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5. »Samtene Revolution« in der CSSR 

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Die beeindruckenden Umwälzungen von 1989 in der kommunistischen Welt bleiben bis heute ein Rätsel, das aus irgendeinem Grund niemand lösen möchte. Es scheint, daß sich vor unseren Augen ein grandioses und in gewisser Hinsicht ganz unwahr­schein­liches Ereignis abgespielt hat: Praktisch ohne Blutvergießen und sogar ohne große Kämpfe ist der mächtige sowjetische Block in Osteuropa auseinandergebrochen.

Niemand bezweifelt offenbar, daß die Veränderungen in Osteuropa auf Beschluß Moskaus erfolgt seien, ja sogar unter einem gewissen Druck aus dem Kreml: Gorbatschow hat für die Durchführung dieser Operation sogar den Friedens­nobelpreis erhalten. Er, so hieß es damals, dehnte seine Politik der »Glasnost und Perestroika« auf die »reaktionären Regime« Osteuropas aus. Allerdings bleibt hierbei eine Frage unbeantwortet: Wenn das so ist, was war dann die »samtene Revolution«? Ein Spektakel? Eine Verschwörung des Kreml?

Wirklich ist dieser Schluß, da wo die Umstände der Revolution von 1989 erforscht worden sind, zwingend. Von den neuen Regierungen Osteuropas haben nur die Tschechen eine solche Untersuchung durchgeführt. Sie haben festgestellt, daß sämtliche Anfangsstadien der Unruhen, die zum Fall der Jakes-Regierung führten, von der tschechischen Staatssicherheit durchgeführt und unter der Leitung von General Alois Lorens, des Spionagechefs der CSSR, organisiert wurden. 

Dies geschah wiederum auf Anweisung des Spionagechefs des KGB, General Wiktor Gruschko. Es hat sich unter anderem herausgestellt, daß auch die Demonstration am 17. November und ihre äußerst grausame Unterdrückung, bei der angeblich ein Student ums Leben kam, ein Bestandteil ihres Plans war. Der ermordete Student entpuppte sich als quicklebendiger Mitarbeiter der tschechischen Staatssicherheit. Der auf diesen Forschungsmaterialien basierende Dokumentarfilm wurde in England bereits 1990 gezeigt. Vor kurzem, am 5. Jahrestag dieses Ereignisses, trat General Lorens im englischen Fernsehen auf20 und bestätigte seine Aussage. Er fügte allerdings hinzu, daß sie ihre Aufgabe damals nicht bewältigt hätten: Im Ergebnis der »Revolution« sollten sie irgendeinen liberalen Kommunisten an die Macht bringen und nicht etwa Havel.

Zu mehr oder weniger denselben Ergebnissen kamen Journalisten, die die Ereignisse von 1989 in der DDR untersuchten. In dem vor einiger Zeit in England gezeigten Film »Fall of the Wall« bestätigen alle ehemaligen DDR-Führer, daß Gorbatschow praktisch offen die Absetzung Honeckers gefordert und die Verschwörer zum Handeln gedrängt habe.21 Natürlich verraten sie nicht viel, aber es ist nicht schwer, den Schluß zu ziehen, daß die ersten Demonstrationen mit »Liberalisierungs«-Forderungen von ihnen mit der Billigung Moskaus organisiert wurden. Jedenfalls ist zumindest das unstreitig, daß auf ihre Anordnung keine Gewalt zur Unterdrückung dieser Unruhen angewandt wurde.


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Selbst die rumänischen Ereignisse, die niemand erforscht hat und bei denen die neue Führung »sowjetische Einmischung« bestreitet, sind nichtsdestoweniger äußerst verdächtig. So wurden Schlüsselfiguren dieser »Revolution« schon lange vor diesen Ereignissen von dem 1978 in den Westen geflohenen rumänischen Spionagechef General Pacepa22 als Agenten Moskaus identifiziert. Diese Personen als Gruppe von Dissidenten zu bezeichnen, erfordert schon ein gehöriges Maß an Ironie.

So bleibt kein Zweifel, daß die »samtene Revolution« von 1989 eine sowjetische Operation war. Wozu brauchten die Kreml-Regisseure eine so grandiose und gefährliche Show, wenn sie einfach die Regierung jedes ihrer Satelliten-Staaten nach Gutdünken durch die eines »liberalen« Politikers ersetzen konnten? Der Mechanismus solcher »Ablösungen« war seit 40 Jahren bis zur Perfektion ausgearbeitet, und niemals war es notwendig gewesen, zu diesem Zweck Massenunruhen zu inszenieren; alles wurde früher im stillen, heimlich und ohne jedes Risiko erledigt. Wir haben zum Beispiel gesehen, wie in Moskau entschieden wurde, wer in Polen regieren sollte und mit welcher Selbstverständlichkeit das in die Tat umgesetzt wurde. Wen wollten sie also mit ihrem »Revolutions«spektakel täuschen? Den Westen? Ihre eigenen Völker? Oder beide?

Es ist schwer zu glauben, daß die Resultate dieser Operation der Absicht unserer Regisseure voll und ganz entsprachen. Wir haben gerade gesehen, mit welcher Sorgfalt der Truppenabzug aus Afghanistan vorbereitet wurde, wo die sowjetischen Führer zu jedem erdenklichen Betrug bereit waren, nur um ihr Regime dort zu erhalten, »das« - wie sie schreiben, »in der ganzen Welt mit uns in Verbindung gebracht wird«. Osteuropa jedoch wurde nicht nur mit ihnen »in Verbindung gebracht«, es war wie ein Bestandteil ihrer selbst. Es ist unmöglich zu glauben, daß ihnen Afghanistan wichtiger war als Polen, die Tschechoslowakei, die DDR, Ungarn, Rumänien und Bulgarien zusammengenommen, zumal zwischen dem Abzug aus Afghanistan und der »samtenen Revolution« nur ein paar Monate lagen. Im Fall Polen waren es insgesamt zwei Monate: Aus Afghanistan »zogen« sie im Februar ab, und der »Runde Tisch« mit der Solidarnosc kam im Mai zustande.


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Abbildung

 


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Aber was soll man über Osteuropa oder Afghanistan viele Worte verlieren, wenn doch Moskau nach wie vor alle kommunistischen Parteien der Welt bis 1990 finanzierte, ungeachtet all seiner Devisenprobleme!23 Es fragt sich, ob ihnen wirklich die chilenische Kommunistische Partei wichtiger als das gesamte sozialistische Lager war? Es ging ja nicht nur ums Geld — sie fuhren fort, die kommunistischen Brüder aus der ganzen Welt auszubilden, mit Waffen und mit technischen Hilfsmitteln zu versorgen. So wurde zum Beispiel noch im Februar 1990, das heißt bereits nach dem Fall der Berliner Mauer, im ZK die künftige Arbeit mit den kommunistischen Parteien Chiles und Argentiniens wie folgt geplant:24

 

»Sonderakte 
Streng geheim 
Beschluß des Sekretariats des ZK der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Über die Bitten der Führungen der kommunistischen Parteien Argentiniens und Chiles

1. Den Bitten der Führung der kommunistischen Parteien von Argentinien (KPA) und Chile (KPCh) ist teilweise nachzukommen. Fünf Vertreter der KPA und vier der KPCh sind 1990 für drei Monate in der UdSSR zur Schulung in Sicherheitsfragen der Partei und ihrer Führer, einschließlich technischer Hilfsmittel, aufzunehmen.

2. Empfang und Betreuung der genannten Genossen sind von der Internationalen Abteilung und der Verwaltung für die Angelegenheiten des ZK der KPdSU zu übernehmen, aber ihre Ausbildung und Versorgung mit Dokumenten und Spezialausrüstung obliegen dem Komitee für Staatssicherheit der UdSSR. Die Kosten für die Reise der Vertreter der KPA und der KPCh vom Wohnort nach Moskau und zurück zum Bestimmungsort, einschließlich der Flüge mit internationalen Fluggesellschaften, für ihren dreimonatigen Aufenthalt in der UdSSR, für die Spezialausrüstung und andere Ausgaben, die mit der Erfüllung der Bitten der Führungen dieser Parteien zusammenhängen, sind aus dem Reservefonds im Parteibudget zu bestreiten.«

 

Ein kurioses Detail am Rande: Genau zu dem Zeitpunkt, als die Operation zur »Befreiung Osteuropas« ausgearbeitet wurde, wandte sich der seinerzeit gegen mich ausgetauschte Luis Corvalan, der seit 1983 »mit verändertem Äußeren« illegal in Chile lebte und dort den Untergrundkampf der chilenischen Kommunisten gegen das Pinochet-Regime leitete, an das ZK mit der Bitte, ihn zu »legalisieren«.


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 Sich zu verstecken hatte keinen Sinn mehr: Der blutige Pinochet hatte Wahlen durchgeführt und war zurückgetreten, noch bevor die Perestroika in der UdSSR begonnen hatte. Aber Genösse Corvalan saß im Untergrund fest, und zwecks Legalisierung mußte er wieder in die UdSSR zurückkehren, sein Äußeres verändern und auf gesetzliche Weise einen Paß bekommen.

»Die Führung der Kommunistischen Partei Chiles (KPCh) hat sich an das ZK der KPdSU gewandt mit der Bitte, dem ehemaligen Generalsekretär der KPCh Gen. Luis Corvalan bei der Reise aus der UdSSR in ein westeuropäisches Land behilflich zu sein, um dort einen chilenischen Paß für die darauffolgende legale Rückkehr in die Heimat zu erhalten.

Gen. L. Corvalan wird Ende Juli 1989 auf eine entsprechende Einladung des ZK der KPdSU hin nach Moskau in Urlaub und zur medizinischen Behandlung reisen. Er wird illegal aus Chile ausreisen, mit verändertem Äußeren ...«25

 

Sie hatten offenbar Muße für derartige Manöver — was tut man nicht alles für die Weltrevolution. Es ging ja nicht nur um die Chilenen — auch libanesische Terroristen, türkische Untergrundkämpfer26 und das »arbeitende Volk Zyperns«27 —, keiner wurde der Willkür des Schicksals überlassen. Ihr Training, ihre Versorgung und ihre Finanzierung wurden ungeachtet des Auseinander­brechens des sowjetischen Imperiums fortgesetzt. So wurde geplant, in den Jahren 1989 bis 1990 »zur speziellen militärischen Ausbildung durch das Verteidigungsministerium der UdSSR« 20 libanesische Terroristen jährlich aufzunehmen.28 Das war keine Ausnahme, sondern die Regel, wobei das Geld, das für diese Ausgaben benötigt wurde, vom Westen kam — für die »Rettung der Perestroika«. Hierbei ging es keineswegs um etwaige Ränke der Konservativen und Reaktionäre im Politbüro gegen die Liberalen und Reformer. Ich habe bewußt Kopien dieser Dokumente mit allen Unterschriften angeführt: Sie sind von dem »Hauptarchitekten der Perestroika« Alexander Jakowlew unterzeichnet, den man selbst im Westen nicht zu den Konservativen zählte.


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Diese »besonderen Dienste« wollte man im Maße des Fortschreitens der Perestroika offenbar noch verstärken. Im folgenden sei noch ein Dokument angeführt, das auch von Jakowlew unterzeichnet ist, in dem das deutlich genug ausgesprochen wird.

»Die Führungen einer Reihe von Bruderparteien nichtsozialistischer Länder wenden sich alljährlich an das ZK der KPdSU mit Bitten, ihre Aktivisten für eine Spezialausbildung aufzunehmen. In den letzten zehn Jahren wurden mehr als foo ausländische Parteiarbeiter für 40 kommunistische und Arbeiterparteien ausgebildet (darunter auch Politbüro- und ZK-Mitglieder). Entsprechend dem Auftrag des ZK der KPdSU führen die Internationale Abteilung und die Verwaltung der Angelegenheiten des ZK der KPdSU ihre Aufnahme und ihre Betreuung durch. Für ihre Ausbildung ist das Komitee für Staatssicherheit der UdSSR zuständig«, schrieben Falin, Krutschina und Krjutschkow im April 1989.29

»Die Spezialausbildung ausländischer Parteiarbeiter sowie die Aufnahme der Führer einiger illegaler Parteien, die sich zu Verhandlungen oder zu einer speziellen Schulung in der UdSSR aufhalten, wird in Wohnungen der Verwaltung der Angelegenheiten des ZK der KPdSU durchgeführt. Die Verwendung von Wohnungen zu diesem Zweck erfordert deren spezielle Ausstattung mit Schutzvorrichtungen, um einer möglichen Dekonspiration und dem Durchsickern von Informationen vorzubeugen, außerdem die Schaffung zusätzlichen entsprechenden Komforts für die Durchführung des Lehrprozesses.

In Zusammenhang hiermit halten wir es für sinnvoll, ergänzende Maßnahmen zu treffen, um die Bedingungen für die Spezialausbildung der Vertreter der Bruderparteien zu vervollkommnen. Insbesondere wird empfohlen, aus dem Kontingent an Wohnungen, das der Verwaltung der Angelegenheiten des ZK der KPdSU zur Verfügung steht, eine Reihe von Wohnungen ausschließlich für die Durchführung der Spezialausbildung zur Verfügung zu stellen und sie mit den notwendigen technischen Schutzvorrichtungen auszustatten, ebenso mit der erforderlichen gängigen Videotechnik und Breitbandempfängern für Kurzwellenempfang.

Der KGB der UdSSR könnte den Auftrag erhalten, einen Maßnahmen-komplex zur Gewährleistung der Sicherheit und der Geheimhaltung der Maßnahmen, die in den Spezialwohnungen durchgeführt werden, auszuarbeiten und mit der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU abzustimmen."


