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5.13  Der Mythos der Invasion 

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Die Frage, wie real die Gefahr einer sowjetischen Invasion war, ist die Kernfrage der polnischen Krise. Von ihr hingen sowohl das Verhalten der Führer der Solidarnosc als auch die Reaktion der Polen auf die Einführung des Kriegsrechts und schließlich auch das Verhalten des Westens ab. Sie blieb auch noch nach dem Zusammenbruch des Regimes in der Periode des »Runden Tisches« der Führer der Solidarnosc und der Parteispitze im Herbst 1989, durch den der heutige Zustand Polens vorausbestimmt wurde, das Thema erbitterter Debatten.

Sogar jetzt, da ein Teil der hier angeführten Protokolle des Politbüros bereits in Polen veröffentlicht ist, neigt die öffentliche Meinung dazu, Jaruzelski für einen Helden zu halten, der das Land vor den Schrecken einer sowjetischen Besatzung und dem damit verbundenen Blutvergießen bewahrt hat. Als sich herausstellte, daß Moskau keinerlei Invasion beabsichtigte, glaubten die Polen, daß Jaruzelski das nicht wußte und trotzdem ein Held war. 

Das ist eine typische Lüge zur Selbstrechtfertigung, die sich als sehr bequem für die ehemaligen kommunistischen Führer und die große Masse der Polen erwies, die das Kriegsrecht als das geringere Übel akzeptierten, und die auch den ehemaligen Führern der Solidarnosc als Rechtfertigung für ihren Kuhhandel mit der Parteispitze am »Runden Tisch« diente. So lebt in Warschau der »Retter des Vaterlands«, der Vater des Volkes, Wojciech Jaruzelski, umgeben von der Liebe seiner dankbaren Mitbürger.

Ich weiß nicht, ob alle diese Dokumente des Politbüros veröffentlicht worden sind, aber die, die vor mir liegen, beseitigen jeden Zweifel daran, daß Moskau keinerlei Invasion plante und Jaruzelski das sehr wohl wußte. Mehr noch — da er zur polnischen Armee kein allzu großes Vertrauen hegte, bat er Ende 1981 selbst mehrmals um die Entsendung sowjetischer Truppen, stieß aber beim Kreml auf entschiedene Ablehnung. Er erklärte den Kriegszustand erst, als er sich überzeugt hatte, daß militärische Hilfe von Moskau nicht zu bekommen war.

Eine ausführliche Analyse der Lage in Polen und der sowjetischen Strategie in bezug auf dieses Land wurde schon Ende April 1981 gleich nach dem geheimen Treffen in Brest von der Kommission des Politbüros des ZK der KPdSU für die polnische Frage geliefert.127)  

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»Die innenpolitische Krise in Polen bat den Charakter einer Dauerkrise", schrieben sie. »Die PVAP hat weitgehend die Kontrolle über die Prozesse in der Gesellschaft verloren. Gleichzeitig hat sich die Solidarnosc in eine organisierte politische Kraft verwandelt, die in der Lage ist, die Tätigkeit der Partei- und Staatsorgane zu paralysieren und die Macht zu übernehmen. Wenn die Opposition das bis jetzt noch nicht getan hat, dann vor allem aus Furcht vor der Invasion sowjetischer Truppen und in der Hoffnung, ihre Ziele ohne Blutvergießen durch eine schleichende Konterrevolution zu erreichen.

Gleichzeitig ist es für jeden offensichtlich, daß die Ruhe, die nach der Tagung des Sejm eingetreten ist, nur von kurzer Dauer sein wird. Der Gegner hat sich aus taktischen Erwägungen darauf eingelassen und sammelt weiter seine Kräfte für neue Schläge wen die Partei... Die Solidarnosc als Ganzes und einige ihrer Glieder bereiten eine neuerliche Erpressung der Staatsmacht mittels verschiedener Forderungen, vor allem politischer Art, vor. Die Anzeichen einer Spaltung in der Führung dieser Gewerkschaft liefern bis jetzt noch keinen Grund, mit wesentlichen Veränderungen in ihrer allgemeinen Orientierung zu rechnen. Selbst wenn es zur Spaltung zwischen Walesa und den Extremisten von KOR-KOS käme, würden Walesa und die hinter seinem Rücken stehende katholische Geistlichkeit keinesfalls den Druck auf die PVAP abschwächen. Die Übernahme der Kontrolle über die Solidarnosc durch die Extremisten mit all den sich daraus ergebenden Folgen ist nicht auszuschließen ...

In letzter Zeit tritt immer mehr eine neue taktische Zielsetzung zutage, die die recht buntscheckige Opposition vereint. Diese Kräfte sind sich bewußt, daß die geopolitische Lage Polens ihr keine Möglichkeit gibt, die Mitgliedschaft des Landes in der Organisation des Warschauer Vertrages und die führende Rolle der kommunistischen Partei anzutasten, und sie wollen nun die PVAP von innen heraus zersetzen, sie zu einer ideologischen Umgestaltung veranlassen und so die Macht auf >gesetzlicber Grundlage< ergreifen ... Unter diesen Bedingungen entsteht die Notwendigkeit, unsere Haltung zur Politik der polnischen Führung noch einmal abzuwägen und deutlicher festzulegen, auf welche Kräfte wir uns stützen können, um schließlich die Errungenschaften des Sozialismus in Polen zu bewahren.«


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Einerseits befänden sich an der rechten Flanke die »Revisionisten«, die sozialdemokratischen Ideen nahestünden und sich praktisch der Solidarnosc anschlössen. Andererseits stünden auf der linken Flanke Genossen, die »unseren Positionen am nächsten stehen« — im wesentlichen alte Parteimitglieder.

"Leider stellen die Vertreter dieser letzteren Richtung bei weitem nicht die Mehrheit dar. Es hat den Anschein, als ob sie den Ausweg aus der Krise in einem Frontalangriff gegen die Solidarnosc sehen, ohne das gegenwärtige Kräfteverhältnis in Betracht zu ziehen. Dabei sehen sie keine andere Möglichkeit für eine Besserung der Lage als die Invasion sowjetischer Truppen. Eine solche Position führt dazu, daß sie in der Partei und im Land immer mehr in die Isolation geraten."

Den Ausweg aus der bestehenden Situation sah das Politbüro in der Unterstützung Kanias und Jaruzelskis, die eine »zentristische« Position einnahmen. Obwohl auch sie »ungenügende Standhaftigkeit und Härte im Kampf gegen die konterrevolutionären Kräfte« an den Tag legten, der Solidarnosc ungerechtfertigte Zugeständnisse machten und sogar »panische Angst vor der Konfrontation mit ihr haben«, waren sie die Besten, die zu haben waren.

»Sie beide, besonders Jaruzelski, genießen Autorität im Land. Gegenwärtig gibt es praktisch keine anderen Politiker, die für die Partei- und Staatsführung in Frage kämen.«

Deshalb beschließt das Politbüro:

 

»Die Genossen Kania und Jaruzelski, die trotz gewisser Schwankungen für die Verteidigung des Sozialismus eintreten, sind weiterhin politisch zu unterstützen. Gleichzeitig sind sie unablässig zu konsequenterem und entschlossenerem Handeln im Sinne der Überwindung der Krise auf der Grundlage der Erhaltung Polens als eines sozialistischen, mit der Sowjetunion befreundeten Landes zu drängen.«


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Darüber hinaus und außer den übrigen Empfehlungen, die Einheit der PVAP und deren Verbindung zur Arbeiterklasse zu festigen und wirtschaftliche Maßnahmen zu ergreifen, sind noch folgende Ratschläge zu finden:

 

»Der sich innerhalb der Führung der Solidarnosc abzeichnende Verfall soll genutzt, die antisozialistischen und antinationalen Differenzen des KOSKOR und ihrer Führer entlarvt und die Isolierung dieser Konter­revolutionäre angestrebt werden. Es sind entschlossene Maßnahmen gegen die Versuche, im Land den Antisowjetismus zu entfachen, zu ergreifen.

Die polnische Führung soll dazu veranlaßt werden, ständig für den Zustand der Armee und der Organe des Innenministeriums, ihre moralischpolitische Zuverlässigkeit und ihre Bereitschaft, ihre Pflicht bei der Verteidigung des Sozialismus zu erfüllen, Sorge tragen ...

Der die Konterrevolution bremsende Faktor, der darin besteht, daß die innere Reaktion und der internationale Imperialismus befürchten, daß die Sowjetunion Truppen nach Polen entsenden könnte, soll maximal ausgenutzt werden. In den außenpolitischen Erklärungen muß die vom Genossen L. I. Breschnew auf dem 26, Parteitag der KPdSU zum Ausdruck gebrachte Entschlossenheit, Polen nicht im Stich zu lassen und es in Schutz zu nehmen, unterstrichen werden.«

 

Damit ist klar, daß die sowjetische Drohung ein auf staatspolitischer Ebene betriebener Bluff war. In Wirklichkeit bereitete man sich von Anfang an auf das Kriegsrecht vor, hierauf (und auf eine mögliche Spaltung in der Führung der Solidarnosc) wurde gesetzt. Dieser Beschluß wurde nie geändert. Allenfalls wurden geringfügige Korrekturen angebracht, so im September 1981, als klar wurde, daß Kania trotz der direkten Drohung Breschnews, ihn abzusetzen, seine Aufgabe nicht erfüllte.128 Honecker schlug sogar vor, daß sich die Führer der Bruderparteien in Moskau versammeln und auch Kania einladen, ihn dabei zum Rücktritt auffordern und Olszowski an seine Stelle setzen.129


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Das Politbüro beschloß allerdings, seine Linie nicht zu ändern — zum Nachfolger Kanias wurde Jaruzelski bestimmt. Natürlich verstand dieser sehr wohl, warum man ihm neben dem Posten des Ersten Sekretärs noch den des Premierministers und des Verteidigungsministers gegeben hatte. Breschnew erinnerte ihn sogleich daran, als er ihn am Tag seiner »Wahl« anrief:

»L.I. BRESCHNEW:  Guten Tag, Wojciech.
W. JARUZELSKI:  Guten Tag, verehrter, lieber Leonid Iljitsch.
L. L BRESCHNEW:  Lieber Wojciech, wir haben dir bereits einen offiziellen Gruß geschickt, ich will dich aber auch noch direkt zu deiner Wahl zum Ersten Sekretär des ZK der PVAP beglückwünschen.
Du hast recht getan, diese Entscheidung anzunehmen. In der PVAP gibt es zur Zeit niemanden, der sich einer solchen Autorität wie Du erfreuen könnte. Das hat das Abstimmungsergebnis im Plenum bewiesen. Wir verstehen, daß sehr schwierige Aufgaben vor dir stehen. Wir sind aber überzeugt, daß du sie bewältigen und alles für die Überwindung der schweren Krankheit, die euer Land befallen hat, tun wirst.
Ich glaube, daß das Wichtigste für dich jetzt ist, zuverlässige Hdf er unter
den treuen und standhaften Kommunisten auszuwählen, sie zusammenzuschweißen, die ganze Partei in Bewegung zu bringen und sie mit Kampfgeist . zu erfüllen. Das ist ganz konkret der Schlüssel zum Erfolg.
Natürlich sollten die von euch avisierten entschlossenen Maßnahmen gegen die Konterrevolution unverzüglich in Angriff genommen werden. Wir hoffen, daß alle - sowohl in Polen als auch im Ausland - fühlen, daß es jetzt anders wird.
Wir wünschen dir Gesundheit und Erfolg.
W. JARUZELSKI:  Ich danke Ihnen vielmals, teurer Leonid Iljitsch, für den Gruß und vor allem für das Vertrauen, das Sie mir erwiesen haben. Ich möchte Ihnen offen sagen, daß ich nach langem innerem Kampf und nur deshalb, weil ich wußte, daß Sie mich unterstützen und für diese Entscheidung sind, zugestimmt habe, diesen Posten zu übernehmen. Wenn es nicht so wäre, hätte ich niemals zugestimmt. Es ist eine sehr schwere, sehr schwierige Aufgabe angesichts der komplizierten Lage im Land, in dem ich jetzt sowohl Premierminister als auch Verteidigungsminister bin. Aber ich habe verstanden, daß das richtig und notwendig ist, wenn Sie persönlich es für das richtige halten.
L. L BRESCHNEW:  Wojciech, wir sind seit langem dieser Meinung gewesen. Seit langem haben wir das den Freunden immer wieder gesagt.


