Start    Weiter

5.3  Der Atem des Schicksals

  04   05  

 

357-391

So endete die erste Phase der afghanischen Krise. Die Situation stabilisierte sich etwas (schon nach zwei Tagen waren die aufrührerischen Regimenter in Herat mit Panzern und Flugzeugen, die schleunigst aus anderen Städten herbeigeholt worden waren, auf grausame Weise geschlagen), aber dann zum Sommer verschlechterte sie sich erneut. Bis zum Tag des sowjetischen Einmarschs waren alle Bemühungen der sowjetischen Führung nur darauf ausgerichtet, diesen Einmarsch zu vermeiden. 

Wenn man jetzt die Dokumente liest, spürt man den Atem des Schicksals. Die Kreml-Häuptlinge merkten instinktiv, daß das afghanische Abenteuer der Anfang vom Ende ihres Regimes werden würde, und widersetzten sich bis zum Letzten. Diese kollektive Weisheit wurde sogar in ihrem »politischen Dokument«, das die Gründe der März-Krise analysiert, fixiert:

»Unser Beschluß, der Bitte der Führung der Demokratischen Republik Afghanistan nicht zu entsprechen, war somit völlig richtig. Diese Linie müssen wir auch im Falle weiterer regierungs­feindlicher Vorkommnisse, die nicht auszuschließen sind, beibehalten.«(8)

Aber die Lage entglitt den Greisenhänden, und je mehr sie sich sträubten, desto näher kamen sie an den Rand des Abgrunds. Wie eine Beschwörung wiederholten sie sich gegenseitig alle Argumente, die gegen diese Intervention sprachen und sanken immer tiefer in den Sumpf der Krise. Dem noch im März herbeizitierten Taraki gegenüber erläuterten Kossygin und sogar Breschnew klar und deutlich ihre Position:

 

»KOSSYGIN:  ... Es mag verschiedene Lösungswege für die Probleme bei Ihnen geben, aber der beste Weg ist der, bei dem die Autorität Ihrer Regierung gewahrt, die Beziehungen Afghanistans zu den Nachbarstaaten nicht beeinträchtigt und dem internationalen Ansehen Ihres Landes kein Schaden zugefügt wird. Die Sache darf nicht so aussehen, daß Sie mit Ihren eigenen Problemen nicht fertig werden und ausländische Truppen zu Hilfe holen müssen ... Wir sehen unsere Aufgabe in der gegenwärtigen Etappe darin, Sie vor möglichen internationalen Verwicklungen zu bewahren.

Wir werden Ihnen mit allen Mitteln Hilfe leisten — Waffen und Munition liefern, Leute schicken, die Ihnen bei der militärischen und wirtschaftlichen Führung des Landes nützlich sein können, und Fachleute, die Ihr Militärpersonal für den Umgang mit den modernsten Waffen und der neuesten Kampftechnik, welche wir Ihnen schicken werden, ausbilden. 

Die Entsendung von Truppen nach Afghanistan würde jedoch sofort die internationale Öffentlichkeit aufschrecken und negative Folgen auf vielen Ebenen nach sich ziehen. Das würde sich zu einem Konflikt nicht nur mit den imperialistischen Ländern, sondern auch mit dem eigenen Volk entwickeln. Unsere gemeinsamen Feinde warten nur auf den Moment, da auf dem Territorium Afghanistans sowjetische Truppen eingesetzt werden. 

357/358

Das wird ihnen den Vorwand liefern, auf afghanisches Territorium feindliche bewaffnete Formationen zu entsenden. Ich möchte noch einmal unterstreichen, daß wir die Frage der Entsendung von Truppen von allen Seiten betrachtet haben, wir haben alle Aspekte einer solchen Aktion sorgfältig untersucht und sind m dem Schluß gekommen, daß eine Entsendung von Truppen die Lage in Ihrem Land nicht verbessern, sondern sie im Gegenteil nur komplizieren würde. 

Man muß sehen, daß unsere Truppen nicht nur gegen den äußeren Aggressor, sondern auch gegen einen Teil Ihres Volkes kämpfen müßten. Und das Volk verzeiht so etwas nicht. Außerdem — sobald unsere Truppen die Grenze überqueren, würde China und anderen Aggressoren eine Rechtfertigung für ihr Vorgehen geliefert.« 9

 

Breschnew schlug Taraki eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Festigung des Regimes in Afghanistan vor — von der Schaffung einer »einheitlichen nationalen Front« unter der Führung der Demokratischen Volkspartei (DVPA), über die »Verstärkung der politischen Massenarbeit« bis hin zur Arbeit mit der Geistlichkeit mit dem Ziel, ihre Spaltung zu bewirken, »damit wenigstens ein Teil der Geistlichkeit nicht länger eine regierungsfeindliche Haltung einnimmt, auch wenn er die Regierung vielleicht nicht offen unterstützt«

Als alter Politoffizier der Armee belehrte er Taraki:

»Es ist wichtig, daß das Führungspersonal das Gefühl hat, seine Position sei sicher. Man kann von einer Armee nicht viel verlangen, wenn die Kommandeurskader ständig ausgewechselt werden — besonders dann, wenn der Führungswechsel von Verhaftungen begleitet ist. Denn viele Kommandeure bekommen das Gefühl, daß ihre Zukunft ungewiß ist, wenn sie sehen, daß ihre Kollegen verhaftet werden und verschwinden.

Schließlich möchte ich noch einmal unterstreichen, daß es in der gegenwärtigen Situation das wichtigste ist, mit politischen und wirtschaftlichen Mitteln möglichst breite Kreise der Bevölkerung auf die Seite der Regierung zu ziehen. Die Mittel hierfür müssen nochmals überprüft werden, es müssen diejenigen ausgeschlossen werden, die die Menschen beunruhigen und ihren Widerspruch hervorrufen könnten.«

358/359

In der Frage der Truppenentsendung war er jedoch unbeugsam:

»... Jetzt zu der Frage, die Sie in Ihrem Telefongespräch mit dem Genossen Kossygin und dann hier in Moskau erneut aufgeworfen haben — die Möglichkeit der Entsendung sowjetischer Armee-Einheiten nach Afghanistan. Wir haben diese Frage in all ihren Aspekten erörtert, alles sorgfältig erwogen, und ich sage Ihnen offen, das sollte nicht geschehen. Wir würden nur den Feinden in die Hände spielen — Ihren und unseren ... Wir möchten hoffen, daß Sie Verständnis für unsere Überlegungen haben. Natürlich wäre es aus verständlichen Gründen nicht von Nutzen, wenn Sie oder wir öffentlich erklärten, daß wir das nicht zu tun beabsichtigen.«10

Alles war in die Luft gesprochen. Taraki hörte zu, dankte für die Hilfe und begann erneut, um sowjetische Truppen zu betteln. Nun, wenn schon keine Truppen, dann wenigstens Panzerfahrer und Hubschrauberpiloten. Wenn keine sowjetischen, dann vielleicht aus anderen sozialistischen Ländern. 

Kossygin konnte sich nicht mehr beherrschen und schrie ihn anscheinend an:

»Ich kann nicht verstehen, was Sie da von Piloten und Panzerfahrern reden. Diese Frage kommt für uns völlig unerwartet. Ich glaube, daß sich die sozialistischen Staaten kaum darauf einlassen. Die Frage der Entsendung von Leuten, die sich in Ihre Panzer setzen und auf Ihre Menschen schießen — das ist eine sehr heikle politische Frage.«11

Jedoch einen Monat später kam die Frage im Zusammenhang mit der Lieferung sowjetischer Kampfhub­schrauber wieder auf, und erneut mußte das Politbüro einen besonderen Beschluß »Über die Unzweckmäßigkeit der Teilnahme sowjetischer Kampfhub­schrauber-Besatzungen bei der Unterdrückung von konterrevolutionären Aktionen in der Demokratischen Republik Afghanistan« fassen und den Obersten Militärberater instruieren:

359/360

»Sagen Sie, der afghanischen Führung sei schon erklärt worden, daß die unmittelbare Beteiligung sowjetischer militärischer Einheiten an Operationen zur Unterdrückung konterrevolutionärer Aktionen in der Demokratischen Republik Afghanistan unzweckmäßig ist, weil eine solche Beteiligung von den Feinden der afghanischen Revolution und den äußeren feindlichen Kräften zur Verbreitung von Lügen über die internationalistische sowjetische Hilfe und zu regierungsfeindlicher und antisowjetischer Propaganda unter der afghanischen Bevölkerung ausgenutzt würde ...

Überzeugen Sie Amin, daß die vorhandenen Kampfhubschrauber mit afghanischen Besatzungen in der Lage sind, zusammen mit den Land- und Luftstreitkräften die konterrevolutionären Aktionen zu unterdrücken. Arbeiten Sie für die afghanische Führung die nötigen Empfehlungen in dieser Frage aus.«12

Im Mai baten die Afghanen »im Zusammenhang mit der Zunahme der konterrevolutionären Aktivitäten« erneut um Hilfe, und wieder wurde ihnen Hilfe angeboten: »Sondergut« für 53 Millionen Rubel (für 1979 bis 1981), darunter 140 Geschütze und Raketenwerfer, 90 Schützenpanzerwagen (davon 50 vorrangig zu liefern), 48.000 Stück Schützenwaffen, ungefähr 1000 Granatwerfer, 680 Fliegerbomben sowie vorrangig im Juni/Juli 1979 Medikamente und medizinische Ausrüstung für 50.000 Rubel.

»Als vorrangige Hilfe werden im Mai dieses Jahres 100 Flugzeug-Brandbehälter und 150 Kassettenbomben geliefert. Es wird als unmöglich angesehen, Gasbomben mit nichttoxischen chemischen Kampfstoffen zu liefern«, ließ das Politbüro über den sowjetischen Botschafter in Kabul mitteilen.

»Was die Bitte der afghanischen Seite um Entsendung von Hubschraubern und Luftlandetruppen mit sowjetischer Besatzung nach Kabul betrifft, so wurde die Frage des Einsatzes sowjetischer militärischer Einheiten ausführlich und in allen ihren Aspekten während des Besuches des Genossen Taraki im März dieses Jahres in Moskau erörtert. Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß solche Aktionen zu Komplikationen nicht nur auf innenpolitischer, sondern auch auf internationaler Ebene führen und von den feindlichen Kräften zweifellos vor allem zum Schaden der Demokratischen Republik Afghanistan und der Errungenschaften der April-Revolution ausgenutzt würden."


