Energie aus Sonne und Meer
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Punta Gorda, 31. Mai 1999
Eine der am wenigsten bekannten und jedoch erstaunlichen Errungenschaften der ökotopianischen Wissenschaft und Technik ist das große Thermal-Gradienten-Kraftwerk bei Punta Gorda, das ich soeben besichtigen durfte. (Ähnliche, wenn auch kleinere Anlagen gibt es bei Monterey und an anderen Standorten entlang der Küste.) Hier haben die Ökotopianer vielleicht die eindrucksvollste technische Lösung gefunden, um ihrem Ideal einer Energiegewinnung ohne Umweltverschmutzung näher zu kommen.
Wie die gesamte übrige Welt verfolgt auch Ökotopia aufmerksam die immer stärker erfolgversprechenden Versuche, Kernfusionsenergie für praktische Zwecke nutzbar zu machen. Die Aussicht auf ein Gelingen macht die Ökotopianer keineswegs übermäßig glücklich, denn sie haben eine sentimentale Abneignung gegen Stromleitungen, die die Landschaft durchziehen, und halten Verfahren für unnatürlich, bei denen gigantische Energiemengen an einem Punkt konzentriert werden; ihr Interesse gilt mehr Technologien, die Energie bedarfs- und ortsgebunden erzeugen.
Nichtsdestoweniger sind die Ökotopianer aber nicht die hoffnungslosen Romantiker, für die einige Amerikaner sie halten. Als ich das Energieministerium besuchte, mußte ich feststellen, daß sich Beamte dort der historischen Gesetzmäßigkeit voll bewußt sind, nach der die Kulturen mit reichen Energiequellen die energiearmen unterwerfen und beherrschen. Im Gegensatz zu einer in den USA weitverbreiteten Meinung streben die Ökotopianer keineswegs steinzeitliche Zustände an. Sie verbrauchen weit mehr Energie, als man auf einer Reise durch ihr Land vermuten würde, aber die Energiegewinnung und -nutzung sind dezentralisiert – dadurch dem Auge verborgen – und neuartig.
Die Ökotopianer übernahmen ein System von Kraftwerken, die auf der Basis von Öl- und Gasverbrennung arbeiteten (und nach wenigen Jahren stillgelegt wurden), sowie eine Reihe von Kernkraftwerken. Sie sind der Überzeugung, daß die Kernspaltung wegen ihrer radioaktiven Abfallprodukte und der Wärmebelastung der Umwelt letztlich untragbar ist, waren aber bereit, in abgeschiedenen und dünnbesiedelten Gebieten für einen gewissen Zeitraum mit diesen Kraftwerken zu leben – gleichzeitig wurden allerdings die Sicherheitsmaßnahmen verdoppelt und die ins Meer führenden Ableitungsrohre für das aufgeheizte Kühlwasser auf etwa zwei Kilometer verlängert.
(Mit einem Erfindungsreichtum, der, wie mir inzwischen klar wird, typisch für die Ökotopianer ist, leitet das Küstenkraftwerk das Kühlwasser in riesigen Plastikröhren ab, die aus einem harten, mit Luftbläschen durchsetzten Kunststoff gegossen sind und dadurch die Eigenschaft besitzen, auf dem Wasser zu schwimmen. Um ein Abtreiben zu verhindern, wird diese Rohrleitung mit Stahltrossen, die am Meeresgrund verankert sind, kieltief unter der Wasseroberfläche gehalten.)
Ebenfalls aus den Tagen vor der Unabhängigkeit stammt eine unkonventionelle und ökologisch gesehen beispielhafte Stätte geothermaler Energiegewinnung. Im Gebiet der heißen Quellen nördlich von San Francisco werden mit Dämpfen aus dem Erdinnern Turbinen angetrieben. Die Szene ist infernalisch: Dampffontänen schießen mit lautem Zischen aus den Rohren und Bohrlöchern – die Erde scheint explodieren zu wollen. Trotz des Gegensatzes zu unseren leise summenden Kraftwerken hat dieses geothermale System seine Vorteile: die Kosten sind niedrig, es werden praktisch keine Schadstoffe in die Atmosphäre abgegeben, und nur eine geringe Menge aufgeheizten Wassers gelangt in die umliegenden Flüsse. An den Ufern eines dieser Flüsse hat man Schwimmbäder angelegt, die auch im Winter geöffnet sind.
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Ökotopia übernahm auch zahlreiche hydroelektrische Einrichtungen an Staudämmen im Hochgebirge. Sie werden jedoch ebenfalls nur als Notbehelf angesehen, da sie erfahrungsgemäß nach einigen Generationen verschlammen und den Zug der Lachse wie auch das natürliche Leben anderer Tiere beeinträchtigen. Das ökotopianische Interesse konzentriert sich heute ganz auf Energiequellen wie Sonne, Erdwärme, Gezeiten und Wind, die ohne Schaden für die Biosphäre des Gebiets unbegrenzt ausbeutbar sind. (Die Ökotopianer haben deshalb auch eine kindliche Freude an Windmühlen und auf den Dächern angebrachten Windrädern, die bis hin in die entlegensten Landstriche, aber auch in der Stadt zum gewohnten Bild gehören.)
In der Hauptsache jedoch hat sich die ökotopianische Forschung und Entwicklung auf dem Energiesektor auf zwei große Energiequellen konzentriert. Bei der einen handelt es sich um die Energie der direkten Sonnenstrahlung, zu deren Gewinnung mehrere Technologien zur Verfügung stehen. Die dabei eingesetzten Anlagen sind von unterschiedlicher Größe, haben zumeist jedoch eindrucksvolle Dimensionen. Eine dieser Anlagen arbeitet mit einem Parabolspiegel von etwa neun Metern Durchmesser, der das Sonnenlicht bündelt. Der Rezeptor im Strahlenbrennpunkt folgt tagsüber dem Lauf der Sonne: wie eine Spinne sitzt das eigenartig geformte Gebilde in einem Netz von dünnen Stahlseilen, bringt sich selbsttätig in verschiedene Positionen und sucht nach dem Maximum an Wärme. Durch ein flexibles Rohr wird Dampf abgeführt, der einen seitlich angebrachten Generator betreibt. Ein Großteil des ökotopianischen Südens ist praktisch Wüste, aber auch im Norden sollen sich diese Anlagen bewährt haben.
Ein weiterer Kraftwerktyp nimmt die Sonnenenergie mit einer riesigen Fläche aus massiven Fotozellen auf, wie sie ähnlich auch bei Weltraumsatelliten verwendet werden. Ich habe südlich von Livermoore eine Fotozellenanlage besichtigt, die mit einem der Geheimhaltung unterliegenden Rezeptorenmaterial arbeitet.
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Die Südhänge der sanft gewellten, grasbewachsenen Hügel sind von Quadraten aus einer glasähnlichen Substanz mit einer Seitenlänge von jeweils etwa zwei Metern bedeckt, endlosen Straßenzügen gleich. Den Hügel entlang ziehen sich schmale Wege, die offensichtlich für die Reinigungskolonnen bestimmt sind, die ich eines Abends beim Säubern und Polieren der Platten beobachtete.
In der Hitze und dem grellen Sonnenlicht des Tages liegt die Landschaft still, versonnen und friedlich da. Auf den Wegen und unter den Rezeptorenplatten wächst weiterhin Gras. Ich hörte einen Wiesenspärling singen und entdeckte die Gänge von Feldmäusen im Boden. Die von den Fotozellen eingenommene Fläche muß sich in beiden Richtungen mehrere Kilometer weit erstrecken; insgesamt hat sie vielleicht eine Größe von 50 bis 80 Quadratkilometern: die Ausmaße eines Großflughafens. Sie erzeugt genügend Energie für eine ganze Kette von Kleinstädten, und die ökotopianischen Planer sind davon überzeugt, daß solche Anlagen auch in Klimaten mit stärkerer Bewölkung wirtschaftlich arbeiten können.
Doch selbst diese riesige Anlage verblaßt neben dem Thermalenergie-Meereskraftwerk von Punta Gorda, das man auf den ersten Blick für die Festung eines größenwahnsinnigen mittelalterlichen Fürsten halten könnte. Es ist an einem Standort gebaut, wo das Meer bereits in einer Entfernung von wenigen Kilometern vor der Küste sehr tief und kalt ist, und saugt das Wasser durch eine mächtige Rohrleitung an. In allen Richtungen verlaufen kleinere Rohre, die wiederum mit Generatoren und Pumpen verbunden sind. Ingenieure erklärten mir, daß das System im Prinzip genau umgekehrt wie ein Kühlschrank funktioniere. Da Wasser große Mengen Wärmeenergie speichern kann, reicht bereits ein relativ geringes Temperaturgefälle aus, um große Energiemengen zu gewinnen, wenn man nur den geeigneten Wärmeaustauscher einsetzt – allerdings müssen die Pumpen große Wassermengen ansaugen, damit dieses Prinzip zum Tragen kommen kann. Allein schon die wuchtige Architektur dieser Anlage ist überwältigend; sie wirkt wie ein Ausläufer der Gezeiten selbst. (Das kalte Wasser aus der Tiefe des Meeres ist sehr reich an Nährstoffen. Ein Teil des Wassers wird daher in umliegende Teiche gepumpt, wo es sich erwärmen kann, bevor es zusammen mit dem warmen Oberflächenwasser in das Leitungssystem strömt; in den Teichen selbst leben Fische und Schalentiere, die ein wichtiges Nebenprodukt der Anlage darstellen.)
