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Teil 6    Die Revolution, die so nicht stattgefunden hat 

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6.1  Beschleunigung des Fortschritts

 

 

 521-522

»Komitee für Staatssicherheit der UdSSR, 19.2.86
Nummer 321-Tsch/OV, Moskau, Sonderakte 
Von besonderer Wichtigkeit

ZK der KPdSU
An den Genossen M. S. Gorbatschow 
Rechenschaft über die Arbeit des Komitees für Staatssicherheit der UdSSR für 1985

Die Tätigkeit des Komitees für Staatssicherheit diente ausschließlich den Forderungen der Kommunistischen Partei, die Sicherheit des Sowjetstaates und der Gesellschaft zuverlässig zu garantieren.
Die Organe der Staatssicherheit führten einen Maßnahmenkomplex durch, um die Realisierung der Beschlüsse der April- und Oktoberplena des ZK der KPdSU von 1985 mit tschekistischen Mitteln umfassend zu fördern. Diese Beschlüsse betrafen die Beschleunigung der sozial-ökonomischen Entwicklung der UdSSR, den größtmöglichen Fortschritt der sowjetischen Gesellschaft, die Konsolidierung der Positionen der UdSSR auf internationaler Arena, den Widerstand gegen die aggressive Politik des Imperialismus.«

 

Derartige jährliche Rechenschaftsberichte über die geleistete Arbeit legte der KGB dem Generalsekretär seit jeher vor. Im wesentlichen war das eine bloße Formalität — über die dort mitgeteilten Maßnahmen wurde der Generalsekretär je nach dem Stand ihrer Ausarbeitung und ihrer Realisierung ohnehin ständig informiert. Für uns sind diese Jahresberichte jedoch insofern von Vorteil, als man daraus genaue Rückschlüsse auf die Grundtendenzen der sowjetischen Politik zu einem bestimmten Zeitpunkt ziehen kann. 

Über Gorbatschow und seine »Reformen« werden so viele, zum Teil derart fantastische, Lügen verbreitet (nicht zuletzt von ihm selbst), daß man nur Dokumenten vertrauen kann. Dabei darf man nicht vergessen, daß die Dokumente seiner Regierungsperiode einer erheblichen Säuberung unterzogen worden sind: Nach dem Scheitern des August-Putsches 1991 vernichteten seine Informanten alles, was ihnen nur irgend zugänglich wurde. 

Aber selbst das wenige, was erhalten blieb, entspricht in keiner Weise dem Mythos des kühnen Reformers, Liberalen und Demokraten, der den Lauf der Geschichte gegen den Widerstand von Reaktionären und Dogmatikern gelenkt hätte. 

Betrachten wir zum Beispiel, welche Prioritäten der neue Generalsekretär Gorbatschow für den KGB für 1985 setzte. Dann sehen wir, worin seine wirklichen Absichten bestanden. Die wichtigste Aufgabe wird bezeichnenderweise in dem Vortrag des KGB-Chefs Tschebrikow genannt:

 

»Die Auslandsaufklärung war bestrebt, Qualität und operativen Charakter der Informationen zu verbessern, die über die Politik der herrschenden Kreise in den USA, anderen NATO-Ländern, Japan und China im Verhältnis zur Sowjetunion gesammelt wurden, und zwar unter dem Aspekt ihrer praktischen Handlungen zur Untergrabung der internationalen Positionen unseres Landes und der Friedensinitiativen des sowjetischen Staates.

Vorrangige Aufmerksamkeit galt der Information über militärstrategische Pläne des Gegners, seine Ambitionen, die militärische Überlegenheit über die UdSSR, zu erreichen, sowie Anzeichen, die auf die Vorbereitung einer eventuellen plötzlichen Auslösung eines Atomkrieges schließen ließen. Außerdem befaßte man sich noch mit weiteren Problemen, die lebenswichtige Interessen der Sowjetunion, der sozialistischen und uns befreundeten Länder berührten.

... Ausgehend von den Forderungen der Partei hinsichtlich der Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und der Entwicklung der sowjetischen Ökonomie wurden Maßnahmen zur Erhöhung der Effektivität der wissenschaftlich-technischen Spionage getroffen. Hierdurch gewannen wir eine Fülle an dokumentarischen Informationen über die neuesten Errungenschaften und Entdeckungen in Wissenschaft, Technik und Technologie der führenden kapitalistischen Länder. Große Aufmerksamkeit wurde


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der Beschaffung neuer Materialien und Proben gewidmet, vor allem solcher von praktischer Bedeutung. Über 40.000 Informationen und 12.000 Proben wurden gesammelt. Wenn man die wesentlichen Aufgaben auch im Hinblick auf die Aufgabenstellung der Staatskommission des Ministerrates der UdSSR im Bereich der Militärindustrie zusammenrechnet, wurden mehr als 15.000 Dossiers und über 6500 Proben bereitgestellt. Dem Verteidigungsministerium und dem Generalstab der Streitkräfte der UdSSR wurden 1610 Dossiers und 309 Proben zugeleitet. ...

Die Aufklärung führte systematisch aktive Maßnahmen durch, um außenpolitische Initiativen des sowjetischen Staates zu fördern und die aggressive Politik der USA und ihrer Verbündeten zu entlarven. Dies waren aktive Maßnahmen zur Diskreditierung des amerikanischen Plans des >Krieges der Sterne<, zur Verschärfung und Vertiefung innerimperialistischer Gegensätze und zur Aktivierung der Antikriegsbewegung in den westlichen Ländern.«1

 

Wie wir sehen, wird großer Wert darauf gelegt, die bisherige Politik der wissenschaftlich-technischen Spionage, die Desinformations­kampagnen und den »Kampf für den Frieden« noch intensiver zu betreiben. Das entspricht voll und ganz dem Kurs, den Gorbatschow seinen Kollegen anläßlich seiner Wahl zum Generalsekretär vorschlug:2

 

»GORBATSCHOW:  
Vor allem möchte ich sagen, daß die Hauptsache, das Wichtigste darin besteht, daß unsere heutige Sitzung des Politbüros im Geiste der Einheit verläuft. Wir stecken in einer sehr schwierigen Zeit des Umbruchs. Unsere Wirtschaft braucht mehr Dynamik. Das gilt auch für unsere Demokratie und ebenfalls für die Entwicklung unserer Außenpolitik. ... 

Ich sehe meine Aufgabe vor allem darin, zusammen mit Ihnen neue Lösungen zu suchen, Wege, unser Land voranzubringen, die Wirtschafts- und Militärmacht des Vaterlandes zu stärken und das Leben unseres Volkes zu verbessern.

Ich bin ein überzeugter Anhänger kollektiver Arbeit und denke, daß in ihr das Potential steckt, das wir noch bei weitem nicht voll ausgeschöpft haben. Unser kollektivistisches Potential muß noch aktiver und effektvoller arbeiten. Wir müssen unsere Politik nicht ändern. Sie ist korrekt und richtig, eine echt leninistische Politik. Wir müssen Tempo gewinnen, uns vorwärts bewegen, Mängel aufzeigen und überwinden, unsere lichte Zukunft deutlich erkennen."


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Das ist, in einem Wort, die »Beschleunigung«, wie sie die Partei einen Monat später auf dem April-Plenum verkündete. In Fragen der Ideologie und der Außenpolitik bedeutete das eher eine Verschärfung des alten Kurses und keineswegs eine Liberalisierung.

 

»Die Spionageabwehr konzentrierte ihre Anstrengungen auf die rechtzeitige Entdeckung und Vereitelung der subversiven Spionageabsichten und -aktionen der gegnerischen Geheimdienste. Es wurden erfolgreiche Maßnahmen durchgeführt, um die operativen Positionen in den Organen des Gegners und den ausländischen antisowjetischen Formationen auszubauen.
Gefährliche Aktionen gegnerischer Geheimdienste, ihre Versuche, in Staats- und Militärgeheimnisse der UdSSR einzudringen, wurden aufgedeckt. Die Spionagetätigkeit einer Reihe von Mitarbeitern, die getarnt in diplomatischen Vertretungen der USA, Englands und Frankreichs agierten, wurde unterbunden. Acht von ihnen wurden aus der UdSSR ausgewiesen. 113 Fahrten von Militärdiplomaten im Land zu Spionagezwecken wurden vereitelt, ebenso die Versuche von 29 Spionen, in Zonen besonders wichtiger Verteidigungs- und anderer Objekte einzudringen.
Die Spionagetätigkeit von neun Sowjetbürgern, die dem Gegner wichtige Staatsgeheimnisse übergeben hatten, wurde entlarvt. Die Absichten einiger Dutzend feindlich gesonnener und moralisch labiler Personen, von sich aus Kontakt mit ausländischen Diensten aufzunehmen, wurden verhindert.
Große Bedeutung wurde dem Schutz der sowjetischen Wirtschaft und Wissenschaft vor subversiven Umtrieben gegnerischer Dienste beigemessen. Etliche Maßnahmen richteten sich gegen die Bemühungen der USA und ihrer Partner, die außenpolitischen und wissenschaftlich-technischen Verbindungen der UdSSR zu blockieren. Eine beträchtliche Anzahl von Ausländern, die gegnerischen Diensten angehörten, wurde entdeckt. Für Spionage- und andere subversive Tätigkeit wurden vier von ihnen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, 22 aus der UdSSR ausgewiesen, vielen wurde die Einreise in unser Land verweigert. Die verbrecherische Tätigkeit einiger


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Angestellter der Außenhandelsorganisationen, die von ausländischen Firmen gekauft worden waren und ihnen Dienstgeheimnisse preisgegeben hatten, wodurch sie der Wirtschaft des Landes Schaden zugefügt hatten, wurde unterbunden.
... Die Geheimhaltung und Sicherheit von Konvois mit 2440 Zügen mit Sonder- und Militärlasten sowie der Verlagerung neuester Waffen wurde gewährleistet. ,.. Die Organe der militärischen Spionageabwehr leisteten der Truppenführung und den Politorganen allseitige Hilfe bei der Aufrechterhaltung ständiger Gefechtsbereitschaft der Streitkräfte der UdSSR und beim Schutz der Militärgeheimnisse. In der Armee wurden zwei CIA-Agenten der USA entlarvt. In Zusammenarbeit mit den Sicherheitsorganen der Freunde wurden elf Spione unter den Ausländern unschädlich gemacht, die im Umfeld der sowjetischen Streitkräfte in den Ländern des Warschauer Pakts tätig waren. Gemeinsam mit den Sicherheitsorganen Afghanistans wurden sieben Agenten gegnerischer Geheimdienste und 132 Agenten konterrevolutionärer Gruppierungen entdeckt. .., Der KGB der UdSSR strebte konsequent nach verstärkter Zusammenarbeit mit den Sicherheitsorganen der sozialistischen Bruderländer, was der erfolgreichen Lösung von Aufgaben der Auslandsaufklärung und der Spionageabwehr zugute kam. Große Hilfe bei der Unterdrückung der bewaffneten Konterrevolution und der Stabilisierung der Lage im Land wurde Afghanistan erwiesen und ebenso Nicaragua bei der Steigerung der Effektivität des Kampfes mit den amerikanischen Söldnern. Das Zusammenwirken mit den Geheimdiensten einiger anderer Entwicklungsländer wurde weiter ausgebaut.«3

 

Jedoch verschärften sich in besonderem Maße die politischen Repressionen oder der »Kampf mit der ideologischen Diversion des Klassengegners«, wie Tschebrikow es nannte. Hierher gehören auch die Verschärfung der Grenzbewachung (1646 »Grenzverletzer« wurden festgenommen) und die »Unterbindung subversiver ideologischer Aktionen von Emissären ausländischer, antisowjetischer, nationalistischer, zionistischer und klerikaler Organisationen« (300 Personen wurden ausgewiesen, 322 die Einreise verweigert). 