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Und das ZK beschloß, zwölf derartiger »Spezialwohnungen« ausschließlich für die Durchführung spezieller Schulungen zur Verfügung zu stellen und fünf für den Empfang von Führern illegaler Parteien.

Also schickte sich die sowjetische Führung weder 1989 noch Anfang 1990 an, auf ihr Imperium oder auf ihre Expansion zu verzichten. Was also wollten sie dann mit der »samtenen Revolution« erreichen?

Sie hatten natürlich ganz andere Ziele. Ihr Plan war, durch die fiktive Volksrevolution in Osteuropa eine neue Generation von Manipulatoren an die Macht zu bringen. Dazu bedurften sie der inszenierten Wiederholung des »Prager Frühlings«, der Fiktion eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«, der angeblich durch den Willen der Volksmassen entstanden sein sollte. Sie benötigten enthusiastische Zustimmung im Westen wie im Osten, die es ihnen erlaubte, die Situation im Land zu stabilisieren und die notwendige Unterstützung des Westens zu erhalten. Aber während im Westen dieses Unternehmen vollständig gelang, erwartete sie im Osten ein ebenso vollständiges Scheitern. Im Ergebnis war Rumänien das einzige Land, in dem ihre Pläne im großen und ganzen verwirklicht worden sind. In allen übrigen Ländern konnten ihre Schützlinge der spontanen Volksbewegung nicht standhalten, die jeglichen Sozialismus verwarf.

Die Fehlkalkulation der Kreml-Strategen ist sehr bezeichnend; wie viele andere Reformer und Manipulatoren in der Geschichte überschätzten sie die Kraft ihrer Strukturen und unterschätzten den Haß des Volkes auf das Regime. Vielleicht wäre das Resultat anders ausgefallen, wenn sie diese »Reformen« noch in den siebziger Jahren durchgeführt hätten. Aber in den achtziger Jahren setzte eine Entartung der elitären Parteistrukturen ein -Jahrzehnte der »natürlichen« Auswahl hatten Opportunisten und Konformisten nach oben gebracht, die unfähig zu Innovationen waren, und in den Gesellschaften war kein Funken Glaube an die Reformierbarkeit des Regimes übriggeblieben.


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Als im Westen die Manipulationen von Gorbatschows Führungsmannschaft mit Freuden für bare Münze genommen wurden, hatte sich das Regime im Osten schon in solchem Maße diskreditiert, daß selbst die Intelligenz 1989 nicht mehr an die Aufrichtigkeit der Absichten ihrer Führer glaubte. Einfache Leute waren nach jahrzehntelangem Lug und Trug ohnehin eher zu übertriebenem, fast schon paranoidem Mißtrauen geneigt.

Schließlich hatte sich die Idee des Sozialismus in den achtziger Jahren überlebt. Dies trat besonders deutlich in Osteuropa zutage (Ungarn, Polen, Jugoslawien), wo 20 Jahre lang alle möglichen Varianten von Reformen ausprobiert worden waren und man sich in der Praxis überzeugt hatte, daß das System nicht reformierbar war. Imre Pozcgay, der Führer der ungarischen Kommunisten, war wahrscheinlich der erste unter den Führern Osteuropas, der dies bereits im Mai 198930 offen zugab und hinzufügte, daß man das System »einfach abschaffen muß«.

Ich muß zugestehen, daß im Kreml viele dieser neuen Realitäten nicht richtig eingeschätzt wurden, weil man sich auf die eigene Flexibilität und auf die eingefleischte Passivität der Bevölkerung verließ, die keinerlei Erfahrung in politischen Kämpfen hatte. Darüber hinaus mag es sein, daß man Skeptikern, die vor der Gefahr warnten, kein Gehör schenkte, weil man sie für »Feinde der Perestroika« hielt. Im Grunde genommen berichtete der Apparat nur vom Enthusiasmus der Volksmassen. Dennoch konnten die Politiker des Kreml eigentlich nicht ganz übersehen, wie gefährlich das von ihnen entfesselte Spiel war. Sie nahmen an, daß eine Rückkehr des »Prager Frühlings« nach Prag die kühnsten Träume der Tschechen befriedigen würde und daß der »Gulasch-Kommunismus« in Ungarn stabil genug wäre, um Veränderungen in der Führung dieses Landes nicht zu einer Kettenreaktion unkontrollierbarer Veränderungen des Systems werden zu lassen. Aber es gab noch die DDR mit ihrem fast stalinistischen Regime. Es gab Polen, wo sich das Regime nur mit Mühe am Ruder hielt, praktisch auf den Bajonetten der polnischen Armee. Darüber hinaus hatte Moskau bei Stabilisierungsmaßnahmen in Polen nie große Erfolge zu verbuchen gehabt, und die tatsächliche Lage der Dinge war im Politbüro bereits 1984 bekannt:


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»GROMYKO:  ... Bei der Ausführung der Anweisung des Politbüros haben wir Jaruzelski davon unterrichtet, daß der geringe Fortschritt bei der Stärkung der führenden Rolle der PVAP in der polnischen Gesellschaft bei uns besondere Besorgnis hervorruft. Im Grunde genommen hat sich die katholische Kirche hier in eine Partei verwandelt, die staatsfeindliche Positionen einnimmt. Wir haben Jaruzelski auf Mängel bei der Auswahl und dem Einsatz der Kader sowie bei der konsequenten Durchführung von Parteibeschlüssen aufmerksam gemacht. Jaruzelski ließ in seinen Antworten ein tieferes Verständnis der Rolle der Partei unter den Massen vermissen, im ganzen hat er, wenn man so sagen kann, wenig Sinn für die fragen des Parteiaufbaus. Er kümmert sich mehr um die Stärkung der Präsidentenmacht in Polen.

In den Gesprächen mit Jaruzelski haben wir uns besonders auf ökonomische Fragen konzentriert und festgestellt, daß die zentrale und mittlere Ebene des Wirtschaftsapparates in einigen fällen die Entwicklung der polnisch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen behindert und sich nach wie vor am Westen orientiert. Jaruzelski hat eingestanden, daß dies so sei, aber gesagt, daß die PVAP gegen diese Erscheinungen beharrlich ankämpfe.

Bei der Einschätzung der Lage in der Landwirtschaft haben wir Jaruzelski direkt darauf hingeweisen, daß de facto eine weitere Aufsplitterung der bäuerlichen Bevölkerung Polens vorliegt und daß die Partei, falls sich an dieser Situation nichts ändert, früher oder später gezwungen sein werde, den Sozialismus gemeinsam mit den Kulaken aufzubauen, freilich erklärte Jaruzelski daraufhin, daß es keine Kulaken in Polen gebe, aber es gibt in dem Land bekanntlich nicht wenige Höfe, die bis zu 100 Hektar Land besitzen und in denen Lohnarbeiter beschäftigt werden. Jaruzelski erwiderte, daß die polnische Führung >in engstem Kreis und unter strenger Geheimhaltung< dieses Problem diskutiert habe, aber er sagte nicht, zu welchen Schlüssen die polnische Führung in dieser Frage gekommen sei, so daß faktisch die Linie zur Entwicklung der Privatwirtschaft auf dem Dorf zu einer direkten oder indirekten Unterstützung einer Kulakenwirtschaft führt.

TICHONOW: Und danach wollen sie dann von uns Getreide kaufen.


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GROMYKO: Wir haben Jaruzelski davon unterrichtet, daß in der Sowjetunion zwangsläufig Sorge aufkommt, weil die PVAP bisher keinen aktiven ideologischen Kampf führt und sich vor allem nicht entschieden mit der Kirche auseinandersetzt. Die Sache geht so weit, daß Tausende und Abertausende auf Knien zum römischen Papst kriechen. Jedoch hat das Gespräch gezeigt, daß die polnische Führung in dieser Beziehung weder über ein konstruktives Programm noch über eine klare Vorstellung von den vor der Partei stehenden Aufgaben verfügt.

Im ganzen besteht unsere Schlußfolgerung darin, daß Jaruzelski noch nicht für eine harte Wendung in der Politik reif ist. Mit ihm muß man viel arbeiten, man muß beständig Einfluß auf ihn ausüben ...

USTINOW: A. A, Gromyko hat die wesentlichen Punkte unserer Unterredung mit Jaruzelski hier ausführlich dargelegt. Ich bin zu der Auffassung gekommen, daß er natürlich mit uns nicht ganz offen war. Im ganzen hat unser Gespräch mit ihm fast neun Stunden gedauert. Es hat gezeigt, daß die gegenwärtige Lage in Polen Jaruzelski im großen und ganzen zufriedenstellt. Er bat wenig Kontakt zu den Parteiorganisationen in den Provinzen und zu den Arbeitskollektiven, und er versteht die Bedeutung der Aufgabe nicht, die Parteizellen zu stärken. Deshalb waren wir gezwungen, ihm offen zu sagen, daß es in Polen derzeit keine echte, starke Partei gebe. Es ist doch bekannt, daß aus der PVAP in den letzten Jahren über eine Million Mitglieder ausgetreten sind. Jetzt sind noch ungefähr zwei Millionen Parteimitglieder verblieben, von denen ein bedeutender Teil sich ziemlich passiv verhält.

Wir haben mit Jaruzelski viel über die Probleme der Beziehungen zur Jugend gesprochen. Es ist besonders alarmierend, daß in der polnischen Armee zur Zeit schon fast zu 100 Prozent, wenn man so sagen will, Kinder der Solidamosc dienen. Dabei ist in Betracht zu ziehen, daß für die militärischen Ausbildungsstätten ungefähr 2^ Prozent des Kontingents weniger als vorgesehen ausgehoben wurden. Ebendarum mußten wir Jaruzelski ganz offen sagen, daß schlecht mit der Jugend, mit dem Komsomol (der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei, W. B.) gearbeitet wird (bekanntlich gibt es in Polen vier Jugendorganisationen). Er war gezwungen, das Fehlen einer fruchtbaren Arbeit mit der Jugend zuzugeben, besonders in den Universitäten. In diesem Zusammenhang bin ich der Meinung, daß wir unser Komsomol-Aktiv, also Kommunisten, viel häufiger nach Polen schicken müssen. Dabei müssen wir unsere Genossen, die nach Polen fabren, gründlich vorbereiten.


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Wir mußten Jaruzelski auch auf die mangelhafte Arbeit der Partei in der Gewerkschaftsbewegung Polens hinweisen. Bekanntlich waren bis zu den Ereignissen mehr als zwölf Millionen Arbeiter und Angestellte in der Gewerkschaft. Jetzt haben die polnischen Gewerkschaften insgesamt vier Millionen Mitglieder. Dabei arbeiten die Gewerkschaftsorganisationm äußert schlecht.

TICHONOW: Die entscheidende Frage besteht darin, was wir im Verhältnis zu Polen tun sollen, welche Schritte zu unternehmen sind.

USTINOW: Wir haben bereits einige unserer Vorschläge in einem Vermerk dargelegt. Aber ich denke, daß Jaruzelski, wenn er hier ist, erneut einige Fragen stellen wird, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet. Für uns ist es sehr wichtig, ihn erneut mit den Problemen zu konfrontieren, die mit der Stärkung der Rolle der Partei in der polnischen Gesellschaft zusammenhängen, mit der zunehmenden Auseinandersetzung mit der Kirche, der Intensivierung des Kontaktes zur Jugend und anderen Schichten der polnischen Gesellschaft. Kurz gesagt, wir müssen aktiver mit der polnischen Führung arbeiten. Gleichzeitig müssen wir ihr noch aktiver helfen, weil Polen allein nicht aus dieser Situation herauskommen wird.

GROMYKO: Jaruzelski denkt allerdings, daß sie die Schulden gegenüber dem Westen Anfang 2000 abgezahlt haben werden.

RUSSAKOW: Meiner Meinung nach haben die Genossen Ustinow und Gromyko die Situation in Polen hier gründlich und zutreffend beschrieben. Man muß berücksichtigen, daß Polen, obwohl es sich als sozialistisches Land bezeichnet, niemals im vollen Sinne dieses Wortes sozialistisch war. Was die Führung der PVAP betrifft, so haben wir auf der Kaderebene im ganzen eine richtige Wahl getroffen. In der gegebenen Situation ist die Figur Jaruzelskis die einzige akzeptable Figur für die Führung dieses Landes.

Mir scheint, daß unsere Genossen bei der polnischen Führung alle wichtigen Fragen vorgebracht haben. Mit Jaruzelski muß man arbeiten, und zwar beharrlich. Das vorbereitende Gespräch zweier einflußreicher Mitglieder des Politbüros des ZK der KPdSU mit dem polnischen Staatschef ist ein sehr wichtiger und sehr notwendiger Schritt im Vorfeld des Besuches von Jaruzelski in Moskau.

GORBATSCHOW: Ja, das war wirklich ein weitsichtiger Schritt von unserer Seite. Es ist wichtig, daß er unmittelbar vor dem Besuch von Jaruzelski in Moskau getan wurde. Deshalb scheint mir, daß man die Ergebnisse der Verhandlungen billigen kann, die die Gen. Ustinow und Gromyko geführt haben. Ich habe mich gründlich mit der Aufzeichnung dieses Gesprächs befaßt, das mehr als 100 Seiten umfaßt.