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Um von der Erhabenheit und Wucht dieses großartigen Projekts, das jedem Betrachter Bewunderung abnötigen muß, auf das Lächerliche zu sprechen zu kommen, will ich eine kuriose ökotopianische Vorrichtung zur Energiegewinnung beschreiben, die auf ihre Weise ebenfalls deutlich macht, mit welch einem phantasievollen Volk wir es hier zu tun haben. Kürzlich besuchte ich eine ökotopianische ›Familie‹ in ihrem Haus auf dem Lande. (Viele ökotopianische Wohngemeinschaften haben entweder irgendeine Hütte im Wald oder sind mit einer Landkommune assoziiert, auf deren Grund und Boden sie einen Teil ihrer Freizeit verbringen.)
Dieser reizende Schlupfwinkel lag in tiefster Bergwildnis, viele Kilometer von der nächsten Stromleitung entfernt, aber bei meiner Ankunft dröhnte Musik aus dem Radio. Wie sich herausstellte, wurde das Gerät von einem Wasserrad mit Strom versorgt! Ein geschickter Tüftler hat ein kleines Holzrad gebaut, das sich, von Seilen gehalten, in der Mitte des Gebirgsbaches dreht, wodurch sich eine kostspielige und ökologisch schädliche Trägerkonstruktion erübrigt. Es erzeugt Strom mit einer Spannung von 24 Volt, der in einer Reihe von Batterien gespeichert wird und für den Betrieb des Radios, einer Pumpe sowie für die elektrische Beleuchtung ausreicht, die sich auf dem Lande, wo die Leute früh zu Bett gehen, auf einige wenige Lampen beschränken kann. Meine Gastgeber waren hocherfreut, als ich dieses Wunder von einer Erfindung bestaunte. Sie machten sogar Anstalten, mir die Konstruktion zu schenken, was aber wegen des Gewichts von knapp 15 Kilogramm glücklicherweise nicht in Frage kam.
Dieses Haus wird wie viele Stadtwohnungen nach einem in Ökotopia weitverbreiteten System beheizt: Sonnenwärme wird in einen großen unterirdischen Wassertank geleitet, aus dem dann das erhitzte Wasser in die Heizkörper der Wohnräume gepumpt werden kann. Ein Großteil der Südwände und -dächer ökotopianischer Gebäude wird von den Wärme-Rezeptoren dieser Anlagen in Anspruch genommen, aber da sie die Kosten für den Unterhalt eines Hauses stark senken und die Abhängigkeit von einer zentralen Energiequelle in der Hauptsache aufheben, nehmen die Ökotopianer diese Beschränkung gern in Kauf.
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Sie betonen außerdem, daß das System auch zur Erwärmung von Leitungswasser und zur Destillation von Meerwasser dienen kann, was besonders den Siedlungen an der Küste zugute kommt, in denen der Sommer eine ausreichende Trinkwasserversorgung nicht gewährleistet.
Ein Überblick über die ökotopianischen Entwicklungen auf dem Energiesektor wäre unvollständig ohne den Hinweis auf ein kühnes Projekt, das wahrhaft revolutionär wäre – wenn es funktioniert. Die im Blattgrün ablaufende Fotosynthese gestattet es der Pflanze bekanntermaßen. Sonnenenergie aufzunehmen und für ihr Wachstum zu nutzen. Ökotopianische Wissenschaftler meinen nun eine Technik entwickelt zu haben, mit der die elektrische Energie dieses Prozesses innerhalb eigens gezüchteter Pflanzen unmittelbar abgeleitet werden kann. Ein solch unglaublich wirkungsvolles System wäre aus ökotopianischer Sicht nahezu perfekt: der eigene Garten könnte dann nicht nur Abwässer und Abfall rückschleusen und Nahrung liefern, sondern das Haus auch noch mit Strom versorgen!
(1. Juni) Als ich heute morgen aus dem Norden zurückkam, fand ich Marissa schon im Cove vor – sie saß in ›meinem‹ Sessel in der Bibliothek und las. Es überrascht mich immer wieder, wie gut sie sich in einer anderen Umgebung zurechtfindet – sie fühlt sich nie als Eindringling. Vielleicht haben die Ökotopianer deshalb überall ein sicheres Auftreten, weil sie eine so feste Bindung an ihren eigenen ›Clan‹ besitzen? Oder liegt es daran, daß das Land so klein und in gewisser Weise eine einzige Großfamilie ist? Jedenfalls fühlt sie sich im Cove wie zu Hause.
Wir gingen Arm in Arm hinauf in mein Zimmer, einander sehr nah und vertraut. Es ist wunderbar, von ihr begehrt zu werden – sie ist direkt, kraftvoll und leidenschaftlich –, und das gibt uns alle Möglichkeiten. Ich weiß nicht genau, warum das Lieben mit ihr so anders ist. Sie benutzt ihren Körper in einer direkten und innigen Weise und versetzt mich dadurch irgenwie in die Lage, es ihr gleichzutun. Sie lebt in Harmonie mit sich selbst, mit sich als biologischem Wesen, und, wie durch Ansteckung, empfinde ich ebenso. Wenn ich mit ihr zusammen bin, fühle ich mich stärker als gewöhnlich – ich mag auch meinen Körper mehr, habe mehr Vertrauen in seine Fähigkeiten.
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Ich zerbreche mir nicht den Kopf darüber, ob er friert, krank oder müde wird, oder ob er sexuell versagen könnte; anders als in der Vergangenheit ›denke‹ ich fast gar nicht mehr über ihn nach. Und unsere sexuelle Beziehung entwickelt sich stetig weiter. Wir sind völlig offen und locker, vertrauen uns gegenseitig; manchmal verlieren wir uns und das Bewußtsein von uns selbst in ungeheuren Ausbrüchen gemeinsamer Gefühle – in einem Erlebnis des Einandernaheseins und in Orgasmen, die wirklich anders sind als alles, was ich je in meinem Leben erfahren habe. Doch wir sprechen nie darüber; es geschieht einfach. Nicht, daß sich wer weiß etwas abspielen würde – ausgefallene Stellungen oder etwas in der Art. Wir albern manchmal auf die ein oder andere Weise mit oralem Sex herum, und nur zum Vergnügen, als Liebesspiel oder Vorspiel macht das viel Spaß, aber für das eigentliche Zusammensein bevorzugen wir beide den guten alten Geschlechtsverkehr. (Eigentlich komisch – weil es hieß, daß die Ökotopianer sexuell so freizügig sind, hatte ich angenommen, daß sie alles machen, nur nicht schlicht und einfach bumsen!) Es scheint manchmal stundenlang zu dauern, geht einfach weiter, steigt und fällt in der Intensität, wechselt in der Stimmung und in der emotionalen Färbung und ist wie ein gemächlicher Spaziergang einen schönen Berg hinauf, bei dem man keine Eile hat, den Gipfel zu erreichen. Aber dann schließlich erreichen wir ihn, manchmal ohne zu merken, wie nahe wir ihm waren, und die Aussicht ist herrlich, und die Luft ist klar, und ich habe endlich das Gefühl zu leben –
Kann es so weitergehen? Ich jedenfalls scheine nie genug von ihr bekommen zu können – warte nur auf eine Gelegenheit, sie wieder ins Bett zu ziehen, und es ist beinahe schon beschämend, wie besessen ich von dem Gedanken bin, sie zu besitzen und immer aufs neue diese außerordentliche Erfahrung zu machen ... Sie schläft jetzt, und ich betrachte sie, wie sie da ausgestreckt unter meiner Decke liegt. Es steckt so viel Kraft in ihr – die alle Kraft in mir weckt. Wenn ich mit ihr zusammen bin, spüre ich meinen Körper mehr, fühle mich regelrecht schwerer, als stünde ich mit beiden Füßen fester auf der Erde.