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W. JARUZELSKI:  Deshalb habe ich auch zugestimmt. Ich werde, Leonid Iljitsch, als Kommunist und Soldat alles tun, damit es besser wird, damit es zu einem Umschwung in unserem Land und unserer Partei kommt. Ich versteht und bin ganz mit Ihnen einverstanden, daß es jetzt eine der entscheidenden Aufgaben ist, die Führung der Partei und des Staates zu formieren. Deshalb habe ich die Entscheidung über die Kader bis zum nächsten Plenum, das in einigen Tagen stattfinden wird, zurückgestellt, damit alles gut durchdacht und überlegt werden kann und es nicht nur zu einzelnen Schritten, sondern zu einer umfassenden Lösung in personeller Hinsicht kommt.
L. I. BRESCHNEW:  Die Kader sind sowohl im Zentrum als auch in der Provinz wichtig.
W. JARUZELSKI:  Auch in der Provinz muß dieses Problem entschieden werden. Das muß mit der Festigung der Partei im Sinne der Aktivierung des Kampfes einhergehen. In einer geeigneten Situation müssen entschlossene Maßnahmen ergriffen werden, damit der Kamp f dort geführt wird, wo die Aussicht auf Erfolg gewiß ist.
Ich fahre jetzt zur Sitzung des Militärrates der Streitkräfte ins Verteidigungsministerium. Ich werde dort die entsprechenden Aufgaben stellen. Wir werden die Armee weitgebend in alle Lebensbereiche des Landes einbeziehen.
Gestern nach dem Plenum hatte ich ein Treffen mit den Ersten Sekretären der Gebietskomitees und habe ihnen gesagt, sie sollten keinen Anstoß daran nehmen, daß wir die Militärs in die Verwirklichung bestimmter Aufgaben einbeziehen, die Kontakte zwischen den Offizieren und der Arbeiterklasse erweitern, damit direkter Einfluß auf die Arbeiter ausgeübt werden kann und diese dem Einfluß der Solidarnosc entzogen werden. Natürlich ändern wir unsere Generallinie nicht, das heißt, wir kämpfen um die gesunden Kräfte des Volkes, die sich geirrt haben und der Solidarnosc beigetreten sind, und ziehen sie auf unsere Seite. Zugleich werden wir dem Gegner Schläge verpassen, und zwar solche, die Resultate bringen.
Ich habe heute ein Treffen mit Ihrem Botschafter. Mit ihm will ich einige fragen eingebender erörtern und werde Ihren Rat in den Fragen erbitten, die er Ihnen bestimmt vortragen wird.
Wir werden Sie über alle Beschlüsse, die wir fassen, informieren und Ihnen gleichzeitig mitteilen, wovon wir uns bei der Beschlußfassung leiten ließen.


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Jetzt ist bei uns die Versorgung das größte Problem. Aus diesem Grund haben wir hier viele Streiks und Proteste, darunter solche, die die Solidarnosc organisiert, aber es gibt auch einfach spontane. Das erschwert sehr die Durchführung der Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, und erschwert unsere Arbeit, denn die Stimmung in der Gesellschaft ist nicht besonders gut. Doch wir werden versuchen, alles zu tun, was möglich ist, um die Lage zu verbessern.
Darüber möchte ich Ihnen in der ersten Zeit Bericht erstatten und Sie informieren.
Noch einmal vielen Dank für ihre freundlichen Worte. 
L. L BRESCHNEW:  Ich wünsche Dir, Wojciech, nochmals gute Gesundheit und Erfolg. 
W. JARUZELSKI:  Danke. Auf Wiederhören.«
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Das Politbüro erwartete Resultate. Bereits zehn Tage nach der Ernennung Jaruzelskis wurde man im Kreml nervös, weil sich nichts bewegte.

»GROMYKO:  Ich möchte etwas über Polen sagen. Soeben habe ich mit dem Botschafter, dem Genossen Aristow, gesprochen. Er berichtete, daß der einstündige Streik recht beeindruckend war. In vielen Betrieben hat die Solidarnosc im wesentlichen das Heft in der Hand. Selbst wenn einer arbeiten will, kann er das nicht, weil die Extremisten der Solidarnosc die Arbeitswilligen nicht an den Arbeitsplatz lassen, sie auf verschiedene Weise bedrohen und so weiter.
Was das Plenum betrifft, so berichtet der Genosse Aristow, daß es normal verlief und zwei neue Sekretäre zusätzlich gewählt wurden. Im Sejm, der seine Arbeit am 30. Oktober aufnimmt, werden sie die Frage der Begrenzung der Streiks behandeln. Worauf das Gesetz hinausläuft, ist bis jetzt schwer zu sagen, doch auf jeden Fall wird versucht, die Streiks gesetzlich einzuschränken. Die Rede Jaruzelskis auf dem Plenum war meines Erachtens nicht schlecht.
BRESCHNEW:  Ich glaube nicht, daß der Genösse Jaruzelski etwas Konstruktives getan hat. Mir scheint, er ist nicht mutig genug.
ANDROPOW:  Jaruzelski hat nichts wesentlich Neues getan, obwohl schon einige Zeit vergangen ist. Ein großes Hindernis im Politbüro sind


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Barcikowski und Kubiak. Davon war schon die Rede, und es wurde sogar empfohlen, Barcikowski und Kubiak aus dem Politbüro auszuschließen. Jedoch Jaruzelski lehnte das im Grunde ab. Er erklärt seine Ablehnung damit, daß er keine Kader bat, die diese Leute ersetzen könnten.
Sehr beunruhigt die Frage, wer Premier in Polen wird. Jaruzelski favorisiert Olszowski und Rakowski. Weder der eine noch der andere ist zum Premier geeignet.
BRESCHNEW:  Schmidt sagte in einem Gespräch, daß in Polen eine sehr gefährliche Lage entsteht und daß diese Lage sich negativ auf meinen Besuch in der BRD auswirken kann, der möglicherweise nicht stattfinden könnte.
ANDROPOW:  Die polnischen Führer reden von militärischer Hilfe seitens der Bruderländer. Wir müssen jedoch fest bei unserer Linie bleiben wir werden unsere Truppen nicht nach Polen entsenden.
USTINOW:  Ich muß sagen, daß wir keine Truppen nach Polen entsenden dürfen. Die Polen sind nicht bereit, unsere Truppen zu empfangen. Jetzt werden in Polen diejenigen demobilisiert, die ihren Wehrdienst abgeleistet haben. Die Demobilisierten werden nach Hause geschickt, um sich Zivilkleidung zu holen, kommen zurück und leisten noch einen zweimonatigen Arbeitsdienst. In dieser Zeit geraten sie jedoch unter den Einfluß der Solidarnosc. Jaruzelski hat, wie wir wissen, operative Gruppen aus je drei Personen gebildet, die jedoch bis jetzt nichts getan haben. Offensichtlich ist ein Treffen mit der polnischen Führung erforderlich, vor allem mit Jaruzelski. Wer mit ihm sprechen wird, das müssen wir noch sehen.
RUSSAKOW:  Morgen wird der Sejm eröffnet, in dem darüber entschieden werden soll, ob der Regierung außerordentliche Vollmachten bei einer Reihe von Fragen übertragen werden. Jaruzelski möchte in der Tat nach Moskau kommen.«
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Jaruzelski konnte jedoch nicht nach Moskau fahren, doch Breschnew schickte ihm schließlich eine »mündliche Botschaft« über den Botschafter, in der es unter anderem hieß:


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»In vielen Gesprächen haben wir unsererseits immer wieder hervorgehoben: Wir sind nicht gegen Vereinbarungen. Sie dürfen aber keine Zugeständnisse an die Gegner des Sozialismus enthalten. Die Hauptsache ist, daß es nicht bei Vereinbarungen allein bleiben darf. Neben den Maßnahmen, du darauf ausgerichtet sind, die breiten Volksmassen und die verschiedenen politischen Kräfte auf unsere Seite zu ziehen, müssen entschlossene Aktionen gegen die offenen Feinde der volksdemokratischen Ordnung durchgeführt werden. Sie haben dieser Vorgehensweise zugestimmt und selbst von Ihrer Absicht gesprochen, um die Arbeiter zu kämpfen und gleichzeitig gegen den Klassenfeind vorzugehen. Aber jetzt entsteht der Eindruck, daß Sie nur auf den ersten Teil dieser Doppelstrategie setzen. Wir wissen, daß es in der Parteiführung Leute gibt, die ihre ganze Hoffnung auf die Fortsetzung des gescheiterten Kurses von Kania setzen. Es wäre gefährlich, auf ihre Einflüsterungen zu hören. Es ist jetzt völlig klar, daß ohne einen entschlossenen Kampf gegen den Klassenfeind der Sozialismus in Polen nicht zu retten ist. Die Frage besteht im Grunde nicht darin, ob es zu einer Konfrontation kommen wird oder nicht, sondern darin, wer damit beginnt, mit welchen Mitteln sie ausgetragen wird und wer die Initiative behält.«132

 

Noch am 10. Dezember, das heißt drei Tage vor der Einführung des Kriegsrechts in Polen, wußte das Politbüro immer noch nicht genau, was Jaruzelski vorhatte. Das folgende ist vielleicht das interessanteste und überzeugendste Dokument:133

 