361

Nichtsdestoweniger befanden sich im Juni bereits einige sowjetische Einheiten auf dem Territorium Afghanistans, obwohl sie an den Kampfhandlungen nicht teilnahmen. Die Lage verschlechterte sich so sehr, daß Boris Ponomarjow unverzüglich dorthin reisen mußte. Gromyko, Andropow, Ustinow und Ponomarjow berichteten dem Politbüro am 28. Juni: (14)

"Die Lage in der Demokratischen Republik Afghanistan (DRA) verschlechtert sich weiterhin. Die Aktionen der aufständischen Stämme nehmen ein immer größeres Ausmaß an und sind immer besser organisiert. Die reaktionäre Geistlichkeit verstärkt die regierungsfeindliche und antisowjetische Agitation, wobei sie die Schaffung einer <freien islamischen Republik> nach iranischem Vorbild auf dem Gebiet der Demokratischen Republik Afghanistan propagiert.

Die Schwierigkeiten, mit denen die Demokratische Republik Afghanistan in ihren Anfangsjahren konfrontiert ist, haben in vielem einen objektiven Charakter. Sie beruhen auf der wirtschaftlichen Rückständigkeit, der zahlenmäßigen Schwäche der Arbeiterklasse und der Schwäche der Demokratischen Volkspartei Afghanistans. Diese Schwierigkeiten werden jedoch noch durch subjektive Gründe verstärkt: In der Partei und im Staat fehlt eine kollegiale Führung, alle Macht ist praktisch in den Händen von N. M. Taraki und H. Amin konzentriert, die häufig Fehler begehen und die Gesetze mißachten; dem Land fehlt eine Volksfront; bis jetzt sind keine örtlichen Organe der revolutionären Macht gebildet worden. 

Die Empfehlungen unserer Berater bezüglich dieser Fragen werden von der afghanischen Führung praktisch nicht befolgt. In der letzten Zeit haben die Sicherheitskräfte, die Grenztruppen und die geschaffenen Selbstschutzabteilungen in stärkerem Maß am Kampf teilgenommen, jedoch wurden die breiten Bevölkerungsschichten nicht ausreichend in den Kampf gegen die Reaktion einbezogen, weshalb die von der Regierung der Demokratischen Republik Afghanistan durchgeführten Maßnahmen zur Stabilisierung der Lage sich als wenig effektiv erweisen. Unter diesen Bedingungen konzentriert die Konterrevolution ihre Anstrengungen hauptsächlich auf die Zersetzung der afghanischen Armee. Dabei werden verschiedene Mittel angewandt - religiöser Fanatismus, Bestechung und Drohungen. Die Offiziere werden individuell beeinflußt und zum Verrat angestiftet. Diese Aktivitäten der Reaktion nehmen ein immer größeres Ausmaß an und können für die Revolution gefährliche Folgen haben.


362

Die Hauptstütze der afghanischen Regierung im Kampf gegen die Konterrevolution ist nach wie vor die Armee.

Angesichts dieser Tatsachen halten es das Außenministerium der UdSSR, der KGB der UdSSR, das Verteidigungsministerium und die Internationale Abteilung des ZK der KPdSU für zweckmäßig:

1. Im Namen des Politbüros des ZK der KPdSU ist ein Schreiben an das Politbüro des ZK der DVPA (Demokratische Volkspartei Afghanistans, W. B.) zu senden, in dem in kameradschaftlicher Form offen zum Ausdruck gebracht wird, daß die sowjetische Führung befürchtet, die Errungenschaften der April-Revolution könnten beseitigt werden, und Empfehlungen für den verstärkten Kampf gegen die Konterrevolution und die Festigung der Volksmacht ausspricht. Auf einige Fehler bei der Führung der Partei und des Staates und auf Maßnahmen für ihre Behebung ist hinzuweisen, wobei besondere Aufmerksamkeit darauf zu richten ist, daß im ZK der DVPA und der Regierung der DRA (Demokratische Republik Afghanistan, W. B.) das Prinzip der Kollegialität beachtet wird. Der politischen Führung der Demokratischen Republik Afghanistan ist zu empfehlen, ein effektives System der örtlichen Organe der Volksmacht in Form von Revolutions-(Volks-)Komitees zu schaffen sowie die ideologische und politische Erziehungsarbeit in der Bevölkerung und in den Streitkräften bedeutend zu verbessern.

2. Maßnahmen zur Vergrößerung des Apparats von Parteiberatern und zur Ausweitung ihrer Tätigkeit sind zu ergreifen sowie die Zustimmung zur Entsendung von Parteiberatern in die Organe der Staatsmacht in der Provinz und den Städten ist zu geben.

3. Nach Afghanistan ist zur Unterstützung des Obersten Militärberaters ein erfahrener General mit einer Gruppe von Offizieren für die Arbeit unmittelbar in den Streitkräften (in Divisionen und Regimentern) zu entsenden. Die Hauptaufgabe dieser Gruppe soll die Hilfe für die Kommandeure der Verbände und Truppenteile beim Kampf gegen die Aufrührer und bei der Verbesserung der Führung der Verbände und Einheiten sein. In die DRA sind zusätzlich sowjetische Militärberater bis einschließlich zur Bataillonsebene für die Wachbrigade der Regierung und die Panzerbrigaden (40 bis 50 Mann, darunter 20 Politoffiziere mit Beraterfunktion) sowie Berater für die militärische Gegenaufklärung in allen Regimentern der Demokratischen Republik Afghanistan abzukommandieren.


363

4. Zur Sicherheit und Verteidigung der Flugzeuge des sowjetischen Luftgeschwaders auf dem Flugplatz >Bagram< ist mit Zustimmung der afghanischen Seite ein als flugtechnisches Personal getarntes Fallschirm­jägerbataillon in Arbeitskleidung (Overalls) m entsenden. Zum Schutz der sowjetischen Botschaft in Kabul soll eine als Botschaftspersonal getarnte Sonderabteilung des KGB der UdSSR (i2;-ifo Mann) entsendet werden, Anfang August dieses Jahres ist nach entsprechender Vorbereitung eine Sonderabteilung der GRU des Generalstabs nach Afghanistan (Flugplatz Bagram) zum Schutz und zur Verteidigung von besonders wichtigen Regierungsobjekten für den Fall einer plötzlichen Zuspitzung der Lage zu entsenden.

5. Über die Kanäle des KGB der UdSSR und der GRU des Generalstabs sollen der Staatsführung Indiens Informationen über Pläne, den indischen Teil von Kaschmir zusammen mit Afghanistan in eine >islamische Weltrepublik< einzubeziehen, zugespielt werden, wodurch die Regierung Indiens dazu veranlaßt werden soll, aktive Maßnahmen gegen die anti-afghanischen Aktivitäten Pakistans zu ergreifen.

6. Mit Hilfe der sowjetischen Massenmedien ist die Propaganda gegen die Versuche Pakistans, des Iran, Chinas und der USA, sich in die inneren Angelegenheiten Afghanistans einzumischen, unter der Losung >Hände weg von Afghanistan< zu verstärken. Die Publikation von Material dieses Inhalts in Drittländern ist zu fördern.«

Ob die sowjetischen Führer es wollten oder nicht, der Rubikon war überschritten. Mit diesem Beschluß des Politbüros nahmen sie die ganze Verantwortung für das Geschick Afghanistans auf sich. Danach nahm die Frage einer sowjetischen Invasion in Afghanistan einen eher akademischen Charakter an.

#


   364

4.  Kurswechsel  

 

 

Es war Ironie des Schicksals, daß die Invasion aus einem ganz anderen Grund notwendig wurde, als man angenommen hatte. Im Herbst beruhigte sich der »Aufruhr«, als seine Kräfte erschöpft waren, und die Gefahr, daß das Regime gestürzt würde, bestand nicht mehr. Es trat sogar eine gewisse Stabilisierung ein, aber die afghanischen »Führer« gerieten sich in die Haare. Im September wurde Taraki von seinem treuen Stellvertreter und Außenminister Hafisullah Amin gestürzt und — gegen den Willen Moskaus — ermordet. Es folgten Säuberungen in der Führungsspitze, Gewaltakte und — wie man im Kreml spürte — Änderungen in der politischen Orientierung der neuen Führung.

 

»Die Lage in Afghanistan ist nach den Ereignissen vom 13. bis 16. September dieses Jahres, bei denen Taraki entmachtet und danach physisch vernichtet wurde, nach wie vor äußerst kompliziert«, berichteten Gromyko, Andropow, Ustinow und Ponomarjow Ende Oktober.15)

»Im Bestreben, seine Macht zu stärken, unternimmt Amin Scheinmanöver, wie die begonnene Ausarbeitung eines Verfassungs­entwurfs und dir Freilassung eines Teils der verhafteten Personen, verstärkt aber tatsächlich die Impressionen in der Partei, der Armee, dem Staatsapparat und den gesellschaftlichen Organisationen. Er strebt deutlich die Ausschaltung aller bedeutenden Persönlichkeiten in Partei und Staat an, die er als seine wirklichen und potentiellen Gegner ansieht.

Nach vorliegenden Angaben bereitet Amin gegenwärtig die Abrechnung mit einer Gruppe von Mitgliedern des Politbüros des ZK der DVPA (...) vor, die angeblicher >parteifeindlicher und konterrevolutionärer Aktivitäten< beschuldigt wurden. Auf dem kürzlich durchgeführten Plenum des ZK der DVPA hat Amin die führenden Organe der Partei mit ihm ergebenen Personen, darunter einer Reihe von Verwandten, besetzt.

Diese Handlungen Amins führen zu einer weiteren Vertiefung an Spaltung innerhalb der DVPA, zur Liquidierung des gesamten Kerns der Partei und zur Schwächung ihres Einflusses auf das sozialpolitische Lehen des Landes. Außerdem lenken sie die Führung des Landes von der Lösung der aktuellen Aufgaben beim Aufbau einer neuen Gesellschaft und vom Kampf gegen die innere Konterrevolution ab.


365

Obwohl sich in der letzten Zeit die militärische Lage in Afghanistan etwas stabilisiert hat, besteht kein Grund zu der Annahme, daß die Aufrührer von weiteren Versuchen, die Regierung auf gewaltsame Weise zu stürzen, Abstand nehmen.

Die Aktivitäten Amins rufen bei den progressiven Kräften wachsende Unzufriedenheit hervor. Während sich früher nur die Mitglieder der Gruppe Partscham gegen ihn wandten, so nun auch die Anhänger von Chalq, einzelne Vertreter des Staatsapparates, der Armee, der Intelligenz und der Jugend. Das erzeugt bei Amin Unsicherheit, so daß er den Ausweg in der Verschärfung der Repressionen sucht, was die soziale Basis des Regimes noch weiter verkleinert. Ein bedeutender Teil der Bevölkerung des Landes nimmt gegenüber der neuen Führung und den von ihr durchgeführten Maßnahmen eine vorsichtige und abwartende Haltung ein. Dasselbe gilt für die Einstellung der Armeeangehörigen.