Ebenso ist hier die Liquidierung illegaler nationalistischer Organisationen in der Ukraine und im Baltikum zu nennen (25) und die »Verhinderung der Bildung von 93 Jugendgruppen auf ideologisch schädlicher Basis«.


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Allein 1275 »Personen, die anonyme und antisowjetische Materialien verfaßt beziehungsweise verbreitet« hatten, wurden entdeckt, von denen 97 inhaftiert wurden. Überhaupt ist die Ernte 1985 ungewöhnlich groß:

»Zu strafrechtlicher Verantwortung wurden gezogen:
für besonders gefährliche Staatsverbrechen - 57 Personen,
für andere Staatsverbrechen - 417,
für andere Verbrechen - 61.
... Es wurden vorbeugende, prophylaktische Maßnahmen im Hinblick auf
  15274 Personen getroffen.«

 

Diese bewußte »Verschärfung« hatte natürlich viele Ziele, darunter auch die Einstimmung der öffentlichen Meinung auf eine günstigere Aufnahme der folgenden »Liberalisierung« (soweit sie erforderlich wäre) und die Säuberung des Landes von denen, die von ihr Gebrauch machen könnten. Außerdem »erhöhte« das Regime vor dem Beginn des Dialogs mit dem Westen sozusagen den »Einsatz«. Es versuchte, Unwesentliches »preiszugeben«, um dafür lebenswichtige Zugeständnisse zu erhalten. Bevor man sich auf gefährliche Spiele einließ, wollten die Führer offensichtlich ein letztes Mal die Schwäche des Westens testen: Vielleicht war es ja gar nicht nötig, allzuviel zu riskieren?

Aber daß es zur Erreichung ihres Ziels, einer Wiederbelebung der Entspannung, eines bei weitem feineren Spiels bedurfte, erkannten sie ohne Zweifel. Nicht zufällig wurde parallel dazu, sozusagen vollkommen unabhängig von der »Verschärfung«, nach den Worten Tschebrikows, ein »Maßnahmenkomplex« durchgeführt, um »mit tschekistischen Mitteln« die Pläne der Kreml-Strategen »allseitig zu fördern«. So wurde bereits einige Monate vor der Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär die westliche Presse mit Materialien überschüttet, in denen er als »jung«, »energisch« »liberal«, »prowestlich« und so weiter angepriesen wurde. Nach seiner Wahl im März 1985 verloren diese Anpreisungen vollends jegliches Maß. Gorbatschow wurde dem Westen als beste, wenn nicht überhaupt letzte Gelegenheit, »zu einer Verständigung zu kommen«, präsentiert, und sein ganzes Image war auf den westlichen Verbraucher ausgerichtet, besonders auf den einer gemäßigten linken Orientierung.


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Muß man sich da noch wundern, daß diese Kampagne prompt von der linken Presse, von Sozialisten und Sozialdemokraten aufgegriffen wurde? Eine der ersten Begegnungen des neugewählten Generalsekretärs war die mit einer Delegation der Sozialistischen Internationale, und im April instruierte die Leitung der Auslandsaufklärung des KGB alle seine Residenten in Europa, umgehend die in den letzten Jahren etwas eingeschlafene Zusammenarbeit mit ehemaligen Partnern in der Entspannungs­politik wieder zu erneuern.

 

»Die ernsthafte Verschärfung der internationalen Lage und die zunehmende Kriegsgefahr, hervorgerufen durch die enorm gesteigerte Aggressivität der imperialistischen Politik — vor allem der amerikanischen —, auf der anderen Seite der konsequent friedliebende Kurs der Sowjetunion und die besonders in den westeuropäischen Ländern breit angewachsene Antikriegsbewegung zwangen die Sozialistische Internationale (SI), mit einem eigenen Programm des Kampfes für Frieden und Abrüstung hervorzutreten.«

 

Das vollständigste Programm dieser Art wurde 1983 auf dem XVI. Kongreß der SI vorgestellt. Die »grundlegendste« Aufgabe der Sozialdemokratie sei es, »das Überleben des Menschengeschlechts« sicherzustellen. Aber formuliert wurde diese Aufgabe als Appell an die beiden »Supermächte« — die USA und die UdSSR.

 

»Der Kongreß rief die UdSSR und die USA dazu auf, eine Übereinkunft über die Beendigung des Wettrüstens zu erreichen. Er wiederholte dabei viele konkrete Vorschläge, die früher schon mehrmals von der Sowjetunion vorgebracht worden waren: Über die Begrenzung und Reduzierung der strategischen Rüstung, über Atomwaffen in Europa, die Einstellung der Produktion neuer Arten von Massenvernichtungswaffen, über das Verbot chemischer und bakteriologischer Waffen, über die Demilitarisierung des Meeresbodens und des Kosmos, die Schaffung atomwaffenfreier Zonen und anderes mehr.«4


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Der Leser erinnert sich, daß das Politbüro mit einer diesbezüglichen Bitte 1980 an die Führer der Sozialistischen Internationale, Willy Brandt und Kalevi Sorsa, herangetreten war.5 Aber damals wurde es akzeptiert, »beide Supermächte anzuklagen«, es war eine bequeme Form, die im Wesen prosowjetische Position der Sozialistischen Internationale zu kaschieren. Inzwischen bedurfte es dieser Feinheiten freilich nicht mehr, zumal die Camouflage der »Unparteilichkeit« die Sozialistische Internationale nicht vor der Spaltung in den nördlichen »radikalen« Flügel (die britischen Labouristen, deutsche und skandinavische Sozialdemokraten) und die mehr proatlantische »romanische Gruppe« (französische, italienische und portugiesische Sozialisten) bewahrt hatte.

 

»Da die Amerikaner das Wettrüsten und die Durchführung ihrer Raketen-plane in Europa forcieren, werden die Differenzen zwischen den Parteien in der Sozialistischen internationale über Krieg und Frieden immer augenfälliger«, schreibt das »Zentrum« an seine Residenten.

»Die Meinungsverschiedenheiten unter SI-Führern, ihre Schwankungen und Unbeständigkeit in Schlüsselfragen der Gegenwart sind in erster Linie das Ergebnis des derzeitigen opportunistischen Charakters der Parteien dieser Organisation sowie der Tatsache, daß es in ihnen verschiedene Gruppierungen des rechten, zentristischen und linken Flügels gibt. ... Jedoch ungeachtet der erwähnten Meinungsverschiedenheiten innerhalb der SI und des Drucks von außen besitzt die gegenwärtige Sozialdemokratie nach wie vor beträchtliches politisches Gewicht und Einfluß. Objektiv leistet sie einen definitiven Beitrag zum Kampf um Frieden und Abrüstung und für eine Hinwendung zur Entspannungspolitik. Ihre Vertreter nehmen an verschiedenen Foren von Friedensanhängern teil und übernehmen oft Standpunkte, die denen der sozialistischen Länder nahe sind, ja sich mitunter sogar völlig mit ihnen decken.

All dies eröffnet gewisse Möglichkeiten, positiven Einfluß auf die Meinungsbildung in der Sozialistischen Internationale und die ihr angehörenden Parteien auszuüben, und zwar zu wichtigen internationalen Themen, vor allem in Fragen von Krieg und Frieden. Auf diese Weise können wir einen effektiven Beitrag zum Kampf unserer Partei leisten, die internationale Situation zu verbessern und das Wettrüsten zu stoppen.


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Mit diesem Ziel im Auge müssen Sie Ihr Äußerstes tun, um die Arbeit unter den Führern, prominenten offiziellen Vertretern und Aktivisten der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien in den Ländern, wo Sie stationiert sind, zu intensivieren ...«6

 

Das vorgeschlagene Handlungsprogramm sah eine ganze Reihe »aktiver Maßnahmen« vor, die die Divergenzen zwischen den NATO-Ländern weiter anfachen und den Einfluß des »linken Flügels« der Sozialistischen Internationale in der Kampagne um eine Wiederbelebung der Entspannung verstärken sollten. Zu diesem Zweck wurde vorgeschlagen:

 

»- Schritte zu ergreifen, um die existierenden betrieblichen Anlagen im Sl-Büro und in den Hauptgeschäftsstellen der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien in den Ländern Westeuropas effektiver zu nutzen und auszubauen.

- Besondere Anstrengungen zu unternehmen, um die operativen Positionen in den Parteien der Sozialistischen Internationale zu festigen, die sich an der Macht befinden oder an einer Koalitionsregierung in ihren Ländern beteiligt sind. Hierbei geht es um Aufgaben, die nicht nur in der Sozialistischen Internationale, sondern auch in anderen Bereichen der internationalen Politik zu erfüllen sind.