»RUSSAKOW:  Gestern fand bei ihnen eine Beratung der Sekretäre der Wojewodschaftskomitees statt. Wie der Genosse Aristow berichtete, haben die Sekretäre der Wojewodschaftskomitees die Rede Jaruzelskis überhaupt nicht verstanden. Er gab keine klare, deutliche Linie vor. Keiner weiß, was in den nächsten Tagen geschehen wird. Es wurde von einer Operation >X< gesprochen. Zunächst hieß es, daß sie in der Nacht vom 11. zum 12., dann in der Nacht vom 12. zum 13. stattfinden solle. Jetzt ist schon die Rede davon, daß es um den 20. sein werde. Es ist vorgesehen, daß der Vorsitzende des Staatsrates Jablonski im Rundfunk und im Fernsehen sprechen und die Einführung des Kriegsrechts bekanntgeben wird. Gleichzeitig erklärte Jaruzelski, daß das Gesetz über die Einführung des Kriegsrechts erst dann in Kraft treten könne, wenn es im Sejm debattiert worden sei, und die Sitzung des Sejm sei auf den 15. Dezember festgelegt. So kompliziert sich alles. Die Tagesordnung für den Sejm ist bekanntgegeben worden. In ihr kommt die Einführung des Kriegsrechts nicht vor. Auf jeden Fall weiß die Solidarnosc


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darüber Bescheid, daß die Regierung vorhat, das Kriegsrecht einzuführen, und sie bereitet sich ihrerseits in jeder Beziehung darauf vor.
Jaruzelski sagt seihst, daß er sich mit einer Botschaft an das polnische Volk wenden werde. Er wird aber in dieser Botschaft nicht von der Partei reden, sondern das Gewicht auf die patriotischen Gefühle des Volkes legen. Jaruzelski spricht von der Notwendigkeit einer Militärdiktatur, wie sie einst unter Pilsudski bestanden habe, und weist darauf hin, daß das polnische Volk hierfür mehr Verständnis als für irgend etwas anderes haben werde.
Was Leute wie Olszowski anbetrifft, so äußert sich dieser in letzter Zeit entschlossener, und es muß erwähnt werden, daß der Beschluß über die Einführung des Kriegsrechts und über die Ergreifung entschlossener Maßnahmen gegen die extremistischen Vertreter der Solidarnosc auf der Sitzung des Politbüros einstimmig angenommen wurde und daß niemand Einwände erhob. Jaruzelski will in dieser Frage Kontakt mit den Verbündeten aufnehmen. Sollten die polnischen Kräfte mit dem Widerstand der Solidarnosc nicht fertig werden, so hofften die polnischen Genossen auf die Hilfe anderer Länder, bis hin zur Entsendung von Streitkräften auf das Territorium Polens. Dabei bezieht sich Jaruzelski auf eine Äußerung des Genossen Kulikow, der gesagt haben soll, daß die UdSSR und die verbündeten Staaten Polen militärische Hilfe leisten würden. Soweit mir jedoch bekannt ist, hat das der Genösse Kulikow nicht direkt gesagt, sondern nur die Worte L. I. Breschnews, daß wir die Volksrepublik Polen in der Not nicht im Stich lassen werden, wiederholt.
Wenn man sich ansieht, was in den Wojewodschaften geschieht, muß man offen sagen, daß dort die Parteiorganisationen völlig machtlos sind. In gewisser Weise ist die administrative Macht noch zu spüren. Im großen und ganzen liegt jedoch die ganze Macht in den Händen der Solidarnosc. Mit dem, was Jaruzelski sagt, scheint er uns an der Nase herumzuführen, denn er liefert keine richtige Analyse. Wenn sie sich jetzt nicht schnell organisieren, sammeln und gegen den Druck der Solidarnosc einschreiten, wird es keine Besserung der Lage in Polen geben.
ANDROPOW:  Aus den Gesprächen mit Jaruzelski geht hervor, daß sie bisher noch nicht fest zur Einführung des Kriegsrechts entschlossen sind. Ungeachtet des einmütigen Beschlusses des Politbüros des ZK der PVAP über die Einführung des Kriegsrechts sind bis jetzt keinerlei konkrete Maßnahmen seitens der Führung erkennbar.


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Die Extremisten der Solidarnosc gehen der Führung der Volksrepublik Polen an die Kehle. Die Kirche hat in den letzten Tagen auch klar Stellung bezogen. Im großen und ganzen ist sie auf die Seite der Solidarnosc übergegangen.
Natürlich müssen die polnischen Genossen unter diesen Umständen unverzüglich die Aktion >X< vorbereiten und durchführen. Gleichzeitig erklärt Jaruzelski, daß sie die Operation >X< dann starten, wenn die Solidarnosc sie ihnen aufzwingt. Das ist ein sehr beunruhigendes Symptom. Zudem haben die letzte Sitzung des Politbüros des ZK der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei und der auf ihr gefaßte Beschluß über die Einführung des Kriegsrechts gezeigt, daß das Politbüro entschlossener handelt. Alle Mitglieder des Politbüros sprachen sich für entschlossene Aktionen aus. Dieser Beschluß hat Jaruzelski unter Druck gesetzt, und er muß sich jetzt irgendwie herauswinden. Ich habe gestern mit Milewski gesprochen und ihn gefragt, welche Maßnahmen für wann vorgesehen sind. Er antwortete mir, daß er von der Operation >X< und einem konkreten Termin für ihre Durchführung nichts wisse. Das bedeutet also, daß Jaruzelski entweder vor seinen Genossen den Plan für konkrete Aktionen verheimlicht oder seiner Durchführung ausweicht.
Jetzt möchte ich sagen, daß Jaruzelski ziemlich nachdrücklich ökonomische Forderungen an uns stellt und die Durchführung der Operation >X< von unserer Wirtschaftshilfe abhängig macht, und ich möchte noch hinzufügen, daß er sogar, wenn auch nicht direkt, die Frage der militärischen Hilfe angesprochen hat.
Wenn wir uns die Liste der Waren anschauen, die die polnischen Genossen anfordern, so entstehen ernsthafte Zweifel darüber, ob es wirklich notwendig ist, diese Lebensmittel zu liefern. Welche Verbindung besteht zum Beispiel zwischen dem Erfolg der Operation >X< und der Lieferung von Dünger und einiger anderer Waren? In diesem Zusammenhang möchte ich sagen, daß unsere Position, die wir auf der letzten Sitzung des Politbüros formuliert haben und die Leonid Iljitsch zuvor schon mehrfach dargelegt hatte, völlig richtig ist und daß wir von ihr nicht abgehen sollten. Mit anderen Worten, wir beziehen die Position der internationalistischen Hilfe. Wir sind besorgt über die Lage in Polen, was aber die Operation >X< angeht, so muß das voll und ganz ein Beschluß der polnischen Genossen sein; wie sie entscheiden, so wird es sein. Wir werden weder darauf bestehen noch versuchen, sie davon abzubringen.


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Was die Wirtschaftshilfe angeht, so wird sie natürlich schwer in dem Umfang, in dem sie sie wünschen, zu leisten sein. Etwas müssen wir wohl schon geben. Ich möchte aber noch einmal sagen, daß das Ersuchen um Warenlieferungen eine Unverschämtheit ist. Das alles geschieht, um uns, falls wir irgend etwas nicht liefern, die Schuld in die Schuhe zu schieben. Wenn der Genösse Kulikow wirklich von der Entsendung von Truppen gesprochen hat, so war das ein Fehler. Wir können das nicht riskieren. Wir beabsichtigen nicht, Truppen nach Polen zu entsenden. Das ist die richtige Position, und darin müssen wir konsequent bleiben, leb weiß nicht, was aus Polen wird, aber selbst wenn Polen unter die Macht der Solidarnosc kommt, so ist das eine Sache. Wenn sich aber die kapitalistischen Länder gegen die Sowjetunion stellen, und sie haben bereits eine Vereinbarung über verschiedene wirtschaftliche und politische Sanktionen getroffen, dann wird es sehr schwer für uns. Wir müssen uns um unser Land sorgen, um die Festigung der Sowjetunion. Das ist unsere Grundlinie.
Überhaupt scheint es mir, daß unsere Haltung zur Lage in Polen von Leonid Iljitsch mehrmals dargelegt wurde und in Beschlüssen festgehalten ist. Heute gibt es auf der Sitzung des Politbüros dazu einen ausführlichen Meinungsaustausch. Dies alles muß die Grundlage unserer Politik in bezug auf Polen bilden.
Was die Verbindungen zwischen der Sowjetunion und der DDR, die durch Polen laufen, anbetrifft, so müssen wir natürlich etwas für ihren Schutz unternehmen.

GROMYKO:  Heute erörtern wir die Lage in Polen auf eine sehr offene Weise. So klar und deutlich haben wir noch nie darüber diskutiert. Das erklärt sich damit, daß wir selbst nicht wissen, in welche Richtung sich die Ereignisse in Polen entwickeln. Die Führung in Polen fühlt selbst, daß die Macht ihren Händen entgleitet. Kania und Jaruzelski haben bekanntlich auf die Neutralen gesetzt. Doch jetzt gibt es keine Neutralen. Die Lage stellt sich sehr deutlich dar: Die Solidarnosc hat sich klar als konterrevolutionäre Organisation zu erkennen gegeben, die offen die Macht beansprucht und ihre Machtergreifung verkündet hat. Die polnische Führung muß die Frage entscheiden: Entweder gibt sie ihre Position auf, wenn sie keine entschiedenen Maßnahmen ergreift, oder sie ergreift entschlossene Maßnahmen, führt das Kriegsrecht ein, isoliert die Extremisten in der Solidarnosc und stellt die Ordnung wieder her. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.


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Wie verhalten wir uns zu den polnischen Ereignissen? Ich bin völlig damit einverstanden, was die Genossen hier gesagt haben. Wir können den Polen sagen, daß wir Verständnis für das haben, was in Polen geschieht. Es besteht kein Grund, auf diese Floskel zu verzichten. Gleichzeitig müssen wir versuchen, Jaruzelski und den anderen Führern Polens verständlich zu machen, daß sie nicht auf eine Entsendung von Truppen hoffen sollen. Eine Invasion von Truppen kann es nicht geben. Ich denke, wir sollten unseren Botschafter beauftragen, Jaruzelski aufzusuchen und ihm das mitzuteilen.
Ungeachtet des ziemlich einhelligen Beschlusses des Politbüros des ZK der PVAP über die Einführung des Kriegsrechts nimmt Jaruzelski erneut eine schwankende Position ein. Anfangs hatte er etwas Mut gefaßt, jetzt ist er wieder schwach geworden. Alles, was wir ihm einst gesagt haben, gilt weiterhin. Wenn sie weiterhin im Kampf mit der Konterrevolution so hin und her schwanken, wird von einem sozialistischen Polen nichts mehr übrigbleiben. Die Einführung des Kriegsrechts würde der Konterrevolution die feste Entschlossenheit der polnischen Regierung vor Augen führen. Und wenn die von ihnen beabsichtigten Maßnahmen verwirklicht werden, sind - so denke ich - positive Resultate zu erwarten.
Ich bin der Meinung, daß wir ihnen jetzt nicht in barscher Form Anweisungen erteilen sollten, die sie zu bestimmten Handlungen drängen würden, Ich glaube, wir nehmen jetzt die richtige Haltung ein, daß nämlich die Einführung des Kriegsrechts eine Sache der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei, ihres Zentralkomitees und Politbüros ist. Wir haben das den polnischen Freunden gesagt und sagen ihnen auch weiterhin, daß sie eine feste Position einnehmen müssen und keinesfalls nachgeben sollen.
Wenn die Polen der Solidarnosc zu Leibe rücken, dann gibt der Westen keine Kredite und leistet ihnen keine Hilfe. Das haben sie natürlich im Auge, und das müssen offensichtlich auch wir beachten. Deshalb ist Leonid lljitschs Vorschlag richtig, eine Gruppe von Genossen zu beauftragen, die Frage zu untersuchen und mit Rücksicht auf unsere Möglichkeiten, der Volksrepublik Polen Wirtschaftshilfe in bestimmtem Umfang zu leisten.