Anzeichen über die Anbahnung von Kontakten Amins zu Vertretern der rechtsmuslimischen Opposition und den Führern der regierungsfeindlichen Stämme geben Anlaß zur Beunruhigung. Von seiner Seite wird die Bereitschaft avisiert, mit ihnen eine Vereinbarung zu erzielen über die Einstellung ihres bewaffneten Kampfes gegen die jetzige Regierung auf der Grundlage eines >Kompromisses< zum Nachteil der fortschrittlichen Entwicklung des Landes.

In letzter Zeit gibt es Anzeichen dafür, daß die neue Führung Afghanistans beabsichtigt, >eine ausgewogene Politik< gegenüber den Westmächten tu betreiben. Es ist unter anderem bekannt, daß die USA auf Grund ihrer Kontakte zu den Afghanen zu dem Schluß gekommen sind, daß Afghanen möglicherweise eine für Washington günstigere politische Linie verfolgen wird.

Das Verhalten Amins gegenüber der UdSSR offenbart immer deutlicher seine Unaufrichtigkeit und Doppelzüngigkeit. Mit Worten bekennen er und seine Umgebung sich zum weiteren Ausbau der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion auf verschiedenen Gebieten, aber in Wirklichkeit laufen seine Handlungen den Interessen dieser Zusammenarbeit zuwider. Nach außen erklärt sich Amin einverstanden mit den Empfehlungen der sowjetischen Vertreter, zum Beispiel in der Frage der Wahrung der Einheit innerhalb der Führung der DVPA und der DRA, und bekundet seine Bereitschaft, die Freundschaft mit der UdSSR zu stärken, ergreift in Wirklichkeit jedoch


366

keinerlei Maßnahmen gegen die antisowjetischen Stimmungen, sondern fördert sie noch selbst. So wird auf seine Initiative hin das Gerücht von einer angeblichen sowjetischen Beteiligung an dem >Attentatsversuch< gegen ihn während der Ereignisse des 13. bis 16. September dieses Jahres verbreitet. Amin und seine engste Umgebung machen auch nicht vor Verleumdungen über eine angebliche sowjetische Beteiligung an repressiven Aktionen, die in Afghanistan stattfinden, halt.

Somit haben wir es in der Person des Amin mit einem machtlüsternen, grausamen und wortbrüchigen Politiker zu tun. Angesichts der organisatorischen Schwache der Demokratischen Volkspartei Afghanistans und der mangelnden ideologischen Festigkeit ihrer Mitglieder besteht die Gefahr, daß Amin die politische Orientierung des Regimes ändert, um seine persönliche Machtstellung zu erhalten,

Trotzdem scheint Amin zu verstehen, daß die inneren und äußeren Schwierigkeiten in der Entwicklung der afghanischen Revolution, die geographische Lage, die Abhängigkeit Afghanistans in der Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs für die Armee und die Volkswirtschaft ein objektives Interesse der afghanischen Führung an der Erhaltung und Entwicklung allseitiger afghanisch-sowjetischer Beziehungen begründen. Da Amin sich dessen bewußt ist, daß er in der gegenwärtigen Etappe ohne sowjetische Unterstützung nicht auskommen kann, haben wir die Möglichkeit, auf ihn einen bestimmten mäßigenden Einfluß auszuüben.

In der Demokratischen Volkspartei Afghanistans und der afghanischen Armee gibt es immer noch gesunde Kräfte, die ihre ernste Besorgnis über die gegenwärtige Lage im Land, durch die die Errungenschaften der April-Revolution zunichte gemacht werden könnten, zum Ausdruck bringen. Diese Kräfte sind jedoch isoliert und befinden sich im wesentlichen in der Illegalität.9

#

Es ist jetzt schwer zu sagen, inwieweit die Befürchtungen Moskaus über eine »Umorientierung Amins« hin zum Westen berechtigt und die Gerüchte über die sowjetische Beteiligung an dem »Attentatsversuch« gegen ihn falsch waren. Sicher ist, daß er nicht ihr Kandidat war. Er genoß nicht ihr Vertrauen und verhielt sich allzu unabhängig. Er entglitt nicht nur ihrer Kontrolle, sondern schien auch zu glauben, daß er Moskau die Spielregeln diktieren könne. 


367

Nach der Invasion und seiner Ermordung erklärte die sowjetische Propaganda Amin zu einem »Agenten der CIA«, was natürlich nicht ernst zu nehmen ist. Vielleicht wollte er nur die Lage stabilisieren, indem er seine Unabhängigkeit und eine gewisse Distanz zu Moskau demonstrierte und gleichzeitig Gespräche mit der Gegenseite führte — wer weiß? In der damaligen Situation wäre das gar nicht so dumm gewesen. 

Doch die Aussicht, Afghanistan nicht an irgendwelche »Aufrührer«, sondern an ihre geschworenen Feinde zu »verlieren«, erschreckte die sowjetischen Führer zu sehr. Eine Sache war das Scheitern der Revolution, eine andere die Schaffung eines Aufmarschgebiets für den ideologischen Gegner, von dem eine tödliche Gefahr für die sowjetische Macht in Mittelasien ausgehen könnte. 

Es besteht kein Zweifel, daß in diesem Moment Amins Schicksal entschieden war und die Invasion unvermeidlich wurde. Das ist schon an den Beschlüssen, die das Politbüro im Oktober aufgrund des oben angeführten Berichts faßte, zu sehen:

»1. Es soll weiterhin mit Amin und der heutigen Führung der Demokratischen Volkspartei und der Demokratischen Republik Afghanistan zusammengearbeitet werden. Amin soll kein Grund zur Annahme geliefert werden, daß wir ihm nicht vertrauen und mit ihm nichts zu tun haben wollen. Die Kontakte mit Amin sollen dazu benutzt werden, ihn entsprechend zu beeinflussen und gleichzeitig seine wirklichen Absichten für die Zukunft herauszufinden.

2. In Anbetracht unserer grundlegenden Linie gegenüber Amin in der gegenwärtigen Etappe und seines mehrfach geäußerten Wunsches, zu einem offiziellen oder einem Arbeitsbesuch nach Moskau zu kommen, um mit L.I. Breschnew und anderen sowjetischen Führern zu sprechen, sollte ihm diesbezüglich ein positiver Bescheid gegeben werden, ohne daß jedoch ein konkretes Datum genannt wird.

3. Amin sollte ständig auf die Notwendigkeit der Einhaltung des Kollegialitätsprinzips in der Führung, der Verhaltens­normen für Parteimitglieder und der Gesetzlichkeit, auf die Unzulässigkeit weiterer grundloser Repressionen gegen Partei-, Militär- und andere Kader hingewiesen werden.


368

4. Über alle in Afghanistan tätigen sowjetischen Einrichtungen soll Aufschluß über die Lage im Land, über führende Funktionäre im Partei- und Staatsapparat, in der Armeeführung und den Staatssicherheitsorganen gewonnen werden. Bei Gesprächen mit Personen, die gegenüber der UdSSR freundschaftlich gesinnt und über das Schicksal der April-Revolution besorgt sind, soll der Eindruck vermieden werden, daß wir alles, was jetzt in Afghanistan geschieht, billigen; diese Personen sollen nicht vor den Kopf gestoßen werden. Gleichzeitig soll offene Kritik an bestimmten Handlungen der jetzigen afghanischen Führung vermieden werden, um Amin und seinen Anhängern keinen Anlaß zu liefern, uns der Einmischung in die inneren Angelegenheiten zu beschuldigen.

5. Militärische Hilfe ist Afghanistan in begrenztem Maße zu gewähren. In Anbetracht der realen Lage im Land und der Notwendigkeit, die Kämpfe gegen die Aufständischen weiterzuführen, sollen weiterbin Schützenwaffen, Ersatzteile und eine Mindestmenge an Munition und militärischen Hilfsgütern geliefert werden. Hinsichtlich der Bitte der afghanischen Führung um Lieferung von leichten Schützenwaffen für die Volksmiliz der Demokratischen Republik Afghanistan ist eine positive Entscheidung zu treffen. Weitere Lieferungen von schweren Waffen und Militärtechnik sollen bis auf weiteres nicht erfolgen, zumal sie gegenwärtig nicht erforderlich sind und es nicht ratsam ist, Vorräte an Waffen und Munition dieser Art in Afghanistan anzulegen.

6. Die sich in Afghanistan befindenden militärischen Einheiten (eine Nachrichtenzentrale, ein Fallschirmjägerbataillon, Transportfliegerstaffeln mit Flugzeugen und Hubschraubern) sowie das zum Schutz sowjetischer Einrichtungen abgestellte Kommando sollen die ihnen gestellten Aufgaben weiterhin ausführen. Der Bitte Amins um Entsendung einer sowjetischen Militärabteilung zu seinem persönlichen Schutz wird nicht entsprochen.

7. Auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Zusammenarbeit sollen die durch Verträge eingegangenen Verpflichtungen erfüllt werden. Bei der Entscheidung über die immer neuen Bitten Amins um wirtschaftliche und finanzielle Hilfe, einschließlich Lieferungen von Erdölprodukten, Nahrungsmitteln und Industriewaren, soll Zurückhaltung geübt werden. Diese Fragen sollen im Hinblick auf unsere Möglichkeiten und den tatsächlichen Bedarf der afghanischen Seite entschieden werden; die letztere soll keine Möglichkeit bekommen, Reserven für einen längeren Zeitraum anzulegen.


369

8. Unsere Berater, die vom Verteidigungsministerium, dem KGB und anderen sowjetischen Ministerien und Behörden nach Afghanistan entsandt worden sind, sollen dort bleiben und die ihnen gestellten Aufgaben erfüllen. In Anbetracht der Tatsache, daß Amin beharrlich die These der >gemeinsamen Verantwortung< der afghanischen Amtsträger und der sowjetischen Vertreter für die Arbeit der entsprechenden afghanischen Behörden vertritt, muß die Beteiligung sowjetischer Vertreter und Berater an Maßnahmen der afghanischen Seite ausgeschlossen sein, die einen Schatten auf die Sowjetunion werfen könnten.
Die Bitten der afghanischen Seite um die Entsendung zusätzlicher sowjetischer Berater für verschiedene Bereiche müssen sorgfältig abgewogen und ihnen soll nur dann entsprochen werden, wenn das unseren Interessen dient.