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Die Beziehung zu Marissa ist offenbar im Begriff, meine ganze Einstellung zum Verhältnis zwischen Mann und Frau zu verändern. Dinge, die mir bei Francine als selbstverständlich erschienen, kommen mir jetzt bizarr vor. Männer verrenken nie ihre Köpfe, um Marissa nachzuschauen, wie sie es bei Francine tun – deren hellblondes Haar wie ein Leuchtfeuer ist. Marissa legt nicht das geringste Make-up auf, nie, und jetzt, wo bei uns das Modekarussell wieder bei viel Lippenstift, Lidschatten usw. angelangt ist, kam sie mir zunächst etwas blaß vor, ich fand, daß sie zu wenig aus sich mache. Aber wieviel Intensität liegt in ihren Augen, in der Art, wie sie ihren Mund bewegt, in der Lebendigkeit ihres Körpers! Es ist, als verfüge Francine über die Zeichen oder Signale, die gemeinhin für Sexualität und Vitalität stehen, während Marissa ganz einfach Sexualität und Vitalität hat; sie benötigt die Signale nicht ...
Es ist immer ein besonderes Vergnügen für mich gewesen, mit Francine in ein schickes Restaurant oder auf eine Cocktail-Party zu gehen. Es war so, als stelle man eine Trophäe aus, die man bei irgendeinem Wettbewerb gewonnen hat. Und sie tat ihr Bestes – ihre Brüste schienen jedes Mal fast das Kleid sprengen zu wollen; dazu ein besonderer, zweideutiger Blick von mir, der die anderen zum Wettbewerb, Vergleich und Flirt einlud. Wenn man dagegen mit Marissa irgendwohin geht, dann tut man genau das und nichts anderes. Man verkehrt mit den Leuten, die da sind, jeder für sich oder beide zusammen, tritt in eine freundschaftliche Beziehung zu ihnen oder in überhaupt keine – wie es gerade kommt. Die meisten Leute finden Marissa attraktiv – sie wächst einem unmerklich ans Herz – aber sie präsentiert sich nie als Gegenstand, um den man kämpfen soll, und sie spiegelt auch keine Gefühle vor, die sie nicht hat. Und dennoch erwartet sie ein großes emotionales Engagement von mir – wir hatten schon furchtbare Szenen, weil sie der Meinung war, daß meine Art zu leben unserer Beziehung nicht gerecht würde.
Dennoch, manchmal vermisse ich Francine: ihre Frivolität, ihre Unbeschwertheit, ihren Sinn für gesellschaftlichen Stil und ihre Schlagfertigkeit – Marissa ist schrecklich ernst, und manchmal werde ich wütend, weil sie sich auf keinerlei Spielereien einlassen will. Francine macht alles mit, ich nehme an, weil es nichts gibt, was ihr viel bedeutet. Besteht ihre Anziehungskraft gerade darin, daß ich mich bei ihr gehenlassen, an ihren mächtigen Titten lutschen und kindisch sein kann? (Aber warum sollte es mir schwerfallen, erwachsen zu sein?)
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Da stehe ich also, 36 Jahre alt, mit einem Verhältnis zu einer tollen, unterhaltsamen Frau an einem Ende des Kontinents und einer leidenschaftlichen, ernsthaften Frau am anderen. Marissa würde alles in New York und Francine alles in Ökotopia hassen. Die Damen haben Glück, daß ihr Liebhaber ein so großartiger Schizophrener ist... Aber wie soll ich mit diesem Zwiespalt fertigt werden?
Vielleicht hätte ich wirklich Dichter werden sollen, so wie ich es als Teenager vorhatte. Vielleicht sind es nur die Künstler, die ihre persönlichen Widersprüche wirklich bewältigen können, indem sie sie in ihrem Werk verarbeiten?
Auf Marissas (geduldige, aber unerbittliche!) Fragen hin habe ich auch über meine Ehe mit Pat nachgedacht. Wenn ich mir ökotopianische Liebesbeziehungen oder Ehen ansehe, kann ich nirgends dieses Gefühl der Beengtheit entdecken, das wir als Auswirkung eines starren, stereotypen Erwartungskanons empfunden haben – das Gefühl, daß unsere Beziehungen für immer dieselbe bleiben würde, dieselbe würde bleiben müssen, wenn wir in einem feindlichen Universum irgendwo überleben wollten.
In ökotopianischen Ehen gibt es fließende Übergänge zur Großfamilie, zu Freundschaften mit beiden Geschlechtern. Vielleicht tritt das Individuum dabei nicht so deutlich hervor wie bei uns; es präsentiert sich dem anderen nicht als Geschenk oder als Problem, sondern mehr als Kamerad. Niemand ist hier so unentbehrlich (oder so entbehrlich) wie bei uns. Auf mich wirkt diese Komplexität und Dichte beängstigend, aber ich sehe ein, daß gerade sie es ist, die den Menschen hier Sicherheit gibt – zu jeder Beziehung, gleichgültig wie intensiv sie ist, existieren stets gute, solide Alternativen. Deshalb werden die Leute auch nicht von diesen schrecklichen, lähmenden Ängsten befallen wie wir, wenn es in einer Beziehung zu kriseln beginnt. Irgendwie finde ich das allerdings auch schade – es erscheint so schrecklich unromantisch. Ihr üblicher verdammter Realismus: sie passen aufeinander auf, jeder auf jeden. Aber mir ist auch klar, daß es gerade dieser Realismus ist, der es ihnen erlaubt, manchmal unüberlegt oder leichtsinnig zu sein, weil sie wissen, daß sie es sich leisten können; Fehler sind nie irreparabel, der einzelne wird nie, nie verstoßen, ganz gleich, was er tut ... Und vielleicht läßt dies sogar die Ehen besser halten – man stellt in gewisser
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Hinsicht geringere Erwartungen an sie als bei uns. Die Ehe nimmt keinen so zentralen Stellenwert im Leben des einzelnen ein, und daher ist es auch nicht so wesentlich, daß sie in jeder Beziehung befriedigend ist (als ob jemals irgend jemand oder irgend etwas völlig befriedigend sein könnte). Trotzdem werden Trennungen offenbar als sehr schmerzlich empfunden. Aber die Leute haben nicht das quälende Gefühl, versagt zu haben, das Pat und ich hatten, als wir Schluß machten – das Gefühl, daß die totale Katastrophe über uns hereingebrochen sei, besonders natürlich über sie, aber auch über mich, wenn ich ehrlich bin; oder das Schuldgefühl, daß wir es irgendwie nicht richtig gemacht hätten, so, wie man es von uns verlangen durfte, daß ich ihr nicht das gegeben hätte, was eine Frau angeblich von einem Mann erwarten kann (anstatt es selbst oder in sich selbst zu suchen), und daß ich, daß wir beide daher versagt hätten und nun dafür bezahlen müßten.
Kein Ökotopianer scheint ein solches Schuldgefühl mit sich herumzuschleppen. Und obwohl damit etwas Tiefes und Wertvolles im Leben verlorenzugehen scheint, beginne ich sie ein wenig zu beneiden und auch einzusehen, daß ihre gemeinschaftliche Art, sich zu schützen, stärker und auch fruchtbarer ist als der Weg der individuellen Defensive, den ich eingeschlagen habe, indem ich mein Verhältnis zu Francine oberflächlich und provisorisch gestalte und ihm Grenzen setze ...
Kommunikationsmittel in Ökotopia:
Presse, Fernsehen und Verlagswesen
San Francisco, 2. Juni. Als Zeitungsreporter bin ich naturgemäß stark an der Presse anderer Länder interessiert, und ich bin viel mit ökotopianischen Redakteuren, Autoren, Fernsehjournalisten und -journalistinnen zusammen gewesen. Die Bedingungen, unter denen sie hier arbeiten, wären für mich und die meisten meiner Kollegen untragbar. Nichtsdestoweniger habe ich großen Respekt vor ihrer harten Arbeit, ihrer Integrität und ihrem Engagement für das Gemeinwohl, so wie sie es verstehen.
Die allgemeine Situation der ökotopianischen Medien ist dadurch gekennzeichnet, daß in den politischen Wirren nach der Unabhängigkeit Gesetze zur Medienentflechtung verabschiedet wurden, die das Ende der großen Konzerne auf diesem Markt bedeuteten.
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Die ›guten Freunde‹ in der Legislative, die früher ihre schützende Hand über Zeitungsverlage und Rundfunk- und Fernsehanstalten gehalten hatten, besaßen keine Macht mehr. Das grundlegende ökotopianische Pressegesetz stellte einen Mehrfachbesitz an Medien unter Verbot; die Konzerne, die Illustrierten- wie Zeitungsverlage besaßen und Fernseh- und Rundfunkstationen unterhielten, durften in jeder Stadt jeweils nur noch in einem Kommunikationsbereich tätig sein. Man entschied sich allgemein für die Beibehaltung der großen Fernsehsender – ein Fehler, wie sich später herausstellte.
