu entsenden würde bedeuten, gegen das Volk zu kämpfen, das Volk zu unterdrücken und auf das Volk zu schießen. Wir würden als Aggressoren dastehen, und das können wir nicht zulassen.«
Sie sprachen noch über die Entsendung neuer Berater und die Ausbildung afghanischer Kader. Schließlich zogen sie die Bilanz:
(7)»BRESCHNEW: Ich glaube, wir sollten die Maßnahmen, die wir im Laufe dieser Tage erarbeitet haben, billigen.
ALLE: Richtig.
BRESCHNEW: Die jeweiligen Genossen sollten angewiesen werden, sie energisch durchzuführen, und wenn sich neue Fragen im Zusammenhang mit den Ereignissen in Afghanistan ergeben, sollten sie dem Politbüro vorgetragen werden.
ALLE: Richtig.
BRESCHNEW: Wir fassen also den Beschluß:
Der Genosse Taraki wird morgen, am 20. März, empfangen.
Die Gespräche mit ihm werden die Genossen A. N. Kossygin, A. A. Gromyko und D. F. Ustinow führen, danach empfange ich ihn.
ALLE: Das ist sehr gut.«
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