9. Die beiderseitigen Konsultationen und der Meinungsaustausch mit Amin und den anderen Führern der Demokratischen Republik Afghanistan über Fragen der Außenpolitik mit dem Ziel, unsere Position in konkreten Fragen deutlich zu machen sowie die außenpolitischen Absichten der afghanischen Seite zu erfahren, sollen fortgesetzt werden. Erforderlichenfalls soll Amin in entsprechender Form zu verstehen gegeben werden, daß wir seine Annäherungsversuche an den Westen nicht billigen.
Gleichzeitig sollen über die diplomatischen sowie die anderen speziellen Kanäle Maßnahmen gegen die Einmischung anderer Länder, besonders der Nachbarstaaten Afghanistans, in die inneren Angelegenheiten ergriffen werden.

10. Die sowjetische Presse soll sich im wesentlichen auf Tatsachenberichte über die Geschehnisse in Afghanistan beschränken und nur die Maßnahmen der afghanischen Führung positiv bewerten, die der Vertiefung der sowjetisch-afghanischen Zusammenarbeit, der Sicherung der Errungenschaften der April-Revolution und dem Voranschreiten der Demokratischen Republik Afghanistan auf dem Weg der fortschrittlichen sozialökonomischen Umgestaltung dienen.

11. Der sowjetische Botschafter in Kabul, das Komitee für Staatssicherheit der UdSSR, das Ministerium für Verteidigung und die Internationale Abteilung des ZK der KPdSU sollen die Politik und die praktischen Handlungen H. Amins und seiner Umgebung gegenüber den afghanischen Internationalisten, Patrioten und den Kadern, die in der Sowjetunion und den sozialistischen Ländern ausgebildet wurden, der reaktionären muslimischen Geistlichkeit und den Stammesführern sowie ihre außenpolitischen Kontakte zum Westen, insbesondere zu den USA, sowie zur Volksrepublik China aufmerksam verfolgen.

Wenn Fakten, die auf ein Umschwenken H. Amins auf eine antisowjetische Linie hindeuten, erkennbar werden, soll über zusätzliche Maßnahmen von unserer Seite befunden werden.«


370

Moskau ging also daran, eine neue Mannschaft von »Führern« aus dem »gesunden Kern« der Partei, der Armee und des Staatsapparats zu bilden, und — das muß man zugeben — tat das meisterhaft. Babrak Karmal, der immer noch in seinem Prager Exil Intrigen schmiedete, wurde aus der Mottenkiste hervorgeholt, die Versöhnung zwischen den Resten von Chalq und Partscham wurde bewerkstelligt, und — siehe da! — die Konturen einer »Regierung der nationalen Einheit« zeichneten sich ab. In Rekordzeit, bis zum Dezember, war alles vorbereitet, einschließlich der Pläne für den militärischen Teil der Operation. 

Ich will kein Urteil über den »Vertrauensbruch« Amins fällen, aber die sowjetischen Führer begingen hier ein Höchstmaß von Vertrauensbruch. Sie übertrumpften ihre östlichen Brüder hierin bei weitem. Plötzlich, am 6. Dezember, wurde jenes »Bataillon für den Schutz der Residenz« Amins geschickt, um das er seit dem Sommer vergeblich gebeten hatte.

 

»Der Vorsitzende des Revolutionsrates, der Generalsekretär des ZK der Demokratischen Volkspartei Afghanistans und Premierminister der Demokratischen Republik Afghanistan H. Amin, hat in letzter Zeit mit Nachdruck um die Entsendung eines sowjetischen motorisierten Schützenbataillons zum Schutz seiner Residenz gebeten«, berichteten, ohne mit der Wimper zu zucken, Andropow und Ogarkow dem ZK. 16)

 

»Angesichts der Lage und der Bitte H. Amins halten wir es für zweckmäßig, eine für diesen Zweck ausgebildete Spezialabteilung der GRUi des Generalstabs mit einer Stärke von 500 Mann in Spezialkleidung, die die Zugehörigkeit zu den Streitkräften der UdSSR nicht erkennen läßt, nach Afghanistan zu entsenden. Die Möglichkeit der Entsendung dieser Abteilung in die Demokratische Republik Afghanistan war in dem Beschluß des Politbüros des ZK der KPdSU vom 29.6.1979 Nummer P156/Ch vorgesehen. Da die Frage der Entsendung der Abteilung nach Kabul mit der afghanischen Seite abgesprochen wurde, halten wir es für möglich, sie mit Flugzeugen und Transportfliegerkräften in der ersten Dekade des Dezembers dieses Jahres einzufliegen.«

Das war ebendiese Abteilung »für Sonderaufgaben«, die in der Nacht auf den 28. Dezember den Palast Amins stürmte. In der sowjetischen Armee hatten sich Tadschiken und Usbeken gefunden, die ohne weiteres in eine afghanische Uniform gesteckt werden konnten.


   371-372

5.  Die Invasion  

 

Wenn es sich um wirklich delikate Dinge handelte, war die sowjetische Führung unglaublich verschlossen und traute selbst ihren engsten Mitarbeitern nicht. Oftmals ist von solchen delikaten Angelegenheiten keine Spur in ihren Papieren zu finden. Es ist daher nicht verwunderlich, daß selbst in den geheimsten Verwahrungs­orten der Dokumente des Politbüros kein Papier existiert, auf dem schwarz auf weiß eine Verfügung über die Invasion in Afghanistan, geschweige denn über die Beseitigung Amins, zu finden ist. Diese Beschlüsse wurden jedoch vom ganzen Politbüro gemeinsam gefaßt.

Der Beschluß über die Invasion sowjetischer Truppen in Afghanistan und den Staatsstreich in dieser »demokratischen Republik« wurde am 12. Dezember 1979 von den Mitgliedern des Politbüros Breschnew, Andropow, Ustinow, Gromyko, Tschernenko, Pelsche, Suslow, Kirilenko, Grischin und Tichonow mit Beteiligung des nicht stimmberechtigten Kandidaten des Politbüros Ponomarjow gefaßt. Aber selbst die Mitglieder, die nicht anwesend sein konnten, weil sie sich weit weg befanden oder krank waren, mußten den Beschluß noch unterzeichnen, Kunajew am 25., Romanow und Schtscherbizki am 26. Dezember. Das Dokument, wenn man es so nennen kann, ist ein gewöhnliches Stück Papier, auf dem ein von Hand (offensichtlich Tschernenkos) geschriebener nichtssagender Text steht, in dem nicht einmal das Wort Afghanistan vorkommt. Er trägt den Titel »Zur Lage in A.«

 

»1. Die Erwägungen und Maßnahmen, die von den Genossen J. W. Andropow, D. F. Ustinow und A. A. Gromyko eingebracht wurden, werden gebilligt. Es ist erlaubt, im Zuge der Verwirklichung dieser Maßnahmen Korrekturen einzubringen, sofern sie nicht prinzipiellen Charakters sind. Fragen, für die ein Beschluß des ZK erforderlich ist, müssen dem Politbüro rechtzeitig vorgelegt werden.

Abb.

 


373

Mit der Durchführung aller dieser Maßnahmen werden die Genossen J. W. Andropow, D. F. Ustinow und A. A. Gromyko betraut. 

2. Die Genossen J. W. Andropow, D. F. Ustinow und A. A. Gromyko erhalten die Anweisung, über den Verlauf der Durchführung der vorgesehenen Maßnahmen dem Politbüro des ZK Bericht zu erstatten. 

Der Sekretär des ZK L. I. Breschnew 
P176/125 vom 12.12.79«

Das ist der historische Beschluß des Politbüros P176/125, aufgrund dessen Hunderttausende Afghanen, beginnend mit dem unglückseligen »Präsidenten« Hafisullah Amin, und Zehntausende junger Burschen aus allen Ecken des Vielvölkerstaates Sowjetunion ums Leben kamen.

Über Amins Schicksal wurde offensichtlich noch einmal am 26. Dezember in Breschnews Landhaus in einem engeren Kreis beraten. (Breschnew war wie üblich krank.) Und wieder gab es ein nichtssagendes Papier, das allerdings schon mit Maschine geschrieben ist:

 

»zu Nummer P176/125op vom 12. 12. 1979
26. Dezember 1979 (im Sommerhaus - anwesend die Genossen L. I. Breschnew, D. F. Ustinow, A. A. Gromyko und K. U. Tschernenko)
Über die Ausführung des Beschlusses des ZK der KPdSU Nummer 176/125 vom 12.12.1979 berichteten die Genossen Ustinow, Gromyko und Andropow.
    Der Genosse L. I. Breschnew äußerte eine Reihe von Wünschen und billigte den Aktionsplan für die nächste Zukunft, der von den Genossen aufgestellt wurde.
    Es wurde als zweckmäßig erachtet, daß die Kommission des Politbüros des ZK gemäß dem Inhalt des vorgelegten Plans und in der in ihm vorgegebenen Richtung handelt, wobei sie jeden Schritt sorgfältig erwägen soll. Fragen, für die ein Beschluß gefaßt werden muß, sind rechtzeitig dem ZK der KPdSU vorzulegen. (Bestätigt durch die Unterschrift K. Tschernenkos am 27.12.79.)«


374

Welche Einzelheiten der Operation sie am Vorabend des Staatsstreichs in Kabul festlegten — wer weiß es? Erst im Jahre 1992, als das Sowjetregime zusammengebrochen war und die Zungen sich lösten, erschienen in der sowjetischen Presse ausführliche Berichte der an diesen Ereignissen Beteiligten — ausgemusterter Offiziere des KGB, der Sondereinheiten, ehemaliger »Berater«. 

 

Abb.

 

 


375

Jetzt wissen wir17), daß die Operation den Code-Namen »Sturm-333« (Storm-333) trug und von einer Abteilung für besondere Aufgaben und noch zwei Sondergruppen des KGB durchgeführt wurde. Die Ironie des Schicksals wollte es, daß die Bitten Tarakis nicht unbeachtet geblieben waren. Die Bildung eines Bataillons für besondere Aufgaben, das fast ausschließlich aus Mittelasiaten bestand (weshalb es allgemein das »muslimische« genannt wurde), war sogleich nach den Märzereignissen des Jahres 1979, Anfang Mai, in Angriff genommen worden. Es rekrutierte sich im wesentlichen aus Aufklärungs- und Panzereinheiten. Die Hauptbedingung für die Aufnahme war die Beherrschung einer orientalischen Sprache und gute physische Verfassung. Nur der Führer Oberst Kolesnik war kein Asiat. Vom 10. bis 12. Oktober wurde das ganze Bataillon — etwa 500 Mann (in afghanischer Uniform) — nach Bagram verlegt und am 21.12. zur »Bewachung« des Tadsch-Bek-Palastes, der Residenz Amins, die dieser nach einem weiteren erfolglosen Attentat gegen ihn bezogen hatte, abkommandiert.