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Daraus wird deutlich, daß Jaruzelski die Situation zweifellos besser darstellen wollte, als sie es in der Tat ist. Mir scheint, daß wir die wahren Absichten Jaruzelskis noch heraus­finden, daß wir erkennen müssen, ob er nicht in Polen ein pluralistisches Regierungssystem haben will. Gleichzeitig ist klar, daß die Lage in der PVAP die Tendenz zur Verschärfung hat, und dies vor allem im Hinblick auf das Verhältnis der Staatsmacht zur Arbeiterklasse. Eine Tatsache ist, daß kürzlich auf einer der Werften von Gdansk über 1200 Mitglieder aus der PVAP ausgetreten sind. Das heißt, daß die polnische Führung mit den Parteiorganisationen in den Provinzen schlecht arbeitet, sie hat nur formale Beziehungen zu ihnen. Darum gibt es keinen Zweifel, daß unsere Delegation, die mit Jaruzelski im Mai dieses Jahres verhandeln wird, vor einer großen und schweren Aufgabe steht, im Laufe dieser Gespräche müssen wir die Linie aktiv verfolgen, die vom Politbüro des ZK der KPdSU festgelegt wurde.

TSCHEBRIKOW: Mir scheint, daß das sehr wichtige und nützliche Verhandlungen waren. Wie aus uns vorliegenden Informationen hervorgeht, beabsichtigt die polnische Konterrevolution jetzt, in zwei Richtungen vorzugehen. Erstens bereitet sie sieb aktiv darauf vor, in den Maitagen Unruhen zu organisieren. Zweitens ist geplant, einen Boykott der Wahlen zu den örtlichen Staatsorganen zu verkünden, die Mitte des Jahres stattfinden werden. Diese Momente müssen wir besonders im Auge haben.

TSCHERNENKO: ... Die Ereignisse in Polen sind wirklich besorgniserregend. Sie gehen weit über nationale Rahmen hinaus und berühren das Schicksal der gesamten sozialistischen Gemeinschaft, sie haben eine unmittelbare Beziehung zu unserer Sicherheit.

Uns alarmiert auch die Tatsache, daß ungeachtet der bekannten Fortschritte in der politischen Lage die konter­revolutionären Kräfte ihre Tätigkeit fortsetzen, daß die Kirche in die Offensive geht und sowohl die Feinde des Sozialismus als auch Personen, die mit der derzeitigen Ordnung unzufrieden sind, inspiriert und vereinigt. Ebenso beunruhigt uns natürlich die schwierige Situation in der polnischen Wirtschaft, die zunehmenden negativen Stimmungen in der Arbeiterklasse, die sich fortsetzende Stärkung der Positionen des Privatunternehmers. Aber die Hauptsache ist, daß die Lage in der Partei selbst uns ernsthafte Sorgen bereitet. Die PVAP hat nach wie vor weder in ideeller noch in organisatorischer Hinsicht die Geschlossenheit ihrer Reiben


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auf prinzipieller marxistisch-leninistischer Grundlage wiederhergestellt. Sie nimmt nicht in vollem Maße den erforderlichen Einfluß auf die grundlegenden Prozesse im Leben von Staat und Gesellschaft. Mit einem Wort, wie Jaruzelski selbst zugesteht, sie nimmt ihre führende Rolle nicht wahr.

Die polnischen Genossen sagen uns, daß die einen oder anderen Mängel auf dem Gebiet der Wirtschaft oder der Parteiarbeit, Zugeständnisse an die Kirche und Privatunternehmer lediglich taktisch bedingt seien, und daß die strategische Linie nach wie vor die der Festigung der Positionen des Sozialismus sei. Aber es sollte sich aus der Aufgabe einzelner Positionen aus taktischen Erwägungen nicht die Unfähigkeit ergeben, strategische Absichten in die Praxis umzusetzen.

All dies wurde auf dem Treffen mit Jaruzelski gesagt. Wir vertrauen ihm natürlich. Wir unterstützen ihn. Aber wir müssen weiterhin auf ihn einwirken und ihm helfen, die bestmöglichen Entscheidungen im Sinne der Stabilisierung des Sozialismus auf polnischem Boden zu finden.

... Und noch etwas. Wir müssen uns auf das bevorstehende Treffen in Moskau sorgfältig vorbereiten. Wir dürfen keine Kräfte sparen, um zu helfen, die Angelegenheit vorwärtszubringen, die Aktivierung der Arbeit der polnischen Führung und der Kommunisten Polens in allen Bereichen des Lebens der Gesellschaft zu fördern. Das ist auch unsere internationale Pflicht.«31

 

Da bedarf es wohl keiner langen Erläuterung mehr, daß sich die Situation in Polen in den folgenden Jahren unaufhörlich verschlechterte, was in Moskau ja nicht unbekannt bleiben konnte. Natürlich ermüdete auch die Opposition, und die ständige Instabilität und wirtschaftliche Schwierigkeiten mußten die gesamte Gesellschaft aufs äußerste erschöpfen. Jedoch war kaum damit zu rechnen, daß die Vereinbarungen des »Runden Tisches« mit der Solidarnosc, die in den Händen der Regierung, grob gerechnet, zwei Drittel der Macht beließen, die Lage auf Dauer stabilisieren könnten. Auch in den übrigen Ländern Osteuropas - in der Tschechoslowakei, in Ungarn und besonders in der DDR - hätte die Freude über den unerwarteten »Prager Frühling« schnell dem Wunsch Platz gemacht, die Grenzen der neuen Freiheit zu erproben. Selbst im Fall eines phantastischen Erfolges seiner Pläne hätte Moskau die ganze Instabilität der neu installierten Regime Osteuropas voraussehen müssen, zumal dem Einfluß des Westens nach dem Fall der Mauer Tür und Tor geöffnet war.


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Angenommen, die Operation wäre vollständig geglückt und eine liberal-kommunistische Macht hätte sich in Osteuropa behauptet. Was hätte das bedeutet? Es bestehen nebeneinander zwei deutsche Staaten, ein sozialistischer und ein kapitalistischer, die nicht mehr durch die Mauer getrennt sind. Tschechen und Ungarn fahren fort, ihren Sozialismus zu »reformieren«, und in Polen versuchen die Reste der Kommunisten und der Aktivisten von Solidarnosc im Verhältnis von 2:1 die darniederliegende Wirtschaft des Landes in den Griff zu bekommen. (Diese Idylle wäre schon deshalb unwahrscheinlich, weil hier kein Raum für eine Kontrolle Moskaus bliebe.) Ungefähr nach zwei Jahren, wenn die erste Begeisterung abflaut, zwingt die Wirtschaftskrise die ehemaligen sozialistischen Länder, sich immer mehr in den Einflußbereich des Westens zu begeben. Was kann sie daran hindern, wenn sie vom Erfolg der »Reformen« enttäuscht sind, weiterzugehen, als es für Moskau akzeptabel ist und im Fall harscher Ermahnungen aus Moskau um Aufnahme in die NATO nachzusuchen?

Schließlich wäre das Problem der DDR beim Wegfall der Mauer, solange die Bundesrepublik NATO-Mitglied blieb, unlösbar geworden. Niemand hätte verhindern können, daß die gesamte DDR-Bevölkerung in die Bundesrepublik abwanderte oder daß sich die DDR, wie es auch geschehen ist, mit der Bundesrepublik unter westlichen Bedingungen wiedervereinigte. Im einen wie im anderen Fall — was wäre aus Polen geworden? Konnte jemand im Ernst damit rechnen, daß der Sozialismus in Polen bestehen bliebe und darüber hinaus die widernatürliche Koalition der Kommunisten mit der Solidarnosc, wenn es die DDR nicht mehrgäbe? Ja, auch die übrigen sozialistischen Länder — wären sie nicht alle nacheinander gefallen wie Dominosteine?

Wie gering wir auch die geistigen Fähigkeiten der Kreml-Strategen einschätzen wollen, einen derartigen Plan konnten sie nicht fassen. Es muß ein Element darin enthalten sein, das es gestattete, zumindest auf die Stabilisierung der neuen Regime zu hoffen. Ein Element, das wir nicht kennen, das man nur erraten kann ...

 


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6.  Die deutsche Frage

 

Leider besitze ich keinerlei Dokumente über diese Beschlüsse, und es kann auch sehr gut sein, daß es überhaupt keine gibt. Wie wir schon gesehen haben,32 wurden die delikatesten Beschlüsse im Kreml nicht dokumentiert. Bestenfalls liegt irgendwo im Archiv ein Blatt mit einem rätselhaften, nichtssagend formulierten Beschluß des Politbüros.

Ich kann also nur versuchen, mich auf indirekte Angaben zu stützen und fehlende Details ihres Planes zu ergänzen. So wissen wir zum Beispiel, daß das geteilte Deutschland schon für Stalin inakzeptabel war, der 1948 und 1949 versuchte, es auf der Grundlage eines Blocks der östlichen Kommunisten (die sich genau zu diesem Zweck in »Sozialistische Einheitspartei Deutschlands - SED« umbenannten) mit den westlichen Sozialdemokraten »wiederzuvereinigen«.

Nach dem Plan des Führers und Lehrers sollte das geeinte Deutschland neutral, entmilitarisiert und ... sozialistisch werden, was den Weg für die friedliche Eroberung Westeuropas mit Hilfe einer analogen Operation freigemacht hätte, das heißt mit Hilfe eines »Bündnisses« von Kommunisten und Sozialisten.

Das Projekt ist allerdings gescheitert, nicht zuletzt dank des Marshall-Plans: Die massive amerikanische Hilfe, die die soziale Spannung linderte, entzog den linken Kräften den Boden und verhalf Europa dazu, statt einer sozialistischen eine »kapitalistische Wahl« zu treffen. Die DDR und die übrigen Länder des »sozialistischen Lagers« entstanden nicht aus dem Überfluß heraus: Der Eiserne Vorhang war im Grunde genommen Stalins Eingeständnis des Scheiterns. Die nachfolgenden Herrscher der UdSSR trachteten jeder auf seine Weise, sich von der DDR zu befreien. Deutschland »wiederzuvereinigen« versuchten auch Berija33 und sogar Chruschtschow (wozu er jedoch zuerst die Anerkennung der DDR durch den Westen erreichen mußte). Aber die Pläne Berijas endeten mit dem Aufstand in der DDR von 1953 und die von Chruschtschow mit dem Bau der Mauer.


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Hierauf lief die Deutschlandpolitik der UdSSR im wesentlichen auch unter Breschnew hinaus, als versucht wurde, dieselben Ziele auf dem Wege der Entspannung zu erreichen, das heißt abermals durch ein »Bündnis« mit den Sozialdemokraten. Wie unter Chruschtschow begann man mit der Anerkennung der DDR durch den Westen. Dann folgten die Helsinki-Vereinbarungen, die die sowjetischen Eroberungen legitimierten und den Weg für die weitere »friedliche« Eroberung Europas öffnen sollten. Und alles endete wiederum mit Kaltem Krieg.

Wie ich schon erwähnt habe,34 war das Bestreben, Europa »sozialistisch« zu machen und sein Industriepotential in den Dienst des Sozialismus zu stellen, schon seit Lenins Zeiten ein Hauptziel der sowjetischen Außenpolitik. Davon hing das Überleben der UdSSR ebenso ab wie der Erfolg des ganzen sozialistischen Experiments. Der Schlüssel zur Lösung dieses Problems war immer Deutschland.

Besonders aktuell wurde das in der Nachkriegszeit: Die »Wiedervereinigung« Deutschlands zu sowjetischen Bedingungen — Neutralität, Entmilitarisierung und so weiter — hätte das Ende der NATO bedeutet, den Abzug der Amerikaner aus Europa und die fast vollständige Herrschaft der UdSSR vom Stillen Ozean bis zum Atlantik. Von meinem Standpunkt aus ist nichts Erstaunliches oder Originelles dabei, daß man sich diesen Plänen zur Zeit der Zunehmenden Krise in den achtziger Jahren erneut zuwandte. Der Ende der siebziger Jahre ausgearbeitete Plan der Wendung zur Entspannung mußte die Wiedervereinigung Deutschlands zwangsläufig an die Spitze des ganzen Projektes stellen. Worin sollte denn das Wesen der Entspannung bestehen, wenn nicht in der Idee der Konvergenz auf der Basis einer Union der linken Kräfte Europas? Und wie ließe sich diese Konvergenz verwirklichen, ohne den Eisernen Vorhang zu entfernen, vor allem die Mauer in Berlin? Daß aber zwei deutsche Staaten ohne die Mauer nicht bestehen könnten, hatte sich schon zur Zeit Chruschtschows herausgestellt.

Andererseits waren die Wiedervereinigung Deutschlands zu sowjetischen Bedingungen, der folgende Auseinanderfall der NATO und die weitere Integration Europas nach sozialistischen Prinzipien eben jenes »fehlende Element des Plans«, ohne das es nicht möglich war, neue Regime in Osteuropa zu stabilisieren. Das ganze Unternehmen mit der »samtenen Revolution« hätte sich ohne dieses Element für die UdSSR als selbstmörderisch erweisen müssen.


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Die osteuropäischen Regime konnte man nur im Kontext einer allgemeineuropäischen Konvergenz unter Kontrolle halten, die ihnen keine erkennbare Alternative ließe. Sogar das rebellische Polen hätte keine Wahl gehabt, wenn es auf der einen Seite die UdSSR und auf der anderen ein vereinigtes sozialistisches Deutschland gehabt hätte, dazu noch ein stark links orientiertes Europa, das eine Integration unter Führung einer prosozialistischen Bürokratie anstreben würde.

Natürlich sind all das nur meine Vermutungen, die sich aber auf viele indirekte Hinweise stützen. Weitere Kaderumstellungen wurden 1989 in der sowjetischen Führung durchgeführt, die immer mehr Spezialisten für auswärtige Angelegenheiten nach oben brachten. So wurde der ehemalige Botschafter in der Bundesrepublik und Deutschland-Experte Falin Chef der Internationalen Abteilung des ZK, Krjutschkow, der ehemalige Leiter der Ersten Hauptverwaltung (der Spionage) wurde Chef des KGB, Alexander Jakowlew wurde Koordinator der ganzen internationalen Politik im ZK, und eine ganze Reihe von Politbüromitgliedern und ZK-Sekretären wurde entlassen.