- Die Arbeit in Jugendorganisationen sozialdemokratischer Ausrichtung zu intensivieren, die zeitweise radikalere Positionen als die Partei selbst einnehmen, besonders unter den Aktivisten solcher Organisationen, die für die Zukunft von Interesse sein konnten.«

So wurde bei der äußeren Verschärfung der sowjetischen Positionen allmählich eine erneute Hinwendung zur Entspannung vorbereitet.

 


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2.  Die  Desinformationskampagne

 

Die sowjetischen Führer waren einzigartige Meister darin, die Gehirne einzunebeln, das muß man ihnen lassen. 

Unklare Gerüchte, halbe Andeutungen, im besten Fall nebelhafte Versprechungen des neuen Generalsekretärs, etwas »umzugestalten«, wurden sofort als »radikale Reformen« ausgegeben, als hätten solche bereits stattgefunden. In Wirklichkeit war überhaupt nichts geschehen: Die sowjetischen Streitkräfte vernichteten nach wie vor afghanische Dörfer, politische Gefangene saßen ihre Haftstrafen ab, Spione raubten weiterhin westliche Technologie, aber irgendwie ergab es sich, daß jetzt der Westen daran schuld war. Er kam der Sowjetunion nicht entgegen, traute ihren guten Absichten nicht und machte keine Zugeständnisse.

 

Selbst die Katastrophe von Tschernobyl schadete nicht etwa Gorbatschow und seinem Regime, sondern den anderen Ländern, in denen es Kernkraftwerke gab. Er schien damit nichts zu tun zu haben, obwohl gerade auf seine Anweisung hin die Informationen über die Katastrophe geheim gehalten wurden, bis endlich die Schweden und Finnen Alarm schlugen. Dafür würde normalerweise jeder Politiker von der öffentlichen Meinung an den Pranger, im Westen wahrscheinlich sogar vor Gericht gestellt werden, denn in der Folge wurden weit mehr Menschen mit radioaktiver Strahlung belastet als nötig. 

Man stelle sich nur einmal vor, der amerikanische Präsident oder der britische Premierminister hätten versucht, das Entweichen radioaktiver Strahlung aus einem Atomkraftwerk zu vertuschen, welch ein Geschrei hätte sich da erhoben. Hier aber wurde nicht einmal in Kiew die Demonstration zum 1. Mai abgesagt, in der Hoffnung, daß niemand vom Vorgefallenen etwas erfahren würde. Zur gleichen Zeit schickten die Parteibosse der Ukraine ihre Familien nach Moskau, nur weit weg von Tschernobyl ...

Natürlich war das der westlichen Presse bekannt, es wurde aber ganz anders dargestellt. Die armen Russen, was hatten sie doch für ein Pech mit Tschernobyl gehabt! Da sähe man ja, wohin Atomkraftwerke führten. Die Rolle Gorbatschows in dieser Geschichte wurde noch nicht einmal zur Diskussion gestellt. Die Besonderheit der im Westen aufgekommenen »Gorbimanie« bestand ja gerade darin, daß sie keine besondere Grundlage hatte, daß sie auf einem »Vertrauensvorschuß« zu einem einzelnen Menschen beruhte, den niemand überhaupt richtig kannte.


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Sie war genauso absurd und irrational wie die Kampagne für atomare Abrüstung, ja sie wurde im wesentlichen von denselben Kräften getragen. Allerdings verfielen ihr diesmal auch andere. Es ging allen jetzt nur darum, »die Perestroika nicht zu stören«, und nicht etwa um wahrheitsgetreue Information der Öffentlichkeit. Zweifel und Skepsis galten fast schon als Gotteslästerung, was kaum jemand wagte.

Dabei war Gorbatschow ein Mensch, der alle Stufen einer gewöhnlichen Parteikarriere durchlaufen hatte und seit 1978 als ZK-Sekretär und später auch als Politbüromitglied an allen Verbrechen des Regimes beteiligt gewesen war.

Mit einem Wort, es war eine genau berechnete Desinformationskampagne. 

Die Kulmination der Anstrengungen, den Widerstand des Westens zu überwinden — das Gipfeltreffen in Reykjavik zwischen Reagan und Gorbatschow —, inszenierte man nach allen Regeln eines Dramas. Ganze Kirchengemeinden beteten für den Erfolg dieser Zusammenkunft, als stünde andernfalls das Ende der Welt bevor. Dabei spielte sich gar nichts Besonderes ab: Gipfeltreffen waren zu dieser Zeit bereits eine Routineangelegenheit. Auch das vorgeschlagene Verhandlungsprogramm enthielt nichts Neues, nur die alten Träume von einer atomaren Abrüstung, auf die die UdSSR aus wirtschaftlichen Gründen stärker angewiesen war als der Westen. Aber es wurde so dargestellt, als müßte alles jetzt augenblicklich zu einer Lösung kommen. Sollte dies nicht geschehen, dann wäre dafür ausschließlich Reagan verantwortlich. Es war schon erstaunlich: In der UdSSR herrschte eine Krise, sie war fast bankrott und suchte nach Auswegen, aber Zugeständnisse machen sollten aus irgendeinem Grund die Amerikaner.

Dieses Ziel hatten die sowjetischen Politiker fast erreicht, aber dann gingen sie zu weit. Sie wollten nicht die geringsten Zugeständnisse machen. Die atomare Abrüstung, der Reagan ja schon zugestimmt hatte, genügte ihnen nicht, sie bestanden auch noch auf dem Verzicht auf das SDI-Programm. Im Ergebnis standen sie dann mit leeren Händen da, und die Beziehungen zu den Amerikanern verschlechterten sich nur noch.


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»GORBATSCHOW: Wir müssen Maßnahmen im Zusammenhang mit der neuen feindlichen Aktion der V S-Administration diskutieren. Die Entwicklung der Ereignisse nach Reykjavik zeigt, daß unsere >Freunde< in den USA keinerlei konstruktives Programm besitzen und alles tun, um die Atmosphäre weiter anzuheizen. Dabei gehen sie äußerst grob vor und benehmen sich wie Banditen.

SOLOMENZEW: Ja, sie führen sich auf wie Banditen großen Stils.

GORBATSCHOW: Von der US-Administration sind keine konstruktiven Handlungen und Vorschläge zu erwarten. In der entstandenen Situation müssen wir propagandistische Punkte sammeln und weiterhin eine offensive Aufklärungsarbeit betreiben, die auf die amerikanische sowie die gesamte internationale Öffentlichkeit abzielt. Die Washingtoner Politiker fürchten dies. An den Zollämtern werden Materialien mit meinen Erklärungen auf den Pressekonferenzen in Reykjavik und im sowjetischen Femsehen drei Tage lang festgehalten.

JAKOWLEW: Herr Bugajew hat mich angerufen und gesagt, daß diese Materialien bis heute vom amerikanischen Zoll festgehalten werden.

GORBATSCHOW: Wir müssen auch weiterhin auf die amerikanische Administration Druck ausüben, der Öffentlichkeit unsere Positionen erklären und verdeutlichen, daß die amerikanische Seite für das Scheitern einer Verhandlungslösung in Fragen der Reduzierung und Vernichtung der Atomwaffen verantwortlich ist.

In letzter Zeit hatten Reagan und seine Umgebung nichts Besseres zu tun, als noch eine weitere feindliche Aktion durchzuführen, nämlich die Ausweisung von 55 sowjetischen Diplomaten. Fünf unserer Mitarbeiter wurden zu Persona non grata erklärt, wie es in Washington heißt, als Reaktion auf unsere Ausweisung von fünf amerikanischen Diplomaten. Fünfzig werden unter dem Vorwand zurückgeschickt, daß die amerikanischen und sowjetischen diplomatischen Vertretungen personell gleich stark besetzt sein sollten.

Diese feindliche antisowjetische Aktion darf nicht ohne Antwort bleiben. Wir dürfen auch vor den entschiedensten Maßnahmen nicht zurückschrecken. Die Amerikaner drohen uns und erklären, daß sie im Falle von Gegenmaßnahmen unsererseits weitere Schritte gegen unser diplomatisches Personal in den USA unternehmen werden. Nun gut, ich denke, daß angesichts des organischen Charakters der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen unsere Botschaft in den USA ihre Aufgaben auch in diesem Fall bewältigen wird.


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Es sind ernsthafte Vorschläge auszuarbeiten. Was können wir konkret tun? Wir müssen aus der amerikanischen Botschaft unsere Leute abziehen, die dort als Dienstpersonal beschäftigt sind. Ferner sollte man Dienstreisen von Amerikanern in die US-Botschaft nach Moskau einschränken. Jährlich kommen auf diesem Kanal bis zu 500 US-Bürger zu uns. Schließlich muß auf der Grundlage der Gleichheit die Frage der Einreiseerlaubnis für Gäste des amerikanischen Botschafters nach Moskau geklärt werden. Das sind jährlich bis zu 200 Personen. Solche Reisen dürfen in Zukunft nur noch auf der Grundlage der Gleichheit stattfinden.

Im allgemeinen bestätigt sich von neuem das, was ich dem US-Präsidenten in Reykjavik gesagt habe, daß die Normalisierung der sowjetischamerikanischen Beziehungen offensichtlich das Werk künftiger Generationen sein wird.

SCHEWARDNADSE: Das Personal unserer Botschaft in den USA besteht aus 243 Personen und das des Konsulats in San Francisco aus 25. In der US-Botschaft in Moskau sind es 229 Personen und im Konsulat in Leningrad 25. Außerdem arbeiten bei den Amerikanern 250 unserer Bürger als Dienstpersonal. Es wird vorgeschlagen, sie abzuberufen. Das wird sich auf die Arbeit der amerikanischen Beamten spürbar auswirken. Was die Dienstreisen angeht, so besuchen jährlich bis zu 500 Personen die amerikanische Botschaft. Wir dagegen machen von dieser Art Reisen in die USA so gut wie keinen Gebrauch. In dieser Beziehung müssen wir das Gleichheitsprinzip einführen. Die Amerikaner verlieren dadurch mehr als wir. Unsererseits wurde auch nicht von der Möglichkeit des Botschafters Gebrauch gemacht, persönliche Einladungen auszusprechen. Den amerikanischen Botschafter besuchen dagegen jährlich bis zu 180 Personen.

DOBRYNIN: Dabei kennt der Botschafter viele seiner >Gäste< nicht einmal.