»Man muß zugeben, daß das Verteidigungssystem für den Tadsch-Bek sehr gut organisiert war«, erinnerte sich später ein an den Ereignissen Beteiligter.

 

»Innerhalb des Palastes tat die Leibwache H. Amins ihren Dienst, die aus Verwandten und Leuten, die sein besonderes Vertrauen genossen, bestand. Sie trugen eine besondere Uniform, die sich von derjenigen der übrigen afghanischen Armeeangehörigen unterschied. Sie trugen Mützen mit weißen Rändern, weiße Riemen, weiße Pistolentaschen und weiße Manschetten an den Ärmeln. Sie waren in unmittelbarer Nähe des Palastes in einem Lehmbau neben dem Haus, in dem sich der Stab der Wachbrigade befand, untergebracht ... Die zweite Linie bestand aus sieben Posten mit je vier Mann Wachpersonal, die mit einem Maschinengewehr, einem Granatwerfer und Maschinenpistolen ausgerüstet waren. Alle zwei Stunden war Wachablösung. Der äußere Bewachungsring wurde von den Dislozierungspunkten der Bataillone der Wachbrigaden (drei Panzergrenadierbataillone und ein Panzerbataillon) gebildet. Sie waren in geringer Entfernung um den Tadsch-Bek herum stationiert. Auf einer der Anhöhen, die das Gelände beherrschten, waren zwei Panzer T-54 eingegraben, die direkt und ungehindert die den Palast umgebenden Flächen beschießen konnten. Die Wachbrigade bestand aus insgesamt 2500 Mann. Außerdem befand sich in der Nähe noch ein Fliegerabwehrregiment.


376

Das >Muslimenbataillon< und die ihm angeschlossenen Spezialeinheiten des KGB wurden zwischen den Leibwächterposten und der Linie, die die afghanischen Bataillone bildeten, postiert. Die Kommandeure wurden in die sowjetische Botschaft zum Obersten Militärberater Magometow und dem Leiter des KGB-Apparats in Afghanistan, einem General Bogdanow, gerufen. Erst hier erfuhren sie, was der eigentliche Zweck ihrer plötzlichen Verlegung war.

Bogdanow erkundigte sich nach dem Plan für die Palastbewachung, und dann schlug er wie nebenbei plötzlich vor, darüber nachzudenken, was wäre, wenn der Palast nicht bewacht, sondern erobert werden müßte.
Die ganze Nacht arbeiteten sie den Plan für diesen Kampfeinsatz aus. Sie rechneten alles sehr lange und genau durch. Sie verstanden, daß das die reale Aufgabe war, um deretwillen sie nach Kabul gekommen waren.
Am Morgen des 24. Dezember erläuterte Oberst Kolesnik detailliert den Plan für die Einnahme des Palastes. Nach langen Beratungen wurde der Bataillonsführung gesagt, sie solle warten. Sie mußten sehr lange warten. Erst in der zweiten Tageshälfte wurde mitgeteilt, daß der Beschluß bestätigt sei. Doch unterzeichnet wurde der Plan nicht. Es wurde gesagt: >Handelt!<
.

... Am Abend kamen Magometow und Kolesnik zur Fernsprechstelle ... Sie gingen in die Kabinen mit den Telefonverbindungen zur Regierung und riefen den Armeegeneral S. E Achromejew an (er befand sich zu dieser Zeit m Termes und stand an der Spitze der Operationsgruppe des Verteidigungs-ministeriums der UdSSR, die die Invasion der sowjetischen Truppen in Afghanistan leitete) ... Den Ersten Stellvertreter des Chefs des Generalstabs interessierten die kleinsten Details der Operation. Im Laufe des Gesprächs wurden neue Anweisungen erteilt. Als sie aus der Telefonkabine herauskamen, sagte Magometow zu Kolesnik: >Nun, Oberst, entweder ist jetzt deine Brust voller Orden, oder dein Kopf liegt im Gras. <

... Seit Oberst Kolesnik in der Nacht zum 25. Dezember gegen drei Uhr in die Bataillonsstellung zurückgekehrt war, leitete er die Vorbereitungen für die militärischen Aktionen zur Besetzung des Palastes. Der Operationsplan sah vor, daß drei Kompanien zu einer festgelegten Zeit alle Verteidigungsabschnitte besetzten und keine afghanischen Bataillone an den Palast heranrücken ließen. Gegen jedes Bataillon sollte eine Kompanie für besondere


377

Aufgaben oder eine Luftlandekompanie eingesetzt werden. Eine weitere Kompanie war für den direkten Sturm auf den Palast vorgesehen. Zusammen mit ihr sollten zwei Spezialgruppen des KGB der UdSSR kämpfen. Ein Teil der Kräfte sollte das Fliegerabwehrregiment überfallen und entwaffnen.

Eine der wichtigsten Aufgaben war die Eroberung der beiden eingegrabenen Panzer, die alle Eingänge in den Palast im Visier hatten. Dafür wurden fünfzehn Mann abgestellt (darunter waren auch Panzerfahrer) ... und zwei Scharfschützen des KGB, Von dieser Gruppe hing in vielem der Erfolg der ganzen Operation ab ... Die Bataillonsführung verstand sehr wohl, daß sie ihre Aufgabe nur dann erfüllen konnte, wenn der Angriff überraschend und mit List geführt wurde.«

 

Inzwischen hatte am 25. Dezember, 15.00 Uhr Moskauer Zeit, der Einmarsch sowjetischer Truppen nach Afghanistan begonnen. Die Aufklärer überquerten als erste den Amu-Darja, dann folgten ihnen über die Brücke die anderen Einheiten der 108. motorisierten Schützendivision. Die Truppen bewegten sich über Pole Khomri und Salang auf Kabul zu. Gleichzeitig begannen die Transportfliegerkräfte die Verlegung der Hauptkräfte der Luftlandedivision und eines besonderen Fallschirmjägerregiments auf die Flughäfen Kabul und Bagram. 

Für den Transport der Mannschaften und der Technik waren 343 Flüge und 47 Stunden erforderlich. Nach Kabul und Bagram wurden 7700 Mann, 894 Stück Kriegsgerät und 1062 Tonnen verschiedener Güter transportiert. Das war die »Invasion«, die die aufgeregten Amerikaner mit ihren Satelliten verfolgten. Jedoch der Hauptteil der Operation konnte aus dem Kosmos nicht verfolgt werden.

 

»Am 26. Dezember wurde ein Empfang für die Kommandos der afghanischen Brigade und des >muslimischen< Bataillons zum Zwecke des besseren Kennenlernens veranstaltet. Es wurde Plow gekocht und auf dem Markt alle möglichen Gemüse gekauft. Mit den alkoholischen Getränken gab es Probleme. Die KGB-Mitarbeiter halfen aus. Sie brachten eine Kiste Wodka der Marke >Posolskaja<, Kognak und verschiedene Delikatessen mit. Es war ein prächtiges Mahl. Von der Wachbrigade kamen fünfzehn Mann mit dem Kommandeur und dem Politstellvertreter. 

377/378

Auf dem Empfang wurde versucht, den Afghanen die Zunge zu lösen. Es wurden Trinksprüche auf die sowjetisch-afghanische Freundschaft und die Kampfverbundenheit ausgebracht. Die sowjetischen Teilnehmer tranken bedeutend weniger. Ab und zu gossen die Soldaten, die auf dem Empfang bedienten, in die Gläser der sowjetischen Offiziere Wasser statt Wodka ... Man trennte sich vielleicht nicht gerade als gute Freunde, aber zumindest als gute Bekannte.

Am Morgen des 27. Dezember begannen die unmittelbaren Vorbereitungen zum Sturm des Präsidentenpalastes. Die Mitarbeiter des KGB hatten einen detaillierten Plan des Tadsch-Bek. Deshalb kannten die Kämpfer für besondere Aufgaben aus dem >muslimischen< Bataillon und der KGB-Gruppe zu Beginn der Operation >Sturm-)J)< das zu erstürmende Objekt Nummer in allen Einzelheiten - die günstigsten Annäherungswege, die Wachdienstordnung, die Gesamtzahl der Wachmannschaften und Leibwächter Amins, die Stellungen der Maschinengewehrnester, Panzerspähwagen und Panzer, die innere Struktur der Zimmer und der Palastlabyrinthe und die Lage der Sprechfunkeinrichtungen ... 

Den Kämpfern des >muslimischen< Bataillons und der Sondereinheiten des KGB wurde erklärt, H. Amin sei schuld an Massenrepressionen, auf seinen Befehl hin seien Tausende völlig unschuldiger Menschen ermordet worden, er habe die April-Revolution verraten, sei ein Komplize der CIA und so weiter. Allerdings schenkte dem kaum jemand Glauben, denn dann hätte Amin ja vernünftiger gehandelt, wenn er die Amerikaner und nicht die Sowjets zu Hilfe gerufen hätte.«

Und der treuebrüchige Amin? 

Er selbst hatte im September Breschnew und Andropow betrogen. Jetzt glaubte er ihnen, weil er meinte, daß die Sieger nicht gerichtet werden, sondern daß man sie sich zu Freunden macht. Er hatte versprochen, Tarakis Leben zu schonen, als dieser schon tot war. Die sowjetische Führung »feilschte« mit H.Amin zwei bis drei Tage um den zu jener Zeit bereits toten Führer der April-Revolution. Vielleicht war er auch überzeugt, daß die Russen ebenfalls nur die Gewalt anerkennen. Wie dem auch sei, er umgab sich mit sowjetischen Militärberatern, vertraute uneingeschränkt den Ärzten aus der UdSSR und setzte letzten Endes nur auf sowjetische Truppen, um die er immer wieder bat. Auf »seine« Afghanen konnte er sich kaum verlassen.