Aber es folgte noch eine ganze Reihe weiterer Beschlagnahmungen und gesetzlicher Einschränkungen, die Art und Umfang der Werbung streng regelten, größere Programmteile für ein ›Fernsehen im Dienste der Öffentlichkeit‹ vorschrieben usw. Diese Gesetze verschafften kleinen, unabhängigen Unternehmensgruppen, die nun in beängstigender Zahl auf den Plan traten, unfaire Vorteile. Anstelle der einen Tageszeitung, derer sich San Francisco früher erfreuen durfte, gibt es nun sechs, die das gesamte Meinungsspektrum repräsentieren, dazu zahlreiche Wochen- und Monatszeitungen sowie spezielle Fachblätter. Diese Zeitungen decken ein größeres Gebiet ab als früher die Zeitungen von San Francisco, denn die Medien der Hauptstadt versorgen nun bis zu einem gewissen Maß das ganze Land. Aber auch in anderen Städten blühen und gedeihen Zeitungen: Seattle hat vier. Portland drei und selbst Sacramento drei. Ein ebenso starkes Wachstum fand auf dem Zeitschriftensektor statt. Die Aufsplitterung trifft die einzelnen Reporter und Autoren weniger hart, als man erwarten könnte. Sie suchen nicht nach der Sicherheit unserer großen Medienkonzerne, sondern scheinen den Nervenkitzel zu genießen, Bestleistungen für kleine Zeitungsunternehmen zu erbringen, deren Tage zwar gezählt sein mögen, die ihnen aber alle journalistischen Freiheiten lassen.
Das Fernsehen wurde in ähnlicher Weise dezentralisiert und aufgefächert. Schon in den Anfängen wurde jeder bestehenden Fernsehstation zur Auflage gemacht, einen Großteil der Sendezeit für ein Regionalprogramm zu reservieren – allerdings war eine zentrale Ausstrahlung von Nachrichten gestattet.
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Die Regierung selbst richtete sich mehrere Kanäle für politische Programme ein – regionale und nationale Regierungsangelegenheiten werden (wie ich schon in einem früheren Beitrag berichtet habe) mehr oder weniger kontinuierlich vom Fernsehen ausgestrahlt: Hearings, Ausschußsitzungen, Debatten.
Unter solchen Bedingungen mußte die Fernsehunterhaltung natürlich ins Hintertreffen geraten. Sie setzte sich hauptsächlich aus alten Filmen und einer Fülle von amateurhaften Shows zusammen: Rock-Konzerte, Komikerauftritte, endlose Sachdiskussionen über ökologische Probleme. Man kann sich kaum vorstellen, daß eine nennenswerte Anzahl Amerikaner sich solche Programme ansehen würde, die kaum mit Show-Effekten arbeiten und durch das Fehlen unserer surrealistischen Werbespots noch langweiliger werden.
Wie gut ist die Berichterstattung in ökotopianischen Zeitungen? Stichprobenhafte Vergleiche mit unserer Presse aus den letzten Monaten vor meiner Reise zeigen, daß die ökotopianische Berichterstattung auf den weltpolitischen Gebieten, mit denen man sich beschäftigt, überraschend kompetent ist. Da keine diplomatischen Beziehungen bestehen, dürfen sich natürlich keine ökotopianischen Korrespondenten in den USA aufhalten; daher fallen die Meldungen über Ereignisse in den USA knapp aus und sind von europäischen Presseagenturen übernommen. Die weltpolitischen Nachrichten scheinen dafür ausgezeichnet zu sein; zum Beispiel haben die ökotopianischen Zeitungen schon mehr als eine Woche vor unseren Blättern über die jüngsten amerikanischen Luftangriffe in Brasilien berichtet ... Auch wenn die ökotopianische Medienlandschaft insgesamt eine fast anarchische Dezentralisation zeigt – ein Dschungel, in dem nur die Stärksten überleben –, finden wir auch hier wieder Paradoxa. Denn die Zeitungen, die noch kleiner sind als unsere Boulevardblätter, können an elektronischen Kopie-Automaten an den Kiosken, in Büchereien und an anderen Stellen gekauft werden. Die Ausgabestellen stehen mit zentralen Computerspeichern in Verbindung, die von den Verlagen ›gemietet‹ werden. Es stehen, nebenbei bemerkt, zwei Sorten Kopieschwärze zur Auswahl: eine unbegrenzt haltbare und eine, die in wenigen Wochen völlig verblaßt, so daß das Papier ohne weitere Aufbereitung wieder verwendet werden kann.
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Dieses System erstreckt sich auch auf Buchveröffentlichungen. Während viele populäre Bücher normal gedruckt und an Kiosken und in Buchhandlungen verkauft werden, sind speziellere Titel nur über besondere Abrufleitungen erhältlich. Man sucht die Nummer des Buches im Katalog, drückt sie auf einer Tastatur (ähnlich der einer Musikbox) und liest den Klappentext, Stichproben einzelner Kapitel sowie schließlich den Preis auf einem Videoschirm. Wenn man ein Exemplar des Buches kaufen will, wirft man die erforderlichen Münzen ein. Innerhalb weniger Minuten erscheint eine Kopie des Bandes in einem Ausgabeschlitz. Solche Bücherbanken werden meines Wissens von der Stadtbevölkerung nicht sehr häufig benutzt, weil sie die besser lesbaren gedruckten Bücher vorziehen; dafür findet man sie aber auch in entlegensten Winkeln Ökotopias, so daß sich auch die Bürger auf dem Lande sowohl mit der derzeit populären als auch mit Spezialliteratur eindecken können. Alle der über 60000 Bücher, die in Ökotopia seit der Unabhängigkeit publiziert wurden, sind erhältlich, außerdem etwa 50000 ältere Bände. Es ist geplant, die Gesamtzahl auf etwa 150000 zu erhöhen. Auch Sonderwünsche werden – mit Preisaufschlag – erfüllt: jeder einzelne Band der riesigen Nationalbibliothek in Berkeley kann elektronisch abgerufen und übermittelt werden.
Ein derartiges Publikationssystem wird durch ein Verfahren ermöglicht, das auch erklärt, warum die Veröffentlichung von Büchern in Ökotopia so viel rascher vonstatten geht als bei uns. Die Autoren schreiben ihre redigierten Endmanuskripte noch einmal auf einer elektrischen Schreibmaschine ab, die gleichzeitig ein Magnetband des Textes herstellt. Das Band kann innerhalb weniger Minuten in Druckplatten umgesetzt und gleichzeitig auch in den Zentralcomputer eingespeichert werden, womit das Buch an den Kopie-Ausgabestellen sofort verfügbar wird.
Neben dem ›professionellen‹ Verlagswesen unterhält Ökotopia auch noch eine ›Amateur‹-Buchproduktion von beachtenswertem Umfang. Schriftstellern, Künstlern, politischen Gruppen und Organisationen mit speziellen Interessen stehen einfache und billige Druckmöglichkeiten zur Verfügung, weil in Ökotopia schon frühzeitig tragbare, ›narrensichere‹ und leicht reparierbare Offsetdruckmaschinen entwickelt und überall aufgestellt wurden – in Schulen, Ämtern, Fabriken usw. Schon achtjährige ökotopianische Kinder können sie mit zufriedenstellenden Ergebnissen bedienen.
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Die Vielfalt der auf diese Weise hergestellten Druckerzeugnisse ist beeindruckend: Kochbücher (viele Ökotopianer sind Liebhaber guter Küche, zweifelsohne eine ihrer kulturellen Verbindungen zu den Franzosen), politische Traktate, wissenschaftliche Zeitschriften, Comics (die eine weitgespannte, eigenartige Entwicklung genommen haben, da einige hervorragende Künstler bevorzugt in diesem Medium arbeiten), experimentelle Literatur, Dichtung, Do-it-yourself-Handbücher für alle Praxisbereiche usw.
Stilistisch sind alle Richtungen vom hausgemachten Kitsch bis hin zu sehr persönlichen, kreativen Kunstwerken vertreten. Die Vorliebe der Ökotopianer für ein zunft- und gewerbsmäßiges, fast mittelalterliches Herangehen an die Dinge wird trotz der modernen Technik auch in ihren Publikationen deutlich. Jede Zeitung, jede Zeitschrift, jedes Buch weist einen Kolophon auf – einen Vermerk, wer das Manuskript redigiert, das Magnetband getippt, die Druck- und Bindearbeiten erledigt hat usw. Auf meine Bemerkung, daß dies in der modernen Welt eher unbescheiden wirke, entgegnete man mir, daß es hier nicht um Eitelkeit gehe – die Hauptüberlegung dabei sei, die jeweilige Verantwortlichkeit festzuhalten, die die Ökotopianer zu dezentralisieren und, wo immer das möglich ist, bestimmten Personen zuzuordnen versuchen.
(3. Juni) Saßen gestern abend im Cove um den Kamin, tauschten alte Zeitungsgeschichten aus und tranken Glühwein. Ab und zu kam jemand aus dem empfindlich kühlen Abend hereingestapft und gesellte sich zu uns, um sich aufzuwärmen. Sie versetzen mir ab und zu immer noch gern einen kleinen Stich. Nach einiger Zeit fing Bert an: "Sag mal, Will, was war denn deiner Meinung nach die größte Story, die die Times je unterdrückt hat?" "Was meinst du mit der größten?" wehrte ich ab.