Seit Ende 1988 und besonders 1989 wurde die Schaffung des »gemeinsamen europäischen Hauses« ständiges Thema von Gorbatschows Auftritten. Gleichzeitig änderte sich das Verhältnis der UdSSR zum Integrationsprozeß in Europa einschneidend. Während in den siebziger Jahren und in der ersten Hälfte der achtziger Jahre die UdSSR diesem Prozeß sehr skeptisch, mitunter auch äußerst feindselig gegenüberstand, änderte sich diese Einstellung 1989 von Grund auf. Bis 1984 instruierte der damalige Chef der Spionageabteilung des KGB Krjutschkow seine Residenten in Europa, noch mehr in alle Strukturen der Europäischen Gemeinschaft einzudringen und ihrer weiteren Integration entgegenzuwirken:

»Offensichtlich läuft der Fortschritt in der Integration von Westeuropa, besonders auf militärpolitischem Gebiet, den Interessen der Sowjetunion zuwider.«35

Seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, als die Integration weiter fortgeschritten war, kam es allmählich zu einer Änderung sowohl der politischen Richtung der Europäischen Union selbst als auch des Verhältnisses der UdSSR zu ihr.


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Je mehr Sozialisten und Sozialdemokraten in den Strukturen der EU dominierten, desto wohlwollender betrachtete Moskau dieses ganze Unternehmen. Im Jahr 1989 wurde die Schaffung des »gemeinsamen europäischen Hauses« zur allgemeinen Parole, wobei natürlich niemand offen aussprach, daß es sich hierbei um ein sozialistisches Haus handeln sollte.

Schließlich kamen der Fall der Berliner Mauer und die darauffolgende Wiedervereinigung Deutschlands für Moskau nicht unerwartet. Sie rechneten dabei in keiner Weise mit einer Katastrophe für ihre Freunde in der DDR. Es entsteht der Eindruck, daß bis zu einem bestimmten Augenblick, zumindest bis Frühling oder Sommer 1990, alles »nach Plan« verlief und niemand an einen Zusammenbruch auch nur dachte. Nach der Wiedervereinigung im Oktober 1990 und in den Monaten danach sah die Situation allerdings schon anders aus.

Beunruhigt waren nicht zuletzt auch die alten Freunde in der Bundesrepublik - die Sozialdemokraten. Egon Bahr hatte bereits im April 1990 ein besorgtes Gespräch mit Jakowlew geführt. Worum es dabei im einzelnen ging, ist unbekannt, aber nach dem Bericht über diese Zusammenkunft gab Gorbatschow folgende Anweisung: »An Gen. E. A. Schewardnadse, D. T. Jasow, V. I. Falin. Ich bitte dies bei der Ausarbeitung unserer Position zu berücksichtigen.« Darunter ist vermerkt: »Die Materialien wurden für die Vorbereitung der Verhandlung von Gen. M. S. Gorbatschow mit dem Premierminister der DDR L. de Maiziere vom 29. April 1990 verwendet.«36

Allerdings verabschiedete das Politbüro erst im Oktober 1990 den folgenden Beschluß »Über Maßnahmen im Zusammenhang mit der Verfolgung der Partei des Demokratischen Sozialismus (DDR)«, den man als Zugeständnis einer Niederlage bewerten kann.37 Er schreibt im einzelnen vor:

»1. ... Es ist dafür zu sorgen, daß in der Parteipresse und anderen Massenmedien systematisch über die Verfolgung und Hetze gegen ehemalige SED-Mitglieder berichtet wird, die aus politischen Gründen entlassen wurden. Solche Schritte sind als Verletzung der Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte zu qualifizieren. Besondere Aufmerksamkeit ist den Fällen zu widmen, in denen Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Personen


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ergriffen wurden, die in der DDR im Staatsdienst oder in der Parteiarbeit tätig waren und wegen ihrer Zusammenarbeit mit der UdSSR des >nationalen Verrats< oder der Untergrundtätigkeit gegen die BRD beschuldigt werden.

2. In Veröffentlichungen über den deutschen Vereinigungsprozeß soll die Tätigkeit der PDS gebührend beachtet werden. Auf Versuche, die verfassungsmäßigen Rechte dieser Partei zu beschneiden und sie ihres gesetzlichen Eigentums zu berauben, muß reagiert werden.

Die Internationale Abteilung des ZK der KPdSU soll von der PDS regelmäßig über Verfolgungsmaßnahmen gegen Parteimitglieder unterrichtet werden. Außerdem soll sie mit Materialien versorgt werden, die den unsozialen Charakter von Maßnahmen der westdeutschen Seite im Zuge der Vereinigung entlarven.

3. Versuche, die Westgruppe der Streitkräfte (der Sowjetunion) unter Druck zu setzen und eine feindselige Haltung gegenüber Sowjetbürgern zu erzeugen, sollen im Auge behalten und mit operativen Maßnahmen beantwortet werden.

4. Personen, die eng mit sowjetischen Organisationen zusammengearbeitet haben und jetzt Drangsalierungen und Verfolgungen von Seiten Bonns ausgesetzt sind, sollen evakuiert werden. Vor allem könnte es hierbei um Parteiarbeiter gehen, um Mitarbeiter der Sicherheitsorgane und der 'Nationalen Volksarmee der DDR, um Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur, qualifizierte 'Betriebsleiter, die infolge politischer Unterdrückung im vereinigten Deutschland ihre Arbeit verloren haben. Es sind die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um Arbeit für sie zu finden und ihre materielle Versorgung sicherzustellen.«

 

Es gibt keinen Zweifel darüber, daß Moskau bis Oktober 1990, bis zum Tag der Vereinigung Deutschlands, immer noch darauf hoffte, die Bedingungen dieser Vereinigung vorschreiben zu können. Aber von Anbeginn an verlief alles etwas anders als geplant: Aufgrund eines bloßen Mißverständnisses wurde die Mauer zwischen Ost und West einen Tag früher geöffnet als vorgesehen. Deshalb verlor man die Kontrolle über den dadurch ausgelösten Ausreisestrom.38 Millionen drängten durch dieses Loch ins Freie und begruben damit ein für allemal den Mythos von der DDR als einem separaten Staat.


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Dann wurden, wider Erwarten, die Wahlen vom 18. März in der DDR zu einer vollständigen Niederlage für die PDS, was den Ausgang der Verhandlungen über den Status des vereinigten Deutschland zwischen den Bündnispartnern des Zweiten Weltkriegs und den beiden deutschen Staaten (der sogenannten Zwei-Plus-Vier-Gespräche) entscheidend bestimmte, ebenso wie den Abschluß des Vertrags vom 18. Mai über die Währungsunion beider deutscher Staaten. Schließlich stimmte die aus diesen Wahlen hervorgegangene christ-demokratische Mehrheit in der Volkskammer am 23. August für den Anschluß der ostdeutschen Länder an die Bundesrepublik Deutschland, und damit hatte alles sein Ende. Moskau hatte nicht die geringste Möglichkeit, seine Bedingungen für die Vereinigung zu diktieren, obwohl Gorbatschow bis zum letzten Augenblick versuchte, die DDR im Warschauer Pakt zu halten..

Im Frühjahr 1991, also ein Jahr nach dem für die Kommunisten so verheerenden Wahlausgang, war der Schaden nur noch insofern zu begrenzen, als die Kommunisten die Aufklärung über das wahre Wesen des totalitären Systems behindern konnten.

Einen derartigen Versuch belegt folgendes Dokument:

»Während einer Dienstreise in der Bundesrepublik vom z. bis 12. März dieses Jahres (1991, W. B.) traf ich mit dem PDS-Vorsitzenden, Gen. G. Gysi, zusammen. Er hat mich vertraulich gebeten, der KPdSU-Führung folgendes zu berichten«, so schreibt der Mitarbeiter der Internationalen Abteilung des ZK Nikolaj Portugalow.39

»Die Bundesregierung beabsichtigt, in nächster Zeit einen Gesetzentwurf im Bundestag einzubringen, der vorsieht, das Archiv der ehemaligen SED zu konfiszieren und dem Bundesarchiv zu übergeben. In Erwartung der Entscheidung des Bundestages, der dem erwähnten Entwurf zweifellos zustimmen wird, wurde das Archiv bereits beschlagnahmt.

Das Archiv enthält eine Menge geheimer Dokumente, deren Veröffentlichung nicht nur für die PDS, sondern auch für die KPdSU äußerst unerwünschte Folgen hätte. Es geht insbesondere um die detaillierten Protokolle praktisch aller Treffen und Gespräche der SED-Führer mit Führern der kommunistischen und Arbeiterparteien, angefangen mit der KPdSU, um Dokumente, die mit der Tätigkeit illegaler kommunistischer Parteien zusammenhängen, du du SED (in Absprache mit uns) materiell unterstützt hat, und um die Buchführung über die finanzielle Hilfe der SED an progressive Organisationen in der BRD bis zur Vereinigung Deutschlands und so weiter.


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Gysi zufolge wäre die Veröffentlichung der Dokumente aus dem Archiv eine >echte Katastrophen Der PDS-Vorsitzende bittet die sowjetische Führung dringend, >solange es noch Zeit ist<, Einfluß auf Kanzler Kohl zu nehmen und bei ihm zu erreichen, daß die Versiegelung des SED-Archivs aufgehoben, das heißt, daß es dem gesetzlichen Eigentümer, der PDS, zurückgegeben wird. Wenn der Kanzler das nicht für möglich hält, solle das Archiv vernichtet werden. G. Gysi stellte diese Frage zum wiederholten Mal:

Anfang dieses Jahres hat sich auf persönlichen Hinweis von Gorbatschow die sowjetische Botschaft in der BRD vertraulich an das Kanzleramt gewandt, aber ohne Ergebnis. Gysi nimmt an, daß der einzige Weg zu einer Lösung darin bestünde, dieses Thema in das nächste Telefongespräch auf höchster Ebene zwischen Moskau und Bonn mit einzubeziehen. (Vielleicht hätte es Sinn, diese Frage bei dem für den 18, März geplanten Besuch von Außenminister Genscher in Moskau in seinen Gesprächen mit Gorbatschow anzusprechen.)«

Es fällt schwer zu glauben, daß die Moskauer Führung für sie kompromittierendes Material nicht vorher vom Territorium der DDR hätte wegschaffen lassen, wenn die Entwicklung dort zu diesem Zeitpunkt noch ganz ihren Plänen entsprochen hätte.

Im übrigen ging es nicht nur um Geheimdokumente, die die sowjetische Führung diskreditierten, sondern auch um Personen, die ihnen treu gedient und die auch etwas zu erzählen hatten.

»Anfang März hat der ehemalige Spionagechef der DDR (der ehemaligen ersten Hauptverwaltung des MfS der DDR), Gen. Markus Wolf, die Abteilung besucht. Im Gespräch mit Gen. Falin teilte Wolf mit, daß >sich über seinem Kopf Wolken zusammenbrauen<: Die deutsche Führung wird unter dem Druck des rechten Flügels der Regierungskoalition nicht von ihrer Absicht Abstand nehmen, gegen ihn ein Strafverfahren einzuleiten. Das ist insofern widerrechtlich, als die Führung der BRD 1973 die Souveränität der DDR anerkannt hat, was damit auch für all ihre staatlichen Funktionen


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gilt, die Spionagetätigkeit natürlich eingeschlossen. Deshalb unterliegen die Kader des ehemaligen Spionagedienstes der DDR keiner gerichtlichen Verfolgung, sie haben keine strafrechtlichen Vergehen begangen, was im Fall von Wolf unstrittig ist. Welche Anschuldigungen auch immer gegen das ehemalige MfS der DDR erhoben werden, auf den Kaderbestand des Dienstes, der in seinem Rahmen tätig war, können sie sich nicht erstrecken. Genauso könnte man nach Meinung von Wolf die Kader des deutschen Spionagedienstes BND für ihre Tätigkeit auf dem Territorium der ehemaligen DDR zur Verantwortung ziehen.

Im Bewußtsein dieser unsicheren Rechtslage bereitet die deutsche Regierung in Bayern, wo die reaktionäre CSU an der Macht ist, einen >Schauprozeß< vor, bei dem einige enttarnte Spionageagenten zusammen mit einer Gruppe ehemaliger Offiziere und Generäle der HVA des MfS der DDR, die ihre Arbeit unmittelbar geleitet hatten, vor Gericht gestellt werden sollen. Das Kalkül ist einfach - ein bayerisches Gericht wird nicht nur die Agenten, sondern auch die Offiziere der HVA des MfS der DDR der >Mittäterschaft< für schuldig befinden. Die Bundesregierung wird alles in ihren Kräften Stehende tun, um diesen Prozeß möglichst schnell durchzuführen, denn in der deutschen Öffentlichkeit macht sich zunehmend eine Stimmung zugunsten einer Generalamnestie ehemaliger Kader der HVA des MfS der DDR breit.

Zur Zeit befindet sich Wolf in Moskau und betätigt sich schriftstellerisch. Er kann nicht nach Deutschland zurückkehren, denn dort würde er sofort inhaftiert. Wolf bittet die sowjetische Führung, auf Kanzler Kohl Einfluß zu nehmen, zumal es sogar in dessen unmittelbarer Umgebung Personen gibt, die sich für eine Amnestie aussprechen (zum Beispiel Innenminister Schäuble). Wolf und der von ihm geleitete Dienst haben im Laufe von Jahrzehnten der Sowjetunion unschätzbare Dienste erwiesen. Es ist auch zu berücksichtigen, daß Wolf von Anfang an den Kurs der Perestroika in der Sowjetunion unterstützt hat und 1986 wegen diesbezüglicher Meinungsverschiedenheiten mit Honecker in den Ruhestand getreten ist.

