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2. Eine Gruppe in Aktion

 

 

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Die meisten, die das Casriel-Institut zum erstenmal besuchen, erwartet ein Schock. Das Schreien, das sie hören, kann sehr laut sein. Und es kann lange anhalten. (Als sich das Institut noch in einem anderen Gebäude ohne Schalldämpfung befand, erschien die Polizei ein- bis zweimal im Monat, weil ihr gemeldet worden war, es werde jemand zusammengeschlagen oder ermordet.) Wahrscheinlich gibt es zornige Auseinandersetzungen, schmerzliches Schluchzen, Beschimpfungen in der Gossensprache. Doch es kann auch zu Umarmungen, Berührungen und anderen Äußerungen von Zuneigung und Liebe kommen.

Der Prozeß ist kein gesellschaftliches Beisammensein. Es handelt sich auch nicht um eine Begegnung, bei der die Teilnehmer zwei oder drei Stunden lang über ihre Gefühle sprechen. Ehrliches Fühlen ist das Motiv (wie es bei der überwiegenden Mehrzahl gesellschaftlicher Zusammenkünfte niemals der Fall sein wird). Deshalb muß sich der neue Teilnehmer darauf vorbereiten, daß Menschen Dinge sagen, die grob, direkt, manchmal roh, oft ärgerlich und verletzend sind. Emotionalität ist der Name des Spiels, deshalb erlaubt man dem Neuling nicht, lange über seine Einstellungen und Theorien zu sprechen.

Während der ersten oder zweiten Sitzung gehen die Gruppenmitglieder gewöhnlich recht sanft mit einem Neuling um. (Es sei denn, ein Neuankömmling hat ungewöhnlich irritierende Schutzmechanismen aufgebaut, die einige Gruppenmitglieder an eine signifikante Person erinnern, auf die sie wütend sind — eine Mutter, eine frühere Ehefrau, einen älteren Bruder und so fort.) Gewöhnlich wird einem neuen Gruppenmitglied gestattet, ein bißchen zu schwatzen, seine Gefühle in Worte zu fassen, ohne Emotionen zu zeigen, und der Dynamik der Interaktion mit anderen auszuweichen. Ist er jedoch schon eine Weile in der Gruppe, dann wird von ihm aktive und verantwortliche Teilnahme erwartet.

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Lassen Sie sich durch eine typische Gruppe führen, damit Sie sich einmal ansehen können, was dort vor sich geht. Ehe Sie in eine Gruppe eintreten, haben Sie ein Gespräch mit mir oder einem meiner Mitarbeiter gehabt. Sie wissen also, wie der Prozeß beschaffen ist, an dem Sie sich beteiligen werden. Sie haben außerdem die Möglichkeit gehabt, eine Broschüre zu lesen, die etwas von dem Prozeß erklärt und die Regeln nennt, die Sie befolgen sollen. 

Keine Drogen — auch keine Tabletten —, keinen Alkohol, ehe Sie zu einer Gruppe kommen. Nicht rauchen während der Sitzung. (Es ist therapeutisch günstiger, wenn sich die Spannungen aufstauen, die von Zigaretten beseitigt werden.) Man erwartet von Ihnen, daß Sie ehrlich sind — sowohl was Ihre eigenen Emotionen als auch was Ihre Reaktionen auf andere Gruppenmitglieder betrifft. Sie sind verpflichtet, sich auf Gefühle zu beziehen, nicht auf Einstellungen und Fakten. Sie müssen physische Gewalt vermeiden, ganz gleich, wie wütend Sie werden.

Wenn Sie das Braunsteinhaus betreten, in dem sich das Casriel-Institut befindet, sehen Sie gewöhnlich Leute, die auf den Beginn einer Gruppensitzung warten. Wenn es sich um eine typische Abendgruppe handelt, hören Sie Gespräche von Menschen, die sich in der Eingangshalle zusammengefunden haben. Einige Leute sitzen vielleicht allein da, psychisch getrennt von den Plaudernden. Doch die meisten reden, lachen, erzählen Geschichten — wirken aufeinander ein. Meistens herrscht eine emotionale Wärme, die ansteckend wirkt. Sie können sie spüren. Menschen greifen nacheinander — mit den Augen, mit einem Lächeln, mit Umarmungen. Wenn Leute in den Warteraum treten, nehmen sie häufig Augenkontakt mit anderen auf, die sich bereits in einem Gespräch befinden. Das ist ein visuelles Signal, und die beiden gehen aufeinander zu und umarmen sich.