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"Na, was du eben für die größte hältst. Die Sache mit der Schweinebucht war schon übel genug, finde ich, aber das ist lange her, und außerdem haben sie sich schließlich doch dazu durchgerungen, sie zu bringen, auch wenn es drei Tage gedauert hat."
"Ich wäre entschieden dagegen gewesen, sie zurückzuhalten", sagte ich und runzelte die Stirn. "Nach meinen Informationen haben sie die Story erst gebracht, als ihnen klar wurde, daß andere Zeitungen sie veröffentlichen würden. Selbst dann noch hatte der alte Herr das Gefühl, den Präsidenten zu verraten." Diese Bemerkung wurde mit schallendem Hohngelächter bedacht, was mich natürlich keineswegs überraschte – die US-amerikanische Regierungspolitik und ihre Galionsfiguren genießen nicht eben viel Sympathie bei den Ökotopianern. "Soweit ich gehört habe, hat die Zeitung von da ab alles gedruckt. Habt ihr von den Pentagon-Papieren gehört?" "Ja, da war die Times nicht schlecht", stimmte Tom zu, "obwohl die Sache an sich zu dem Zeitpunkt schon gelaufen war."
"Hör mal, Will", sagte Bert und lehnte sich mit dem wachsamen Gesichtsausdruck zurück, den er immer hat, wenn er über etwas Ernstes sprechen will. "Was wirst du über den Hubschrauberkrieg schreiben? Wir sind der Meinung, daß das die wichtigste Story war, die seit der Unabhängigkeit unterdrückt wurde. Ich weiß, daß du zu der Zeit erst 19 oder 20 warst – genau wie ich. Aber in den meisten eurer großen Blätter war keine einzige Zeile darüber zu lesen. In euren Untergrundzeitungen stand zwar einiges, aber die kriegen ja nie etwas richtig in den Griff – es hörte sich alles an wie Paranoia aus dritter Hand."
Totenstille, alle Augen waren auf mich gerichtet. Ich atmete ein paarmal langsam und tief durch. Obwohl ich zu der Zeit nur Reporter bei einer Studentenzeitung war, weiß ich noch, daß damals, 1982, Gerüchte über Zwischenfälle an der ökotopianischen Grenze in Umlauf waren. Einige Heißsporne unter meinen Freunden, einige Jahre älter als ich, wollten rausfahren und der Sache auf den Grund gehen. Aber die Presseagentur hatte einen guten Mann in Reno und natürlich ein ganzes Büro in Los Angeles. Die Redakteure glaubten, daß sie auf jeden Fall davon erfahren würden, falls sich etwas Wichtiges ereignen sollte. Bald darauf hatte die Armee mit ungewöhnlicher Eile die Anschaffung einer großen Anzahl von Ersatzhubschraubern durchgedrückt, was aber als Teil des lateinamerikanischen Aufbauprogramms dekla-
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riert wurde, das damals gerade anlief. Außerdem hatte sich um das Jahr 1982 der Schock über die Sezession größtenteils gelegt, und die Leser hatten genug von Ökotopia. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit war vor allem auf die chronische Wirtschaftskrise gerichtet. Die Meinungsumfragen ergaben, daß zwar niemand glücklich, aber auch niemand besonders unglücklich über Ökotopia war. Die Wahrscheinlichkeit, daß unsere Regierung das Risiko einer geheimen Invasion eingehen könnte, schien gering; mir jedenfalls hatte es gewiß keine schlaflosen Nächte bereitet.
"Willst du mich auf den Arm nehmen?" fragte ich. "Was für ein Hubschrauberkrieg?" "Jetzt fang nicht damit an", sagte Bert ärgerlich. "Du willst uns doch hier nicht mit dem alten no se nada kommen?" "Wir haben wohl ein paar Gerüchte gehört", gab ich zu. "Man muß bei uns Wind davon bekommen haben, daß etwas im Gange war. Was war los? Gab es Zwischenfälle an der Grenze?" "Mensch, einen gottverdammten Krieg hat es gegeben! Mit Tausenden von Toten auf beiden Seiten!"
Red, der um 50 sein muß, schaltete sich in das Gespräch ein. Er ist nicht so redselig wie die meisten Ökotopianer, deshalb kommt seinen Worten meist besonderes Gewicht zu. "Ich war dabei", sagte er einfach. "Morgen früh könnte ich dich mit rausnehmen und dir etwas zeigen, das dich vielleicht überzeugen wird." Er wollte mir aber nicht sagen, worum es sich handelte.
Wir unterhielten uns noch den ganzen Abend. Ihre Erzählungen stimmen zu genau überein, als daß sie reine Erfindung sein könnten. Zusammenfassend ergab sich ungefähr folgendes Bild: Im Frühjahr 1982 hat es eine kriegerische Auseinandersetzung gegeben. Sie dauerte nur wenige Tage, spielte nach Meinung der Cove-Leute aber eine entscheidende Rolle bei der Behauptung der neuen Nation. Die Ökotopianer wußten natürlich, daß in Washington jede Menge Falken saßen, die eine sofortige und, wenn nötig, massenmörderische ›Lösung‹ des Sezessionsproblems befürworteten. Sie wußten auch, daß sich die Falken mit ihrer Ansicht bisher nie hatten durchsetzen können – zum Teil wegen der wirtschaftlichen Probleme, die eine Reannektierung Ökotopias zu diesem Zeitpunkt mit sich gebracht hätte, zum Teil aber auch deshalb, weil man in den USA seit der Sezession befürchtete, daß New York, Chicago, Washington und möglicherweise noch andere Städte atomar vermint sein könnten.
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Red erzählte, daß den Ökotopianern nach der Unabhängigkeit klar wurde, daß Hubschrauber-Abwehrwaffen ein Gebot der Stunde waren, und verschiedene, teilweise neuartige Modelle gingen in Großproduktion. Bei einer dieser Waffen, die die Ökotopianer bei der Sezession von den Amerikanern übernommen hatten und die dann in den ehemaligen Raketenfabriken in der Nähe von Sacramento und San Francisco hergestellt wurden, handelte es sich um eine radargesteuerte Rakete, die von einem Mann (oder einer Frau) allein getragen werden konnte.
Wenn das bazookaartige Geschoß gezündet war, hielt der Schütze die Waffe allerdings noch weiter auf das sich bewegende Ziel gerichtet, und der Radarstrahl steuerte die Rakete aus, bis sie dieses Ziel traf. Ein weiterer Typ basierte auf einer französisch-russischen Erfindung, bei der mittels Infrarotpeilung ein Geschoß auf den Düsenstrahl eines fliegenden Ziels gelenkt wurde; dieser Typ erwies sich als besonders nützlich für Nachteinsätze. Sehr viel billiger war ein anderes Modell – eine ganz einfache Rakete, die lange Drähte hinter sich her in die Rotoren des Hubschraubers zog und ihn dadurch außer Kontrolle und zum Absturz brachte. Derartige Waffen wurden offenbar über das gesamte Land verteilt. "Du meinst, an sämtliche Armeeinheiten?" fragte ich.
"An sämtliche Armeeinheiten und an sämtliche Haushalts- und Wohngruppen ebenfalls", lächelte Red. "Es gab sie überall, Hunderte und Tausende von ihnen, ob du es glaubst oder nicht." Nach seinen Worten hatten die US-Armee und die Luftwaffe einen geheimen Großangriff gestartet: von Basen in Südkalifornien, Colorado und Montana sowie von mehreren Flugzeugträgern vor der Küste aus donnerten, begleitet von Kampfbombern, riesige Helikopter-Geschwader über die ökotopianischen Grenzen. Eine allzu große Überraschung mag das nicht gewesen sein: die Ökotopianer rühmen sich, einen ausgezeichnet arbeitenden Geheimdienst zu besitzen. Von den Jägern, die in altbewährter Vietnam-Technik Landeplätze ›säubern‹ sollten, waren natürlich große Zerstörungen angerichtet worden. Eine alarmierend hohe Zahl von Jägern wurde jedoch abgeschossen. Schlimmer noch, als die Hubschrauber einflogen, stießen sie zwischen den Grenz- und Küstenlinien und den vorgesehenen Landeplätzen überall auf massives Bodenfeuer.
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"Wir haben sie einfach alle abgeschossen", sagte Red gelassen.
"Wie, alle abgeschossen? Unmöglich!"