Die obigen Darlegungen lassen es zweckmäßig erscheinen, einem unserer treuesten Freunde zu helfen und auch dieses Thema in das nächste Telefongespräch zwischen Gorbatschow und Kohl einzubeziehen.«


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Etwas ganz anderes war vorgesehen: Die Zerstörung der Mauer sollte zum Triumph der Kreml-Führung werden und nicht eine reine Zufälligkeit; die Ausreisebewegung über die Grenze sollte einer strengen Kontrolle unterliegen, was den politischen Einfluß des Westens beträchtlich vermindert hätte. Erst recht sollten natürlich die Wahlen am 18. März von ihren reformierten Schützlingen in der PDS gewonnen werden. Dann hätte Moskau seine Bedingungen der Vereinigung diktiert, die sich nur geringfügig von denen Stalins, Berijas oder Chruschtschows unterschieden hätten: Neutralismus, Entmilitarisierung, Sozialismus. Die Westdeutschen hätten kaum irgendeine Bedingung zurückgewiesen, um die Erfüllung ihres Traums von der Vereinigung mit den östlichen Brüdern zu erreichen, zumal auch die Sozialdemokraten bereit waren, dies zu unterstützen und auf dieser Grundlage sogar einen Wahlkampf zu führen.

Mit einem »neutralen« Deutschland aber, ohne Fortbestand der NATO und ohne amerikanische Truppen in Europa, wäre es ein leichtes gewesen, auch die übrigen Länder Osteuropas »auf dem Boden des Sozialismus« zu erhalten. Es wäre schließlich auch zur Vollendung der Konvergenz, des Wunschtraums der westeuropäischen Sozialisten, gekommen. Dies ist keineswegs eine Übertreibung. Selbst 1991, wenige Monate vor dem Zusammenbruch, wurden die internationalen Anstrengungen der Parteien der Sozialistischen Internationale zur Rettung der KPdSU noch fortgesetzt. Jelzin wurde diskreditiert und Gorbatschow unterstützt.

 

»Die Prozesse der Umgestaltung in den Staaten Ost- und Mitteleuropas finden unter dem Zeichen der Demontage des Sozialismus, der Zunahme von Elementen des >wilden Kapitalismus< und der Senkung des Niveaus der sozialen Absicherung der Arbeiter statt. Das erregt bei den führenden europäischen Parteien, die Mitglieder der Sozialistischen Internationale sind, Besorgnis. Sie suchen nach Mitteln, um unerwünschten Tendenzen in der gesellschaftlichen Entwicklung entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang haben sich die Italienische Sozialistische Partei (PSI), die Spanische Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE), die Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ) und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) für die Gründung eines gesamteuropäischen Zentrums zur Erforschung der Beziehungen zwischen Sozialisten und Kommunisten ausgesprochen«, berichtete die Internationale Abteilung dem ZK am 7. Juni 1991.40


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»Am aktivsten verwendet sich die Französische Sozialistische Partei (PSF) für die Diskussion der entstandenen Probleme, was sich vor allem durch ihre Stellung als Regierungspartei und die Haltung ihrer Führung erklärt, die offensichtlich um das Überleben der sozialistischen Idee angesichts ihrer Krise in Osteuropa besorgt ist.

 

Abb.


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So sprachen sich die Vertreter der PSF in letzter Zeit mehrmals dafür aus, in der europäischen linken Bewegung eine neue Handlungskonzeption der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien unter den Bedingungen des gewandelten Europa zu diskutieren. Dabei äußerte P. Mauroy mehrmals seine Bereitschaft, in die UdSSR zu fahren und diesen Fragenkomplex mit der Führung der KPdSU zu diskutieren.«

 

Muß man sich da wundern, daß Präsident Mitterrand offensichtlich so »besorgt um das Überleben der sozialistischen Idee« war, daß er sich bereit fand, im August 1991 sogar die Putschisten zu unterstützen?

»Im ganzen wächst unter den europäischen Linken das Verständnis für die Notwendigkeit der Suche nach Antworten auf die Fragen, die durch die gewandelte politische Situation in Europa aufgeworfen werden, darunter auch in bezug auf den Widerstand gegen politische Kräfte, die aktiv die Idee des >Neoliberalismus< verfechten und bereits ihre Organisationen und politischen Strukturen in Osteuropa gegründet haben.«

Schon das Thema, das sie zu rascher Bearbeitung empfahlen, klingt überzeugend. »Die Europäische Gemeinschaft und Osteuropa nach der Vereinigung von Deutschland: eine Herausforderung für die Linken.«

»Die Aktivierung der Diskussion dieses Problems und seine theoretische und praktische Bearbeitung, auch mit Beteiligung der europäischen sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien, die Suche gemeinsamer Ansätze bei der Entwicklung der sozialistischen Idee unter den neuen Bedingungen würde unserer Meinung nach zur Stärkung der internationalen Verbindungen der KPdSU und ihrer führenden Position bei der Bildung neuer Ansätze bei der Entwicklung der sozialistischen Idee in der internationalen Arbeiterbewegung beitragen.

In diesem Zusammenhang ist es wünschenswert, die Aufmerksamkeit internationaler politischer Kreise und der Öffentlichkeit auf die wenig konstruktive Position Ungarns, Polens und der Tschechoslowakei zu lenken (möglicherweise wird noch Bulgarien dazukommen), was die Frage neuer Verträge dieser Länder mit der Sowjetunion betrifft.


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 Es ist wichtig zu zeigen, daß die Einwände unserer ehemaligen Verbündeten gegen die Verpflichtung zur Nichtteilnahme >an jeglichen gegeneinander gerichteten Bündnissen < und die Tatsache, daß diese Linie in engem Kontakt mit dem westlichen Block verfolgt wird, qualitativ neue Elemente nicht nur in die regionale, sondern auch in die allgemeine europäische Situation im ganzen einbringen, die Ergebnisse der Pariser KSZE-Konferenz nicht berücksichtigen und Gefahr laufen, das Gleichgewicht der Interessen zu verletzen, das die Perspektive des Aufbaus eines friedlichen Europa eröffnet hatte."

Wie wir sehen, ist die Idee, daß Westeuropa Osteuropa zwingen könnte, im sowjetischen Block zu verbleiben, nicht meiner Phantasie entsprungen. Und wenn diese Pläne nicht realisiert wurden, dann lediglich dank der Millionen Menschen im Osten, die die sozialistischen Träume verwarfen.

 

  

7.   Privatisierung der Macht 

 

Schließlich dient als indirekte Bestätigung der Existenz eines solchen »Überlebensplans der sozialistischen Idee« das schon zu Anfang des Buches41 erwähnte hartnäckige Bestreben des Politbüros, seine Hilfe den kommunistischen Parteien mit Hilfe von »Kanälen der Handelsbeziehungen mit den von Bruderparteien kontrollierten Firmen« zu erweisen. Bekanntlich wurden die ersten Versuche, diesen Plan durchzuführen, bereits 1987 in Gang gesetzt und in den beiden folgenden Jahren deutlich verstärkt: In dem vorgesehenen »gemeinsamen europäischen (sozialistischen) Haus« bedurfte es anderer Wirkungsformen der kommunistischen Parteien und einer neuen Regelung ihres Verhältnisses zu Moskau. Konfrontation und Klassenkampf sollten durch eine Zusammenarbeit linker Kräfte ersetzt werden, und die künftigen »Haus«herren beeilten sich, die Situation ihrer Handlanger zu stärken.

Gleichzeitig drangen seit 1988 analoge Prozesse der »kommunistischen Privatisierung« auch in die UdSSR ein. Einerseits schufen die Strukturen des KGB und der Internationalen Abteilung des ZK eine Vielzahl angeblich kommerzieller Joint-Ventures mit ihren westlichen Freunden.


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Andererseits begann die parteiökonomische Nomenklatura unter dem Schutz des neuen »Gesetzes über die Kooperativen«, sich Staatseigentum anzueignen, wobei sie noch mehr mit der »Schattenwirtschaft« verschmolz. Mitte 1990 wurde das eine allgemeine Erscheinung und diente im Grunde genommen der »Geldwäsche« (sowohl von Partei- als auch von gestohlenen Staatsgeldern) und dem Transfer in westliche Finanzinstitute. Der ehemalige Mitarbeiter der Internationalen Abteilung des ZK Jewgenij Nowikow schreibt dazu folgendes:42

 

"Im August 1990 verfaßte das ZK ein Dokument höchster Geheimhaltungsstufe, eine sogenannte >Note< (23. August 1990), die den Eintritt eines großen Teils der Parteielite in die Weltfinanzmärkte vorsah. Die >Note< wurde dem stellvertretenden Generalsekretär Iwaschko vorgelegt, der den Vorschlag akzeptierte und antwortete:
>Alle Parteikader, die mit diesen kommerziellen Aktivitäten betraut sind, sind dazu aufgefordert, den Handel zu studieren. Sie müssen verdeckte Methoden und anonyme Mittel benutzen, um jegliche Verbindung zwischen diesen Aktivitäten und dem ZK auszuschließen.<
Anfang September verabschiedete das Sekretariat des ZK einen geheimen Beschluß, demzufolge man sich schnell in die Weltfinanzmärkte einschalten sollte, um die notwendigen Parteistrukturen zu erhalten. ... Ende 1990 begann das ZK mit der Schaffung von Kommerzbanken, um Parteigelder zu waschen. Drei davon hatten ihren Sitz in Moskau ... Die Parteielite anderer Orte folgte, indem sie Banken übernahm und sie als Basis für kommerzielle Unternehmen nutzte. Zusammengenommen gründeten das ZK und regionale Parteigruppen einige hundert Aktiengesellschaften.«

 

Gegen Ende 1990 wurde sogar die »Prawda« zusammen mit ihren Herausgebern und ihrer Druckerei privatisiert, und zwar mit voller Billigung Gorbatschows.43 Den Einschätzungen Nowikows zufolge betrug der Preis von ungefähr 60 Partei-»Unternehmen« 1,3 Milliarden Rubel, und der Wert des gesamten »Parteieigentums« belief sich nach dem Bericht des Verwaltungschefs des ZK N. Krutschina auf dem 28. Parteitag der KPdSU auf 4,9 Milliarden Rubel (7,8 Milliarden Dollar nach dem damaligen Kurs).


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»Man stürzte sich darauf, Eigentum an vielerlei Organisationen und kommerzielle Unternehmen zu vermieten, zu transferieren und zu verkaufen und exportierte das Kapital dahin, wo es viele Jahre lang verfügbar sein konnte, um die Bedürfnisse der Parteielite in großem Stil zu decken.«

Es ist indessen wichtig zu verstehen, daß diese massive Ausplünderung des Landes, die schließlich den Eindruck erweckte, als verließen die Ratten das sinkende Schiff, ursprünglich nicht so geplant war. Die sowjetischen Führer schickten sich keineswegs an, von der Bühne abzutreten, im Gegenteil, die Idee der Perestroika bestand vielmehr darin, ihre Macht zu stärken und den »Sozialismus zu retten«. Aber als Marxisten versuchten sie, sich auf marxistische Weise zu retten. Die Schlüsselidee der Perestroika ging von der bekannten Marxschen Theorie über die drei Formen des Verhältnisses der herrschenden Klasse zum Eigentum — Besitz, Nutzen, Verfügungsgewalt — aus. Während die Partei in den letzten 60 Jahren ihrer Herrschaft, praktisch seit dem Ende von Lenins Neuer Ökonomischer Politik (NEP), alle drei Formen des Eigentums an Produktionsmitteln in ihren Händen hielt, so war die Perestroika gewissermaßen die Rückkehr zur NEP. Die Partei wollte den Besitz in ihren Händen behalten, die Verfügungsgewalt an Interessenten verpachten und auf diese Weise sicherstellen, daß sie alle Produktionsmittel des Landes gemeinsam mit dem Produzenten nutzen konnte.

Dementsprechend konnte, obwohl die westliche Presse ein dutzendmal während der Gorbatschow-Zeit (danach noch häufiger) die »Einführung der Marktwirtschaft in der UdSSR« verkündete, in Wirklichkeit von keinem Kapitalismus die Rede sein (bis heute nicht). Die »Reformen« Gorbatschows in der Wirtschaft gingen über die Förderung von Kooperativen, Familien- und Brigadenverträgen und schließlich sogar von Aktiengesellschaften nicht hinaus. Gleichzeitig ging die Rolle der Partei hinsichtlich der Verfügungsgewalt zurück, in Entsprechung zu der von Gosplan, der zentralen Ministerien und der allgemeinen Parteikontrolle über die Produktion in den Provinzen. 1989 begann man von »individueller Arbeitstätigkeit« (Heimindustrie) zu sprechen, aber an eine Legalisierung des Privateigentums wurde nicht gedacht. Die Lieblingslosung von Gorbatschow bis zu seinem Abgang war es, »dem Sozialismus neue Kräfte geben«.