Unter den Wartenden sind die Frauen leicht in der Überzahl. (Es kommen mehr Frauen als Männer in meine Gruppen.) Die meisten sind in den Zwanzigern oder frühen Dreißigern. Doch gibt es auch Leute in allen anderen Altersklassen: unter zwanzig (darunter viele Geschwister von Mitgliedern des AREBA-Programms), Menschen in den Vierzigern, Fünfzigern, gelegentlich auch jemand in den Sechzigern. Der älteste Patient in meiner Praxis war siebenundsiebzig — der jüngste in unserer Kindergruppe fünf.

Die Kleidung ist sehr unterschiedlich. Frauen tragen Kleider oder Hosen. Manche sehen aus, als ob sie eben von der Arbeit kämen. Andere kommen sichtlich von zu Hause. Die Frauen sind im allgemeinen attraktiv und gepflegt. Geschäftsleute tragen Anzug und Schlips. Jüngere Männer und Jugendliche neigen zu legeren Hemden und weiten Hosen. Ein paar junge Leute, die von Greenwich Village herüberkommen, tragen Barte und Sandalen. Gelegentlich wartet draußen eine Limousine mit Chauffeur auf ein Gruppen­mitglied.

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Das Ende einer Gruppensitzung wird von den Geräuschen der Menschen signalisiert, die die Treppe herunter­kommen. Manche Teilnehmer der Gruppe, die soeben Schluß gemacht hat, haben Freunde unter den Wartenden. Es gibt also weitere Begrüßungen und Umarmungen, man scherzt und lacht. Dann gehen alle, die gewartet haben, die Treppe hinauf und betreten den Raum, in dem sich ihre Gruppe begegnen soll.

In dem Raum sind zehn bis fünfzehn Stühle im Kreis aufgestellt. Acht bis zwölf Menschen bilden für zwei Stunden eine Gruppe, dreizehn bis achtzehn eine für drei Stunden. Es stehen niedrige Tische und Aschenbecher da. (Manchmal ist ein Raum vor einer Sitzung leer, und die Wartenden dürfen dort rauchen.) Es gibt viele Kästen mit Zellstoff im Raum (denn die Teilnehmer weinen häufig) und mindestens einen Papierkorb. (Manchmal würgt ein Gruppenmitglied, wenn auch wirkliches Erbrechen sehr selten ist.) Gewöhnlich stehen leere Pappbecher auf den Tischen. Es ist nicht ungewöhnlich, daß drei oder vier Gruppenmitglieder während einer Sitzung Kaffee trinken.

Wenn alle im Raum Platz genommen haben, sagt der Gruppenleiter: »Bilden wir eine Gruppe« oder: »Fangen wir mit dem Rundgespräch an.« Der Gruppenleiter zeigt auf irgend jemanden, und der erzählt, wie er sich fühlt und was ihm seit der letzten Gruppensitzung passiert ist. Einer nach dem andern im Kreis kommt an die Reihe. Dann sagt vielleicht einer: »Ich fühle mich heute abend großartig.« Ein anderer berichtet vielleicht von einem Krach mit dem Ehepartner und schließt mit den Worten: »Ich möchte heute abend an meiner Wut arbeiten.« Ein dritter spricht vielleicht von Furcht und Schmerz, die durch eine berufliche Situation ausgelöst worden sind. Das Rundgespräch von etwa fünfzehn Minuten bietet jedem einzelnen Gelegenheit, sich kurz auf die besonderen Probleme und Emotionen zu konzentrieren, denen er in diesem Augenblick seines Lebens gegenübersteht.

Um einen Eindruck zu vermitteln, wie es in einer meiner Gruppen zugeht, habe ich Tonbandaufnahmen von Gruppensitzungen abgeschrieben, die vor mehreren Monaten stattgefunden haben. Diese Gruppenszenen sind wortreicher als andere, spiegeln jedoch wider, was in dem Prozeß vor sich geht. Und weil eine Reihe von Schreien ohne ausreichende Beschreibung dessen, worum es sich bei ihnen handelt, keine anschauliche Lektüre ergeben, habe ich hinzugefügt, was gleichzeitig im Raum geschah.