USTINOW: Die Lage in der Volksrepublik Polen ist natürlich sehr schlecht. Sie verschlechtert sich von Tag zu Tag. In der Führung, besonders im Politbüro, gibt es weder Entschlossenheit noch Einmütigkeit. Das alles hat seinen Einfluß auf die Lage. Erst auf der letzten Sitzung des Politbüros wurde der einstimmige Beschluß über die Einführung des Kriegsrechts gefaßt.


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 Jetzt hängt alles an Jaruzelski, wie er diesen Beschluß in die Tat umzusetzen versteht. Doch niemand kann etwas über Jaruzelskis Absichten sagen. Auch wir nicht. Ich habe mit Siwicki gesprochen. Er sagte geradeheraus, daß sie nicht einmal wüßten, was der General denkt. So weiß der Mann, der jetzt praktisch die Funktion des Verteidigungsministers ausübt, nicht, was weiter wird, welche Schritte der Premierminister und sein Minister unternehmen werden ...
Was die angebliche Äußerung des Genossen Kulikow über die Entsendung von Truppen nach Polen betrifft, kann ich mich dafür verbürgen, daß Kulikow das nicht gesagt hat. Er hat nur das wiederholt, was von Leonid Iljitsch schon gesagt worden war, daß wir Polen in der Not nicht im Stich lassen. Er weiß es sehr wohl, daß die Polen selbst darum gebeten haben, keine Truppen zu entsenden.
Was unsere Garnisonen in Polen anbetrifft, so verstärken wir sie. Ich glaube, daß es die Polen nicht auf eine Konfrontation ankommen lassen werden und daß sie nur dann aktiver werden, wenn ihnen die Solidarnosc an die Kehle springt.
Das Schlimmste ist, daß die polnische Führung keinerlei Entschlossenheit an den Tag legt. Wie die Genossen richtig gesagt haben, sollten wir sie nicht zu irgendwelchen Beschlüssen zwingen. Wir müssen die Politik verfolgen, über die wir uns geeinigt haben. Unsererseits müssen wir auf der Hut sein und dürfen uns nicht auf Handlungen einlassen, die nicht von uns vorgesehen sind.

SUSLOW: Ich glaube, daß wir, wie aus den Äußerungen der Genossen zu ersehen ist, einen einmütigen Standpunkt bezüglich der Lage in Polen vertreten. Im ganzen Verlauf dieser Ereignisse in Polen haben wir Ausdauer und Kaltblütigkeit bewahrt. Davon sprach im Plenum Leonid Iljitsch Breschnew. Das haben wir auch öffentlich dem Volk gesagt, und unser Volk hat diese Politik der Kommunistischen Partei unterstützt.
Wir leisten eine große Arbeit für den Frieden und können unsere Position jetzt nicht ändern. Die Weltöffentlichkeit würde uns nicht verstehen. Wir haben mit Hilfe der UNO große Aktionen zur Festigung des Friedens durchgeführt. Der Besuch von L. I. Breschnew in der BRD und viele andere unserer Friedenstaten haben ihre Wirkung gehabt. Sie haben allen friedliebenden Ländern klargemacht, daß die Sowjetunion fest und konsequent eine Politik des Friedens vertritt.


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Deshalb sollten wir unsere Haltung bezüglich Polens, die wir zu Beginn der polnischen Ereignisse eingenommen haben, nicht ändern. Die polnischen Genossen sollen selbst entscheiden, was sie unternehmen wollen. Wir sollten sie nicht zu irgendwelchen entschlosseneren Handlungen drängen. Aber wir werden den Polen, wie schon zuvor, sagen, daß wir Verständnis für das haben, was sie tun.
Mir scheint, daß Jaruzelski schlau ist. Er will sich mit den Bitten, die er an die Sowjetunion richtet, absichern. Natürlich sind wir physisch gar nicht in der Lage, diese Bitten zu erfüllen, und Jaruzelski wird dann sagen, daß er sich an die Sowjetunion um Hilfe gewandt und diese Hilfe nicht bekommen habe.
Gleichzeitig erklären die Polen geradeheraus, daß sie gegen die Entsendung von Truppen sind. Wenn Truppen entsandt würden, so wäre das eine Katastrophe. Ich glaube, wir sind alle der einhelligen Meinung, daß eine Invasion von Truppen nicht in Frage kommt.
Was die Hilfeleistungen an Polen angeht, so haben wir Hilfe für mehr als eine Milliarde Rubel geleistet. Kürzlich haben wir einen Beschluß über die Lieferung von
30000 Tonnen Fleisch gefaßt, von denen 16000 Tonnen bereits geliefert sind. Ich weiß nicht, ob wir die ganzen 30000 Tonnen liefern können, aber entsprechend den Beschlüssen müssen wir noch eine gewisse Menge als Hilfeleistung liefern. \

GRISCHIN: Die Lage in Polen verschlechtert sich weiter. Die Linie unserer Partei in bezug auf die polnischen Ereignisse ist völlig richtig ... Von einer Truppenentsendung kann keine Rede sein. Die wirtschaftlichen Fragen müssen erörtert werden, und das, was wir geben können, sollten wir den Polen geben.

SUSLOW: In der Presse müssen wir die Machenschaften der Solidarnosc und der anderen reaktionären Kräfte entlarven.

TSCHERNENKO: Ich bin völlig mit dem einverstanden, was die Genossen hier gesagt haben. Die Linie unserer Partei, des Politbüros des ZK bezüglich der polnischen Ereignisse, die von Leonid Iljitsch Breschnew und in den Beschlüssen des Politbüros dargelegt wurde, ist völlig richtig und sollte nicht geändert werden.
Ich bin der Meinung, daß heute folgender Beschluß gefaßt werden sollte:
1. Die Informationen des Genossen Baibakow wurden zur Kenntnis genommen.


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2. In unseren Beziehungen zur Volksrepublik Polen wird auch weiterhin von der zu dieser Frage festgelegten Generallinie des ZK der KPdSU sowie den Anweisungen des Politbüros des ZK der KPdSU vom 8. Dezember 1981 und dem Meinungsaustausch, der auf der Sitzung des Politbüros des ZK vom 10. Dezember stattfand, ausgegangen.
3. Die Genossen Tichonow, Kirilenko, Dolgich, Archipow und Baibakow werden beauftragt, die mit der Wirtschaftshilfe an Polen verbundenen Fragen unter Berücksichtigung des Meinungsaustauschs, der auf der Sitzung des Politbüros des ZK stattgefunden hat, zu untersuchen.

BRESCHNEW:  Was meinen die Genossen dazu?
ALLE:  Der Genosse Tschernenko hat die Vorschläge sehr gut formuliert, sie sollten angenommen werden. Der Beschluß wird angenommen.«

 

 

14.  Die  OPERATION »X«

 

Die Führung der Solidarnosc war nicht auf das Kriegsrecht vorbereitet. Die Gefahr von Repressalien hatte zu lange über ihnen geschwebt, sie hatten sich daran gewöhnt und versäumt, sich dagegen zu wappnen. Mit geringen Ausnahmen wurden so gut wie alle ihre Einrichtungen in den ersten Tagen besetzt, und die meisten Anführer wurden verhaftet. Die mehrere Millionen Mitglieder starke Solidarnosc hörte innerhalb einer Nacht auf zu bestehen.

Die Sowjets hatten mit ihren Plänen vollen Erfolg. Nachdem sie das ihre getan hatten, teilten sie mit der Miene des unbeteiligten Beobachters den Bruderparteien mit:134

»Wie den Freunden bekannt ist, hat die polnische Führung über das Land das Kriegsrecht verhängt, die Bildung eines Militärrates der Nationalen Rettung verkündet und die extremistischsten Elemente der Solidarnosc, der >Konföderation für ein Unabhängiges Polen< und anderer antisozialistischer Gruppen isoliert.

Der Aufruf W. Jaruzelskis an das Volk, in dem nach unserer Ansicht die Akzente in den Grundfragen richtig gesetzt sind, erweckt einen positiven Eindruck. Im einzelnen ist es von besonderer Wichtigkeit, daß die führende Rolle der PVAP und das Festhalten der Volksrepublik Polen an den Bündnisverpflichtungen des Warschauer Vertrags bestätigt wurden.


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Die polnischen Genossen sahen als Bedingung für die erfolgreiche Durchführung der Aktion ihre strenge Geheimhaltung an. Nur die engere Umgebung Jaruzelskis wußte darüber Bescheid. Deshalb gelang es den Freunden, den Gegner zu überraschen, und die Operation verläuft bis jetzt zufriedenstellend.

Einen Tag vor Beginn der Aktion informierte W. Jaruzelski Moskau davon. Es wurde ihm mitgeteilt, daß die sowjetische Führung Verständnis für diese Entscheidung der polnischen Genossen habe. Wir gehen dabei davon aus, daß die polnischen Freunde ihre Probleme selbst lösen werden.

Nach unserer vorläufigen Einschätzung stellen die Aktionen der polnischen Freunde einen aktiven Schritt zur Abwehr der Konterrevolution dar und entsprechen in dieser Beziehung der gemeinsamen Linie der Bruderländer.