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Ist es da ein Wunder, daß diese ganze Perestroika beim Durchschnittsarbeiter nicht den geringsten Enthusiasmus hervorrief? Er wußte ja, daß die Sache einstweilen nicht die seine war. Der »Nutzen der Produktionsmittel« gemeinsam mit der Partei stellte ihn eindeutig nicht zufrieden: Die Partnerschaft war zu ungleich und die Reputation des Partners zu zweifelhaft. Dafür blühte die Schattenwirtschaft, die ohnehin schon stark mit den Parteistrukturen verwachsen war, in diesen neuen Formen heftig auf. Die entstandenen Kooperativen waren im Grunde genommen »Vermittler«, das heißt, sie verteilten das sozialistische Produkt auf dem privaten Markt. Im Ergebnis wurde die Korruption zur Norm, das Warendefizit noch größer, die Schlangen vor leeren Regalen noch länger und die Tendenz der Partei zur Aufsplittung und zur Bildung regionaler Mafiaorganisationen verstärkte sich noch, auch durch die Versuche der Dezentralisierung der Wirtschaftslenkung, die größere wirtschaftliche Autonomie förderte. Dadurch kam es zu einem Verwaltungschaos, und die lokalen Machtinstanzen, die auf traditionelle nationalistische Stimmungen in ihren Republiken spekulierten, bemühten sich um größere politische Unabhängigkeit.

Waren diese »Reformen« auch eindeutig nicht radikal genug, um das Überleben der Wirtschaft zu ermöglichen, so waren sie für das Überleben des politischen Systems bereits fatal. Sogar die NEP Lenins hatte die Partei zu stark untergraben und Parteiaustritte in großer Zahl bewirkt. Sechzig Jahre später war die Partei eine andere geworden (weniger ideologisch und mehr bürokratisch), während in der Bevölkerung nicht das geringste Vertrauen zu ihr verblieben war. Zudem wuchs in diesem Jahrzehnt ein gigantischer Verwaltungsapparat heran, der keineswegs den Wunsch hegte, auf seine »Verfügungsgewalt« zu verzichten, und weitaus die meisten der Unternehmen im Land waren faktisch defizitär, sie lebten nur dank Dotationen und Subsidien aus dem Zentrum. Diese konnte man schon nicht mehr »umgestalten«, es blieb nur, sie zu schließen und Dutzende Millionen Arbeiter auf die Straße zu setzen. Wie sich die Partei auch drehte und wendete, es gelang ihr nicht, diesen Problemen auszuweichen, sie irgendjemandem aufzubürden und sich dabei wenigstens die Kontrollrechte der Besitzer zu erhalten.


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Um dieses Problem zu lösen, schritten sie im Frühling 1989 zur letzten Phase der »Reformen«: zur »Sowjetisierung«, das heißt zur Übertragung von Macht vom Zentrum an die Sowjets. Wiederum sah dies auf dem Papier vernünftig und vollkommen marxistisch aus: Wenn die herrschende Klasse sich entschied, das Recht auf Eigentum an den Produktionsmitteln mit anderen zu teilen, dann mußte sie mit ihnen auch die Macht teilen. Einfacher ausgedrückt, ohne Erweiterung der sozialen Machtbasis war nicht auf eine Stabilisierung der Situation zu hoffen. Das war ein Anklang an die alte Losung Lenins von 1917: »Alle Macht den Sowjets!«

Aber was in der Theorie vernünftig aussah, führte in der Praxis zu einer Katastrophe. Die Wahlen zum Volksdeputiertenkongreß, wie auch die folgenden Wahlen zu den Sowjets auf verschiedenen Ebenen, brachten für die Partei einen vollständigen Einbruch, ungeachtet aller ausgeklügelten Prozeduren der Aufstellung, Auswahl und Registrierung der Kandidaten, des per Gesetz garantierten Anteils von einem Drittel der Sitze für die Parteinomenklatura und der vollen Kontrolle über die Medien. Überall, wo es »alternativen« Kandidaten gelang, aufgestellt zu werden, stimmte die Bevölkerung für sie und gab damit ein deutliches Mißtrauensvotum gegenüber der KPdSU ab. Der Wahlkampf selbst gab zum erstenmal seit 70 Jahren der politischen Aktivität der Bevölkerung einen Anstoß, er brachte die durch jahrzehntelangen Terror verängstigten Menschen in Bewegung, und an Stelle des begeisterten Ausrufs »Alle Macht den Sowjets!« brach aus ihnen heraus: »Fort mit den Kommunisten!« In gewissem Ausmaß gelang das Experiment nur auf unterer Ebene in den Provinzen, wo die Obrigkeit der Gebiets- und Kreiskomitees sich einfach auf die Sessel der Exekutivkomitees der örtlichen Sowjets setzte. Dies geschah aber nicht in großen Städten.

Im wesentlichen endete die Partei-Perestroika 1989, nachdem sie überzeugend bewiesen hatte, daß sich die sozialistischen Utopien überlebt hatten. Sie hatten nirgendwo mehr Anhänger außer im Westen. Der Versuch, die Perestroika überall einzuführen, hatte zum Verlust der Kontrolle über das Experiment geführt.


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Man brauchte nur den Stacheldraht, der das sozialistische Lager umschloß, zu entfernen, und die Lager­insassen liefen sofort auseinander. Als erste nützten die osteuropäischen Brüder die Lücken und begruben damit die Idee der Konvergenz Europas im »gemeinsamen sozialistischen Haus«. Ihnen folgten die Republiken der UdSSR, wo die mit großem Pomp gewählten Republik-Sowjets als erstes ihre Republiken für souverän erklärten.

Ja selbst in Moskau, wo es der alten Nomenklatura mit allen Mitteln gelungen war, auf dem Volksdeputierten­kongreß eine »aggressiv-folgsame Mehrheit« zu behalten, gab es wie durch ein Wunder 20 Prozent »alternativer Deputierter« als echte Volksvertreter. Hinter ihnen standen keine Partei- und keine Finanzstrukturen, keine Unionsorganisationen, nichts außer dem Willen des Volkes. Aber eben sie waren die Haupthelden des Dramas, dem am Fernsehen Hunderte von Millionen Zuschauer folgten. Der Kongreß, als höchstes Gesetzgebungsorgan des Landes, tat nichts von Belang, aber er hatte eine kolossale aufklärerische Bedeutung. Er zeigte erstmals den Menschen das Wesen des Regimes in unverhüllter Gestalt. Erregt durch dieses unerhörte Schauspiel kamen die Schichten des Volkes in Bewegung, die Bergleute streikten, und die nationalen Bewegungen in den Republiken erhielten Auftrieb. Wenngleich es gelang, die Bergleute irgendwie mit leeren Versprechungen zu besänftigen, so hing doch die Drohung der Entstehung einer Solidarnosc weiterhin über dem Land. Ende 1989/Anfang 1990 war das Land schon unregierbar, und die spontane Volksbewegung drohte, sich auf die gemeinsame Forderung nach Abschaffung des politischen Machtmonopols der KPdSU zu einigen. Den Perestroika-Politikern Gorbatschows blieb nichts übrig, als sich dieser Forderung zu beugen und den Artikel 6 der Verfassung abzuschaffen, der dieses Monopol formal garantierte.

Wenn man das, was sich ereignet hatte, auch als Revolution bezeichnen kann, dann war es eine Revolution »von unten«, die nicht dank, sondern trotz Gorbatschow und seiner Gefährten erfolgte. Was als gemäßigte, systemimmanente Veränderung geplant war, war außer Kontrolle geraten und in eine Revolution übergegangen, die den ursprünglichen und unvereinbaren Unterschied zwischen den Absichten der Führer und den Hoffnungen des Volkes zutage treten ließ.


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Die Führer erkannten dies zu spät, aber schon seit 1990 waren bis zu ihrem Sturz all ihre Anstrengungen darauf gerichtet, die in Gang gesetzte Kettenreaktion anzuhalten. Die ersten Versuche, den Prozeß zu bremsen, insbesondere das Auseinanderfallen der UdSSR in ihre einzelnen Republiken, begannen 1989 mit der blutigen Unterdrückung friedlicher Demonstrationen in Tbilissi und dem nicht weniger blutigen Aufhetzen der nationalen Minderheiten gegen die übrige Bevölkerung (in Abchasien, Ossetien, Nagornyj Karabach, Sumgait). Dann folgten die militärischen Operationen in Baku und die Aufheizung der Situation im Baltikum, wo russische Einwohner als Instrument imperialer Politik ausgenutzt wurden. Heute bezweifelt niemand mehr, daß die sogenannten »ethnischen Konflikte« von Moskau provoziert waren, das nach der alten imperialen Formel »Teile und herrsche!« vorging. Aber obwohl diese offenkundig verbrecherische Politik dem Land als Erbe langwierige und zum Teil unlösbare Konflikte hinterließ, vermochte sie es nicht mehr, das Auseinanderbrechen des Imperiums zu verhindern. Es war leicht, Konflikte zu provozieren, sie zu kontrollieren dagegen unmöglich.

Zugleich brachte der Versuch in Rußland selbst, den Prozeß mittels fiktiver »Parteien« zu kontrollieren, die speziell zu diesem Zweck vom KGB gegründet wurden, nur einen temporären Erfolg. Das gleiche gilt für die Infiltration selbständig entstandener politischer Organisationen. Der »sozialistische Pluralismus« begünstigte nur die weitere Destabilisierung. Im Zuge der weiteren Polarisierung der Gesellschaft standen die »Pluralisten« schließlich vor der Alternative, entweder die Bewegungen über Bord zu werfen oder auf Konfrontationskurs mit dem Regime zu gehen. Kaum jemand riskierte es, sich selbst zu entlarven und sich auf die Seite der Machthabenden zu stellen. Ende 1990/Anfang 1991 war die Forderung nach dem Abtreten der kommunistischen Herrscher so einhellig, daß, wie es schien, selbst Kommunisten sie unterstützten.

Übrigens war die Mehrheit der Parteiführer zu dieser Zeit bereits im wesentlichen mit dem Problem des persönlichen Überlebens beschäftigt, und der Prozeß der Partei-»Privatisierung« nahm den Charakter einer panikartigen Flucht an. Zu verfolgen, wo all diese Parteimilliarden hingekommen sind und mit ihnen ein wesentlicher Teil der westlichen Hilfe für die UdSSR aus dieser Zeit, ist praktisch unmöglich.


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 Ebensowenig ist es möglich, all die komplizierten Verbindungen der Internationalen Abteilung des ZK und des KGB mit westlichen Organisationen und einzelnen Politikern im einzelnen herauszufinden, zumal nach dem Scheitern des »Putsches« vom August 1991 der Verwaltungsleiter des ZK N. Krutschina auf rätselhafte Weise aus dem Fenster seiner Wohnung sprang. Dasselbe tat sein Nachfolger auf diesem Posten, A. Pawlow — zwei Menschen, die unmittelbar über das Parteieigentum und die Finanzen zur Zeit der Perestroika verfügt hatten. Gleichsam unmerklich verschwanden auch die übrigen führenden Personen von der Szene, die den Prozeß der Parteiprivatisierung geleitet hatten. Zum Beispiel lebt der Chef der Internationalen Abteilung des ZK Valentin Falin ruhig in Deutschland bei seinen Partnern, den deutschen Sozialdemokraten. Auch viele seiner Mitarbeiter leben in anderen Teilen der Welt. Niemand fahndet nach ihnen, man bedrängt sie nicht mit Verhören. Die Welt hat großherzig beschlossen, daß dies ein akzeptabler Preis für ihren »freiwilligen Abgang von der politischen Bühne« sei.

 

 

8.  Chronik des Zusammenbruchs

 

Obwohl fast alle Dokumente dieser Periode und insbesondere der Zeit des sogenannten »Putsches« vom August 1991 erfolg­reich vernichtet wurden, besteht kein Zweifel, daß das Politbüro seit Ende 1990 aktiv die Vorbereitungen für eine politische Kehrtwendung in Angriff genommen hatte. Das Schema dafür unterschied sich offenbar wenig von dem Plan zur Einführung des Kriegsrechts in Polen 1981. Gorbatschow stand im Zentrum dieser Vorbereitungen. Alle Legenden von einer angeblichen »Verschwörung« der Konservativen und Reaktionäre gegen ihn sind nichts anderes als die Fortsetzung der Desinformation über den »Kampf der Reformer mit den Konservativen« in der Führung, den es in der Realität nie gegeben hat.

Es ist lächerlich anzunehmen, daß Gorbatschow von irgendwelchen Beschlüssen seiner Kollegen nichts gewußt haben soll. Dem Generalsekretär wurde grundsätzlich alles bis ins kleinste Detail berichtet.


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 Die Maschinerie des ZK-Apparats konnte gar nicht anders arbeiten, sie ist dazu geschaffen, ununterbrochen in Betrieb zu sein. Gorbatschows Informationen waren mehr als vollständig. Je mehr aber die Kontrolle über die Ereignisse verlorenging, desto mehr spiegeln seine Informationen das Bild der allmählich entstehenden Panik wider. So berichtete man ihm im Februar über »einige Erwägungen zur Lösung der deutschen Frage«. Er schrieb dazu den Vermerk: »Gen. V. M. Falin zur Kenntnisnahme. Ja, wir brauchen in nächster Zeit einen Aktionsplan. M. Gorbatschow.« Das Material wurde auf seine Anweisung an alle Mitglieder des Politbüros verschickt.44 Zur gleichen Zeit teilte Falin »ergänzende Informationen über die Tragödie in Katyn« mit. Die Frage war kaum zu lösen: Sollte man zugestehen, daß die polnischen gefangenen Offiziere auf Befehl Stalins erschossen wurden oder nicht? Es zuzugeben war schlecht, es nicht zu tun aber inzwischen unmöglich. Gorbatschow vermerkt dazu: »An die Gen. Jakowlew, Schewardnadse, Krjutschkow, Boldin. Ich bitte um Darlegung Ihres Standpunktes.«45

 

Seit April 1990 wurde der Verlust der Kontrolle immer offenkundiger. Sogar das Zentrale Fernsehen wurde allmählich unbotmäßig. »An Gen. W. A. Medwedjew. Die Arbeit der Umgruppierung von Kräften im Zentralen Fernsehen ist fortzusetzen (solange es noch möglich ist!)«, schreibt Gorbatschow verzweifelt.46 Die Probleme nahmen zu, mit der Wirtschaft ging es immer weiter bergab. Plötzlich findet sich folgender Vermerk:

 

»Leopold Rothschild 
Großbritannien
Nummer 16373 vom 18.9.90
Bestätigt das Interesse Großbritanniens an der Gründung eines Banksyndikats für die Gewährung von Anleihen gegen Sicherheitsleistung in Gold.«

 

Nach dem »Putsch« vom August 1991 stellte sich plötzlich heraus, daß der Goldvorrat der UdSSR spurlos »verschwunden« war — ob da ein Zusammenhang mit dem obigen Vermerk besteht, vermag ich nicht zu sagen. Inzwischen radikalisierte sich die Stimmung im Land immer mehr.