 

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Im folgenden — und im ganzen Buch — sind die Namen der Gruppenmitglieder geändert worden, um ihre Persönlichkeitsrechte zu schützen. Der Dialog beginnt mit der letzten Person, die im Rundgespräch über sich selbst berichtet. Die Person ist eine Teilnehmerin mit dem Namen Grete.

 

grete: Ich heiße Grete. Ich bin meines Mannes wegen hier. Er hat jede Woche, wenn er geschäftlich in Boston ist, eine Affäre mit einer zweiundzwanzigjährigen Studentin. Ich habe es herausgekriegt, als ich einen Brief las, den er in der Aktentasche hatte. Er war von ihr.
(Grete ist eine attraktive, intelligente fünfunddreißigjährige Frau mit Collegeabschluß, Mutter zweier Kinder, seit elf Jahren verheiratet, obere Mittelschicht.)

nancy: Das muß ein schreckliches Gefühl sein, Grete. Wie fühlst du dich jetzt?

(Nancy, neununddreißig, ist seit fast zwanzig Jahren verheiratet und hat ein Kind. Sie arbeitet halbtags in einem Werbebüro, hat Collegeausbildung, jedoch kein Abschlußexamen, und stammt aus der Mittelschicht. Sie ist nicht mehr so attraktiv wie Grete, doch ebenso intelligent. Nancy, deprimiert durch eine gefühlskalte Ehe, nimmt seit mehreren Monaten an Gruppensitzungen teil. Im Grunde ist sie eine Frau, die sich seit ihrer Kindheit entfremdet und nicht berechtigt fühlt, die Erfüllung ihrer Bedürfnisse zu verlangen. Jetzt gibt sie ihrer Tochter, was sie selbst entbehrt.)

grete: Ach, ich finde, daß ich ihm überhaupt nicht mehr trauen kann. In nichts, meine ich. Er ist ein Lügner ... Er hat einen Tag und zwei Nächte mit diesem Frauenzimmer verbracht und sagt mir, es war geschäftlich.
nancy: Du machst einen ehrlich verärgerten Eindruck, Grete.
grete (nach längerem Schweigen): Ja, ich fühle mich ziemlich mies, wenn du das meinst.
nancy: Du hast verdammte Angst, nicht wahr? Mir ging es übrigens am ersten Abend in der Gruppe genauso.

(Es kommt keine verbale Antwort. Grete hat nur genickt.)

barry: Heißt das etwa, daß das hier deine erste Gruppe ist? Die allererste?
grete: Ja, die erste.

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Barry: Ich bin Barry und nehme schon seit sechs Wochen an den Gruppen teil. Ich weiß, wie es das erstemal ist. Ich habe zu reden angefangen, da schrien mich gleich ein paar Jugendliche an, ich sei ein Angeber. Immer wieder schrien sie. Ich wußte überhaupt nicht, was los war.

(Barry ist Anfang dreißig und nach acht Ehejahren gerade geschieden worden. Er hat zwei Kinder, ist Angestellter und hat in den vergangenen zehn Jahren verschiedene Stellungen und berufliche Abenteuer gehabt. Obwohl er nie rechten Erfolg hatte, bringt er es fertig, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und die Alimente für die Kinder zu zahlen. Seine Frau wünschte die Scheidung. Sie behauptete, er sei ein Angeber, und hatte recht damit. Doch seine Übertreibungen lassen nach, und er fängt an, sich dank seiner intensiven Gruppenerlebnisse zu ändern.)

Casriel: Okay. Wer hat ein Gefühl? Wer möchte arbeiten?

Vilma: Ich. Mit mir stimmt was nicht. Ich habe überhaupt keine Lust auf Sex. Und wenn ich nicht bumsen will, ist mein Freund eingeschnappt und haut ab. Das ist diese Woche zweimal passiert.
(Vilma ist eine attraktive vierundzwanzigjährige Sekretärin, deren Gefühle nicht echt sind. Ihr dient das Sexuelle nur als Köder für Männer und nicht zur eigenen Lust. Hat sie einen Freund erst einmal an der Angel, dann schaltet sie ihre sexuellen »Wünsche« ab.)

Nancy: Vorigen Monat war das auch schon passiert, nicht wahr?