Unter diesen Bedingungen erhebt sich die Frage der moralischen und politischen Unterstützung der polnischen Genossen sowie zusätzlicher wirtschaftlicher Hilfe. Die sowjetische Führung wird, wie sie es schon früher getan hat, die Bruderländer von ihrem Vorgehen in der polnischen Frage unterrichten.«

 

Zweifellos war das ein Erfolg des sowjetischen Regimes, aber keinesfalls ein Sieg. Das in den Untergrund gejagte Polen leistete weiterhin Widerstand, die Reaktion des Westens, die natürlich schwächer war, als sie im Falle eines Einmarsches gewesen wäre, erschütterte die sowjetische Position doch erheblich. Das Wichtigste war aber, daß das Kriegsrecht nicht dazu beitrug, die Ursachen der Krise zu beseitigen. Im Gegenteil, die wirtschaftliche Krise verschärfte sich nur noch, und die Lage wurde noch hoffnungsloser. Das »gerettete Polen« wurde zu einer die Kräfte des sowjetischen Regimes übersteigenden Bürde. Es ist interessant, daß das Politbüro gerade zu diesem Zeitpunkt die ganze Hoffnungslosigkeit seiner Lage begriff:

 


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»BRESCHNEW:  ...Vor einem Monat wurde das Kriegsrecht in Polen eingeführt. Die ersten Ergebnisse liegen vor. Wie Jaruzelski sagt, ist das Rückgrat der Konterrevolution gebrochen. Es gilt jedoch noch weit schwierigere Aufgaben zu lösen.
Nachdem sie im Land einigermaßen Ordnung geschaffen haben, müssen du polnischen Genossen jetzt sozusagen Probleme strategischen Charakters lösen - wie ist mit den Gewerkschaften zu verfahren, wie kann die Wirtschaft auf die Beine kommen, wie kann ein Umschwung im Bewußtsein der Massen erzielt werden und so weiter.
Das wichtigste Problem ist die Situation in der PVAP. Die Freunde suchen nach einer Lösung. Vielleicht bringt das, was Jaruzelski beabsichtigt, Resultate - die Partei nicht aufzulösen, ihren Namen nicht zu ändern, aber das Kriegsrecht zu benutzen, um sie gründlich zu säubern.
Es entsteht überhaupt der Eindruck, daß der General als Politiker an Statur gewonnen hat und im allgemeinen die richtigen Lösungen findet. Manchmal scheint es, daß er zu vorsichtig ist, und öfter als nötig handelt er mit Blick auf den Westen und auf die Kirche. In der gegenwärtigen Lage kann durch ein scharfes Vorgehen alles verdorben werden. Neben harten und entschlossenen Maßnahmen in prinzipiellen Fragen sind auch Flexibilität und Umsicht erforderlich. Es ist gut, daß Jaruzelski sich die ungarischen Erfahrungen beim Kampf gegen die Konterrevolution zunutze macht.
Wir verstehen alle sehr gut, daß die entscheidende Bedingung für die völlige Stabilisierung der Lage in Polen die Sanierung der Wirtschaft ist. In der Tschechoslowakei kam es eben deshalb so schnell zur einer Gesundung, weil die Konterrevolution diesen Bereich praktisch nicht angetastet hatte, Hier ist es gerade umgekehrt.
In diesem Zusammenhang stellt sich uns ein schwieriges Problem. Wir befinden uns selbst schon an der Grenze unserer Möglichkeiten, was die Hilfe für die Polen betrifft, und sie kommen mit immer neuen Wünschen. Vielleicht müssen wir etwas tun, aber große Vorschüsse können wir ihnen nicht geben.
Aber auf Jaruzelskis Brief müssen wir natürlich antworten und ihm kameradschaftlich erklären, was wir tun können und was nicht. Auf jeden Fall müssen wir im ersten Quartal, in den für die Polen schwersten Wintermonaten, die vorgesehenen Lieferungen durchführen.
Eine andere Sache sind die politischen Prestigevorhaben, die keine zusätzlichen Belastungen für unsere Wirtschaft bedeuten, zum Beispiel die Hilfe beim Bau der Warschauer Untergrundbahn. Auf diese Bitte können wir


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eingehen und müssen unsere Beteiligung in der Öffentlichkeit bekannt machen.
Übrigens ist bei den Polen die Lage auf dem Gebiet der Versorgung mit Lebensmitteln nicht so hoffnungslos. Es gibt genügend Getreide im Land, und man braucht nur den Zugang zu den Kauern m finden, ihr Interesse m wecken und, wie man bei uns einst sagte, das Zusammenwirken von Stadt und Land zu verwirklichen.
Die polnische Führung rechnet auch mit Hilfe aus dem Westen. Im Prinzip können wir nicht dagegen sein, obwohl es - ehrlich gesagt - zweifelhaft ist, ob der Westen die militärische Staatsmacht unterstützt. Er wird zweifellos auf Zugeständnisse drängen, und dabei ist besondere Wachsamkeit vonnöten.
Jaruzelski stellt noch eine weitere frage - ob man Hilfe von den Chinesen annehmen dürfe. Warum eigentlich nicht? In diesem fall würde sich China gegenüber den USA, die Wirtschaftssanktionen beschlossen haben, abgrenzen.
Zum Schluß möchte ich sagen, daß die polnische frage noch lange im Zentrum der internationalen Politik stehen wird. Deshalb müssen wir in unserer Polen-Kommission weiter so aktiv arbeiten.

TICHONOW:  Was den Bau der Untergrundbahn betrifft, hat der Ministerrat schon entsprechende Vorschläge gemacht; sie liegen dem Politbüro vor.

TSCHERNENKO:  Über die Vorschläge über unsere Beteiligung beim Bau der Metro in Warschau wird im Politbüro abgestimmt.

BRESCHNEW:  ...In seinem Brief bringt der Genösse Jaruzelski, wie Sie sehen, seine tiefe Dankbarkeit für die Hilfe, die der Volksrepublik Polen von der Sowjetunion zuteil wurde, zum Ausdruck. Gleichzeitig äußert er die Bitte, daß die sowjetische Seite die Liefermengen für 1982, die im Protokollentwurf über die Koordinierung der Pläne beider Länder für i^8i-i^8f bezüglich Erdöl, Benzin und Erdölprodukte festgelegt sind, bestätigen möge, Der Umfang der Erdöllieferungen wird im Jahre i<)8z auf dem Stand von 13 Millionen, der von Erdölprodukten bei 2,94 Millionen Tonnen gehalten, für das erste Quartal 1982 sind die maximalen Liefermengen für Treibstoff gewährleistet.
Weiter teilt der Genösse Jaruzelski mit, daß er sich an die Generalsekretäre der Kommunistischen Parteien Ungarns, der DDR, Bulgariens, Rumäniens und der Tschechoslowakei mit der Bitte gewandt hat, Polen die


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notwendige Wirtschaftshilfe zu gewähren, insbesondere in Form von Lieferungen grundlegender landwirtschaftlicher und industrieller Güter für den Inlandsmarkt.
Wir haben die frage zusätzlicher Hilfsmaßnahmen für die Volksrepublik Polen mehrmals erörtert, leb stelle jetzt die Frage nochmals, damit wir unsere Meinungen darüber austauschen. Offensichtlich können wir auch diesmal den Polen nicht alles abschlagen, etwas müssen wir auswählen und mit einigem helfen. Deshalb bitte ich einerseits die Genossen, die damit beauftragt sind, die Prüfung dieser Fragen zu beschleunigen und dem Politbüro entsprechendes Material vorzulegen. Andererseits wollen wir versuchen, einige Positionen positiv zu bescheiden.

TICHONOW: Natürlich müssen wir noch untersuchen, womit wir den Polen helfen können, obwohl es auch Schwierigkeiten gibt.

BAIBAKOW: Ich möchte, Leonid lljitsch, zwei Fragen aufwerfen. Die erste betrifft die zusätzlichen Erdöllieferungen. Ich habe mir genau angesehen, welche Erdölreserven wir haben, und sehe keine Möglichkeit für zusätzliche Kraftstofflieferungen an die Volksrepublik Polen. Mir scheint, wir liefern an Polen eine ausreichende Menge an Erdölprodukten, und sie können mit dem, was sie bekommen, auskommen.
Die zweite Frage betrifft die Getreidelieferungen für die Brotproduktion. In Polen gibt es Brot. In diesem Jahr hatten sie keine schlechte Ernte, aber die Ablieferungen waren trotz besserer Erträge niedriger als im vorigen Jahr.

ANDROPOW: Sie bitten jetzt um eine bestimmte Menge Getreide, das sie im zweiten Quartal zurückgeben wollen.

SUSLOW: Mit anderen Worten, sie bitten nur leihweise um zusätzliches Getreide.

TSCHERNENKO: Es handelt sich darum, daß Polen im ersten Quartal 0,5 Millionen Tonnen gegeben werden, die sie uns im folgenden Quartal zurückgeben.

RUSSAKOW: Diese Frage müssen wir aufmerksam prüfen und feststellen, ob es möglich ist.

KIRILENKO: Natürlich werden sie kaum von anderen Ländern Getreide bekommen, obwohl sie in Kanada eine gewisse Menge Getreide gekauft haben.

BRESCHNEW: Wenn keine Einwände bestehen, könnten wir folgenden Beschluß fassen: Der Ministerrat der UdSSR, das Staatliche Planungskomitee der Ui^SSR und das Ministerium für Außenhandel sollen die Bitten, die im Brief des Genossen Jaruzelski dargelegt sind, unter Berücksichtigung des auf der Sitzung des Politbüros stattgefundenen Meinungsaustausches prüfen und dem ZK der KPdSU entsprechende Vorschläge vorlegen.

Der Vorschlag wird angenommen."135


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15.  Lieferungen ohne Ende

 

Polen war schon vor Beginn der Ereignisse zu teuer geworden, sonst wäre es ja gar nicht erst zu den Ereignissen gekommen. Im März 1981 begannen die Sowjetführer schließlich nachzurechnen, was es sie kostete.

»TSCHERNENKO: Die Genossen Baibakow, Garbusow, Archipow und Alchimow haben Gespräche mit dem Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats der Volksrepublik Polen, dem Genossen Jagielski, geführt. Die polnische Seite bat um Rohstofflieferungen für die Leichtindustrie, um zusätzliche Lieferungen von Erdöl, Metallen, Zellulose und anderer Waren. Es wird vorgeschlagen, 1981 zusätzlichen Lieferungen von Chromerz, Spanplatten, Asbest und anderer Stoffe sowie Lieferungen einer bestimmten Menge von Baumwolle und Gerste an die Volksrepublik Polen zuzustimmmen.

ARCHIPO W: Wir geben Polen nur eine begrenzte Menge von Rohmaterialien, weil wir größere Mengen einfach nicht geben können. Vor allem können wir keine positive Antwort bezüglich der Verarbeitung sowjetischer Rohstoffe in Polen geben.
Was die wirtschaftliche Lage in Polen betrifft, so teilte der Genosse Jagielski mit, daß das Planniveau 1981 um 20 Prozent niedriger ist als im vergangenen Jahr 1980. Besonders schlecht ist die Lage bei Kohle, und die wird bekanntlich von ihnen exportiert und ist eine Quelle für harte Währung. Anstatt 180 Millionen Tonnen, wie im Plan vorgesehen, werden sie im besten Fall nur 170 Millionen Tonnen fördern. Die Fleischproduktion sinkt um 25 Prozent, die von Zucker um ein Drittel. Anstatt 1,5 Millionen Tonnen werden es nur maximal 950.000 Tonnen sein.