379

"Zu dieser Zeit hegte Amin keinerlei Mißtrauen. Im Gegenteil, er befand sich in Euphorie, weil sein Wunsch, die Invasion sowjetischer Truppen in Afghanistan, erfüllt worden war. Am 27. Dezember lud er in seinem luxuriösen Palast die Mitglieder des Politbüros und die Minister mit ihren Familien zu einem Mittagessen ein.
Amin eröffnete den Anwesenden feierlich. >Die sowjetischen Truppen sind bereits auf dem Weg hierher, alles läuft vortrefflich. Ich stehe in ständigem telefonischem Kontakt mit dem Genossen Gromyko, und wir erörtern gemeinsam die Frage, wie wir die Information über die sowjetische militärische Hilfe am besten für die Welt formulieren.<
Für den Abend wurde ein Auftritt Amins im afghanischen Fernsehen erwartet. Zu den Aufnahmen im Palast wurden die höchsten Militärs und Chefs der Politorgane in der Armee eingeladen.

Während des Essens fühlten sich plötzlich der Generalsekretär der Demokratischen Volkspartei und viele seiner Gäste unwohl. Einige verloren das Bewußtsein. Auch Amin >schaltete völlig ab<. Seine Frau rief sofort den Kommandeur der Präsidentengarde herbei... der das zentrale Militärhospital und die Poliklinik der sowjetischen Botschaft anrief und um Hilfe bat, Die Speisen und der Granatapfelsaft wurden sofort zur Untersuchung geschickt. Die Köche - Usbeken - wurden festgenommen. In den Palast kam (ine Gruppe sowjetischer Arzte, die als Berater in Kabul arbeiteten. Als die Arzte in den Palast eintraten, wurden sie plötzlich durchsucht. Es wurde verlangt, daß die Offiziere ihre Waffen abgaben. Das geschah in einem harschen Ton. Was war geschehen? Sie verstanden, was sich abspielte, als sie im Vestibül, auf den Treppenstufen und in den Zimmern Menschen in unnatürlichen Posen sitzen und liegen sahen. Wer von ihnen bei Bewußtsein war, krümmte sich vor Schmerz. 

Den Ärzten war sofort klar, daß es sich um eine Massenvergiftung handelte. Sie wollten Hilfe leisten, aber da trat (in afghanischer Arzt zu ihnen. Er nahm sie mit zu Amin. Nach seinen Worten war der Generalsekretär in einem äußerst kritischen Zustand. Sie (liegen die Treppe hinauf. Amin lag in einem Zimmer, bis auf die Unterhosen entkleidet, mit herunterhängendem Kiefer. Er rollte mit den Augen. War er tot? Sein Puls schlug kaum noch. Lag er im Sterben? Ohne sich Gedanken darüber zu machen, daß sie irgend jemandes Plänen entgegenarbeiteten, machten sie sich an die Rettung des Oberhauptes des >mit der UdSSR befreundeten Landes<. Spritzen, Magen auspumpen, wieder Spritzen, Tropfflasche, es verging längere Zelt, bevor Amins Augenlider zuckten, er zu sich kam und erstaunt fragte: >Warum geschah das in meinem Hause? Wer hat das getan? War es Zufall oder Sabotage?<«


380

Die Ereignisse versetzten die Wachen in Unruhe. Sie stellten zusätzliche Posten auf und alarmierten die Panzerbrigade.

»Gegen 18 Uhr rief General Magometow Oberst Kolesnik an und sagte, daß der Zeitpunkt des Sturms geändert worden sei und daß so bald wie möglich damit begonnen werden solle. Denn nach der Vergiftung Amins wurden die Wachen verstärkt. Es war keine Zeit zu verlieren.

Fünfzehn Minuten später fuhr die Sturmgruppe in Richtung der Anhöhe los, wo die Panzer eingegraben waren ... Kolesnik gab sofort das Kommando >Feuer!< und >Vorwärts!< Gleichzeitig durchzogen zwei rote Raketen den Himmel von Kabul — das Signal für die Soldaten und Offiziere des >muslimischen< Bataillons und der Sondergruppen des KGB. Der Palast wurde unter Feuer genommen. Das geschah etwa viertel vor acht Uhr abends.
    Das Feuer auf den Palast eröffneten die Fliegerabwehr-Selbstfahrlafetten >Schilka<. Die automatischen Granatwerfer AGS-17 beschossen das Panzerbataillon, damit die Besatzungen nicht an die Panzer herankamen. Eine Schützenpanzerkompanie bewegte sich auf den Palast zu ... Auf den zehn Schützenpanzern befanden sich zwei Sondergruppen des KGB als Einsatzgruppen für den Sturm. Sie räumten die äußeren Wachtposten aus dem Weg und drangen zum Tadsch-Bek vor. Der einzige befahrbare Zugang zog sich in einer steilen Serpentine auf den Berg. Er wurde besonders stark bewacht, und die anderen Zugänge waren vermint. Der erste Schützenpanzer hatte kaum die Kurve passiert, als aus dem Gebäude aus großkalibrigen Maschinengewehren gefeuert wurde. Der Schützenpanzer wurde getroffen. Die Besatzung und die Einsatztruppen verließen ihn und kletterten mit Hilfe von Sturmleitern zum Palast hinauf. Der zweite Schützenpanzer stieß den ersten, der außer Gefecht gesetzt war, beiseite und machte so den Weg für die nachfolgenden frei. Sie fuhren schnell auf den Platz vor dem Tadsch-Bek.
  
Die Sondertruppe des KGB drang in das Gebäude ein, ihr folgten die Soldaten der Einheit für besondere Aufgaben. Es war der Befehl gegeben worden, niemand lebend aus dem Palast herauszulassen.


381

Die Offiziere und Soldaten der persönlichen Wachmannschaften Amins und seine Leibwächter (etwa 100 bis 150 Mann) leisteten verzweifelten Widerstand und ließen sich nicht gefangennehmen. Im zweiten Stock des Palastes brach Feuer aus.«

Ein Offizier des KGB erinnerte sich später an diese Minuten:

»... Zunächst gingen nur die KGB-Leute zum Sturm über. Wir brüllten vor Schreck ganz fürchterlich, fluchten unflätig, was uns nicht nur psychologisch, sondern auch praktisch half. Die Soldaten von Amins Wache, die uns zunächst für eine eigene aufrührerische Einheit gehalten hatten, ergaben sich uns, als sie russische Laute vernahmen, als der höchsten und gerechten Macht. Wie sich dann herausstellte, waren viele von ihnen in der Luftlandeschule in Rjasan ausgebildet worden, wo sie offensichtlich die russischen Flüche so gut gelernt hatten, daß sie sie ihr Leben lang nicht mehr vergaßen.

An meine Handlungen im Palast erinnere ich mich nur sehr dunkel. Ich bewegte mich rein mechanisch wie in einem Alptraum. Wenn sie nicht mit erhobenen Händen aus den Zimmern herauskamen, schlugen wir die Türen ein, warfen Granaten und feuerten blind Salven hinein. Dann rannten wir weiter. Jemand lief zum Fahrstuhl. Während die Türen sich schlossen, warf ich eine Granate in die Kabine.«

Die sowjetischen Arzte versteckten sich so gut es ging. Diejenigen, die bei Amin Wiederbelebungsversuche gemacht hatten, versteckten sich hinter dem Tresen der Bar. Sie waren offensichtlich die letzten, die ihn lebend gesehen hatten.

»Die Detonationen erschütterten den Tadsch-Bek immer stärker ... durch den Korridor lief im Widerschein des Feuers Amin. Er war in weißen Unterhosen, trug einige Fläschchen mit Kochsalzlösung wie Granaten in den hoch erhobenen, mit Röhrchen umwundenen Händen. Man kann sich vorstellen, welche Anstrengung ihn das kostete und wie ihn die Nadeln in die Venen stachen.
   
Amin?! - die Ärzte trauten ihren Augen nicht, als sie ihn erblickten. (Einer von ihnen) kam aus der Deckung hervor, zog zunächst die Nadeln heraus und führte ihn zur Bar. Amin lehnte sich an die Wand, aber


382

plötzlich erstarrte er und lauschte. Die Ärzte hörten Kinderweinen. Aus einem der Seitenzimmer kam, sich mit den Fäustchen die Tränen aus den Augen reibend, der fünfjährige Sohn Amins. Als er seinen Vater erblickte, stürzte er auf ihn zu und umfaßte seine Knie. Amin drückte seinen Kopf an sich, und beide setzten sich an die Wand. Es war ein so beklemmendes, herzzerreißendes Bild, daß (einer der Ärzte) sich von den beiden abwandte, einen Schritt aus der Bar machte und sagte: <Ich kann das nicht mit ansehen, gehen wir weg von hier.>«

 

Es ist typisch, daß Amin bis zum letzten Moment nicht an den Verrat seiner russischen Brüder glaubte. Es wird erzählt, daß er sogar seinen Adjutanten befahl, die sowjetischen Militärberater anzurufen und sie von dem Überfall auf den Palast zu informieren. Dabei soll er gesagt haben: »Die Sowjets werden helfen.« Doch der Adjutant berichtete, daß gerade die sowjetischen Soldaten schossen. »Du lügst, das kann nicht sein!« schrie Amin und warf mit dem Aschenbecher nach dem Adjutanten. Es versuchte selbst zu telefonieren, aber es bestand schon keine Verbindung mehr. Dann habe er leise gesagt: »Ich habe es vermutet. Es stimmt.«

Die Leiche Amins wurde in einen Teppich gewickelt und gegen Morgen gesondert in der Nähe des Massengrabs begraben, in das alle während der nächtlichen Kämpfe umgekommenen Afghanen, darunter auch seine beiden Söhne, geworfen worden waren.

Nach dem Sturm brachte der Sender Kabul eine auf Band aufgezeichnete Erklärung Babrak Karmals an die Völker Afghanistans:

»Heute wurde die Foltermaschine Amins und seiner Spießgesellen zerstört, dieser grausamen Henker, Usurpatoren und Mörder vieler Tausender unserer Landsleute — Väter, Mütter, Schwestern, Brüder, Söhne, Töchter und Greise.«

Aber das waren nur Worte. 

Das neue Regime unterschied sich kaum vom vorhergehenden. Karmal befand sich zu jener Zeit noch in Bagram unter dem Schutz eines Fallschirmjägerregiments. Am 28. Dezember, um 0.30 Uhr, rief ihn J.W. Andropow an. In seinem und im Namen von L. I. Breschnew »persönlich« beglückwünschte er den neuen Vorsitzenden des Revolutionsrates der Demokratischen Republik Afghanistan zum Sieg in der zweiten Etappe der Revolution.


383

Alle diese Ereignisse verbargen sich in dem unscheinbaren handgeschriebenen Zettel mit den Unterschriften der Mitglieder des Politbüros.

Aber das ist alles erst jetzt bekannt geworden. 