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Sogar scheinbar kontrollierte und isolierte oppositionelle Organisationen begannen sich zusammen­zuschließen.

»Am 20, und 21. Oktober 1990 fand in Moskau im Filmtheater >Rossia< die konstituierende Sitzung der Bewegung >Demokratisches Rußland< statt. Zu der Veranstaltung reisten 1270 Delegierte aus 73 Gebieten, Kreisen und autonomen Republiken an, Vertreter von Parteien, die in Opposition zur KPdSU stehen, von gesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen«,47 so wurde Gorbatschow berichtet.

»An der Arbeit der Tagung nahmen 23 Volksdeputierte der UdSSR teil, 104 Volksdeputierte der RSFSR, Deputierte des Moskauer Stadtrats (Mossowjet), des Leningrader Stadtrats (Lensowjet) und anderer lokaler Sowjets. Es waren mehr als 200 Gäste aus Unionsrepubliken sowie auch aus den USA, Großbritannien, der BRD, Frankreich, Japan, Polen und der csfr eingeladen. Die Arbeit wurde von ungefähr 300 sowjetischen und ausländischen Journalisten beleuchtet. Besondere Aufmerksamkeit auf dem Kongreß galt der organisatorischen Stärkung der demokratischen Bewegung im Kampf gegen das >Machtmonopol der KPdSU<, der Schaffung eines Informationsnetzes der demokratischen Kräfte und ihrer politischen Infrastruktur, der >Aktivierung der Massen < und der Durchführung gemeinsamer Aktionen mit anderen Oppositionsbewegungen. ... Die herausragende Besonderheit des Kongresses ist sein offensichtlicher Antikommunismus. Es wurden Strategie und Taktik der Entfernung der KPdSU aus der politischen Arena, der Demontage der bestehenden staatlichen und politischen Ordnung ausgearbeitet, ... Auf dem Kongreß kam es zu hemmungslosen Ausfällen gegen den Präsidenten der UdSSR M. S. Gorbatschow, den Vorsitzenden des Obersten Sowjets der UdSSR A. L Lukjanow, gegen den Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR N. I. Ryschkow, gegen den Vorsitzenden des KGB der UdSSR W. A. Krjutschkow und den Verteidigungsminister der UdSSR D. T. Jasow ...

Der harte, kompromißlose Ton der auf dem Kongreß angenommenen programmatischen Dokumente fällt ins Auge. Alle rufen im wesentlichen zur Konfrontation, zu bürgerlichem Ungehorsam und zu einer weiteren Destabilisierung der Lage im Land auf. Eine Analyse der Dokumente, die auf der konstituierenden Sitzung angenommen wurden, der Charakter der Auftritte, die ganze Atmosphäre der Tagung und die Kampagne, die in


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ihrem Vorfeld durchgeführt wurde, zeugen unwiderleglich von der Bildung eines einheitlichen Blocks antisozialistischer, antikommunistischer Kräfte, zu deren Aufgaben die Aushöhlung der sozialpolitischen Grundlagen des Landes, die Machtergreifung und die Entfernung der KPdSU aus der politischen Arena gehören.«

 

Wie auch immer sich das Politbüro zu diesem Versuch verhielt — bei dem damaligen Zustand der Gesellschaft war schon die bloße Entstehung eines vereinigten Oppositionszentrums für die Führung eine tödliche Gefahr. Die Führung mußte handeln, und zwar schnell. Ich glaube, daß damals die Entscheidung zu einer Kehrtwendung und zur Einführung des Kriegsrechts fiel. Ende 1990 wechselte Gorbatschow fast seine ganze Mannschaft aus. Das »Reform«-Spiel wurde beendet, für die neue Aufgabe brauchte man andere Leute, die blind alle Befehle ausführten und sich nicht vor Blutvergießen fürchteten. Einige, wie Schewardnadse, traten von selbst zurück, wohlwissend, wohin die Sache ging. Andere, wie Ryschkow und Bakatin, setzte Gorbatschow selbst ab. Es ist lächerlich, auch nur zu erwägen, daß er etwas »nicht gewußt« hätte - er war doch der Hauptorganisator der Wende. Seit Januar 1991 machte man sich an die Ausführung des Plans, wobei man ihn wie üblich zuerst in Litauen auf die Probe stellte.

 

»Nach Mitteilung der verantwortlichen Mitarbeiter des ZK der KPdSU ,.., die sich in Litauen, aufhalten, wurden am n. Januar des Jahres in Vilnius die Gebäude des Pressehauses und der D05'AAF (freiwillige Unionsgesellschaft zur Förderung der Land-, Luft- und Seestreitkräfte, darin befand sich eine Bewachungsabteilung des Kreises, W. B.} und in Kaunas das Gebäude für die Ausbildung von Offizieren unter die Kontrolle von Fallschirmjägern genommen. Diese Operation erfolgte im ganzen ohne heftige Zusammenstöße. Gleichzeitig ist hervorzuheben, daß im Radiosender >Majak< (Leuchtturm) über diese Ereignisse nicht objektiv informiert wurde. Insbesondere wurde über Ausschreitungen von Soldaten und über angebliche Todesopfer und Verletzte berichtet«, so informierte man Gorbatschow am gleichen Tag.48

 

"Um 17 Uhr Ortszeit fand im ZK der KPL (Kommunistische Partei


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Litauens, W. B.) eine Pressekonferenz statt, auf der der Leiter der ideologischen Abteilung des ZK Gen. Ju. Ju. Jermolavitschus mitteilte, daß in der Republik ein Komitee zur nationalen Rettung Litauens gegründet worden sei. Dieses Komitee übernimmt die gesamte Macht. ,,, Das Komitee hat einen Aufruf an das litauische Volk beschlossen und ein Ultimatum an den Obersten Sowjet der Litauischen SSR gerichtet, in dem es eine schnelle Reaktion auf den Aufruf des Präsidenten der UdSSR fordert.
Der Oberste Sowjet der Litauischen SSR hat das Ultimatum abgelehnt, wobei er das Komitee als >usurpatorisch< bezeichnete, das keine Legitimation habe, im Namen des litauischen Volkes zu sprechen."

 

Genau nach diesem Schema wurde auch der »Putsch« sieben Monate später in Moskau durchgeführt: die Besetzung der Schlüssel­stellungen durch die Streitkräfte, Pressekonferenzen, die Schaffung eines Komitees »mit aller Machtfülle«.

Allerdings lösten die Ereignisse in Litauen eine unerwartet heftige Reaktion im ganzen Land aus, und zwar nicht nur in den Republiken, wo man sich leicht mit den Litauern identifizierte, sondern auch in Rußland. Die Menschen verstanden instinktiv, daß sich der Angriff der Macht gegen sie alle richtete. In Moskau, wo die antikommunistischen Demonstrationen während des ganzen Herbstes ständig zugenommen hatten, gingen Hunderttausende auf die Straße.

"... Am 20. Januar des Jahres fand von n.oo bis 14.30 Uhr eine vom Mossowj et genehmigte Demonstration statt, die auf Initiative einiger Volksdeputierter der UdSSR und des Koordinationsrates der Bewegung >Demokratisches Rußland< organisiert wurde", so berichtete man Gorbatschow.49

»Vom Majakowski-Platz führte die Demonstration den Gartenring, dann den Kalmin-Prospekt entlang bis mm Platz des 50. Jahrestages der Oktober-Revolution, wo eine anderthalbstündige Kundgebung abgehalten wurde.

An der Manifestation nahmen bis zu 150.000 Personen teil. Die Zusammensetzung der Organisationen und politisierten Bewegungen war wie üblich. Nach Einschätzung von Experten handelte es sich überwiegend um Vertreter der wissenschaftlichen und künstlerischen Intelligenz, Vertreter von


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nicht aus Moskau stammenden Nationalitäten und auch aus anderen Städten. ... Die Kundgebung hatte eine deutlich artikulierte gegen den Präsidenten gerichtete und antikommunistische Tendern. Charakteristisch waren die folgenden Losungen: >Michail der Blutige - Nobelpreisträger^ >Gorbatschow und seine Spießgesellen zur Verantwortung ziehen <, >Der Präsident der UdSSR auf die Anklagebank <, >Das Blutvergießen in Litauen ist ein weiteres Verbrechen der KPdSU<, >Rote Faschisten der KPdSU - Hände weg von Rußland und vom Baltikum<.

Bei den Losungen und Auftritten stand bei 33 Themen die Tendenz gegen den Präsidenten an erster Stelle, an zweiter der Antikommunismus, an dritter die Unterstützung der gegenwärtigen Führung Litauens, an vierter die Unterstützung Jelzins. ... Einen bedeutenden Platz nahmen die Forderungen nach einem Gerichtsverfahren gegen die Komitees zur nationalen Rettung und der Widerstand gegen den reaktionären Kurs Gorbatschows und der KPdSU < ein, bis hin zu einem politischen Streik in ganz Rußland (aus der Resolution der Kundgebung) und bewaffnetem Widerstand im Fall von Gewaltanwendung ...

In der angenommenen Resolution sind Forderungen nach dem >Abzug des Strafkommandos aus dem Baltikum< enthalten, außerdem nach dem Rücktritt von M. S. Gorbatschow und G. I. Janaew, nach der Auflösung des Volksdeputiertenkongresses der UdSSR und des Obersten Sowjets der UdSSR, der Schaffung einer russischen Armee, Aufrufe zur Bildung einer politischen Organisation auf der Grundlage der Bewegung >Demokratisches Rußland < mit Parteizellen in Arbeitskollektiven und am Wohnort.

Unserer Meinung nach muß man diese Aktion als eine Bestätigung des Kurses der oppositionellen Kräfte betrachten, der auf eine Änderung der Staats- und Gesellschaftsordnung und auf die Entfernung der gegenwärtigen Führung des Landes aus der politischen Arena abzielt.

Die Taktik der gegen das Zentrum und die KPdSU gerichteten Kräfte ändert sich qualitativ. Kern der Konsolidierung der demokratischen und nationaldemokratischen Bewegungen der Republiken wird der Oberste Sowjet der RSFSR unter dem Vorsitz von B. N, Jelzin ..."


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In der Tat wurden Jelzin und der Oberste Sowjet der RSFSR als einzige funktionierende Struktur zu einem solchen Zentrum: Im Februar nutzte Jelzin eine Direktübertragung des Zentralen Fernsehens und rief das Land dazu auf, »der Regierung den Krieg zu erklären«. Die Situation wurde zusätzlich dadurch angeheizt, daß es im Januar eine starke Preiserhöhung gegeben hatte. Es folgte eine Welle von Demonstrationen und Streiks, die im März ihren Höhepunkt in einer Demonstration von einer halben Million Menschen in Moskau fand, die trotz des offiziellen Verbots Gorbatschows und ungeachtet der in die Stadt verbrachten Streitkräfte durchgeführt wurde. Ende März streikte ganz Weißrußland, und das war bei weitem nicht die rebellischste unter den Republiken.

 

»Während in der Mehrheit der Arbeitskollektive noch vor einem Monat die Reaktion auf die Bergarbeiterstreiks zurückhaltend war, hat sich in den letzten Tagen die Unterstützung ihres Vorgehens allenthalben verstärkt«, lautete ein Bericht an Gorbatschow.50

»Am Beispiel der Ereignisse in Weißrußland wird deutlich, daß ökonomische Forderungen, die von den Arbeitern unter dem Einfluß oppositioneller Kräfte vorgebracht werden, in politische übergehen, die vor allem mit einer Mißtrauensbekundung gegenüber den zentralen Machtorganen und der KPdSU verbunden sind.«

 

Die offiziellen sowjetischen Gewerkschaften wurden unruhig, weil »die Werktätigen die Gewerkschaften immer weniger unterstützen, sondern vielmehr die spontan gebildeten Streikkomitees.« Um ihre Autorität wenigstens ansatzweise wieder­herzustellen, beschlossen sogar diese Gewerkschaften einen eintägigen Streik durchzuführen, an dem dann allerdings 50 Millionen Menschen teilnahmen!

Um diese Welle irgendwie einzudämmen, wurden die Pläne zur Einführung des Kriegsrechts offensichtlich aufgeschoben. Mit den baltischen Republiken begannen Verhandlungen. Gleichzeitig verlegte sich auch Jelzin auf Verhandlungen mit Gorbatschow, die zu der Vereinbarung von Nowo-Ogarewo führten. Die Lage beruhigte sich, es kam zu einer Art Waffenstillstand, der jedoch nicht lange anhalten konnte: Nicht ein Problem war wirklich gelöst, und die Republiken weigerten sich hartnäckig, eine neue Unionsvereinbarung zu unterzeichnen. Die Kontrolle über das Land war nicht wiederhergestellt und ein Ende der Krise nicht abzusehen.