(Es kommt keine Antwort. Vilma hat genickt.)

Nancy: Was hatte dir die Gruppe gesagt, Vilma?
Vilma: Daß ich wütend bin, weil Mitchell mich nicht heiraten will. Und daß ich nicht bumsen mag, weil ich mich ärgere.
Casriel: Stimmt das? Was meinst du selber dazu?
Vilma: Ich habe ihm doch mehrmals gesagt, daß ich deswegen wütend bin. Es nutzt aber nichts. Er hört mich gar nicht an.
Casriel: Du scheinst aber gar nicht wütend zu sein. Bist du jetzt wirklich wütend?
Vilma: Ja, ich glaube.

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cathy (schreiend): Ich kann deinen laschen Ton einfach nicht ertragen, Vilma. So kommst du niemals zu einem richtigen Gefühl. Schrei doch, du Schwanzbetrügerin! Wenn du wütend bist, dann sei doch wütend!

(Cathy ist eine achtzehnjährige »Hexe« - klug, reizbar, und erträgt keinerlei Autorität. Sie kann sehr rasch auf jeden, der sie ärgert, wütend werden. Von ihren erfolgreichen Eltern, die beide völlig von ihren akademischen Berufen in Anspruch genommen werden, erhielt sie weder Liebe noch Fürsorge. Cathy lernte früh, sich selbst zu behaupten und sich zu nehmen, was sie haben wollte. Obwohl sie noch Heranwachsende ist, hat sie mehr Erlebnisse mit Männern gehabt als alle Frauen in der Gruppe. Es gelingt ihr rasch, die Probleme der anderen zu erkennen, und alle sind an ihrer Meinung interessiert. Cathy und Peter, ein anderes Mitglied der Gruppe, sind Jugendliche, die beide etwa zwei Monate lang in der AREBA stationär behandelt wurden. Beide kommen leicht mit ihrer Wut über vergangene Dinge in Kontakt. Sie haben mit Rauschgift experimentiert, waren aber nicht ernsthaft gefährdet.)

Vilma (steht auf und schreit): Ich bin wütend. Ich bin wütend. Ich bin WÜTEND, WÜTEND!

(Vilma schreit fünfunddreißig Sekunden lang weiter. Sie leistet ziemlich unbeteiligt eine Übung ab, die sie andere in der Gruppe hat vollführen sehen.)

Peter: Den Teufel bist du, aber nicht wütend! Du bist so wütend wie ein Miezekätzchen! (Springt auf.) Wenn du wütend bist, dann laß es uns hören\ Ungefähr so!
(Peter stößt einen intensiven Schrei aus, der zehn Sekunden dauert, dann einen zweiten Schrei von zehn Sekunden und schließlich einen letzten, der etwa zwölf Sekunden dauert.)

Cathy: Das reicht noch nicht, Peter. Mach weiter!
(Peter schreit weiter und sieht dabei ein Gruppenmitglied nach dem anderen an. Seine Schreie werden ständig höher und sind voller Schmerz. Er schreit über drei Minuten lang, dann hört er plötzlich auf.)

Casriel: Mach weiter, Peter! Schrei alles heraus!

(Peter schreit wieder, diesmal mit Tränen in den Augen. Cathy steht auf und nimmt ihn in die Arme, und er beginnt vor Schmerz zu schreien. Schließlich ist nur noch sein Schluchzen zu hören.)

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casriel: Das ist dein Schmerz, Peter. Er ist in Ordnung. Er bringt dir die Menschen nahe, wenn du ihn zeigst. Schau dich im Raum um und sieh selbst! Dein ganzes Leben lang hast du dich allein gefühlt, weil du dein wahres Gesicht nicht zeigen konntest. Nun bist du nicht mehr allein.