Die Kommission des Politbüros (Andropow, Gromyko, Ustinow, Ponomarjow), die die Aufgabe hatte, über das Geschehen zu »informieren«, teilte in ihrem Bericht vom 31. Dezember 1979 nicht das mit, was wirklich vorgegangen war, sondern lieferte die offizielle Version der Ereignisse.18

 

»Nach dem Staatsstreich und der Ermordung des Generalsekretärs des ZK der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, des Vorsitzenden des Revolutionsrates Afghanistans N. M. Taraki durch Amin im September dieses Jahres verschärfte sich die Situation in Afghanistan spürbar und entwickelte sich zu einer Krise«, schreiben sie am 31. Dezember.

 

»H. Amin errichtete im Lande eine persönliche Diktatur und nahm dem ZK der Demokratischen Volkspartei Afghanistans und dem Revolutionsrat jeglichen politischen Einfluß. Auf die führenden Posten in Partei und Staat kamen Personen, die mit Amin entweder durch verwandtschaftliche Beziehungen oder durch persönliche Ergebenheit verbunden waren. Viele Mitglieder der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, des Revolutionsrates und der afghanischen Regierung wurden aus der Partei ausgeschlossen und verhaftet. Repressionen und physischer Vernichtung waren vor allem die aktiven Teilnehmer an der April-Revolution ausgesetzt — Personen, die ihre Sympathien gegenüber der UdSSR offen zeigten und die Leninschen Normen des innerparteilichen Lebens verteidigten. H. Amin betrog die Partei mit seinen Erklärungen, daß die Sowjetunion angeblich die Entfernung Tarakis aus der Partei und der Regierung gebilligt habe.
    Auf direkte Anweisung von H. Amin wurden in der Demokratischen Republik Afghanistan bewußt fabrizierte Gerüchte verbreitet, die die Sowjetunion verleumdeten und einen Schatten auf die Tätigkeit der sowjetischen Fachleute in Afghanistan warfen. Kontakte zu afghanischen Repräsentanten wurden Beschränkungen unterworfen.
   
Gleichzeitig wurde versucht, im Rahmen eines >ausgewogeneren politischen Kurses< mit den Amerikanern Kontakte aufzunehmen. H. Amin führte vertrauliche Treffen mit dem Geschäftsträger der USA in Kabul durch. 


384

Die Regierung der Demokratischen Republik Afghanistan schuf günstige Bedingungen für die Arbeit des amerikanischen Kulturzentrums. Auf Anweisung H. Amins waren die Geheimdienste der Demokratischen Republik. Afghanistan nicht länger gegen die Botschaft der USA tätig.
   H. Amin versuchte, seine Position durch einen Kompromiß mit den Anführern der inneren Konterrevolution zu festigen. Über Vertrauensleute nahm er Kontakt mit den Führern der rechtsmuslimischen Opposition auf.
    Die politischen Repressionen nahmen zunehmend Massencharakter an. Allein seit den Septemberereignissen wurden ohne Ermittlungs- und Gerichtsverfahren über 600 Mitglieder der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, Armeeangehörige und andere Personen, die im Verdacht standen, Amin gegenüber feindlich gesinnt zu sein, liquidiert. De facto lief das auf die Vernichtung der Partei hinaus.
    All das erschwerte in Verbindung mit den objektiven Schwierigkeiten und den spezifischen Bedingungen Afghanistans den revolutionären Prozeß außerordentlich und führte zur Aktivierung der konterrevolutionären Kräfte, die praktisch viele Provinzen des Landes unter ihre Kontrolle brachten. Dank der ausländischen Unterstützung, die ihnen unter Amin in immer größerem Ausmaß zuteil wurde, konnten sie eine grundlegende Änderung der militärpolitischen Verhältnisse im Land und die Beseitigung der Errungenschaften der Revolution anstreben.
    Die diktatorischen Regierungsmethoden, Repressionen, Massenerschießungen und die Mißachtung der Gesetze riefen große Unzufriedenheit im Land hervor. In der Hauptstadt tauchten zahlreiche Flugblätter auf, in denen der volksfeindliche Charakter des gegenwärtigen Regimes entlarvt wurde. Sie' riefen zur Einheit und zum Kampf gegen die >Amin-Clique< auf. Die Unzufriedenheit dehnte sich auch auf die Armee aus. Ein großer Teil der Offiziere brachte seine Entrüstung über die Willkür der inkompetenten Günstlinge H. Amins zum Ausdruck, Im Land bildete sich eine breite Front gegen Amin heraus.
    
Aus Sorge um das Schicksal der Revolution und die Unabhängigkeit des Landes und in Anbetracht der zunehmenden Ablehnung, die Amin in Afghanistan erfuhr, haben Karmal Babrak und Asadullah Sarwari, die sich im Ausland in der Emigration befanden, die Vereinigung aller Amin feindlich gesinnten Gruppen im In- und Ausland zur Rettung der Heimat und der Revolution in Angriff genommen. Dabei wurde berücksichtigt, daß


385

die sich im Untergrund befindliche Gruppe Partscham unter der Führung ihres illegalen ZK einen bedeutenden Beitrag zum Zusammenschluß aller gesunden Kräfte, einschließlich der Anhänger Tarakis aus der ehemaligen Gruppe Chalq, geleistet hat.
    Die entscheidenden Meinungsverschiedenheiten wurden beseitigt, und die frühere Spaltung der Demokratischen Volkspartei Afghanistans wurde überwunden. Die Anhänger von Chalq (in der Person Sarwaris) und die Anhänger von Partscham (in der Person von Babrak) verkündeten die endgültige Vereinigung der Partei. Babrak wurde zum Führer des neuen Parteizentrums und Sarwari zu seinem Stellvertreter.
    Aus der außerordentlich schwierigen Situation, die eine Bedrohung für die Errungenschaften der April-Revolution und die Sicherheit unseres Landes darstellt, ergab sich die Notwendigkeit, Afghanistan zusätzliche militärische Hilfe zu leisten, um so mehr als schon die frühere Regierung der Demokratischen Republik Afghanistan eine diesbezügliche Bitte geäußert hatte. Entsprechend den Bestimmungen des sowjetisch-afghanischen Vertrags von ic)/8 wurde beschlossen, nach Afghanistan das erforderliche Kontingent an Streitkräften der Sowjetarmee zu schicken.
    Von der patriotischen Welle getragen, die einen großen Teil der afghanischen Bevölkerung im Zusammenhang mit der Entsendung der sowjetischen Truppen, die in völliger Entsprechung mit den Bestimmungen des sowjetisch-afghanischen Vertrags von 1^/8 erfolgte, erfaßt hat, organisierten die zu H. Amin in Opposition stehenden Kräfte einen bewaffneten Aufstand, der zum Sturz des Regimes von H. Amin führte. Dieser Aufstand erfuhr eine breite Unterstützung durch die werktätigen Massen, die Intelligenz, einen bedeutenden Teil der afghanischen Armee und den Staatsapparat, die die Bildung einer neuen Führung der Demokratischen Republik Afghanistan und der Demokratischen Volkspartei Afghanistans begrüßen.
    Auf einer breiten und repräsentativen Grundlage wurden eine neue Regierung und ein neuer Revolutionsrat gebildet, die sich aus Vertretern der ehemaligen Gruppierungen Partscham und Chalq sowie Vertretern der Armee und Parteilosen zusammensetzen.
   
In ihren programmatischen Erklärungen verkündete die neue Staatsmacht dm Kampf für den völligen Sieg der nationaldemokratischen, antifeudalen, antiimperialistischen Revolution, die Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit und Souveränität Afghanistans. 


386

In der Außenpolitik wird die größtmögliche Festigung der Freundschaft und Zusammenarbeit mit der UdSSR angestrebt. In Anbetracht der Fehler des vorigen Regimes beabsichtigt die neue Führung, ihre praktische Tätigkeit auf eine weitgehende Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens, die Einhaltung der Gesetze, die Erweiterung der sozialen Basis für die lokale Macht und ihre Festigung, auf eine flexible Haltung gegenüber der Religion, den Stämmen und den nationalen Minderheiten auszurichten.

Einer der ersten Schritte, die von der afghanischen Öffentlichkeit gewürdigt wurden, war die Befreiung einer großen Gruppe politischer Häftlinge, unter denen sich namhafte Politiker und Militärs des Landes befanden. Viele von ihnen (...) wirken aktiv und voller Begeisterung an der Tätigkeit des neuen Revolutionsrates und der neuen Regierung mit.

Die breiten Volksmassen haben mit aufrichtiger Freude den Sturz des Regimes von H. Amin begrüßt und bringen ihre Bereitschaft zum Ausdruck, das von der neuen Regierung vorgelegte Programm zu unterstützen. Die Führungen aller wichtigen Teilverbände der afghanischen Armee haben bereits erklärt, daß sie die neue Parteiführung und Regierung der Demokratischen Republik Afghanistan unterstützen werden. Die Einstellung gegenüber den sowjetischen Armeeangehörigen und Fachleuten ist im großen und ganzen weiterhin wohlwollend. Die Lage im Land normalisiert sich.«

 

In diesem Geist (und mitunter mit denselben Ausdrücken) sind alle offiziellen sowjetischen Erklärungen und Botschaften abgefaßt (die TASS-Mitteilung, Anweisungen an alle sowjetischen Botschafter und gesondert an den sowjetischen UN-Vertreter, das geheime Schreiben des ZK an die Parteiorganisationen der KPdSU, die Mitteilung an die Führungen der sozialistischen Länder, das Schreiben des ZK der KPdSU an die kommunistischen und Arbeiterparteien der nichtsozialistischen Länder), die vom Politbüro bereits am 27. Dezember vorbereitet und gebilligt wurden,19 als Amin wahrscheinlich noch lebte vielleicht gerade zu der Zeit, als er und seine Gäste mit Granatapfelsaft bewirtet wurden. 

Allen ohne Ausnahme wurde erklärt, daß es sich erstens um eine »befristete« Maßnahme und zweitens um ein »begrenztes« sowjetisches Truppenkontingent handele. Nur der eigenen Regierung wurde überhaupt etwas über Amin mitgeteilt, für die anderen wurde über ihn kein Wort verloren, als ob er nie existiert hätte. 