"Deiner Meinung nach vielleicht", erwiderte er. "Aber wir hatten sehr viel mehr Raketen als sie Hubschrauber. Wir haben sie einfach genauso schnell erledigt, wie sie eingeflogen sind. Sie hätten vielleicht einige auf den Boden bringen können, wenn sie sie alle irgendwo draußen im Tal auf offenem Gelände konzentriert hätten. Aber sie waren zu siegesgewiß und hatten den sorgfältig ausgearbeiteten Plan, im ganzen Land Männer abzusetzen. Nun ja, wir haben innerhalb von drei Tagen so etwa siebentausend heruntergeholt. Eine Menge davon in der Nähe der Grenzen, aber auch sonst überall. Als sie ihre Verluste zusammenzählten und immer noch keine Leute auf dem Boden hatten, gaben sie auf." "Das kann ich nicht glauben", sagte ich. "Sie hätten doch bald merken müssen, was los war, und ihre Strategie geändert." "Vielleicht waren ihre Computer nicht dafür programmiert", sagte Bert trocken. "Außerdem haben wir ihre Nachrichtenverbindungen ein bißchen durcheinandergebracht. Ich habe gehört, daß sie die Hälfte der Zeit, in der sie miteinander zu sprechen glaubten, in Wirklichkeit mit unseren Jungs sprachen. Die haben ihnen, hm, eine Menge falscher Informationen gegeben und sie einige Male böse in die Falle gelockt. Was sie aber dann endgültig gestoppt hat, war wohl schließlich unsere Drohung, die Minen in den amerikanischen Städten hochgehen zu lassen, wenn der Angriff auch nur einen einzigen Tag länger fortgesetzt würde. So nahe dran war es."
Diese Vision eines Bruderkriegs jagte mir einen Schauer über den Rücken, denn ich weiß, was Bürgerkrieg heißt. "Was habt ihr mit den Kriegsgefangenen gemacht?" fragte ich. "Es hat nicht allzu viele gegeben", sagte Red. "Den Absturz mit einem explodierenden Hubschrauber überlebt man gewöhnlich nicht. Die Piloten haben wir für einige Monate festgesetzt, bis wir einigermaßen sicher waren, daß alles vorüber war. (Euer Land fing zu der Zeit auch an, in Brasilien mitzumischen.) Mit den anderen Jungs haben wir uns eine Weile unterhalten und sie dann per Schiff nach Los Angeles verfrachtet. Einige von ihnen sind, soviel ich weiß, später wiedergekommen, um hier zu leben."
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Wir unterhielten uns noch bis tief in die Nacht. "Nun, Will, was wirst du also tun?" fragte Bert schließlich. Was, zum Teufel, wollte er von mir hören? "Zunächst mal noch weitere Erkundigungen einziehen", erwiderte ich. "Und dann werde ich einen Weg finden müssen, die Sache so zu bringen, daß sie nicht zu neuem Zündstoff wird. Ich will genausowenig einen neuen Krieg wie ihr."
"Zum Glück hast du ja breite Schultern und kannst leicht die ganze Welt darauf tragen!" lachte Bert. Und alle schienen über meine Antwort enttäuscht zu sein. Aber ich bin kein verantwortungsloser Narr, der alles schreibt, was ihm gerade in den Kopf kommt.
Überraschungen im ökotopianischen Erziehungswesen
San Francisco, 4. Juni. Das Schulwesen ist vielleicht der altmodischste Bereich innerhalb der ökotopianischen Gesellschaft. Eine Parallele zu unserem computergesteuerten individuellen Heimunterricht gibt es hier nicht. Die Schüler müssen immer noch persönlich in der Schule erscheinen. (Überhaupt werden nur wenige elektronische Lehrmittel eingesetzt – man ist der Meinung, daß allein schon das Zusammensein mit Lehrern und Mitschülern eine erzieherische Wirkung ausübt.) Vorausgesetzt, daß es sich bei der Crick School, die ich besucht habe, um ein repräsentatives Beispiel handelt, so haben die ökotopianischen Schulen eine frappierende Ähnlichkeit mit Farmen. Ein ökotopianischer Lehrer meinte zu dieser Beobachtung: "Das liegt daran, daß wir ins Zeitalter der Biologie eingetreten sind. Ihr Schulwesen wird immer noch von der Physik bestimmt. Das ist auch die Ursache für die ganze Gefängnisatmosphäre. Sie können es sich nicht leisten, die Dinge wachsen zu lassen."
Die Crick School liegt am Rand der Kleinstadt Reliez; ihre 125 Schüler müssen Tag für Tag den Weg aus der Stadt aufs Land machen. (Etwa ein Dutzend solcher Schulen befindet sich im Umkreis der Stadt.) Die Schule besitzt acht Morgen Land mit einem Waldstück und einem Fluß. Ihren Namen trägt sie zu Ehren von Francis Crick, dem Mitentdecker der DNS-Struktur. Es gibt kein einziges festes Gebäude von Bedeutung; der Unterricht findet im Freien oder in kleinen, behelfsmäßigen Holzbaracken statt, die über das Schulgelän-
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de verstreut sind und kaum genug Platz für einen Lehrer und zehn Schüler bieten. Ich konnte das Schulsekretariat nicht finden, und als ich mich danach erkundigte, sagte man mir, es gebe keines – eine Schublade voller Karteikarten war alles, was an Akten vorhanden war! Man erklärte mir, daß bei nur einem halben Dutzend Lehrern Koordination und schulische Entscheidungen selbstverständlicher Bestandteil des Schulalltags seien. Da die Unterrichtszeiten stark schwanken (kein Klingelzeichen zeigt das Ende einer Schulstunde an), können sich die Lehrer jederzeit zusammensetzen, wenn sie das Bedürfnis danach haben; außerdem essen sie einmal in der Woche gemeinsam zu Abend, um ausführlicher miteinander diskutieren zu können.
So unglaublich es klingt: die Kinder haben nur etwa eine Stunde pro Tag echten Unterricht in der Klasse. Als ich mich erkundigte, wie man sie davon abhält, in der Zeit, wo kein Lehrer sie beaufsichtigt, die Schule zu demolieren, erklärte man mir, daß die Schüler sich normalerweise eifrig mit ihren ›Projekten‹ beschäftigen.
Überall waren Kinder bei der Arbeit zu beobachten – möglich also, daß diese für uns sehr optimistisch klingende Erklärung den Tatsachen entspricht. Ein Hauptzentrum der Aktivitäten ist das Waldstück, wo sich besonders die Jungen zu Gruppen von sechs oder acht ›Stammesbrüdern‹ zusammenschließen. Sie bauen Baumhäuser und unterirdische Verstecke, schnitzen Pfeil und Bogen, versuchen die in dem Gelände heimischen Ziesel zu fangen und benehmen sich ganz allgemein wie glückliche Wilde – wobei mir allerdings auffällt, daß ihre Unterhaltungen mit biologischer Terminologie durchsetzt sind und daß sie anscheinend über eine erstaunliche wissenschaftliche Bildung verfügen. (Ein Sechsjähriger beim Anblick eines gruselig aussehenden Insekts: "Oh ja, das ist das Larvenstadium.") An manchen Projekten, in deren Mittelpunkt z.B. ein großer Garten und ein Schuppen mit einem Webstuhl stehen, scheinen hauptsächlich Mädchen beteiligt zu sein, doch gehören einige der Mädchen auch zu Jungengruppen. Die meiste Zeit arbeiten und lernen die Kinder jedoch in gemischten Gruppen.
Wenn ich von ›arbeiten‹ spreche, so meine ich damit, daß die ökotopianischen Schulkinder mindestens zwei Stunden am Tag körperlich arbeiten. Die Schulgärten spielen hier eine große Rolle, da sie Obst und Gemüse für die Mittagsmahlzeiten liefern.
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Offensichtlich besitzen die meisten Schulen auch kleine Werkstätten. In der Werkstatt der Crick School waren etwa zwanzig Jungen und Mädchen eifrig mit der Herstellung von zwei verschiedenen Holzartikeln beschäftigt – und zwar handelte es sich um Vogelhäuser und um Setzbretter für Sämlinge. (Die Setzbretter sind glücklicherweise in ihren Ausmaßen und ihrer Verarbeitung völlig einheitlich. Die Vogelhäuser dagegen weisen phantasievolle Formen auf und werden in den verschiedensten Größen gebaut . Dieses doppelte Prinzip ist sicher kein Zufall.)
Das System soll die Kinder lehren, daß Arbeit zum Alltagsleben eines jeden Menschen gehört, und ihnen die ökotopianischen Vorstellungen von der Selbstverwaltung der Arbeit vermitteln: es gibt keine Vorgesetzten in der Werkstatt, und die Kinder scheinen den Arbeitsablauf untereinander zu diskutieren und gemeinsam festzulegen. In der Werkstatt sind, in den unterschiedlichsten Entwicklungsstufen, zahlreiche Projekte untergebracht. Den Kindern werden, wie ich feststellte, bei der Bewältigung dieser Projekte geometrisches Vorstellungsvermögen, physikalisches Denken, komplexe Berechnungen und beim Zimmern erhebliche handwerkliche Geschicklichkeit abverlangt. Sie eignen sich die erforderlichen Informationen mit einer Begeisterung an, die nicht zu vergleichen ist mit der Art, wie die Kinder bei uns den vor- und aufbereiteten Lehrstoff ›schlucken‹. Die Kinder dürfen auch, wie ich erfahren habe, über die Erträge der Werkstatt frei verfügen. Doch wird nur ein Teil des Geldes dabei (gleichmäßig) unter den Kindern aufgeteilt, während eine bestimmte Summe für Neuanschaffungen in der Schule verwendet wird: man zeigte mir eine besonders schöne Ausrüstung zum Bogenschießen, die kürzlich mit diesen Mitteln gekauft worden war.