(Es entsteht eine Pause von dreißig Sekunden, während Peter jedem einzelnen in die Augen blickt. Er ist zwanzig Jahre alt und hat das College besucht. Ein zorniger junger Mann, der seinen Zorn nie zeigen und seine eigenen Bedürfnisse nie durchsetzen konnte. Statt dessen setzte er sich immer für andere ein, um der sozialen Gerechtigkeit willen. Obwohl er an der Collegezeitung mitarbeitete und ein guter Diskussionsredner war, hatte er kaum je den Mut, ein Mädchen, das ihm gefiel, um eine Verabredung zu bitten. Cathy und Peter beginnen, einander auf eine Weise anzuschauen, die über die Grenzen der Gruppenbegegnung hinausgeht.)

casriel: Was siehst du, Peter?
peter: Ich weiß nicht. Ich glaube, die Leute fühlen sich mir sehr nahe.
nancy: Versuch's noch einmal!
peter: Sie fühlen, was ich fühle, meine ich.
peter (nach einer Pause): Ich schätze, einige tun's wohl. Nancy tut's, aber nicht alle.
casriel: Wer fühlt sich dir denn nicht nahe?
peter: Vilma.
casriel: Vilma, was fühlst du für Peter? Aber ehrlich!
vilma (sieht Casriel an): Ich fühle mich ihm nahe. Ich habe seinen Zorn gefühlt. Und seinen Schmerz.
casriel: Sag das Peter, nicht mir! vilma: Ich fühle mich dir nahe, Peter.
peter (sieht ihr in die Augen): Okay. Ich hab' ein bißchen Mühe, es zu glauben, aber ich vertraue deinen Worten.

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casriel: Du kannst darauf vertrauen, Peter. Die Menschen möchten deine Gefühle mit dir teilen. Sie freuen sich, deine Offenheit zu erleben.

(Während die Gruppensitzung weitergeht, tritt Peter zu einigen Teilnehmern — die ihn umarmen.}

casriel: Du scheinst zornig gewesen zu sein, Cathy. Was ist mit dir?
cathy: Ich bin wirklich zornig, Dan. (Sie steht auf, u.m ihren Zorn zum Ausdruck zu bringen.)
casriel: Worüber bist du zornig?
cathy: Ich möchte nicht darüber sprechen. Ich möchte nur schreien. Ich bin wütend. Ich bin wütend! Ich bin wütend; Ich bin wüüü-tend!

(Cathy schreit länger als eine Minute. Jeder Schrei dauert sechs, sieben Sekunden. Keine Worte, nur Laute. Dann hält sie atemlos inne.)

casriel: Wora»(/bist du wütend, Cathy? Versuch, darüber zu sprechen. Ich glaube, es ist wichtig.
cathy: Ich weiß es nicht. Ich bin einfach wütend. Auf meine Eltern. Auf meinen Bruder. Auf den Direktor meiner Schule. Auf all die abgeschlafften Leute, die meine Freunde waren. Auf die ganze verdammte Welt!
casriel: Ich spüre deinen Zorn. Er ist sehr aufrichtig. Aber wer verletzt dich?
peter (unterbricht): Meine gottverdammten Eltern treiben mich an, nörgeln an mir herum, halten mir Gardinenpredigten. Wegen lauter Scheiße. Daß ich mein Zimmer aufräumen soll. Daß ich für bessere Zensuren in Englisch sorgen soll. Wißt ihr, was wir gerade lesen? Ausgerechnet Dickens, verdammt noch mal! Ein Kerl, der heute genau so wichtig ist wie eine Kutscherpeitsche! Aber sie verstehen einfach nicht, was vor sich geht. Worum es auf der Welt geht, meine ich.

nancy: Und worum geht es auf der Welt, Peter? 

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Peter: Keiner kümmert sich um was! Sie wollen nur alles aus einem herausholen. Sie manipulieren einen, führen einen hinters Licht, täuschen einen, wo sie nur können, und drehen alles so, daß man selber der Dumme dabei ist und sie ihren Spaß daran haben. Aber niemand ist aufrichtig. Niemand kümmert sich um einen.

Casriel: Diese Gruppe hier kümmert sich um dich, Peter. Und das weißt du auch, weil du die Gefühle der Menschen hier gespürt hast — du hast eine Menge Wärme von ihnen bekommen. Du weißt, daß wir dich mögen.