SCHEWARDNADSE: In der amerikanischen Botschaft in Moskau arbeiten 14 Personen aus Finnland als Dienstpersonal. Man muß die Ausreise dieser Personen fordern, ebenso wie die von acht amerikanischen Diplomaten, die illegaler Tätigkeit verdächtigt werden. Wir müssen im Verhältnis zu dem Militärattache genauso vorgehen wie die Amerikaner. Im Ergebnis verbleibt bei uns eine gleich hohe Anzahl an diplomatischem Personal wie bei den Amerikanern - 251 Personen in den Botschaften und je 25 in den Konsulaten.


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Vom provokativen Charakter der Handlungen der US-Administration zeugt auch, daß früher von amerikanischer Seite für unsere Vertreter eine Quote von 320 Personen festgesetzt wurde. Wir haben diese Quote nie voll ausgefüllt.

GORBATSCHOW: All dies muß in einem gewichtigen politischen Dokument argumentativ dargelegt und ausgearbeitet werden.

SCHEWARDNADSE: Die US-Administration bedurfte einer neuen feindlichen Aktion im Zusammenbang mit den bevorstehenden Wahlen. In unserem Dokument ist auch darauf hinzuweisen, daß wir, falls die Amerikaner in Verbindung mit unseren Handlungen zu Gegenmaßnahmen schreiten sollten, dies ebenfalls tun werden.

GORBATSCHOW: Gibt es bei den Genossen Bedenken hinsichtlich dieser Vorschläge?

MITGLIEDER DES POLITBÜROS: Nein.

DOBRYNIN: Es wäre sinnvoll, diese Fragen auch für die Konsulate in Kiew und New York zu klären.

GROMYKO: Vielleicht sollte man in der entstandenen Situation die Eröffnung dieser Konsulate nicht forcieren. Das hat jetzt keinen Sinn.

GORBATSCHOW: Die Lösung dieser Frage ist vorläufig auf Eis zu legen. Generell müssen wir ruhig, aber entschieden vorgehen. Das ist nicht nur vom Standpunkt der sowjetisch-amerikanischen, sondern auch von dem der internationalen Beziehungen aus wichtig. Wenn die Amerikaner schon einen solchen Ton gegenüber der Sowjetunion anschlagen, dann kann man sieb vorstellen, wie sie mit anderen Ländern umgeben werden.

Ich hatte ein Gespräch mit Nikolaj Iwanowitsch (Ryschkow). Man sollte jetzt auf Maiskäufe bei den Amerikanern verzichten.

GROMYKO: In unserer Erklärung sollten wir dies vielleicht nicht ausdrücklich erwähnen, aber uns de facto so verhalten.

SOLOMENZEW: In unserem Dokument müssen wir die Zahlenangaben aufführen, von denen Genösse Schewardnadse gesprochen hat.

DOBRYNIN: Die Handlungen der Amerikaner gegenüber unserem Militärattache sind präzedenzlos,

GORBATSCHOW: Auch wir müssen sämtliche amerikanischen Militärangehörigen ausweisen.

TSCHEBR1KOW: Wir haben noch eine Möglichkeit, die wir bei Bedarf ausschöpfen können. Wie ich dem Politbüro bereits berichtet habe, haben wir in unseren Vertretungen in den USA viele Abhörsysteme entdeckt.


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Man könnte diese Tatsache bekannt machen, um die amerikanische Spionage bloßzustellen, eine Pressekonferenz durchführen und die Abhörvorrichtungen der amerikanischen Spionage vorführen.

GROMYKO: Und wie viele entsprechende Einrichtungen von unserer Seite haben sie in ihren Vertretungen entdeckt?

TSCHEBR1KOW: Eine. Hier sprechen die Zahlen für uns: z:ifo.

GORBATSCHOW: Das muß man im Auge behalten.

SCHEWARDNADSE: Wann soll zu dieser Frage eine Erklärung veröffentlicht werden?

GORBATSCHOW: Sobald das Dokument fertig ist. Dann sehen wir es durch und geben es gleich über Rundfunk und Fernsehen bekannt und ebenfalls in der Presse.

MITGLIEDER DES POLITBÜROS: In Ordnung.

GORBATSCHOW: Ich wollte heute auf einer Pressekonferenz zeigen, wohin die Amerikaner die Sache nach Reykjavik treiben und ihren Lug und Trug offenlegen. Aber offensichtlich ist der Zeitpunkt dafür nach der feindlichen Aktion der US-Administration ungeeignet. Wahrscheinlich ist es sinnvoll, nicht auf einer Pressekonferenz, sondern im Femsehen aufzutreten und sich an das gesamte Volk zu wenden.

RYSCHKOW: Richtig.

GORBATSCHOW: Irgendwelche neuen Vorschläge werden dabei nicht vorzubringen sein. Deshalb muß der Text des Auftritts nicht extra vorher verschickt werden. Im Rahmen der Position, die wir festgelegt haben, ist zu zeigen, daß die US-Administration die volle Verantwortung für das Scheitern einer Übereinkunft in Reykjavik trägt, daß sie betrügerische Manöver unternimmt, um die Fakten zu verfälschen und die Öffentlichkeit in die Irre zu führen. Man kann auch davon sprechen, daß die weitere Entwicklung nach Reykjavik zeigt, daß Reagan mit seinen Leuten nicht zurechtkommt.

GROMYKO: Das kann man erwähnen, aber in einer Form, die Reagan nicht etwa in Schutz nimmt.

GORBATSCHOW: Ja, Reagan ist ein Lügner. Hierzu müssen wir eine entsprechende Formulierung finden.

Haben die Genossen weitere Vorschläge?
MITGLIEDER DES POLITBÜROS: Nein.«
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Wen hat man hinterher im Westen beschuldigt? Vor allem, versteht sich, den Reaktionär Reagan, der nicht »auf die Mentalität des Kalten Krieges verzichten« und das allen verhaßte SDI-Programm »Krieg der Sterne« nicht aufgeben wollte. Und zweitens — die »Konservativen« und »Reaktionäre« im Politbüro, auf die der »Reformer« Gorbatschow ja trotz allem Rücksicht nehmen mußte.

 


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3.   »Neues Denken«

 

Die Kremlführer zogen sich nicht lange in den Schmollwinkel zurück: Die Krise bedrängte sie zu sehr. Es blieb kein Ausweg. Man konnte nichts mit Gewalt erzwingen und war genötigt, weiterzugehen und wenigstens geringfügig nachzugeben. Wohl oder übel mußte man die nächste in dem Planspiel vorgesehene Phase einleiten unter der Bezeichnung »Glasnost und Perestroika«: Menschenrechte, Afghanistan, »sozialistischer Pluralismus«, »sozialistischer Markt«, »gemeinsames europäisches Haus«...

Heute, nach dem Zusammenbruch des Regimes, ist es für niemanden in Rußland mehr ein Geheimnis, daß das sogenannte »neue Denken« von verschiedenen Brain-Trusts des ZK ausgearbeitet wurde, und zwar schon lange vor Gorbatschow. Darüber sprechen und schreiben mittlerweile ehemalige »Parteiintellektuelle«, die an diesen Ausarbeitungen beteiligt waren. Sogar Gorbatschow bestätigte diese Tatsache 1988, als das Scheitern der Perestroika offenkundig wurde und man erklären mußte, warum der ganze Plan so schlecht durchdacht war.

»Wie, nicht durchdacht?« erregte er sich. Er war im Gegenteil sehr gut durchdacht, sogar schon lange vor 1985 — no (110? -OD) Untersuchungen und Analysen wurden damals dem ZK von verschiedenen Brain-Trusts vorgelegt. »All dies gehört noch zu einer Periode, als es bis zum April-Plenum (1985) noch weit hin war.« 8) 

Nur im Westen wird die Legende über den kühnen Reformer aus der Region von Stawropol hartnäckig wiederholt, und Bücher und Artikel russischer Autoren, die den tatsächlichen Sachverhalt ans Licht bringen, werden hier in der Regel nicht gedruckt.


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Eine Ausnahme stellt das Buch des ehemaligen Mitarbeiters der Internationalen ZK-Abteilung Jewgenij Nowikow9 dar, aber auch das findet man selten im Buchhandel. Dabei ist es sehr interessant.

»Der Prozeß des neuen Denkens setzte bereits in den späten siebziger Jahren ein, unter Andropow, innerhalb intellektueller Zirkel und Publikationen ... in beschränkter Verbreitung und mit hochgestochener soziologischer Terminologie«, schreibt er.

Neben der Internationalen Abteilung des ZK sowie seinen speziellen Instituten und Publikationen wurde eine ganze Reihe akademischer Institute zur Arbeit herangezogen. Ihre Aufgabe war die Revision der Ideologie, die Ausarbeitung von »alternativen« Modellen und Transformationswegen des existierenden Modells in ein rationaleres. Gorbatschow hat diese Projekte lediglich geerbt, er war der geeignetste Kandidat für ihre Realisierung.

Jedoch bemerkt Nowikow mit Recht:

»... obwohl die verschiedenen ideologischen Szenarien, die von Gorbatschows ideologischen Zuarbeitern zugelassen oder geschaffen wurden, sehr unterschiedlich waren, führten sie alle zum gleichen politischen Ergebnis, nämlich dem, daß die Herrschaft der Parteielite besteben blieb. Dies geschah entweder durch Beibehaltung des sozialistischen Systems oder durch Umwandlung des Kollektivbesitzes der Nomenklatura in Privatbesitz ihrer einzelnen Mitglieder. «

 

Allein schon die Tatsache, daß die Leitung der Ausarbeitung von »Reformen« des sowjetischen Regimes der Internationalen Abteilung des ZK übertragen wurde (noch unter der Kontrolle von Andropow), sagt genug aus über ihre Zielsetzung. Bezeichnend ist auch, daß die kühnsten Ideen dieser Denker trotz allem nicht über die Grenzen des Marxismus hinausgingen. Lediglich eine gewisse Revision seiner »Leninschen« Variante war beabsichtigt, und damit eine Annäherung an die Sozialdemokratie.