Während meines Besuchs schien die Sonne, aber in den regnerischen Wintern muß das Gelände der Crick School entsetzlich verschlammt sein. Als Unterstand und als Treffpunkt für Versammlungen, Feste, Film- und Video-Vorführungen besitzt die Schule ein riesiges Zelt, das einem indianischen Tipi ähnelt. Die weißen Zeltplanen müssen schon älter sein, denn sie sind mit vielen dekorativen Flicken besetzt. Normalerweise wird der untere Teil der Planen bis in Kopfhöhe hochgerollt, wodurch sich das Tipi-Zelt in eine Art Pavillon verwandelt.
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Hier spielen die Kinder manchmal, wenn es draußen heftig regnet. (Man verbietet ihnen aber nie, in den Regen hinauszugehen, und lehrt sie statt dessen, sich sorgfältig abzutrocknen.) Über einer großen Grube im Mittelpunkt des Zelts brät man gelegentlich ein Reh (oder eines der schuleigenen Schweine) auf einem Rost; und in einer Küche an der Seite des Tipi bereiten sich Kindergruppen oft selbst Mahlzeiten zu, gelegentlich auch einen besonderen Festschmaus.
Führen diese äußerst ungeordneten Verhältnisse zu einem zügellosen Verhalten bei den Kindern? Soweit ich das beurteilen konnte, keineswegs; die Schule ist im Gegenteil eigenartig ruhig. Kleine Gruppen von Kindern führen hier und da geheimnisvolle, aber offenbar spannende Aufträge aus. Andere Gruppen spielen Ball; aber insgesamt hat die Schule kaum etwas von der Hektik und dem Lärm, die wir von unseren Schulhöfen her gewohnt sind. Ja, ich konnte zunächst gar nicht glauben, daß sich mehr als 30 oder 40 Schüler auf dem Gelände befanden, so sehr fehlte hier das übliche Kindergeplapper. Die Spielgruppen haben, nebenbei bemerkt, kein einheitliches Alter; in jeder von ihnen gibt es einige ältere Kinder, die leitende Funktionen einnehmen, dabei aber die Jüngeren nicht zu tyrannisieren scheinen. Das wird vielleicht von den Lehrern angeregt, zumindest aber nicht unterbunden, denn sie arbeiten zwar mit Gruppen einer gemeinsamen Entwicklungsstufe, haben aber nichts dagegen, wenn ein älteres oder jüngeres Kind daran teilnehmen oder auch nur eine Unterrichtsstunde miterleben möchte.
Einige Lehrer, besonders diejenigen, die hauptsächlich mit den kleineren Kindern arbeiten, geben offenbar alle Fächer. Andere spezialisieren sich dagegen in einem gewissen Maß – der eine unterrichtet Musik, ein anderer Mathematik, ein dritter ›Mechanik‹ – womit nicht nur der entsprechende Zweig der Physik gemeint ist, sondern auch Entwurf, Bau und Reparatur physikalischer Objekte. Auf diese Weise haben die Lehrer die Möglichkeit, ihre eigenen Interessen in die Unterrichtsarbeit einzubringen, wovon man sich wiederum eine erzieherische Wirkung auf die Kinder verspricht. Mit Sicherheit halten sie dadurch ihren eigenen Verstand in Bewegung. Alle Lehrer erteilen natürlich viel Biologieunterricht. Die Schwerpunkte und die Stoffmenge sind nicht starr festgelegt, sondern werden in Diskussionen von den Lehrern selbst bestimmt.
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Wie der Schulbetrieb insgesamt wird dies erst möglich durch die bemerkenswerteste Tatsache im ökotopianischen Schulwesen überhaupt: die Schulen sind Privatunternehmen. Anders ausgedrückt: so wie die meisten Fabriken und Geschäfte den Leuten gehören, die darin arbeiten, sind auch die Schulen Unternehmen, die dem Kollektiv der einzelnen Lehrer gehören, die die Schule betreiben. Juristisch gesehen ist die Crick School eine Firma; ihre Lehrer-Mitglieder besitzen das Grundstück, die Gebäude und als ›Betriebskapital‹ den jeweiligen Ruf ihrer Schule. Es steht ihnen frei, die Schule so zu führen, wie sie es für richtig halten, und jeder beliebigen Erziehungsphilosophie zu folgen – und den Eltern steht es frei, ihre Kinder auf die Crick School oder eine andere Schule ihrer Wahl zu schicken.
Abgesehen von einer Begrenzung des Schulgelds nach oben und einigen Vorschriften über Installation und Gebäudesicherheit wird nur durch die Prüfungen, an denen jedes Kind mit 12 und mit 18 Jahren teilnimmt, eine Kontrolle über die Schule ausgeübt.
Es besteht keine unmittelbare administrative Aufsicht, doch bewirkt offenbar schon der indirekte Druck von seiten der Eltern, die an einer guten Vorbereitung ihrer Kinder auf die Prüfungen – und auch auf das Leben – interessiert sind, daß sich die Schulen sehr um eine erfolgreiche Ausbildung der Schüler bemühen. Die Prüfungen werden jährlich von einem angesehenen Komitee durchgeführt, dem Pädagogen, Politiker und Eltern angehören – eine teils gewählte, teils ernannte Körperschaft, deren Mitglieder ihr Amt für sieben Jahre bekleiden und die somit, vergleichbar unseren Senatoren und Richtern, dem Druck der aktuellen Politik in gewissem Maße entzogen sind.
Es scheint in der Tat ein reger Wettbewerb zwischen den einzelnen Schulen zu herrschen, und Schulwechsel der Kinder sind an der Tagesordnung. Die Hochschul-Situation ist dagegen offenbar der unseren ein wenig ähnlich; an einer Hochschule in der Nähe von San Francisco, die eine große Zahl von Wissenschaftlern und politischen Führungskräften hervorgebracht hat, gibt es eine entsprechende lange Warteliste.
Es ist schwer zu sagen, wie die Kinder selbst auf den Gegensatz zwischen der Konkurrenzhaltung, die auf manchen Gebieten herrscht, und der Lässigkeit des ökotopianischen Lebens reagieren.
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Ich konnte häufig beobachten, wie ältere Kinder den jüngeren bei der Schularbeit halfen, und es ist für die Schüler offenbar kein Problem, die Tatsache anzuerkennen, daß einige Leute mehr wissen als andere und ihnen somit helfen können. Größeres Können scheint hier nicht derartige Mißgunst hervorzurufen wie bei uns, wo es einen regelrechten Wert darstellt, weil es sich in Geld und Macht auszahlt; die Ökotopianer fassen ihre Fähigkeiten eher als Gabe auf, die sie mit den anderen teilen. Ich habe an der Crick School keinen derartigen Vorfall wie in der amerikanischen Schule meiner Tochter erlebt: ein Kind bezeichnete dort ein anderes als ›doof‹, weil es einen Sachverhalt nicht so schnell begriffen hatte. Die Ökotopianer schätzen hohe Begabung, erfassen aber anscheinend intuitiv, daß die Menschen ihre Leistungen auf verschiedenen Gebieten erbringen und daß sie auf vielen verschiedenen Ebenen voneinander profitieren können.
Wie stehen die Ökotopianer zu dem Problem, daß finanziell schlechter gestellte Eltern angesichts des Schulgeldes ihre Kinder möglicherweise überhaupt nicht zur Schule schicken können oder wollen? In diesem springenden Punkt sind die Ökotopianer nicht in die Unbarmherzigkeit früherer Zeitalter zurückgefallen. Zwar gibt es keine Stipendienregelung für Familien unterhalb einer bestimmten Einkommensgrenze, dafür aber wird eine gestaffelte Beihilfe gewährt, die zu einem gewissen Teil für die Finanzierung der Schulbildung gedacht ist. Der ökotopianische Staat will also auch, wenn er nicht bereit ist, die Last der Erziehung vollständig von den Schultern der Eltern zu nehmen (wodurch er vielleicht zur Bildung von größeren Familien beitragen möchte!), weiterhin durchsetzen, daß die Bürger ihren Kindern wenigstens irgendeine Art von Erziehung zukommen lassen.