387

Für die »eigenen« war die Version von den »gesunden Kräften« unter den afghanischen Kommunisten, die den Usurpator gestürzt hatten, um die April-Revolution zu retten, bestimmt. Den »ganz eigenen«, das heißt den Mitgliedern des ZK, der Zentralkomitees der Unionsrepubliken, der Regions- und Gebietskomitees, wurde noch zusätzlich erläutert:

 

»Bei der Durchführung der genannten Maßnahmen trug das Politbüro des ZK der strategischen Lage Afghanistans Rechnung. Das Land befindet sich in unmittelbarer Nähe unserer Grenze, ist den Sowjetrepubliken Mittelasiens benachbart, hat eine sehr lange Staatsgrenze und liegt nicht weit von China entfernt. Deshalb ist es erforderlich, Sorge um die Sicherheit unserer sozialistischen Heimat zu tragen und unserer internationalistischen Pflicht gerecht zu werden. Als das Politbüro diesen Beschluß faßte, rechnete es mit einer möglichen negativen Reaktion der imperialistischen Staaten und ihrer Massenmedien sowie einem anfänglichen Unverständnis unserer Freunde - einiger kommunistischer Parteien der kapitalistischen Länder und ihrer Verbündeten.«

 

Und die gigantische sowjetische Propaganda-Maschinerie erhielt die Anweisung, »jeglichen Andeutungen über eine angebliche sowjetische Einmischung in die inneren Angelegenheiten Afghanistans mit geeigneten Argumenten entschieden zu widersprechen. Bei Berichten über die Veränderungen in der Führung Afghanistans ist zu unterstreichen, daß das eine innere Angelegenheit des afghanischen Volkes ist, und von den Erklärungen, die der Revolutionsrat Afghanistans abgegeben hat, und den Äußerungen des Vorsitzenden des Revolutionsrates Afghanistans Karmal Babrak auszugehen.«

Eine besonders unverschämte, ja beleidigende Antwort bekam der Präsident der USA, Carter, auf seinen über den »heißen Draht« an Breschnew gerichteten Appell. Die Kreml-Psychologen beabsichtigten offensichtlich, den Gegner durch besondere Grobheit zu verblüffen oder sogar einzuschüchtern.


388

"Die in Ihrer Botschaft enthaltene Behauptung, daß die Sowjetunion den Sturz der Regierung Afghanistans herbeigeführt habe, muß, da sie aus der Luft gegriffen ist, zurückgewiesen werden. Ich betone mit aller Bestimmtheit, daß die Veränderungen in der afghanischen Führung von den Afghanen selbst und nur von ihnen herbeigeführt wurden. Fragen Sie dazu die afghanische Regierung ... Ich muß Ihnen weiterhin erklären, daß die sowjetischen Militärkontingente keinerlei militärische Aktionen gegen die afghanische Seite unternehmen, und wir beabsichtigen auch nicht, das zu tun ...

Angesichts dessen fällt die Unangemessenheit des Tones bei einigen Formulierungen in Ihrem Schreiben auf. Warum ist das nötig? Wäre es nicht besser, die Lage in aller Ruhe zu beurteilen und dabei den Frieden als höchstes Ziel und nicht zuletzt auch die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern im Auge zu haben?

Was Ihren >Rat< anbetrifft, so haben wir Ihnen schon mitgeteilt, und ich wiederhole es noch einmal, daß wir beabsichtigen, die sowjetischen Militärkontingente vollständig vom Territorium Afghanistans abzuziehen, sobald die Gründe, die Afghanistan zu seiner Bitte an die Sowjetunion bewogen haben, nicht mehr vorhanden sind.

Und hier ist unser Rat an Sie: Die amerikanische Seite sollte ihrerseits dazu beitragen, daß die militärische Einmischung von außen in Afghanistan aufhört.« 20)

 

Nicht zufällig sagte Carter später, daß er in diesen Dezembertagen weit mehr über die Sowjetunion gelernt habe als in seinem ganzen bisherigen Leben. Es folgten das Getreideembargo gegen die UdSSR, die Verringerung des Kulturaustauschs und später der Boykott der Olympischen Spiele in Moskau und das Anwachsen der Militärbudgets der NATO-Staaten. Die Reaktion des Westens war ziemlich heftig, nicht zuletzt wegen der Verhaftung und Verbannung Sacharows, die viele Menschen nicht weniger empörte als der Einfalt in Afghanistan.

Nur in Moskau verstanden sie lange nicht das Ausmaß dieser Katastrophe und taten so, als ob nichts Besonderes geschehen wäre. Für den Juni wurde das Plenum des ZK einberufen. Wieder ertönten im Kreml-Palast die munteren Reden von der unzerstörbaren Macht der Sowjetunion und hallten die Gewölbe vom stürmischen, lang anhaltenden Beifall wider. Gromyko schwadronierte:21)


389

»... man kann bestimmte Tendenzen nicht in der richtigen Perspektive sehen, wenn man den entscheidenden Faktor der weltgeschichtlichen Entwicklung außer acht läßt — die unablässige Stärkung der Position des Sozialismus auch auf internationaler Ebene.
Schon seine geographische Position ist vielsagend. Auf der westlichen Halbkugel - das ruhmvolle Kuba. In Südostasien baut das sozialistische Vietnam ein neues Leben. Zur Familie der brüderlichen Staaten kamen Laos und die Republik Kampodscha hinzu. Länder verschiedener Kontinente vereinigen ihre Zukunft durch den gemeinsamen sozialistischen Weg. Das sind Angola, Äthiopien, der Südjemen und jetzt auch noch Afghanistan. Das belegt auch das Beispiel Nikaraguas und einiger anderer Länder, die den Weg des Sozialismus eingeschlagen haben.
Die Zahl der Staaten, die ihre Wahl zugunsten der sozialistischen Entwicklung getroffen haben, ist in den Jahren der Entspannung weiter gewachsen — ja, gerade in den Jahren der Entspannung.

Die Ereignisse der letzten Zeit haben gezeigt, daß die Staaten des NATO-Blocks in vielem untereinander solidarisch sind. Aber das betrifft vor allem jene Bereiche in den Beziehungen zwischen den Staaten, bei denen logischerweise die Klasseninteressen im Vordergrund stehen.
Es gibt aber auch eine andere Seite dieses Prozesses, Nicht alles, was die imperialistischen Kreise der USA zum Schaden der Sowjetunion tun wollten, konnten sie auch tun. Die Politik der Verringerung der wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technischen und anderen Beziehungen mit den sozialistischen Ländern, insbesondere mit der Sowjetunion, ist auf den Widerstand anderer kapitalistischer Staaten, zum Beispiel Frankreichs, Westdeutschlands und Italiens, gestoßen. Selbst England marschiert trotz des Unglücks, das in der Person der Thatcher über das Land gekommen ist, nicht in jeder Beziehung im Gleichschritt mit Washington (Gelächter im Saal).

Es fällt auf, daß in der gegenwärtigen Zuspitzung der internationalen l^ige die NATO-Mannschaft nicht so gut zusammenspielt, wie das in gleichartigen Situationen früher der Fall war ... Jetzt präsentiert sich ein anderes Bild. Die westlichen Staaten, die die Vorteile der Entspannungspolitik erkannt haben, beeilen sich nicht, zu Washington aufzuschließen, und wenn sie mit Washington zusammengehen, dann nur unter Vorbehalten ... All das zeugt davon, daß die Entspannung tief ins Bewußtsein der Menschen gedrungen ist, fest in die internationalen Beziehungen verwoben ist und als ein Faktor der Verschlechterung der Beziehungen der imperialistischen Staaten untereinander dient.« 22)


390

Nun, und die USA:

»Die Präsidentschaftswahlen in den USA sind einer normalen Entwicklung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen nicht förderlich. Alle vier Jahre führen sie in der Regel zu einem antisowjetischen Hexensabbat. Weil die Kandidaten keine effektiven Programme für die Korrektur der Mißstände in der Innen- und Außenpolitik und ihrer deutlichen Mißerfolge vorlegen können, wetteifern sie in Verleumdungen und Ausfällen gegen die Sowjetunion.
Übrigens ist die Auswahl an Präsidentschaftskandidaten nicht sehr groß. Die beiden Kandidaten Carter und Reagan taugen beide nicht viel. In Amerika erzählt man sich folgenden Witz: Das einzig Gute sei, daß Carter und Reagan nicht gleichzeitig im Weißen Haus sitzen können. (Gelächter im Saal.)« 23) 

Breschnew resümierte:

»... Wir werden auch in Zukunft keine Mühe scheuen, um die Entspannung und all das Gute, das die siebziger Jahre gebracht haben, zu bewahren, einen Durchbruch bei der Abrüstung zu erreichen, das Recht der Völker auf eine Entwicklung in Freiheit und Unabhängigkeit zu verteidigen sowie den Frieden zu erhalten und zu festigen. (Lang anhaltender Beifall.)«24

Am Ende wurde eine Resolution verabschiedet.

»Das Plenum des ZK billigt die Maßnahmen, die im Rahmen der allseitigen Hilfe für Afghanistan zum Zwecke der Abwehr eines bewaffneten Überfalls und der Einmischung von außen mit dem Ziel, die afghanische Revolution zu ersticken und ein proimperialistisches Aufmarschgebiet an der Südgrenze der UdSSR zu schaffen, ergriffen worden sind.

Das Plenum beauftragt das Politbüro des ZK, auch in der heutigen Situation, da die abenteuerliche Politik der USA und ihrer Helfershelfer die Kriegsgefahr erhöht hat, den vom 24. und 25. Parteitag der KPdSU vorgegebenen Kurs auf eine größtmögliche Festigung der brüderlichen Verbundenheit der sozialistischen Staaten, die Unterstützung des gerechten Kampfes der Völker für Freiheit und Unabhängigkeit, die friedliche Koexistenz, die Zügelung des Wettrüstens, die Bewahrung und Entwicklung der internationalen Entspannung und die zum gegenseitigen Vorteil gereichende Zusammenarbeit auf den Gebieten von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur fortzusetzen.

Gleichzeitig ist das Plenum der Meinung, daß die Machenschaften des Imperialismus und der anderen Feinde des Friedens unsere ständige Wachsamkeit und die höchste Stärkung der Verteidigungsfähigkeit unseres Staates erfordern, um die Pläne des Imperialismus, die militärische Überlegenheit zu erringen und der Welt seinen Willen aufzuzwingen, zu vereiteln.«25

*

So ging unter dem stürmischen, langanhaltenden Beifall im Kreml wieder einmal einer dieser Zyklen, die vom Kalten Krieg zur Entspannung und wieder zurück zum Kalten Krieg führten, zu Ende. Es wurde das Programm für die letzte Etappe des Kalten Krieges mit seinem Wettrüsten und seinem »Kampf für den Frieden« angenommen. Ihre unmittelbare und dringendste Sorge jedoch war, einen Boykott der Olympischen Spiele zu verhindern, die schon im Juli beginnen sollten.

391

 #

 

  ^^^^  

www.detopia.de