(Es kommt keine verbale Antwort. Peter grinst und gibt damit schweigend zu, daß seine Einstellung nicht mit der Wirklichkeit in diesem Gruppenraum übereinstimmt.)

nancy: Und wie ist's mit dir, Cathy? Bist du der gleichen Ansicht wie Peter? Bist du deshalb zornig?

cathy: Nein, nicht ganz. Meine Eltern kümmern sich zwar um mich, aber das macht es auch nicht besser. Mein Vater läßt mich ja in Ruhe, aber meine Mutter kontrolliert mich ständig, und immer muß ich machen, was sie will. Alles, was ich tun will, erlaubt sie mir nicht. Mit keinem Jungen, den ich mag, läßt sie mich ausgehen. Dauernd will sie wissen, mit wem ich ausgehe, wann ich nach Haus komme, was ich tue, warum ich's tue. Verdammt noch mal, das stinkt mir!

casriel: Neulich abends in der Gruppe hat deine Mutter das auch zugegeben. Aber sie sagte, sie tut es, weil sie dich gern hat und nicht weiß, wie sie es anders zeigen kann. Sie hat sogar zugegeben, daß sie fast ein bißchen neidisch auf den Spaß ist, den du hast und den sie selbst als Mädchen nicht hatte. Erinnerst du dich nicht?

cathy: Doch, ich erinnere mich. Aber sie meckert arg an mir rum.
casriel: Wie war dir denn zumute, als sie zugab, daß sie neidisch auf dich ist?
cathy: Ich war ziemlich überrascht, glaub' ich.
casriel: Und wie ist dir bei dem Gedanken zumute, daß sie dich liebt?
cathy (wieder wütend): Ich will nicht, daß sie mich liebt!
nancy: Aber sie liebt dich nun einmal. Weshalb stößt du sie dann so zurück?

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peter: Worauf willst du hinaus, Nancy?

nancy: Es ist das gleiche, was meine Tochter mir antut. Sie stößt mich jedesmal zurück, wenn ich mich ihr nähere. Mein Verhalten ihr gegenüber hat sie gegen mich eingenommen.

casriel: Laß den Schmerz raus!

nancy (weinend): Es tut höllisch weh. Ich brauche Patricias Liebe so dringend.

barry (ergreift ihre Hand): Es ist ja schon gut, Nancy. Wirklich. Es wird alles besser.

(Nancy, die von Barrys Anteilnahme getröstet wird und fühlt, wie wenig Interesse man ihr bislang entgegengebracht hat, weint stärker.)

casriel: Laß es raus, Nancy! 
nancy (schluchzend): Was soll ich schreien?

casriel: Du brauchst nur laut zu schreien. Laß es raus! Halt sie, Roger! (Nancys Schrei ist ein lautes schmerzliches Kreischen.)

casriel: Mehr! Lauter!

(Nancys Stimme klingt wie die eines verletzten Tieres. Sie schreit fünf-, sechs-, siebenmal und schweigt dann.)

nancy: Wo — wo ist das hergekommen? Ich dachte, ich hätte meinen ganzen Schmerz schon lange rausgeschrien. Ich fühle mich besser ... viel besser. Aber es tut immer noch weh.

casriel: Leg dich doch auf die Matte, Nancy - laß die alten Gefühle heraus!

(Matten werden für nichtverbale emotionale Übungen auf den Fußboden gelegt. Die Matten erlauben es den einzelnen Gruppenmitgliedern, sich herumzuwerfen, zu schlagen und zu treten, während sie schreien — ohne sich oder andere im Gruppenraum zu verletzen. Der Nachdruck liegt darauf, intensive präverbale Emotionen zum Ausdruck zu bringen — beispielsweise den Wutanfall, wie ihn ein Säugling in der Wiege hat.)

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nancy: Mir ist nicht danach zumute. Mein Kleid wird zerdrückt. Und es ist mir peinlich - ich habe keine langen Hosen an.

casriel: Zieh einfach den Rock aus. Die Bluse kannst du bügeln lassen. Du bist bereit, an deinem Gefühl zu arbeiten. Du wirst dich viel besser fühlen, wenn du dich durch es durchgearbeitet hast.

nancy: Ich weiß nicht, Dan. Es ist mir wirklich peinlich.

barry: Tu's doch, Nancy. Es wird dir helfen.

vilma: Tu's Nancy. Ich kann dir helfen. Ich halte dir den Rock.

roger: Arbeite, Nancy. Die Sache mit Patricia und deiner Mutter bedrückt dich nun schon seit Wochen.