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Jetzt stellt sich in Polen die Frage nach der Rationierung von Brot und Mehl.
Was die Finanzlage betrifft, so hat Polen bei seinen Gläubigem, vor allem den kapitalistischen Ländern, 23 Milliarden Dollar Kreditschulden. ncuk Milliarden der Kreditsumme wurde mit Bürgschaften der jeweiligen Staaten gewährt. Die anderen Kredite haben die Polen bei Privatbanken aufgenommen. Es sind 400 Gläubigerbanken. Jetzt müssen die polnischen Freunde im Ausland für etwa 9,5 Milliarden Dollar verschiedene Waren kaufen. All das wird mit Krediten bezahlt. Der Export beläuft sich auf 8,5 Milliarden Dollar, Die westlichen Länder zögern auf jegliche Weise die Entscheidung über die Gewährung von Krediten an Polen hinaus. Jetzt müssen 1,5 Milliarden Dollar an Kreditzinsen gezahlt werden. Sie erbitten von uns 700 Millionen Dollar. Eine solche Summe können wir natürlich nicht aufbringen. Wir werden jetzt ohne Verzögerung Erdöl, Gas, Eisenerz und anderes an Polen liefern.
Im Laufe des Gesprächs fragten die polnischen Freunde, ob sie ein Moratorium für die Kredite erklären oder in den Internationalen Währungsfonds eintreten und um zusätzliche Kredite bei den westlichen Ländern bitten sollen. Natürlich bedeutet sowohl das eine als auch das andere ein Zugeständnis an die westlichen Länder, das keinerlei wirtschaftlichen Effekt erbringt. In diesen Fragen sind die Polen unterschiedlicher Meinung. Uns bitten sie, zusätzlich Baumwolle und Kunstfasern zu liefern. Wir erklärten uns zu einer gewissen Erhöhung der Lieferungen von Baumwolle und Kunstfasern bereit.

GROMYKO: Die polnischen Genossen unterstrichen, daß sie die Frage der Warenimporte sehr beschäftige, weil sie diese Waren nicht bezahlen könnten. Es muß festgestellt werden, daß sie die Lieferungen von Rohstoffen aus der Sowjetunion nicht gebührend würdigen. Sie halten das für eine Kleinigkeit. Dabei stammt die Baumwolle zu 100 Prozent von uns, ebenso das Erz und das Erdöl.

ARCHIPOW:  Wir liefern Polen 13 Millionen Tonnen Erdöl zu 90 Rubel pro Tonne. Wenn man bedenkt, daß der Weltmarktpreis pro Tonne 170 Rübe! beträgt, dann bezahlen sie uns 80 Rubel pro Tonne zu wenig. Dieses ganze Erdöl könnten wir für harte Devisen verkaufen und würden riesige Summen erhalten."136


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Indessen stand es um das Erdöl immer schlechter, und dies war die wichtigste Devisenquelle der UdSSR, so wie die Kohle für die Polen. Um Polen irgendwie aus der Klemme zu helfen, mußten sie die Lieferungen an alle anderen osteuropäischen Brüder kürzen, und das machte böses Blut.

 

»RUSSAKOW: Bei den Gesprächen mit den Führern der Bruderländer wurden auch wirtschaftliche Fragen berührt. Die wichtigste war die Verrringerung der Lieferungen von Energieträgem, vor allem von Erdöl. Die Genossen Kadar, Husak und Schiwkow sagten, daß es für sie schwierig werden würde, daß sie aber Verständnis für unsere Bitte hätten, und meinten, daß sie einen Ausweg aus der Situation finden würden und das annehmen, was wir ihnen vorschlügen. Um vollige Klarheit zu schaffen, stellte ich den Genossen die Frage, ob ich dem Politbüro mitteilen könne, daß sie mit dem von mir vorgetragenen Standpunkt einverstanden seien. Die Genossen antworteten, ich könne das mitteilen.
Anders verlief das Gespräch mit dem Genossen Honecker. Er sagte sogleich, daß für die DDR eine solche Kürzung der Lieferungen unannehmbar sei, daß sie sowohl der Volkswirtschaft als auch der DDR als Ganzes großen Schaden zufügen würde, einen harten Schlag für die Wirtschaft der DDR bedeute und sie nicht mehr aus noch ein wüßten. Er erklärte somit, daß sie das nicht akzeptieren können, und bat um eine schriftliche Antwort des Genossen Breschnew auf zwei Briefe, die ihm geschickt wurden. Die Frage erwies sich als sehr schwierig und wurde im Grunde nicht gelöst. Dabei führte der Genösse Honecker erneut an, daß sie uns Wismut und Uran liefern und eine Heeresgruppe unterhalten. Die Sache wird bei ihnen noch dadurch verschlimmert, daß die Volksrepublik Polen nicht die Kohle liefert, die über unser Konto läuft. In diesem Zusammenhang äußerte Honecker, daß der Lebensstandard der deutschen Bevölkerung stark sinken werde und sie nicht wüßten, wie sie das den Leuten erklären sollten. Alle Planvorgaben müßten revidiert werden.

BRESCHNEW:  ... Bekanntlich haben wir beschlossen, die Erdöllieferungen an unsere Freunde zu kürzen. Alle haben das als schweren Schlag empfunden, und bis jetzt erwartet zum Beispiel der Genösse Honecker, wie Sie sehen, die Antworten auf die Briefe, die er uns geschickt hat. Andere warten auf keine Antwort, hoffen aber in ihrem Innersten, daß wir den Beschluß irgendwie ändern.


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Vielleicht sollten wir bei einem der nächsten Treffen mit den Freunden zu dieser Frage sagen, daß wir alles tun werden, um den Erdölförderplan zu erfüllen und überzuerfüllen, und hoffen, daß uns das gelingen wird. In diesem Fall könnten wir Korrekturen in die festgelegten Lieferpläne für Energieträger einbringen, ohne ihnen aber jetzt auf irgendeine Weise zu verstehen zu geben, daß wir von unserem Beschluß abgehen.
Der Genosse Tichonow muß offenbar diese Frage noch einmal aufmerksam prüfen, und wenn es die geringste Möglichkeit gibt, die gespannte Lage zu entschärfen, soll er dem ZK entsprechende Vorschläge vorlegen ... Was die Gespräche über die Erdöllieferungen betrifft, so mache ich mir besonders um die DDR Sorgen. Überhaupt möchte ich sagen, daß es den sozialistischen Ländern schwergefallen ist, unseren Vorschlag anzunehmen. Wenn sie es auch nicht offen sagen, so sind sie doch im Inneren mit diesem Beschluß unzufrieden. Und einige, wie aus dem Bericht des Genossen Russakow hervorgeht, drücken ihre Unzufriedenheit offen aus. Besonders unzufrieden ist der Genosse Honecker. Er sagt offen, daß der Beschluß für sie unannehmbar sei, und bittet sogar um eine schriftliche Antwort. Ich weiß einfach nicht, wie wir uns entscheiden sollen.

ANDROPOW, SUSLOW, KIRILENKO äußerten, daß man dem zustimmen müsse, was Breschnew gesagt habe.

ARCHIPOW:  Bei uns wird es noch Schwierigkeiten mit Brennstoff geben. Die Kumpel liefern 30 Millionen Tonnen zu wenig. Wie soll man dieses Defizit ausgleichen? Die Erdölindustrie wird den Plan nicht übererfüllen, deshalb muß man die 30 Millionen Tonnen irgendwo anders her beschaffen. Außerdem fehlen uns 1,5 Millionen Tonnen Zucker, der auch gekauft werden muß, und 800.000 Tonnen Pflanzenöl. Wir werden nicht darum herumkommen.
Was die Antwort an Honecker angebt, so ist, glaube ich, der Vorschlag, den der Genosse Russakow gemacht hat, der richtige. Wir müssen bekräftigen, daß wir den Beschluß, den wir Honecker mitgeteilt haben, nicht abändern können.
Was die Uranlieferungen betrifft, auf die sich der Genösse Honecker bezieht, so ist das von der DDR gelieferte Uran nur 20 Prozent der Gesamtmenge, die bei uns verarbeitet wird. Der Genösse Honecker berücksichtigt auch nicht, daß wir für die DDR Atomkraftwerke bauen, was sehr wichtig ist.


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RUSSAKOW:  Ich möchte noch sagen, daß die Polen darum bitten, das Niveau der Erdöl- und Gaslieferungen, das für dieses Jahr gilt, nicht zu senken.

ARCH1POW:  Wir führen Verhandlungen mit den Polen und sind der Meinung, daß unsere wirtschaftlichen Beziehungen nach dem Prinzip der Ausgeglichenheit in der Bilanz gestaltet werden sollten. Das würde natürlich zu einer beträchtlichen Verringerung der Erdöllieferungen führen -genau in dem Maße, in welchem sie die Kohle- und andere Lieferungen kürzen. Wenn jedoch alles gut gebt, so werden wir Erdöllieferungen im gegenwärtigen Umfang einplanen.

BAIBAKOW:  Alle sozialistischen Länder fühlen jetzt vor und orientieren sich an der DDR, sie schauen, wie wir mit der DDR verfahren. Wenn es Honecker gelingt, eine Bresche zu schlagen, werden auch sie es versuchen. Auf jeden Fall hat ihm bisher noch keiner eine schriftliche Antwort erteilt. In den letzten Tagen habe ich mit den Vorsitzenden der Plankomitees aller sozialistischen Länder gesprochen. Sie möchten alle, daß die Gesamtmenge der Öllieferungen, aufgeschlüsselt nach Jahren, erhalten bleibt. Einige machten den Vorschlag, das Erdöl durch andere Energieträger zu ersetzen.«137

 

Noch größere Schwierigkeiten verursachte allerdings die Bitte aus Polen um eine Lieferung von 30.000 Tonnen Fleisch.

 

»BRESCHNEW: Haben wir Polen das Fleisch geschickt, wie wir beschlossen hatten, und haben wir es Jaruzelski mitgeteilt?

RUSSAKOW: Wir haben es Jaruzelski angekündigt, er hat auch eine Ziffer genannt - 30000 Tonnen,

ARCH1POW: Das Fleisch werden wir aus unseren staatlichen Reserven nehmen.

BRESCHNEW: Gibt es irgendwelche Fortschritte nach meinem Telegramm bei den Fleischlieferungen aus den Republiken in den staatlichen Reservefonds?

ARCH1POW: Bis jetzt gibt es keinerlei Fortschritte bei den Fleischlieferungen, Leonid lljitsch. Es ist allerdings nicht genügend Zeit vergangen. Ich habe mit allen Republiken gesprochen und kann berichten, daß überall Maßnahmen ergriffen werden, damit der Plan für die Fleischlieferungen an den Staat erfüllt werden kann. Zum Beispiel sind solche Maßnahmen in Estland, Belorußland und Kasachstan ergriffen worden. Die Ukrainer haben bisher noch keine Anweisungen an die Verwaltungsgebiete erteilt.


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TSCHERNENKO:  Wir haben unser Telegramm in alle Gebiete der Ukraine geschickt.

ARCH1POW:  Bis Montag werden wir die Angaben bekommen, dann erstatten wir Bericht, wie die Sache bei uns steht.

GORBATSCHOW:  Leonid lljitsch, Ihr Telegramm hat eine große Rolle gespielt. Vor allem prüfen nun alle Republiken und Gebiete ernsthaft Maßnahmen, die die Planerfüllung garantieren würden. Auf jeden Fall wird nach den Informationen, die wir auf Grund von Telefongesprächen mit den Gebiets-, Regions- und Zentralkomitees erhalten haben, diese Frage überall in den Parteibüros erörtert. Wir werden eine Aufstellung über die bis zum 1. Januar erfolgten Fleischlieferungen vorlegen.