»Ein Großteil der Presse hat die jüngste Glasnost als Ende des Marxismus bewertet, aber in Wirklichkeit war sie eine Rückkehr zu einer philosophischen Tradition des europäischen Marxismus, die die Sowjets bereits 1924 aufgegeben hatten ...«, so Nowikow.10


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Es ist leicht zu verstehen, was die Suche nach einer derartigen Annäherung ausgelöst hatte. Einerseits war Ende der siebziger Jahre die bevorstehende Wirtschaftskrise genau vorauszusehen, und es galt, umgehend nach Lösungsmöglichkeiten Ausschau zu halten. Vor allem mußte natürlich ein Weg gefunden werden, um die Entspannung wiederzubeleben, die einem den Weg zu westlicher Hilfe durch Kredite und Technologielieferungen ebnete. Andererseits legte der phänomenale Erfolg der Entspannung zu Beginn der siebziger Jahre (wie auch ihr unerwartetes Scheitern Anfang der achtziger Jahre) den Gedanken nahe, sie das nächste Mal gründlicher vorzubereiten und alle bisher begangenen Fehler zu berücksichtigen. Wie wir wissen, wurde die Entspannung ursprünglich nicht in Moskau, sondern in Bonn erdacht; Moskau versuchte lediglich, sie zu ihren Zwecken auszunutzen, ohne im eigenen Land etwas zu verändern.11 In Verbindung mit inneren »Reformen« des Sozialismus und entsprechender Phraseologie sozialdemokratischen Zuschnitts wurde die Entspannung sowohl für die »nördlichen« Radikalen der Sozialistischen Internationale als auch für die »romanischen« Gemäßigten äußerst attraktiv. Minimale, für das Regime in keiner Weise bedrohliche Veränderungen ließen scheinbar Unmögliches erreichbar scheinen:

Sie boten nicht nur einen Ausweg aus der Krise, sondern eröffneten auch die Möglichkeit einer »Konvergenz« mit dem Westen, das heißt einfach gesagt, zu einer Verstärkung des sowjetischen Einflusses in Europa.

Was hatte eigentlich einen vollen Erfolg der Entspannung in den siebziger Jahren verhindert? Das Problem der Menschenrechte? Die Invasion in Afghanistan? Hätte man nicht mit hinreichender Flexibilität, mit Hilfe der europäischen Sozialdemokratie und der linken Elite in den USA diese Probleme umgehen können? 

Was das erste von ihnen betrifft, so äußerte sich noch 1977 der damalige sowjetische Botschafter in der Bundesrepublik Valentin Falin in einem Schreiben an das ZK über eine mögliche Lösung.12 Natürlich handelte es sich dabei keineswegs um eine Einführung der Demokratie, sondern vielmehr um Wege, sie erfolgreich vorzuspiegeln. Falin teilte mit, daß die Partner der Entspannungspolitik, die deutschen Sozialdemokraten, von der Kampagne für die Menschenrechte in den sozialistischen Ländern alles andere als begeistert seien. Im einzelnen schrieb er:


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»Die Sozialdemokraten erfahren schon jetzt an sich selbst die Gefahr einer antikommunistischen Hysterie. Die Losung der CDU/CSU >Freiheit statt Sozialismus < hat gezeigt, daß die SPD nicht die letzte ist, wenn man zur Hexenjagd bläst ...

Gleichzeitig bemerken die Gesprächspartner, daß der Westen früher als der Osten erkannt hat, daß Veränderungen im internationalen Klima nicht ohne Einfluß auf die Atmosphäre innerhalb der einzelnen Staaten bleiben. Die 'NATO-Staaten haben für die Entspannung einen nicht germgen Preis bezahlt, sie sind mit ihren Schwierigkeiten mitnichten fertig geworden, auch nicht auf ideologischem Gebiet. Aber im Westen fallen derartige Schwierigkeiten nicht so sehr ins Auge, weil man dort gelernt bat, die schwelle der legalität im kampf der ideen in gewöhnlichen Situationen nicht besonders zu erhöhen und zu verschärfen. Sozialdemokratischen Gesprächspartnern zufolge mußten auch die sozialistischen Länder mit den Kosten einer Perestroika der internationalen Beziehungen rechnen ...

Es muß gesagt werden, daß die Diskussion über die Praxis des Umgangs mit Andersdenkenden und 'Nonkonformisten in den sozialistischen Ländern auch in solchen Kreisen lebhaft geführt wird, die der UdSSR und der KPdSU loyal und freundschaftlich gegenüberstehen. Oft werden Fragen gestellt, die man nicht einfach abweisen oder mit Gemeinplätzen umgehen kann. Warum werden zum Beispiel in der Sowjetunion Picasso und Leger verehrt, die eigenen modernen Künstler dagegen verfolgt. Warum werden die Arbeiten vieler Künstler von Weltruhm aus der vor- und nachrevolutionären Zeit nicht oder fast nicht in unseren Museen ausgestellt? Oder - warum hat die abstrakte und die sogenannte experimentelle Kunst in Polen Bürgerrecht, während sie in der UdSSR und in einer Reihe anderer sozialistischer Länder verfolgt wird? Warum gehen wir hier in der Musik und im Ballett beträchtliche Kompromisse ein und nicht auf anderen Gebieten der Kultur?

Es gibt natürlich auch etliche schwerwiegendere Fragen. Aber wenn die schöpferische Intelligenz, Journalismus oder Religion tangiert werden, dann sind sogar formale Gegenüberstellungen mit einer Menge unnötiger, schädlicher Emotionen verbunden,

Ob es uns gefällt oder nicht, der ideologische Gegner bemüht sich, die


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Erfahrung der KPdSU beim Aufbau einer weltweiten kommunistischen Bewegung, bei unserer Arbeit mit der eigenen und ausländischen Intelligenz gleich nach der Oktober-Revolution und in der Zeit des Vaterländischen Krieges zu nutzen. er zieht auch vorteile daraus, dass unsere

INNERE UND ÄUSSERE propaganda HÄUFIG UNANGEMESSEN IST, MITUNTER FÜR EIN UND DIESELBEN ereignisse VERSCHIEDENE begründungen LIEFERT ODER, WAS NOCH SCHLIMMER IST, SIE VERSCHWEIGT.

Man kann sich vorstellen, daß unter Bedingungen, unter denen fast jeder erwachsene Sowjetbürger technisch in der Lage ist, im Radio Sendungen aus aller Welt zu hören und in Kürze auch westliche Fernsehprogramme auf seinem Bildschirm zu empfangen, es auf unserer Seite notwendig zu massivem ideologischem Versagen kommen wird. ...

Die kapitalistische Gesellschaft hat sich auch nicht vor dem Einfluß unserer Ideen abschirmen können. Das Anwachsen der Rolle des Sozialdemokratismus und der Gewerkschaften in der Welt des Kapitals zeugt ebenso wie andere Tatsachen von ernsthaften Deformationen des Systems, dessen Kräfte in kritischen Momenten häufig aufs äußerste angespannt sind. Mit Hilfe von Begriffsmanipulationen, nicht zuletzt in der Frage der Menschenrechte und generell der Demokratie, will sich unser Gegner eine Atempause auf seinem Rückzug sichern.

In Anbetracht all dieser Tatsachen und natürlich aufgrund unserer mannigfaltigen inneren und äußeren Interessen bedarf es einer vielschichtigen und langfristigen Konzeption in dieser Richtung, die die gesamte Erfahrung der sozialistischen Gemeinschaft und die unseres Gegners aufgreift. Letzterer verdient größte Aufmerksamkeit, allein schon deshalb, weil mit den ideologischen Prinzipien der BRD und anderer westlicher Länder Spezialisten höchster Qualifikation befaßt sind und hierin jährlich Milliarden investiert werden.

Insbesondere gilt es, die legislative und administrative Praxis in der BRD zu erforschen. Der westdeutsche Staat verfügt über flexible und zuverlässige Mittel der Verhinderung und Unterbindung unerwünschter Aktivitäten. Hierbei werden Andersdenkende nicht mit der Begründung verfolgt, daß sie dem Regime mißliebige Informationen verbreiteten, sondern wegen ihrer >verfassungsfeindlichen Tätigkeit< der Verletzung der öffentlichen Ordnung und dergleichen mehr. Von Interesse ist auch das hiesige System der Rechtsprechung, das die Möglichkeit bietet, vor der Urteilsverkündung eine Person


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monate- und jahrelang zu isolieren und sie faktisch schon zu verfolgen, lange bevor ihre Angelegenheit durch die letzte gerichtliche Instanz abschließend untersucht worden ist.

dieses system FUNKTIONIERT ERFOLGREICH, DA ES MIT SORGFÄLTIG DURCHDACHTER transparenz VERBUNDEN UND DURCH WEITERE SCHEINDEMOKRATISCHE attribute ERGÄNZT WIRD, DIE ES ERMÖGLICHEN, DEN druck IM kessel AUF ERTRÄGLICHEM niveau ZU HALTEN. nach WIE VOR SPIELEN presse, kirche, schulen UND BÜRGERLICHE GESELLSCHAFTLICHE organisationen UNTER OFFENER UND VERHÜLLTER aufsicht DER regierung EINE BEDEUTENDE rolle BEI DER unterdrückung der opposition. Für die letztgenannten Institutionen besteht der wesentliche Sinn ihrer Existenz ohnedies nach wie vor im Kampf mit den Linken allgemein und mit den Kommunisten im besonderen ...

Die Fakten zeigen, daß uns Versuche kaum nützen, in der informationsarbeit DIE schwierigkeiten UND MÄNGEL ZU IGNORIEREN, DIE ES IN DEN SOZIALISTISCHEN LÄNDERN GIBT. erforderlich IST VIELMEHR, IHRE ursachen VON UNSEREN positionen AUS ZU ERKLÄREN, ZU ZEIGEN, WAS FÜR DIE beseitigung DER MÄNGEL GETAN WIRD.

Wenn wir dies nicht tun, dann wird der Gegner es für uns tun.

Außerdem gibt es in vielen Fällen keine ersichtlichen Gründe dafür, eine defensive Position einzunehmen. ... Wenn aber unsere Informationen in Form einer Antwort auf Kritik vermittelt werden, dann verlieren sie viel von ihrer Überzeugungskraft und ihrem Gewicht.