Die Gefahr von ›Provisionsschulen‹, wie sie seinerzeit in den USA aufkamen, als die ersten Versuche mit Unterrichtsgutscheinen gemacht wurden, scheint man in Ökotopia nicht sehr zu fürchten, da hier eine ständige Diskussion über das Wohlergehen der Kinder geführt wird und die Kinder in der Regel eine Schülerzeitung herausgeben, die sich vor allem durch ihre fast schon lächerlich kritische Einstellung zur eigenen Schule auszeichnet und jedwelche unsauberen Praktiken mit Sicherheit aufdecken würde.
Nach den Eindrücken meines kurzen Besuchs zu urteilen, bedeutet das Fehlen eines festen Lehrplans nicht, daß die
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Crick-Schüler sich die Grundzüge des Lesens, Schreibens und Rechnens nicht aneignen würden, doch lernen sie sie im allgemeinen in konkreten Zusammenhängen.
Zusätzlich erwerben sie zahlreiche Kenntnisse auf Nebengebieten und schulen ihre handwerklichen Fertigkeiten. Wie ich beobachten konnte, ist ein Zehnjähriger in Ökotopia in der Lage, einen Unterstand zu bauen (wenn auch einige der von den Jungen gezimmerten Hütten etwas merkwürdig aussahen), zu säen und zu ernten, sich eine Mahlzeit zuzubereiten und einfache Kleidungsstücke zu nähen; er kennt die Lebensbedingungen Hunderter von Pflanzen- und Tierarten im Umkreis der Schule und in den Gebieten, die auf Wanderungen mit dem Rucksack erkundet werden. Man könnte darüber hinaus behaupten, daß die ökotopianischen Kinder bessere Beziehungen zueinander haben als die Kinder unserer großen, überfüllten Schulen mit ihren Disziplinproblemen; sie lernen offensichtlich, ihr Leben einigermaßen planvoll und eigenverantwortlich einzurichten. Auch wenn die ökotopianischen Schulen auf den ersten Blick chaotisch und ungeordnet wirken, scheinen sie die Kinder also gut auf das ökotopianische Leben vorzubereiten.
(6. Juni) Heute morgen gingen Red und ich hinaus zu einem versteckt gelegenen Schrottplatz im Süden San Franciscos. So wie wir unsere Schrottautos übereinanderstapeln, waren hier Hunderte von Hubschraubern der US-Armee – die meisten davon schwer beschädigt – zu gewaltigen Bergen aufgetürmt. Sammeltrupps hatten sie ausgeschlachtet – Instrumente, Kabel, Motoren usw. fehlten zumeist. Aber unbestreitbar US-Maschinen, Jahrgang 1982. Mit dieser überwältigenden Neuigkeit rief ich Marissa an. "Hast du denn wirklich daran gezweifelt?" fragte sie. "Glaubst du immer noch, daß die Leute versuchen, dir etwas vorzumachen?" "Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll. Außer, was dich betrifft." "Und was ist das?" "Das sage ich dir, wenn wir uns das nächste Mal sehen."
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(7. Juni) Komme gerade aus dem Kriegsministerium, wo ich versucht habe, die offizielle ökotopianische Stellungnahme zum Hubschrauberkrieg zu erfahren. Das gesamte Ministerium nimmt nur drei Stockwerke im ehemaligen Bundeshaus in San Francisco ein. Keine Spur von einer Pressestelle. Man führte mich einfach in ein Büro und stellte mir dort einen jungen Mann vor, und zwar lediglich mit Namen, ohne Dienstbezeichnung – wie ich später herausfand, handelte es sich um eine Art General. Er bestätigte mir den allgemeinen Sachverhalt, den ich schon kannte, und gab die genaue Zahl der abgeschossenen Hubschrauber mit 7679 an, "obwohl wir bei der Zählung teilweise von ziemlich fragmentarischen Überresten ausgehen mußten".
Worüber er aber eigentlich mit mir sprechen wollte, war das Milizsystem, das nach der Unabhängigkeit in Ökotopia aufgebaut worden ist. Er betrachtete es als großartige gesellschaftliche Neuerung und schien sich nicht im klaren zu sein, daß es bei uns schon 1789 einen Versuch in diese Richtung gegeben hatte und die Sache gescheitert war. (Und wenn wir es heute versuchten, würden aus den Einheiten wahrscheinlich bewaffnete Plündererbanden!)
Lokale Waffendepots; die Männer ›trainieren‹ einmal im Jahr, beteiligen sich für einige Wochen an Arbeitsprojekten. Was er mir über die Organisation der Miliz erzählte, klang mehr nach Guerillaverbänden als nach einer richtigen Armee, offenbar verfügen sie aber über eine ausgezeichnete Funk-Kommunikation und ein sehr effizientes nationales Kommandosystem. Er bestritt, daß es an den Grenzen schwere Befestigungsanlagen gebe, obwohl sie hauptsächlich durch Bergland verlaufen und praktisch unüberwindlich gemacht werden könnten.
"Denken Sie an Dien Bien Phu", lachte er. Die Standorte der Rüstungsforschung, die offenbar äußerst dezentralisiert ist, wollte er nicht preisgeben. Die Bürger des Landes sind angeblich Quelle vieler brauchbarer militärischer Ideen: "Ein ganz gewöhnlicher Zivilist hat eine unserer billigsten Hubschrauber-Abwehrwaffen erfunden – eine einfache Rakete, die Drähte hinter sich her zieht. Er war ein schlechter Schütze, und seine Idee ermöglicht einen Hubschrauber selbst dann herunterzuholen, wenn man den Rumpf der Maschine verfehlt."
Er erklärte, daß sie ihr stehendes Heer gern weiter dezimieren würden (es hat derzeit etwa die Größe des kanadischen Heers und auch einen relativ gleich hohen Etat), den Vereinigten Staaten aber immer noch nicht ganz trauen könnten. Er schien mir ein sehr gescheiter und hart arbeitender Offizier zu sein. Und keine Spur von jener bürokratischen Mentalität, mit der unsere militärischen Dienststellen geschlagen sind, wo jeder gerne eine ruhige Kugel schiebt. Ich wette, sie haben Washington vermint.
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(Später) Habe mich endgültig entschlossen, keinen Artikel über den Hubschrauberkrieg zu bringen. Ich wüßte nicht, welchen Sinn er nach so langer Zeit noch haben könnte. Ja, es war falsch von der Times, die Story nicht weiter zu verfolgen und zu drucken, als sie aktuell war. Und ich bin überzeugt – so schwer es mir auch fällt, das zuzugeben –, daß es in der jüngeren Geschichte unseres Landes möglicherweise noch weitere dunkle Kapitel von ähnlicher Ungeheuerlichkeit gibt – Dinge, die falsch waren oder zumindest schwere Risiken darstellten und die man hätte aufdecken, attackieren und diskutieren müssen. Aber ich weiß, was geschehen würde, wollte ich jetzt all diese alten Wunden aufreißen. (Vorausgesetzt, daß Max die Story überhaupt abdrucken würde, was, gelinde gesagt, zweifelhaft ist.)
Ich würde zum Urheber neuer Feindseligkeiten zwischen unserem Land und Ökotopia. Die Rechten bei uns würden mich als Überläufer angreifen, der "unsere Staatsgeheimnisse preisgibt". Und ich muß gestehen, daß dieser Vorwurf mich ein wenig verletzen würde, so dumm er auch erscheinen mag. Alle Ansätze gegenseitiger Verständigung, die meine Artikelserie möglicherweise zur Folge hat, würden dadurch zunichte gemacht, und die daraus resultierende Spannung würde es mit Sicherheit nicht erlauben, ernsthafte Eröffnungsgespräche mit der Präsidentin zu führen – oder, was das betrifft, überhaupt im Lande zu bleiben! (Die Antworten ihres Sekretärs sind in den letzten Tagen etwas freundlicher geworden – er hat sich sogar positiv über meinen Wirtschaftsartikel geäußert. Aber immer noch keine feste Zusage für einen Termin bei ihr.)
"Du sollst die Wahrheit wissen, und die Wahrheit soll dich frei machen." Ich erinnere mich noch an den Schauer, den dieses Motto mir über den Rücken jagen konnte. Dann aber mußte ich lernen, daß Wahrheit nicht etwas Einzelnes, Einfaches ist, das man automatisch ›wissen‹ kann, sondern eine komplizierte und immer nur vorläufige Mischung von Tatsachen, Schlußfolgerungen und Gewichtungen – daß sie ihrem Wesen nach hypothetisch ist, selbst wenn sie unmittelbar auf der Hand zu liegen scheint: nicht anders als die Wissenschaft, glaube ich. Wir kristallisieren sie im Laufe der Jahre zwar deutlicher heraus, erfassen sie aber nie wirklich. (Und ist somit auch unsere Freiheit nur eine bedingte Freiheit?) Eines Tages werde ich die Geschichte des Hubschrauberkrieges schreiben. Aber es ist nicht Teil meiner jetzigen Aufgabe.
Muß jetzt hinunter und die Sticheleien von Bert und den anderen über mich ergehen lassen. Die Kerle haben es gut!
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