BRESCHNEW:  Ich denke die ganze Zeit daran, daß wir Polen zwar 30 ooo Tonnen Fleisch geben, daß ihnen unser Fleisch aber kaum helfen wird. Auf jeden Fall gibt es keine Klarheit darüber, was weiter mit Polen wird...»

 

Über diese 30.000 Tonnen Fleisch wurde dann noch einige Monate lang im Politbüro diskutiert. Einmal schien die Lieferung zu erfolgen, dann wieder nicht. Telegramme flogen hin und her, die Bevollmächtigten eilten hierhin und dorthin, die Telefone dröhnten von den Flüchen der Chefs, aber Fleisch war keines da. Jedoch am 10. Dezember, drei Tage vor der Einführung des Kriegsrechts, berichtete der Vorsitzende des Staatlichen Planungskomitees Baibakow, nachdem er in Warschau gewesen war:

 

»Bekanntlich helfen wir auf Beschluß des Politbüros den polnischen Genossen auf ihre Bitte hin mit einer Lieferung von 30000 Tonnen Fleisch. Von diesen 30000 Tonnen sind bereits 16000 geliefert worden. Es muß gesagt werden, daß das Fleisch in schmutzigen, ungereinigten Waggons, in denen zuvor Erz befördert wurde, in einem sehr unansehnlichen Zustand transportiert wird. Beim Entladen der Ware auf den polnischen Bahnhöfen kommt es zu regelrechter Sabotage. Die Polen beschimpfen mit den unflätigsten Ausdrücken die Sowjetunion und die sowjetischen Menschen, sie weigern sich, die Waggons zu reinigen und so weiter. Die Beleidigungen, mit denen wir überhäuft wurden, sind nicht zu zählen.«


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Die neuen Wünsche Jaruzelskis am Vorabend der Einführung des Kriegsrechts klangen wirklich »unverschämt«, wie Andropow es ausdrückte.

»BAIBAKOW: Die Liste der Waren, die die Volksrepublik Polen von unserer Seite als Hilfe zu bekommen wünscht, umfaßt jjo Positionen mit einem Wert von 1,4 Milliarden Rubel, Dazu gehören zwei Millionen Tonnen Getreide, 2fooo Tonnen Fleisch, 625000 Tonnen Eisenerz und viele andere Waren. Zuzüglich dessen, was wir 1982 zu geben beabsichtigten, beläuft sich die Gesamtsumme der Hilfeleistungen an die Volksrepublik Polen - einschließlich der von den polnischen Genossen geäußerten Wünsche - auf 4,4 Milliarden Rubel.
Jetzt muß Polen den westeuropäischen Ländern die Kredite zurückzahlen. Dafür braucht Polen mindestens 2,8 Millionen Valutarubel. Als ich mir anhörte, worum sie baten und was diese ganze Hilfe kostet, stellte ich mir die Frage, ob wir unsere Beziehungen nicht besser auf die Basis der Ausgeglichenheit der beiderseitigen Lieferungen stellen sollten. Dabei ist zu bemerken, daß die polnische Industrie in bedenklichem Maß ihre Pläne nicht erfüllt. Die Kohlegewinnung, die die Hauptquelle für die Deviseneinkünfte darstellt, ist zerrüttet, und es wird nichts dagegen unternommen; die Streiks gehen weiter. Obwohl im Moment nicht gestreikt wird, läuft die Kohleförderung weiterhin auf sehr niedrigem Niveau.
Die Bauern zum Beispiel haben Erzeugnisse, sie haben Getreide, Fleischprodukte, Gemüse und so weiter, geben aber dem Staat nichts und warten ab. Auf den privaten Märkten geht ein lebhafter Handel zu sehr überhöhten Preisen vor sich.
Ich habe den polnischen Genossen geradeheraus gesagt, daß angesichts dieser Lage entschlossenere Maßnahmen ergriffen werden müssen. Vielleicht sollte eine Art Ablieferungspflicht eingeführt werden.
Was zum Beispiel die Getreidevorräte betrifft, so hat Polen in diesem Jahr zwei Millionen Tonnen eingebracht. Das Volk hungert nicht. Die Städter fahren auf die Markte und in die Dörfer und kaufen alle Lebensmittel, die sie brauchen. Diese Lebensmittel sind vorhanden.
... Angesichts ihrer Zahlungsbilanz wollen die Polen ein Moratorium für die Rückzahlung ihrer Schulden an die westlichen Länder erklären. Wenn sie dieses Moratorium beschließen, dann werden alle polnischen


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Schiffe, die sich in den Gewässern oder Häfen irgendeines anderen Landes befinden und alles polnische Eigentum in Ländern, bei denen Polen Schulden hat, beschlagnahmt. Deshalb haben die Polen den Kapitänen ihrer Schiffe die Anweisung erteilt, die Häfen zu verlassen und sich in neutrale Gewässer zu begeben ...

RUSSAKOW: Der Genosse Baibakow hat den Zustand der polnischen Wirtschaft richtig dargestellt. Was sollten wir jetzt tun? Mir scheint, wir sollten Polen die Waren liefern, die im Wirtschaftsabkommen genannt sind, und der Umfang dieser Warenlieferungen sollte den des ersten Quartals des vorigen Jahres nicht überschreiten.

BRESCHNEW: Aber können wir das alles jetzt geben? 

BAIBAKOW: Leonid Iljitsch, das kann nur aus den staatlichen Reserven oder den für den Binnenmarkt vorgesehenen Kontingenten genommen werden.«138

 

Wieviel hat die »polnische Krise« die UdSSR gekostet? Es ist fast unmöglich, alle Ausgaben zusammenzurechnen, aber allein die Wirtschaftshilfe, einschließlich der Kredite für die Warenkäufe und die Begleichung der finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem Westen, die gestundeten Zahlungen und die unentgeltliche Hilfe betrugen für die Jahre 1980 bis 1981 2,934 Milliarden Dollar.139 Und jedes folgende Jahr kostete kaum weniger. In Polen hatte sich in vier Jahren nichts geändert. Immer noch zerbrach sich das Politbüro den Kopf, wie die führende Rolle der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei wiederhergestellt und die »Konterrevolution« endgültig erstickt werden kann. Hochrangige sowjetische Delegationen kamen nach Warschau und gaben wertvolle Ratschläge zur »Verstärkung der Arbeit mit den Massen«, periodisch fand sich Jaruzelski in Moskau ein — um zusätzliche Hilfe zu erbitten. Bis 1984 hatte auch der starrsinnigste Schädel im Politbüro eingesehen, daß die Situation hoffnungslos war. Wie einer von ihnen sagte:

»Man muß berücksichtigen, daß Polen, obwohl es sich ein sozialistisches Land nennt, niemals im vollen Sinne dieses Wortes sozialistisch war.«140

 


  

16.  Der Bankrott

 

Nach den Ereignissen in Polen sahen die Sowjetführer auch ihr eigenes Land mit anderen Augen.

»Entsprechend dem Auftrag des ZK der KPdSU wurden die das Zentralkomitee erreichenden Informationen über Mißverständnisse und Konflikte zwischen den Arbeitern und der Direktion einiger Unternehmen, die verschiedentlich zu Arbeitsniederlegungen und anderen negativen Erscheinungen führten, analysiert.

Wir halten es für erforderlich zu melden, daß die Zahl derartiger negativer Vorfälle in der letzten Zeit etwas zugenommen hat, was Grund zu ernster Besorgnis ist. Die überwiegende Mehrheit von ihnen ist, wie die Analyse zeigt, unmittelbar verbunden mit Verstößen gegen die Bestimmungen bei der Überprüfung der Arbeitsnormen und des Arbeitslohns, fehlerhafter Berechnung und verspäteter Zahlung des Arbeitslohns, besonders der Prämien, sowie schlechten Arbeitsbedingungen und Gleichgültigkeit gegenüber den Beschwerden der Werktätigen." 141

 

Das war ein unheilverkündendes Symptom, obwohl es nicht zu Massenstreiks kam. In der Regel handelte es sich um lokale Konflikte, an denen sich eine Werksabteilung oder eine Schicht beteiligte und deren Ursache am häufigsten grobe Verstöße gegen das Arbeitsrecht durch die Betriebsleitung waren. Etwa 300 solcher Fälle wurden 1979 gezählt. Die Ereignisse in Polen beeinflußten deutlich die Stimmung der Arbeiter.

»Es ist festzustellen, daß in den letzten Wochen die Fälle von Arbeitsverweigerung zunehmen. An einigen Orten war die Weigerung, die Produktionsaufgaben zu erfüllen, nicht auf das Kollektiv einer Schicht beschränkt, sondern breitete sich auf die folgende aus und umfaßte eine beträchtliche Zahl von Arbeitern.«

Natürlich bekamen die Gewerkschaftsvorsitzenden eine Abreibung, damit sie besser die Interessen ihrer Mitglieder verteidigten. Aber konnte das helfen, wenn seit langem schon die Gewerkschaften, die Betriebsleitung und die örtliche Parteileitung zu einem einzigen Apparat zusammengeschmolzen waren, der vor allem die Verantwortung für die Planerfüllung trug?


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Außerdem waren die Streiks nur der Kulminationspunkt der wachsenden Unzufriedenheit, deren Ursache nicht in konkreten Arbeitsstreitigkeiten lag. Vor allem war es der ständige Mangel an den wichtigsten Nahrungsmitteln. Die Polen streikten, weil es kein Fleisch gab, doch die sowjetischen Arbeiter wagten gar nicht, an Fleisch zu denken. Für sie gab es nicht einmal genügend Brot.

 

*... aus einigen Orten erreichen uns Briefe von Bürgern, in denen mitunter in scharfer Form von zeitweiligen Störungen bei der Versorgung mit Brot und Backwaren, der Verringerung des Sortiments an Backwaren und ihrer schlechten Qualität berichtet wird«, teilte Tschernenko mit.142

Nun, wie sollten die Arbeiter nicht streiken, wenn »sich die unregelmäßige Versorgung mit Brot auf ihre Stimmung auswirkt; mitunter gibt es vier Tage lang kein Brot. Die Kinder sehen selten weißes Brot und Brötchen. Mehl gibt es nicht zu kaufen«, zitierte er.

 

Natürlich gab er vor allem den unfähigen lokalen Machthabern die Schuld, aber auch den Bauern, die angeblich Brot zur Fütterung des Viehs kauften. Aber sogar Tschernenko begann zu begreifen, daß irgend etwas im System nicht stimmte - schon allein deshalb, weil diese Mißstände überall auftraten. Die Verantwortlichen wurden ausgewechselt, hier und da wurde Brot auf Karten und nach Listen verkauft (um zu verhindern, daß es zur Viehfütterung verwendet wurde), aber trotzdem reichte es nicht aus.