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Die Rückkehr zum Szenarium des Kriegsrechts war unvermeidlich, und daß Gorbatschow diesbezügliche Pläne seiner Gehilfen vorenthalten worden wären, ist undenkbar. Eine Verschwörung in einem solchen Ausmaß wie den »Putsch« vom 19. August ohne sein Wissen zu verwirklichen, wäre nicht möglich gewesen, konnten doch ohne seine Genehmigung nicht ein Machtorgan und nicht eine Militär- oder KGB-Abteilung handeln. Im übrigen war es genau dies, was sein Vorhaben, sein Putschspektakel im August scheitern ließ. Als seine Gehilfen das Szenarium der Einführung des Kriegsrechts angeblich ohne sein Einverständnis in die Tat umsetzen wollten, war nicht ein Kommandant bereit, ohne seinen unmittelbaren Befehl zu handeln. Alle verstanden recht gut, daß Handlungen ohne einen solchen Befehl Staatsverrat wären, für den man sie umgehend erschießen und dann die ganze Verantwortung für den »Putsch« auf sie abwälzen würde.

Natürlich kann man ohne Dokumente nur vermuten, von welchen Erwägungen sich Gorbatschow leiten ließ, als er sich diesen unwahrscheinlichen Trick einer angeblich gegen ihn selbst gerichteten Verschwörung ausdachte. Davon, daß es so war, überzeugen mich alle Details dieser so seltsamen Verschwörung, die dem bekannten Szenarium der Absetzung Chruschtschows 1964 genau nachgebildet und auf der Desinformation über den angeblichen »Kampf der Reformer mit den Konservativen« im Politbüro aufgebaut sind. Was wäre logischer, als sich dieser so erfolgreichen Legende bei der Einführung des Kriegsrechts zu bedienen. Am Rande des Abgrunds spielte der Kreml dasselbe Szenarium, mit dem er West wie Ost seit sieben Jahren in Atem hielt: Eine Verschwörung von Konservativen und die Absetzung Gorbatschows, die es gestattete, das Land unter Anwendung grausamster Mittel zu befrieden. Gorbatschow indessen würde nach ungefähr drei Monaten im Triumph zurückkehren, gnädig einige harte Maßnahmen seiner Gehilfen »abmildern« und die gemäßigte Perestroika unter dem Beifall des Westens wieder in Gang setzen.

Jedoch hatten die Kreml-Strategen wie beim Szenarium der »samtenen Revolution« bei all ihrer Schlauheit einen Punkt nicht in Betracht gezogen: Die Reaktion des eigenen Volkes. Sie hatten sich so sehr daran gewöhnt, mit dem Volk nicht zu rechnen, daß sie nicht auf


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die Idee kamen, welche Rolle es in diesem in Gang gesetzten Spektakel spielen könnte. Ebensowenig hatten sie das Ausmaß des Zerfalls ihrer Machtstrukturen richtig eingeschätzt. Im Ergebnis zerfiel auch die Partei in kommerzielle Strukturen, das Militärkommando wollte nicht zum Sündenbock werden, und selbst KGB-Leute wußten nicht, welches Schicksal ihnen in der Schlußszene dieser Show zugedacht war. Niemand von ihnen wollte mit seinem Leben für die Errettung des verrotteten Regimes bezahlen, und dem in seine eigene Lüge verstrickten Gorbatschow glaubte niemand mehr, vom Westen abgesehen.

Es ist interessant, daß die mit dem massenhaften Ungehorsam des Landes konfrontierten sogenannten »Putschisten« aus dem Konzept gerieten und ... zu Gorbatschow auf die Krim entflohen, offenbar um ihn zu bitten, aus dem Schatten zu treten und sich an die Spitze ihres »Komplotts« zu stellen. Das ist eine schöne Verschwörung, bei der die »Verschwörer« bei ihrem »Opfer« Rat und Schutz suchen.

Natürlich bestreitet Gorbatschow dies heute, und ebenso natürlich ist es, daß die »Putschisten«, das heißt die damalige Führung des Landes, demgegenüber behaupten, nach seiner Anweisung gehandelt zu haben. Wer von ihnen recht hat und wer nicht, kann man nur vermuten. Eines ist unstreitig: Die ganze Vorbereitung zur Einführung des Kriegsrechts stand unter Gorbatschows unmittelbarer Leitung. Ob er im letzten Moment schwankend wurde, wie seinerzeit Jaruzelski oder ob er tatsächlich dieses teuflische Spiel in Szene setzte, um bei seiner geplanten Rückkehr von der Krim in das bereits von seinen Gehilfen kontrollierte Land als Friedensstifter in den Augen der Welt besser dazustehen, das ist bisher noch unbekannt.51

Im Grunde genommen ist das auch nicht so wichtig. Drei Tage und Nächte eines allgemeinen Ungehorsams waren für den endgültigen Zusammenbruch des Regimes vollkommen ausreichend. Mit dem Scheitern des »Putsches« wurden die KPdSU verboten, das ZK-Gebäude versiegelt, und die von einem Moment der Freiheit trunkenen Massen strömten durch Moskau und entfernten die Denkmäler der Führer. Aber wie sehr dieser Moment der Freiheit auch die Menge berauschte, es war keine Revolution. Das seines Angelpunkts beraubte Land zerfiel einfach in seine Bestandteile, die von der Parteimafia kontrolliert wurden.


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 Die »neue« politische Elite, die an die Oberfläche kam, war die alte Nomenklatura, die sich rechtzeitig an die neuen Bedingungen angepaßt hatte. Diese »Elite« bedurfte keiner radikalen Veränderungen. Ebensowenig war sie auf die alte Ideologie angewiesen, denn in ihren Händen verblieben die »kommerziellen Strukturen«, das Eigentum, fiktive Parteien, die Medien und internationale Verbindungen mit alten Freunden. Es begann die Ära der »Schattenmacht«, als es mit der Zeit unmöglich wurde, auch nur festzustellen, wer hinter wem und wer in wessen Dienst stand.

Allein der nach Moskau zurückgekehrte Gorbatschow beharrte auf einer Erneuerung des Sozialismus, auf einer neuen Rolle der schon verschwundenen KPdSU, auf einem neuen Unionsvertrag der schon nicht mehr existierenden Republiken ...

 

  

9.  Der Westen

 

Die Begeisterung der »Linken« aus Anlaß der Perestroika und ihre Freude über die nicht zustande gekommene Revolution sind leicht zu verstehen. Für sie gab es von Anfang an keine Alternative zur Entspannung, und die Erhaltung der Macht der Parteielite unter dem Anschein der Demokratie entsprach ganz ihren Wünschen. Ihre Teilnahme an den Verbrechen des Regimes ließ sich nur dann verschleiern, wenn das Regime nicht mehr als verbrecherisch erschien, äußerstenfalls als eines, das sich inzwischen »gebessert« hat. 

In diesem Sinne war Gorbatschow für sie ein gefundenes Fressen - sie hätten ihn erfunden, wenn es ihn nicht gegeben hätte. Im Grunde genommen ist auch genau das geschehen: Den »Reformer«, »Liberalen« und »Demokraten« Gorbatschow hat sich die westliche linke »Elite« gemeinsam mit der sowjetischen Desinformationspolitik ausgedacht. Ebendieses Bild eines »Liberalen« und »Reformers« hatten sie schon für Andropow geschaffen, nachdem er 1983 an die Macht gekommen war, aber Andropow hatte Pech mit seiner Gesundheit und starb, ohne den Friedensnobelpreis bekommen zu haben.


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Der Erfolg von »Glasnost und Perestroika« wäre indes längst nicht so vollständig und ihr Effekt nicht so katastrophal für die ganze Welt gewesen, wenn nicht die allgemeine Euphorie auch konservative Kreise des Westens gelähmt hätte. Eine der frühesten und konsequentesten Anhängerinnen Gorbatschows war bekanntlich Margaret Thatcher, die von ihm, noch bevor er an die Macht kam, sagte, er sei ein Mensch, mit dem sie »ins Geschäft kommen« könne.

Die Loyalität Gorbatschow gegenüber brachte Frau Thatcher in der Folgezeit dazu, erstaunliche Dinge zu äußern. So rief sie beispielsweise die verschiedenen Völker der UdSSR dazu auf, »gegenüber der Sowjetunion als einer Nation der Völker« loyal zu bleiben und sich mit einer gewissen kulturellen und religiösen Autonomie zu begnügen. Dies sagte sie zu dem Zeitpunkt, als der Angriff gegen die Souveränität der baltischen Republiken geführt wurde, deren Anschluß an die UdSSR weder von Großbritannien noch von den USA jemals anerkannt worden war.

 

»Streng geheim
An das ZK der KPdSU
Über einen Vorschlag des WZSPS  (Allunions-Zentralrat der Gewerkschaften)

Entsprechend dem Auftrag (Zustimmung des Sekretariats des ZK der KPdSU vom 1. Februar 198^) erstattete der Vorsitzende des WZSPS Gen. S. A. Schalajew Bericht über die Ergebnisse der Verhandlungen mit den Generalsekretär der Internationalen Vereinigung der Gewerkschaften der Bergarbeiter und Energiewirtschaftler (MOPGE) A. Simon bezüglich der Kanäle für die Übermittlung materieller Hilfe an die streikenden britischen Bergarbeiter, die von dem WZSPS aus seinen Mitteln in Höhe von einer Million Valutarubeln bestritten wird (Pi88/i2 mm 12. Oktober 1984).

Im Lauf der Verhandlungen unterstützte A. Simon die Idee des Vorsitzenden der Nationalen Bergarbeitergewerkschaft Großbritanniens A. Scargill über die Überweisung der genannten Mittel des WZSPS auf das Konto der MOPGE bei der Polnischen Volksbank. Aus Warschau sollen die Gelder in Raten von 100000- jjoooo Valutarubeln auf das Konto von A. Simon bei einer Bank in Dublin (Irland) überwiesen werden. Von dort werden sie im Namen der MOPGE an die Streikenden weitergeleitet.


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A. Simon und A. Scargill äußerten ihre feste Überzeugung, daß dieser Kanal eine sichere Tarnung für die sowjetische Herkunft der Hilfe ist und die Geheimhaltung der Überweisung garantiert. Gen. Schalajew teilt ihre Meinung und hält es für zweckmäßig, den Transfer der Mittel auf dem genannten Weg zu beschleunigen.

Wir halten es für möglich, dem Vorschlag des WZSPS zuzustimmen. Wir bitten um Zustimmung."

 

Abb.


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Bei Margaret Thatcher ist es mir gelungen, ihr die Illusionen über Gorbatschow zu nehmen. Zufällig war ich bei meinen Akten­studien im Jahre 1992 im Archiv des ZK der KPdSU auf ein Dokument von 1984 über diese sowjetischen Hilfeleistungen an die streikenden englischen Bergarbeiter gestoßen. Das Dokument enthielt nicht viel Neues. Es war allgemein bekannt, daß die UdSSR ihnen in einem kritischen Moment des Streiks eine Million Dollar überwiesen hatte. Allerdings war man bisher davon ausgegangen, daß es sich hierbei um eine Unterstützung der sowjetischen Gewerkschaften für ihre Klassenbrüder gehandelt hatte. Nunmehr konnte ich mich davon überzeugen, daß diese Entscheidung im ZK gefallen war, und der Beschluß trug natürlich auch die Unterschrift von Gorbatschow, dem damaligen Zweiten Sekretär des ZK. Ohne dessen Unterschrift hätte nicht ein einziger derartiger Beschluß angenommen werden können.

Beim Anblick dieser Unterschrift und des Datums mußte Frau Thatcher zugestehen: »Ich habe ihn (Gorbatschow, W.B.) genau zu dieser Zeit danach gefragt, und er hat gesagt, er wisse davon nichts.« In ihren Memoiren findet sich an der entsprechenden Stelle eine rätselhafte Anmerkung: »Inzwischen wurden mir Dokumente vorgelegt, die beweisen, daß er (Gorbatschow) darüber umfassend Bescheid wußte und die Zahlung persönlich genehmigt hatte.« 52)

Margaret Thatcher war keine Ausnahme. Selbst der Präsident der USA Ronald Reagan, für den der Name Lenin zeitlebens ein Anathema war, versäumte es nicht, Gorbatschow wegen seiner »Rückkehr zu den leninistischen Wurzeln« zu rühmen. Sein Nachfolger George Bush und sein Außenminister James Baker übertrafen jedoch alle anderen. Bis zum letzten Augenblick widersetzten sie sich dem unvermeidlichen Zerfall der UdSSR. 

»Ja, ich glaube, daß ich Gorbatschow trauen kann«, äußerte George Bush gegenüber der Zeitschrift »Time«, als Gorbatschow schon dabei war, die Kontrolle über sein Land zu verlieren, nachdem er sich endgültig in der eigenen Lüge verstrickt hatte.53) George Bush kam nicht einmal der Gedanke, daß seine eigenen Ziele denen Gorbatschows diametral entgegengesetzt waren.

So verwundert es nicht, daß bei einem solchen Weitblick des US-Präsidenten das Gipfeltreffen in Malta an ein zweites Jalta erinnerte. Jedenfalls bewertete danach das State Department der USA den zunehmenden Druck der UdSSR auf das Baltikum konstant als »innere Angelegenheit der UdSSR«. Noch zwei Monate vor dem Zerfall der Union versuchte Bush bei seinem Besuch in Kiew, die Ukraine zum Verbleib in der Union zu bewegen. Die Illusionen des Westens wurden bald von den Realitäten, dem kurz darauf eintretenden Zerfall der Sowjetunion, vollständig ihrer Grundlage beraubt.

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