Mit anderen Worten, Strategie und Taktik des Positionskampfes, und eben mit einem solchen haben wir es in der Frage der Menschenrechte zu tun, bedürfen weiterer Arbeit. unser gegner, der sich vom ballast der

kolonien BEFREIT UND SICH UNSERER politik DER FRIEDLICHEN koexistenz UND entspannung ANGESCHLOSSEN HAT, Wollte durch

die Schaffung eines sozialen Überbaus den Anschein einer Selbstreinigung und Erneuerung des Systems erwecken. ... Und was besonders wichtig und potentiell gefährlich ist, der Gegner reagiert schnell auf Veränderungen, auf neu entstehende Probleme, er gibt ihnen seine eigene Interpretation. nicht

SELTEN RUFT ER SELBST DIESE veränderungen HERVOR IN DER absicht, DURCH GERINGFÜGIGE zugeständnisse FUNDAMENTALEN bedrohungen ZUVORZUKOMMEN UND DANN ALS träger DES fortschritts zu gelten, ja fast als ein Synonym desselben."


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Die Interpretation des politischen Systems der BRD möge Herr Falin verantworten. Weit wichtiger für uns ist die Tatsache, daß sein »politischer Brief« von Gromyko, Andropow und der Propaganda-Abteilung des ZK sowie der Gruppe Parteiintellektueller, die Alternativmodelle ausarbeiteten, sehr aufmerksam studiert wurde (wer nun von ihnen die obigen Hervorhebungen im Text angebracht hat, kann ich nicht sagen). Man kann annehmen, daß die dargelegten Ideen auf die Führung einen nachhaltigen Eindruck machten, denn bald danach machte Falin Karriere, und nach zehn Jahren, als seine Träume von der Erweckung des Anscheins einer Selbstreinigung und Erneuerung des Systems endlich Wirklichkeit wurden, war er bereits Chef der Internationalen Abteilung des ZK.

Aber Falin war nicht der einzige Politiker der Sowjetmacht, der so klug war. Seine Ideen lagen in der Luft und waren besonders für den Teil der Parteielite attraktiv, der beruflich mit Außenpolitik zu tun hatte — im KGB, im Außenministerium, in der Internationalen Abteilung des ZK und ihren Brain-Trusts. Und warum sollte man es nicht probieren? Die gescheiterte Avantgarde des Proletariats hatte nichts mehr zu verlieren, und gewinnen konnte sie fast die ganze Welt. Im Grunde genommen erschien ihnen die Aufgabe nicht so schwer: Sie manipulierten von Berufs wegen, ohne Repressionen und Zensur, eine große Masse von Menschen im Westen und in den Ländern der Dritten Welt, sie manipulierten die freie westliche Presse und unabhängige gesellschaftliche Bewegungen. Warum sollte man dasselbe nicht auch im eigenen Lande versuchen, wo das Ausmaß der Kontrolle bei weitem größer und praktisch alles in Händen ihrer Partei war? Die Technik dieser Arbeit wurde zur Vollendung gebracht, und der Sowjetbürger war von ihrer Macht in ungleich größerem Maße abhängig als etwa ein westlicher Friedensanhänger.

Tatsächlich erwies sich die von ihnen ausgearbeitete Form der Entspannung als eine sichere Sache: Vom alten Modell übernahmen sie, was am erfolgreichsten gewesen war, nämlich die Ausnutzung der Sozialdemokratie, des linken Establishments in den USA, befreundeter Geschäftsleute und ebenso eine massive Desinformationskampagne, darunter auch die altbewährte Phrase vom angeblichen Kampf zwischen Falken und Tauben in der sowjetischen Führung, die jetzt


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in Konservative und Reformer umbenannt wurden. Neu dagegen waren zum ersten der »Hauptakteur«, dem man im Unterschied zu Breschnew leicht das Image eines liberalen Reformers geben konnte, und zum zweiten die inneren Reformen, in Wirklichkeit handelte es sich um den Versuch, mit minimalen Veränderungen in der Wirtschaft den Sozialismus zu retten. Das entscheidende Novum war jedoch die Imitation des »menschlichen Antlitzes« bei vollständiger Erhaltung der Kontrolle - eine »sorgfältig durchdachte Glasnost«, wie Falin es genannt hatte. Falls sich auch dies für eine Erneuerung der Entspannung als unzureichend erweisen sollte, konnte man mit weiteren »quasi-demokratischen Attributen« aufwarten wie mit einem fiktiven Mehrparteiensystem, »freien Parlamentswahlen«, dem Rückzug aus Afghanistan, der »Liberalisierung« der Regime in Osteuropa ...

Dementsprechend setzte sich auch die Mannschaft zusammen:

Schon seit der Zeit Andropows, besonders aber unter Gorbatschow, kamen hauptsächlich Personen mit außenpolitischer Erfahrung nach oben - aus dem KGB, dem Außenministerium und den Brain-Trusts. Das ist verständlich, ihre Aufgabe bestand nicht nur darin, eine Erneuerung der Entspannung mit dem Westen zu erreichen. Darüber hinaus sollten sie im Inneren das strenge administrativ-repressive Kontrollsystem in eine subtilere Form der Manipulation umwandeln, die bislang nur in der Außenpolitik praktiziert worden war. Niemand anders als professionelle Manipulatoren konnten eine solche Aufgabe bewältigen.

Jedoch wurde diese »Hausbestellung« ernsthaft erst nach Reykjavik in Angriff genommen, nachdem klar geworden war, daß man allein mit Versprechungen sein Ziel nicht erreicht. Aber der Westen war in Ekstase, er wollte den gigantischen Betrug nicht zur Kenntnis nehmen, der sich vor seinen Augen abspielte. Nowikow schreibt dazu ganz richtig:

 

»Die westlichen Beobachter sahen die sterbende Ideologie, Gorbatschows Verfassungsreformen, die Schaffung des Volksdeputiertenkongresses und den umgebildeten Obersten Sowjet als evidente Anzeichen für den Zusammenbruch des Kommunismus an. Was den Blicken versperrt blieb, war der


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politische Machtzuwachs der sowjetischen Parteielite. Die Medien interpretierten die Selbstkritik der KPdSU und die Angriffe auf die marxistischleninistische Theorie zum größten Teil als eine reale und kreative Selbstkritik seitens der Parteielite. Sie verkannten den Unterschied zwischen Partei und Parteielite. Dies verhüllte die Tatsache, daß Gorbatschows Absicht darin bestand, einen neuen, begrenzten Totalitarismus zu schaffen und nicht etwa eine Demokratie westlichen Stils."13

 

 

  

4.  »Truppenabzug« aus Afghanistan

 

 

Als professioneller Lügner log Gorbatschow nur in einem einzigen Fall nicht: Seine neue Politik war eine wirklich Leninsche Politik, dies verstanden auch seine Kollegen. Als gute Schüler Lenins wußten die Sowjetführer, daß sie sich alles erlauben konnten, solange sie nur die Macht in den Händen behielten. Wie Lenin 1921 und Stalin 1941 oder Chruschtschow nach Stalin scheuten sie sich nicht, die »Grundlagen« ihres Regimes um seiner Rettung willen zu »erschüttern«. Es kam einzig darauf an, die Initiative zu behalten, nicht zuzulassen, daß die Reformen der Kontrolle der Partei entglitten.

Dabei war an diesen Reformen, die die armselige Vorstellungskraft der Welt so sehr beeindruckten, am Anfang nichts, was zu einem Verlust der Kontrolle hätte führen können. Ich habe schon am Ende des dritten Kapitels ausführlich beschrieben, wie die Glasnost eingeführt und die politischen Gefangenen und Sacharow »befreit wurden«, während zur gleichen Zeit jeglicher Versuch, eine tatsächliche Opposition im Land zu schaffen, unterbunden und ein fiktives Mehrparteiensystem, der sogenannte sozialistische Pluralismus geschaffen wurde. 

Im Ergebnis wurde das erreicht, was man in 18 Jahren Breschnewscher Repressionen vergeblich angestrebt hatte: Ein Anwachsen der Autorität der Parteiführung. Zum erstenmal in der Zeit nach Stalin begrüßte die Gesellschaft enthusiastisch die Beschlüsse der Parteitage und -konferenzen. Und je mehr von den früheren Verbrechen des Regimes aufgedeckt wurden, desto weniger Verantwortung dafür trug die Partei. 

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Selbst die entfesselte öffentliche Kritik der Parteiführung in den Provinzen verstärkte noch die Kontrolle der zentralen Führung über den Verwaltungsapparat, der bekanntlich Gefahr lief, in regionale Mafia-Organisationen zu zerfallen. 

In gewissem Sinne hatte die Glasnost die Funktion einer Parteisäuberung, ähnlich wie die »Kulturrevolution« bei Mao Zedong.

Dementsprechend wurde ein neues Kontrollsystem im gesamten Imperium eingeführt, im äußeren wie im inneren. Es wurde sogar den Republiken der UdSSR eine gewisse kulturelle und wirtschaftliche Autonomie gewährt, und manchen der im Satellitenstatus erstarrten »Bruderländer« wurde sie aufgezwungen. 

Zum einen war das bankrotte Regime nicht mehr in der Lage, die Bruderländer weiter vollständig zu erhalten, zum anderen war es von den außenpolitischen Zielen her erforderlich, von seinem Image als »Reich des Bösen« wegzukommen. Es war nicht einfach, auf die Entspannung mit dem Westen zu bauen, wenn sowjetische Streitkräfte in Afghanistan kämpften. Und auch die anderen lokalen Konflikte, die von der globalen sowjetischen Expansion provoziert worden waren, mußte man zumindest einfrieren.

All dies bedeutete jedoch mitnichten einen Verzicht auf das Imperium, ja nicht einmal auf die globale Expansion. Im Gegenteil, beides konnte durch einen solchen Anschein nur gewinnen, und die sowjetische Kontrolle wurde dabei keineswegs geschwächt. Der Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan ist dafür das deutlichste Beispiel. Bekanntlich14) entschlossen sich die Sowjetführer zur Okkupation Afghanistans nur nach langem Zögern und hielten diese Entscheidung niemals für endgültig. Die Frage des Truppenabzugs wurde sogar unter Andropow diskutiert.15)

 

»GROMYKO: Dem Beschluß des Politbüros entsprechend reiste eine Gruppe sowjetischer Parteimitglieder, Armee­angehöriger und Ökonomen nach Afghanistan. ... Die allgemeine Situation in Afghanistan ist, wie Sie wissen, sehr schwierig. In der letzten Zeit ließ sich eine gewisse Konsolidierung feststellen, aber dieser Prozeß geht sehr langsam voran. Die Zahl der Banden nimmt nicht ab. Der Feind legt die Waffen nicht nieder. Die Verhandlungen mit Pakistan in Genf verlaufen langsam und zäh. Deshalb müssen wir alles tun, um für beide Seiten akzeptable Varianten einer politischen Regelung zu finden. Im voraus ist zu sagen, daß dies ein langwieriger Prozeß


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sein wird. Hier gibt es Fragen, die man gesondert diskutieren muß. Wir müssen im Auge haben, daß wir vorläufig Pakistan keine Zusagen über konkrete Termine für unseren Truppenabzug aus dem Land geben können. Hier ist Vorsicht geboten. Ja, die Lage stabilisiert sich. Es ist gut, daß die afghanische Armee inzwischen auf 140.000 angewachsen ist. Aber das Hauptproblem besteht darin, daß die Zentralregierung noch nicht in die Provinzen vorgedrungen ist und kaum Kontakt mit den Massen hat. Etwa ein Drittel der Landkreise wird nicht von der Zentralregierung kontrolliert. Die Schwäche der Staatsführung ist spürbar.