 

»Auf den Seiten unserer Zeitungen wird von der Erfüllung der sozialistischen Verpflichtungen und Planaufgaben im letzten Jahr des zehnten Fünfjahresplans beim Verkauf von Getreide an den Staat berichtet, doch in unserer Arbeiterstadt ist schon seit zwei Tagen kein Laib Brot aufzutreiben. Gegen zwei bis drei Uhr nachmittags sind die Regale in den Geschäften leer. Aus diesen Gründen sind ungute Gerüchte im Umlauf", zitierte er einen Beschwerdeführer.

 


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Es war in der Tat rätselhaft. Die Pläne wurden übererfüllt, und noch viele Millionen Tonnen Getreide wurden in Kanada und den USA gekauft, doch es gab kein Brot. Mit Schlamperei allein war das nicht zu erklären, zumal das Brot nur eines von vielen Beispielen war.

»Es ist festzustellen, daß neben Mitteilungen über Störungen in der Versorgung mit Brot und anderen Grundnahrungsmitteln aus einigen Republiken und Gebieten auch Beschwerden über eine unzureichende Versorgung mit Salz und Tafelessig eingehen.«

Die Geschichte mit dem Salz war noch mystischer als das Verschwinden des Brotes. In Rußland gibt es ganze Meere von Salz, man braucht es nicht anzubauen, sondern nur auszubaggern und in Waggons zu laden. Mit dem geheimnisvollen Verschwinden des Salzes befaßte sich das ZK gesondert,143 aber konnte das Rätsel auch nicht vollständig lösen.

 

»Unter den beim Zentralkomitee eingehenden Briefen von Werktätigen, die die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln betreffen, finden sich immer häufiger Klagen aus einigen Gegenden des Landes über Engpässe hei der Versorgung mit Kochsalz, das geringe Sortiment und die schlechte Qualität des Salzes«, berichtete die Abteilung des ZK für Briefe aus der Bevölkerung.

»Im Brief des Genossen ... aus der Stadt ... beißt es: >In letzter Zeit kränkelt bei uns der Einzelhandel immer öfter. Zudem betrifft das die Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs. Kürzlich gab es kein Kochsalz zu kaufen. All das führt zu allen möglichen Fehlurteilen.<

>In unserem Gebiet wird Salz gewonnen,< schreibt Genosse ... aus ... >Wie läßt es sich dann erklären, daß es bei uns seit längerem Probleme bei der Versorgung mit diesem Erzeugnis gibt? Es ist bereits so weit gekommen, daß die Zöglinge aus den Kindergärten von Haus zu Haus laufen und um eine Prise Salz betteln. Natürlich wirken sich diese Mängel auf die Ergebnisse unserer Arbeit und auf unsere Stimmung aus

 

Interessant ist, daß das ZK von diesen Erscheinungen nicht durch seinen Apparat, die Kontrollorgane und auch nicht durch den allgegenwärtigen KGB, sondern aus den Beschwerden einzelner Bürger erfuhr. Das erzürnte ZK führte Untersuchungen durch, die verantwortlichen Beamten wurden von der Partei »streng zur Verantwortung gezogen«, einige sogar eingesperrt, aber es besserte sich nichts.


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Die Ortsgewaltigen paßten nur genauer auf, daß die Beschwerden nicht bis nach Moskau gelangten, und die böswilligsten Beschwerde­führer wurden in Irrenhäuser oder Gefängnisse gesteckt oder auf andere Weise fertiggemacht. Der Partei- und Wirtschaftsapparat berichtete auf allen Ebenen nur von der Übererfüllung der Pläne. Wie sehr das ZK auch gegen diese beschönigenden Fälschungen kämpfte, es konnte sie nicht beseitigen. Es wurde sogar ein besonderer Artikel, der Strafen bis zu drei Jahren dafür vorsah, in das Strafgesetzbuch aufgenommen, doch ohne Erfolg. Schließlich wußte die Führung nicht mehr, was das Land produzierte, in welcher Menge, welcher Qualität ...

In siebzig Jahren hatten die Parteiführer nicht gelernt, die Wirtschaft ihres Landes in Ordnung zu bringen. Alles, was sie konnten, war zu befehlen, anzuordnen, zu »verstärken«, zu »erhöhen«, zu »erweitern« und einstimmig Beschlüsse zu fassen. Nun, sie konnten noch die Preise erhöhen, und wenn all diese »zielgerichteten Maßnahmen« nicht zu den gewünschten Resultaten führten, wurden Schuldige ausfindig gemacht und »streng bestraft«.

 

»Das Sekretariat des ZK der KPdSU gibt bekannt, daß ein Beschluß über die Erhöhung der Einzelhandelspreise (Durchschnittspreise) ab 1. Juli 1979 für folgende Waren gefaßt wurde:

für Erzeugnisse aus Gold um 50 Prozent,
für Erzeugnisse aus Silber um 95 Prozent,
für Erzeugnisse aus Naturpelzen um 50 Prozent,
für Teppiche und Teppicherzeugnisse um 50 Prozent,
für Personenkraftwagen um 18 Prozent,
für importierte Möbelgarnituren um 30 Prozent.

Gleichzeitig wurden die Ministerräte der Unionsrepubliken, das Ministerium für Handel der UdSSR, die Ministerien und Behörden, die über gastronomische Einrichtungen verfügen, angewiesen, die Aufschläge in den Restaurants, Cafes und gleichartigen Betrieben in der Abendzeit um 100 Prozent sowie auch die Preise für Bier, das in den Restaurants und Cafes und anderen gastronomischen Einrichtungen ausgeschenkt wird, durchschnittlich um 45 Prozent zu erhöhen.


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Das ZK der KPdSU und der Ministerrat der UdSSR sahen sich gezwungen, diese Maßnahmen zu ergreifen, um ein Gleichgewicht zwischen den wachsenden Geldeinkommen der Bevölkerung und dem Umfang der Produktion von Waren des Massenbedarfs und der Dienstleistungen herzustellen, Ordnung in den Handel mit Mangelwaren zu bringen und den Kampf gegen Spekulation und Korruption zu verstärken.

Bekanntlich kann trotz früher erfolgter Preiserhöhungen für Erzeugnisse aus Gold und Silber, Teppiche, Pelzwaren, Automobile und Importmöbel die Nachfrage nach diesen Waren nicht befriedigt werden, im Handel mit diesen Waren gibt es lange Wartezeiten, und oft werden die Bestimmungen für den 'Einzelhandel nicht beachtet. Zwischenhändler und Spekulanten nutzen die Lage zur eigenen Bereicherung aus und demoralisieren die Mitarbeiter des Handels durch Schmiergelder. In ihren Briefen an das ZK der KPdSU und den Ministerrat der UdSSR werden diese Zustände von den Werktätigen scharf kritisiert, und es wird gebeten, Ordnung zu schaffen. Das wirkungsvollste Mittel zur Lösung dieser Frage ist die Erhöhung der Produktion und des Verkaufs der Mangelwaren. In dieser Richtung werden beträchtliche Anstrengungen unternommen. So wuchs zum Beispiel die Produktion von Teppichen seit 1970 von 30 Millionen auf 6~/ Millionen Quadratmeter oder um das 2,zfache. Der Verkauf von Automobilen stieg in diesem Zeitraum um das 9, \'fache. Jedoch bleibt die Produktion einer Reihe von Erzeugnissen hinter der steigenden Nachfrage zurück, und bei einigen Waren kann das Angebot wegen des Mangels an harter Währung (Importwaren) oder an Naturressourcen (Naturpelze, Erzeugnisse aus Edelmetallen) nicht im erforderlichen Maße erhöht werden.

Deshalb muß die unerwünschte, aber erforderliche Maßnahme der Preiserhöhung benutzt werden, um Ordnung im Handel zu schaffen. Damit die Grundinteressen der Werktätigen so wenig wie möglich beeinträchtigt werden, erstreckt sich die Preiserhöhung nur auf Waren, die nicht lebensnotwendig sind. Außerdem ist vorgesehen, die alten Preise für Goldplatten für Zahnprothesen beizubehalten und als Kompensation für die Verteuerung die Beihilfe beim Erwerb von Eheringen für Personen, die das erstemal heiraten, (auf 70 Rubel pro Person) zu erhöben. Die Einzelhandelspreise für Pelzwaren für Kinder sowie für Erzeugnisse aus Kaninchen- und Schaffell (mit Ausnahme von Pelzmänteln) sind von der Preiserhöhung für Erzeugnisse aus Naturpelzen ausgenommen.


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Es ist auch zu beachten, daß das Ministerium für Holzindustrie und das Staatliche Preiskomitee der UdSSR angesichts der neuen Großhandelspreise für Heizmaterial die Preise für Möbel aus der einheimischen Produktion neu festlegten. Die Verlagerung der Holzwirtschaft in die östlichen Gegenden des Landes führte zu einer beträchtlichen Kostensteigerung. Als Folge davon wurde die Holzwirtschaft defizitär. Die neuen Großhandelspreise schaffen für diesen Wirtschaftszweig die Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Rechnungsführung. In Verbindung mit der Erhöhung der Großhandelspreise für Holz erfolgt eine relativ geringe Erhöhung der Einzelhandelspreise für Möbel (durchschnittlich um zehn Prozent).

Die Mitteilung des Staatlichen Preiskomitees der UdSSR über die Preisänderung wird am 1. Juli 1979 in der Presse veröffentlicht. Die Parteikomitees sollen rechtzeitig das Parteiaktiv informieren, die Kontrolle über die Durchführung der Preiserhöhung und die nötige Aufklärungsarbeit unter der Bevölkerung organisieren. Wenn es - wie das in der Vergangenheit schon geschehen ist - zu Mutmaßungen oder Gerüchten - über eine allgemeine Erhöhung der Verbraucherpreise kommt, ist dem entschieden entgegenzutreten. Das Aktiv ist eindeutig dahingehend zu instruieren, der Bevölkerung überzeugend zu erklären, daß weitere Preiserhöhungen außer den in der Bekanntmachung des Staatlichen Preiskomitees angekündigten nicht vorgesehen sind.

Im Zusammenbang mit den bevorstehenden Änderungen der Verbraucherpreise hält es das ZK der KPdSU für notwendig, noch einmal darauf hinzuweisen, daß es außerordentlich wichtig ist, nach Kräften die Produktion von Massenbedarfsartikeln voranzutreiben, die festgelegten Pläne unbedingt zu erfüllen, die Qualität zu erhöhen, rechtzeitig neue Kapazitäten zu erschließen, den Dienstleistungsbereich zu erweitern und die Organisation des Handels zu verbessern.

Diese Fragen müssen ständig im Zentrum der Aufmerksamkeit aller Parteiorganisationen und -komitees stehen, weil die Befriedigung der Nachfrage zu erschwinglichen Preisen eine der wichtigsten ökonomischen und sozialpolitischen Aufgaben ist." 144)

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Die Gefahr, auf wirtschaftlichem und nicht zuletzt auch auf militärischem Gebiet immer mehr hinter dem Westen zurückzubleiben, war es, was die sowjetische Führung schließlich bewogen hat, Reformen in Angriff zu nehmen. Sie waren einzig und allein von der Sorge getrieben, daß die Sowjetunion ihren Status als Supermacht und damit ihren Einfluß in der Welt verlieren könnte.

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