Zum Schluß möchte ich sagen, daß es offenkundig notwendig ist, die Schritte zu ergreifen, die in den Ihnen vorliegenden Empfehlungen dargelegt sind. Es ist offenbar notwendig, im April ein Treffen mit Karmal und einer Gruppe führender Funktionäre der Demokratischen Volkspartei Afghanistan durchzuführen. Wahrscheinlich ist ein persönliches Treffen Andropows mit Babrak Karmal sinnvoll.

ANDROPOW: 
Sie erinnern sich, wie mühsam und vorsichtig wir die Frage des Einmarsches in Afghanistan entschieden haben. Breschnew bestand auf namentlicher Abstimmung der Mitglieder des Politbüros. Die Frage wurde auf dem ZK-Plenum erörtert.

Bei der Lösung des afghanischen Problems müssen wir von den existierenden Realitäten ausgehen. Was wollen Sie? Das ist ein feudales Land, in dem immer Stämme auf ihrem Territorium herrschten und die zentrale Macht bei weitem nicht immer bis in jedes Dorf vorgedrungen war. Es geht hier nicht um die Position von Pakistan. Hier steht mit uns der amerikanische Imperialismus im Kampf, der sehr gut versteht, daß er auf diesem Abschnitt der internationalen Politik seine Positionen verloren hat. Deshalb können wir hier nicht nachgeben.

Wunder pflegt es auf der Welt nicht zu geben. Manchmal argem wir uns über die Afghanen, daß sie sich inkonsequent verhalten, daß sie die Arbeit zu langsam in Gang bringen. Aber erinnern wir uns an unseren Kampf mit dem Basmatschentum. Damals konzentrierte sich in Mittelasien fast die gesamte Rote Armee, der Kamp f gegen die Basmatschen dauerte bis in die Mitte der dreißiger Jahre an. Deshalb bedarf es im Verhältnis zu Afghanistan sowohl der Strenge als auch des Verständnisses.

Was die von der Kommission ausgearbeiteten Empfehlungen betrifft, so sind sie vielleicht zu bindend mit genauen Hinweisen, was der afghanischen Seite und was unserer Seite obliegt.


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GROMYKO: Wir werden die Empfehlungen natürlich noch überarbeiten.
ANDROPOW: Ja. Daraus muß ein politisches Dokument werden. Es sollte weit flexibler gehalten sein.
PONOMARJO W: Wir werden die Materialien noch bearbeiten.
ANDROPOW: Verhandlungen mit Karmal sind offensichtlich erforderlich. Es ist wahrscheinlich vorteilhaft, sie morgens um zwei Uhr durchzuführen, wobei mein Gespräch mit Karmal als letztes sein sollte.
KUSNEZOW, TICHONOW, GORBATSCHOW: Richtig.«

 

Im wesentlichen änderte sich diese Haltung auch nicht unter Gorbatschow. Nur der Truppenabzug wurde immer dringlicher, aber niemand schickte sich an, dem »amerikanischen Imperialismus« Zugeständnisse zu machen. Es ging darum, wie man sich zurückziehen könnte, ohne wirklich abzuziehen, das heißt, wie man das Regime und die Kontrolle darüber behalten konnte. An die Vorbereitung dieser Entscheidung machte sich das Politbüro bereits 1986, als es zunächst Babrak Karmal ablöste und an seine Stelle den Vorsitzenden des afghanischen KGB Najibullah16 setzte - eine Maßnahme, wie sie für alle »Reformen« Gorbatschows typisch war. Der KGB-Mitarbeiter und Reformer führte - wie auch sein Chef in Moskau etwas später - »liberale Reformen« durch: Er leitete Kontakte mit den Gegnern ein, führte eine neue Verfassung ein, änderte sogar die Landes­bezeichnung und ließ das Wort »demokratisch« weg (offenbar um der muslimischen Opposition entgegenzukommen) und wurde selbst Präsident.

Die Vermutung liegt nahe, daß Afghanistan für die Kreml-»Reformer« eine Art Test des »neuen Denkens« war, ein Versuchs­gelände. Im Erfolgsfall des Experiments konnte man es auf das ganze Imperium anwenden. Ebendeshalb war man im Politbüro nervös und bereitete sich auf den Truppenabzug besonders sorgfältig vor. Die Afghanistan-Kommission des Politbüros (Schewardnadse, Tschebrikow, Jakowlew, Jasow, Krjutschkow) konnte sich bis zum letzten Augenblick nicht entschließen, wie diese Maßnahme am besten durchzuführen sei.


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»In der komplizierten Situation, die die Verhältnisse in Afghanistan charakterisiert, wächst spürbar die innere Spannung, die mit dem bevorstehenden Abzug des dort noch verbliebenen Teils der sowjetischen Streitkräfte zusammenhängt. Die Aufmerksamkeit des Regimes und der Oppositionskräfte konzentriert sich voll auf das Datum des i<j. Februar, an dem nach der Genfer Vereinbarung die Frist für den Verbleib unseres Militärkontingents ausläuft. Dabei ist diese Frist für Kabul noch gedrängter, weil die letzten sowjetischen Truppenteile die afghanische Hauptstadt Anfang Februar verlassen müssen«, legten sie am 23. Januar 1989 dar.17

»Praktisch kommt es im ganzen Land nach wie vor zu Kriegshandlungen zwischen Regierungstruppen und der Opposition, im Laufe derer es der Regierung gelingt, ihre Stellungen zu behaupten, allerdings nur mit Hilfe der sowjetischen Luftwaffe. Der Gegner hat es nicht vermocht, Dschalalabad, Kunduz und Kandahar einzunehmen. Jedoch sind sich alle darüber im klaren, daß der entscheidende Kampf noch bevorsteht. Die Opposition hat ihre militärische Aktivität gegenwärtig etwas verringert und sammelt Kräfte für die folgende Periode. Gen. Najibullah geht davon aus, daß sie beabsichtigt, nach dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte ihre Aktivitäten gleichzeitig an einigen Schlüsselstellungen wiederaufzunehmen.

Es ist zu betonen, daß die afghanischen Genossen sich ernsthafte Sorgen darüber machen, wie sich die Lage entwickeln wird. Im allgemeinen wächst ihre Entschlossenheit, dem Gegner Widerstand zu leisten, wofür sie eine Reihe von Sondermaßnahmen vorsehen und bestrebt sind, ihre Kräfte möglichst rational zu verteilen. Sie rechnen auf die Fortsetzung ihrer Kontakte mit einer beträchtlichen Zahl von Kommandanten der bewaffneten Einheiten des Gegners, auf große Meinungsverschiedenheiten, die innerhalb der Opposition bestehen, und auf die Gegensätzlichkeit einiger ihrer führenden politischen Gruppierungen, insbesondere der >Islamischen Gesellschaft Afghanistans^ (Rabbani) und der islamischen Partei Afghanistans< (Hekmatyar). Bewaffnete Zusammenstöße zwischen Einheiten ... dieser und anderer oppositioneller Gruppierungen werden nicht nur nicht aufhören, sondern noch weit größere Ausmaße annehmen ...

Die afghanischen Genossen drücken ihr Verständnis für die Entscheidung zum Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus und bestätigen sie erneut. Zugleich stellen sie bei nüchterner Einschätzung der Situation fest, daß es ihnen nicht gelingen wird, völlig ohne unseren militärischen Beistand auszukommen.


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 Ein solcher Beistand könnte ihrer Meinung nach in anderen als den derzeitigen Formen in begrenztem Ausmaß erfolgen, es wäre aber nichtsdestoweniger eine ernsthafte 'Unterstützung auf praktischer und psychologischer Ebene. Die afghanischen Genossen sind der Auffassung, daß, falls es der Opposition nicht gelingt, nach dem Abzug der sowjetischen Truppen die entscheidenden Zentren mit einem Schlag zu besetzen, die Allianz der sieben von Peshawar und die Teheraner Union der acht mit Kabul über die Ausarbeitung der künftigen Staatsordnung von Afghanistan in Verhandlungen treten müssen, was sie jetzt noch entschieden ablehnen. Das wichtigste, betonen die afghanischen Freunde, ist, wenigstens die ersten drei bis vier Monate nach dem Abzug der sowjetischen Truppen durchzuhalten. Danach kann sich die Situation allmählich zu ihren Gunsten verändern. Diese Meinung wird auch in einigen Äußerungen von Vertretern der Opposition bei ihren Kontakten mit sowjetischen Vertretern in Islamabad vertreten. Aus diesen Kontakten ergab sich, daß sie ihre gegenwärtige Position der Nichtanerkennung der Regierung Najibullah als Verhandlungspartner revidieren werden, falls diese Regierung sich hält.

In der jetzigen Situation entstehen für uns einige problematische Momente. Einerseits kann unser Abgeben von der getroffenen und erklärten Entscheidung über den Abschluß des Truppenabzugs am if. Februar für uns zu äußerst unerwünschten Komplikationen auf internationaler Ebene führen. Andererseits gibt es keine Garantie dafür, daß nicht bald nach unserem Abzug für das Regime sehr ernsthafte Gefahren aufziehen, die man in der ganzen Welt mit uns in Verbindung bringen wird, um so mehr, als die Opposition gerade in einer solchen entscheidenden Verschärfung für eine gewisse Zeit ihre Handlungen koordinieren kann, wozu sie die Amerikaner und militärische Kreise in Pakistan hartnäckig drängen. Bestimmte Befürchtungen hängen auch damit zusammen, daß in der DVPA (Demokratische Volkspartei Afghanistans, W. B.) keine echte Einheit geschaffen wurde, daß nach wie vor Divergenzen aufgrund der Zugehörigkeit zu verschiedenen Flügeln, Clans oder anderer Merkmale besteben. In den Urteilen mancher afghanischer Führer scheint Impulsivität durch, Erinnerungen an vergangene Ungerechtigkeiten <. ...

Ein sehr ernstzunehmender Faktor besteht darin, daß die Verletzung des Genfer Abkommens durch Islamabad nicht nur einen offenen, sondern sogar demonstrativen Charakter angenommen hat. Pakistanische Grenzsoldaten


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nehmen unmittelbar an Kampfhandlungen auf afghanischem Territorium teil. Aus Pakistan werden die nächstgelegenen Gebiete Afghanistans unter Beschuß genommen. Ununterbrochen werden Waffen geliefert und bewaffnete Banden eingeschleust. Die Stabsquartiere afghanischer Oppositionsparteien, ihre Ausbildungszentren und -basen arbeiten nach wie vor ungehindert in Peshawar und anderen Städten. All dies geschieht aus einer Nachlässigkeit heraus, die schon unter Zia ul-Haq herrschte. Benazir Bhutto dürfte kaum imstande sein, diese Situation in nächster Zukunft zu ändern."

 

Ungeachtet aller Schwierigkeiten reduzierte sich das Überlebensproblem des Regimes jedoch auf das Problem der Versorgung der größeren Städte, besonders Kabuls, mit Lebensmitteln und Treibstoff.

»Der Plan der Opposition, eine Wirtschaftsblockade Kabuls zu organisieren, die Lieferung von Lebensmitteln und Erdölprodukten dorthin zu unterbinden, Unzufriedenheit und sogar direkte Aktionen der Bevölkerung hervorzurufen, ist genau zu erkennen.«

Das hieß, es galt rechtzeitig beträchtliche Vorräte anzuschaffen, was nur auf dem Landweg möglich war. Der Weg von der UdSSR nach Kabul, die Trasse von Chajraton nach Kabul, wurde lebenswichtig.

 

»Den Worten von Genösse Najibullah zufolge kann die Erhaltung des Regimes garantiert werden, sofern der Verkehr über diese Straße etwa bis Mai zuverlässig funktioniert. Das können die afghanischen Freunde ohne unsere Hilfe offensichtlich nicht sicherstellen. Man muß davon ausgehen, daß die Sicherheit der Magistrale Chajraton-Kabul unbedingt gewährleistet werden muß. Dabei muß dem gefährdetsten Abschnitt der Magistrale, dem Salang-Paß mit seinem mehr als drei Kilometer langen Tunnel, besondere Aufmerksamkeit zuteil werden.«

 

Im Zusammenhang damit diskutiert das Politbüro mögliche Varianten, von denen jede für sich bemerkenswert und für die Kreml-»Reformer« sehr bezeichnend ist.


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»Erste Variante: Unter Hinweis auf die schwierige Lage der Zivilbevölkerung eine Division, das heißt ungefähr 12.000 Mann, an der Magistrale Chajraton-Kabul zurückzulassen. Diese Variante ist kaum wünschenswert, weil möglicherweise in der UNO die Frage gestellt wird, warum wir unsere Streitkräfte nicht vollständig abgezogen hätten. Ungeachtet dessen, daß Pakistan seine Verpflichtungen nach dem Genfer Abkommen nicht erfüllt, ist anzunehmen, daß die Mehrheit der Länder in der UNO uns nicht unterstützt, weil die Frage der Streitkräfte für viele das Hauptproblem ist.

Zweite Variante: Unter Hinweis auf drohenden Hunger in Kabul und anderen Städten die UNO dazu aufzurufen, die Lebensmittel- und Energieversorgung in den Städten umgehend sicherzustellen und UNO-Truppen zur Aufrechterhaltung der Magistrale zu schicken, bis zur Ankunft der UNO-Streitkräfte dort eigene militärische Einheiten zu belassen, um zutiefst humanitäre Funktionen auszuführen - die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Erdölprodukten. Gleichzeitig ist festzuhalten, daß der Abzug des sowjetischen Kontingents stattgefunden hat. Es ist zu erklären, daß nach dem Hinzukommen der UNO-Streitkräfte unsere Einheiten umgehend in die Sowjetunion zurückkehren werden ...

Dritte Variante: Alle Streitkräfte wie geplant zum ij. Februar abzuziehen und das auf internationaler Ebene durch Erklärungen der Regierungen der UdSSR und der Republik Afghanistan festzustellen. Danach, auf die Bitte der afghanischen Regierung an alle Länder, mit Transporten von zivilen Gutem zu beginnen, mit militärischer Begleitung zu ihrem Schutz. Solche Transporte könnten ungefähr zwei Wochen nach dem Abzug der sowjetischen Truppen einsetzen. Zu diesem Zeitpunkt ist eine breite öffentliche Meinung zu erzeugen, die die Handlungen der Opposition verurteilt, weil sie die Bevölkerung der afghanischen Städte dem Hungertod aussetze. Vor dem Hintergrund einer solchen öffentlichen Meinung erschiene der Transport mit unserer Beteiligung wie eine natürliche humanitäre Maßnahme, Zugleich müßte man bei dieser Variante einen Teil der Strecke jedesmal unter Kämpfen überwinden.

Vierte Variante: Fast die gesamten sowjetischen Streitkräfte sind zum i f. Februar abzuziehen. Der Abzug der sowjetischen Streitkräfte ist offiziell mit einer entsprechenden Erklärung festzustellen. Unter dem Vorwand der Übergabe einiger Posten an der Magistrale Chajraton-Kabul an die afghanische Seite sind sowjetische Abteilungen an einigen besonders wichtigen Punkten, darunter auch am Salang-Paß, zu belassen.


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Von unserer Seite ist von dieser Aktion kein großes Aufheben zu machen, es sollte lediglich vermerkt werden, daß es sich um eine geringe Anzahl sowjetischer Soldaten handelt, die deswegen zurückgeblieben sind, weil die afghanische Seite noch nicht alle Posten übernommen habe. Nach einiger Zeit könnte man, wie in der dritten Variante, mit Hilfslieferungen nach Kabul mit unserer militärischen Begleitung beginnen.

Bei all diesen Varianten ist davon auszugehen, daß unsere regulären Streitkräfte daran beteiligt sein werden, aber dies muß auf freiwilliger Basis geschehen, hauptsächlich mit Wehrpflichtigen, die ihren Militärdienst in Afghanistan ableisten oder ihre Zeit bereits abgeleistet haben und sich in der Sowjetunion befinden. Dabei sollte man einen Monatssold von 800 bis 1000 Rubeln festsetzen, zum Teil in afghanischer Währung, Für die Offiziere sollte der Sold wesentlich höher sein.

Internationalen Beobachtern ist das Recht einzuräumen, zu kontrollieren, ob wir tatsächlich Waren für die Bevölkerung begleiten. Dies ist öffentlich zu verkünden. In nächster Zeit sind Verhandlungen mit dem Sonderkoordinator der UNO-Programme für humanitäre und wirtschaftliche Hilfe an Afghanistan Agha Khan zu führen. Ziel der Verbandlungen ist, diese Programme und den Mechanismus des Sonderkoordinators zu nutzen für die Bekämpfung der Pläne der Extremisten, Kabul und andere große afghanische Städte durch eine Wirtschaftsblockade zu vernichten. ...

Es ist vielleicht noch eine weitere, fünfte Variante in Betracht zu ziehen - die sowjetischen Streitkräfte werden zum ij, Februar vollständig abgezogen, aber wir erweisen der afghanischen Seite ergänzende Hilfe, unter anderem auch finanzielle, beim Schutz der Chajraton-Kabul-Magistrale mit ihren Kräften; das kann bis zur Übernahme der Verpflegung dieser afghanischen Einheiten für eine bestimmte Zeit gehen. Allerdings ist dies zweifellos mit nicht geringen Schwierigkeiten verbunden, besonders im Hinblick auf die Gewährleistung einer sicheren Durchführung der Transporte. ...

Parallel zu all diesen Maßnahmen ist der afghanischen Seite weiterhin Hilfe zu leisten bei der Herstellung von Kontakten zur Opposition, die sich in Pakistan, Iran und Westeuropa aufhält. Wir müssen alle Nuancen der Stimmungen der Opposition genauestens beobachten und die geeignetsten Momente abpassen, um auf sie in der erforderlichen Weise einzuwirken, in ihr eine Spaltung herbeizuführen, eine Trennung der >Gemäßigten< von den Extremisten, Insbesondere ist es jetzt wichtig, die Mission des Beauftragten des UNO-Generalsekretärs B. Sevan zu unterstützen, der sich der Idee der Bildung eines konsultativen Rates zur Ausarbeitung des künftigen Staatsaufbaus Afghanistans angeschlossen hat.«

Sie billigten im wesentlichen die fünfte Variante (und einiges von der dritten), aber weder in Kabul noch in anderen Zentren herrschte damals Hunger. Aber natürlich gab es eminente Hilfe mit militärischer Ausrüstung,18 mit Waffen, inklusive Raketen, und den »Einsatz sowjetischer Flieger auf freiwilliger Basis und mit entsprechender materieller Entlohnung in afghanischen Transportflugzeugen oder in sowjetischen Transportflugzeugen, die man an die afghanische Seite verpachten könnte.« 

Allein 1989 wurde Militär­technik im Wert von 2,5 Milliarden Rubeln geliefert und im darauffolgenden Jahr für nicht weniger als 1,4 Milliarden, darunter Militärflugzeuge und Hubschrauber.19) So hielt sich das Regime in Afghanistan bis 1992 und brach erst nach dem Zerfall der UdSSR zusammen.

Unterdessen überschritten genau am festgesetzten Tag, am 15. Februar 1989, die sowjetischen Streitkräfte feierlich, in bester Ordnung, vor den Augen der Fernsehkameras der ganzen Welt die Brücke über den Fluß Amu Darya, der die UdSSR von Afghanistan trennt. Das bedeutete also ein »Truppenabzug« bei den sowjetischen Führern.  

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