(Roger ist ein erfolgreicher Geschäftsmann in den Vierzigern - ruhig, tüchtig. Als er mit der Behandlung begann, hatte er alles Interesse an seinen Kindern aus einer früheren Ehe verloren. Seither hat er sich emotional geöffnet und unterhält gute Beziehungen zu diesen Kindern.)

casriel: Die Entscheidung liegt bei dir, Nancy. Ich glaube, du solltest dir etwas Zeit lassen, um darüber nachzudenken. Diese Gefühle werden nicht eher vergehen, als bis du anfängst, an ihnen zu arbeiten. Du kannst nicht kontrollieren, was Patricia tut, das weißt du. Du mußt dich diesem Gefühl hier stellen, hier in diesem Raum - dem Gefühl, das deine Beziehung zu Patricia stört.

roger: Mein Erlebnis war anders. Als ich geschieden wurde, wandten sich meine Kinder von mir ab. Aber ich habe sie dauernd weiter angerufen, habe versucht, sie zu sehen, habe ihnen angeboten, mit ihnen zu Ballspielen zu gehen usw. Nun steht alles wieder recht gut zwischen mir und meinen Kindern.

nancy: Wie ist es dazu gekommen?

roger: Durch meine jetzige Frau. Sie ist großartig mit den Kindern. Die Therapie hat auch geholfen. Seit ich vor einem Jahr in die Gruppen kam, wurde alles wirklich besser.

casriel: Aber damals, als die Schwierigkeiten mit deinen Kindern anfingen, konntest du da etwas dagegen tun?

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roger: Nein. Meine Frau - das heißt, meine frühere Frau - malte den Kindern ein gemeines Bild von mir. Sie erzählte ihnen, ich hätte sie betrogen und sei mit anderen Frauen herumgezogen. Das stimmt. Aber aus den Kindern habe ich mir was gemacht. Und die Kinder hatten keine Möglichkeit, sich selbst ein Bild von mir zu machen ...

casriel: Wie lange hielt diese Situation an?

roger: Vier Jahre. Eine lange Zeit. Einmal hatte ich die Kinder drei Monate lang nicht gesehen.

nancy: Das muß eine schreckliche Zeit für dich gewesen sein, Roger.

roger: Vor allem war es für die Kinder nicht gut. Für mich selber war es nicht so schrecklich. Ich ging mit Freunden zu den Wettspielen. Ich hatte zwei, drei Freundinnen, die mit mir schliefen. Meine Arbeit hat mir Freude gemacht. Ich brauchte deshalb keinen Druck auf meine Kinder auszuüben, damit sie mich liebten - als hätte ich nur sie auf der Welt. Wie es bei dir der Fall ist.

vilma: Roger hat recht. Du übst wirklich Druck auf Patricia aus, Nancy.

nancy: Stimmt das, was sie sagen, Dan?

casriel: Ich verstehe dein Gefühl, Nancy. Du hast nie ein enges Verhältnis zu deiner Mutter gehabt. Patricia ist dein einziges Kind. Und du brauchst ihre Liebe. Du hast deine Mutter nie geliebt und kennst die Leere und den Schmerz, die du gefühlt hast. Wenn Patricia dich nicht liebt, glaubst du, sie ist allein auf einer verlassenen Insel, genau wie du es einmal warst. Du glaubst, sie hat das Gefühl, als gäbe es niemanden sonst auf der Welt. Aber so hast du gefühlt. Und nun versuchst du, deinen Schmerz aus der Vergangenheit so zu behandeln, als ob Patricia darunter litte. Aber du mußt dich selbst behandeln, nicht Patricia. Es ist gerade so, als müsse sie Tee trinken und sich ins Bett legen, wenn du erkältest bist.

nancy: So habe ich das noch nie betrachtet.

casriel: Kein Wunder, daß Patricia unter Druck steht. Ganz gleich, wieviel Tee und Sympathie sie von dir bekommt, deine Erkältung wird schlimmer.

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nancy: Das habe ich mir überhaupt nicht klargemacht. Was tue ich nun dagegen?

casriel: Geh auf die Matte ..... und arbeite!

nancy:  In Ordnung, ich will's versuchen.

(Die Matten werden ausgelegt. Wenn ein Teilnehmer auf der Matte arbeitet, versammeln sich einige Gruppenmitglieder um ihn und leisten ihm emotionale und manchmal auch physische Hilfe.)

nancy: Was soll ich tun?

casriel: Was meinst du denn selbst, was du tun solltest?

nancy: Ich komme mir ein bißchen albern vor.

cathy: Verdammte Nutte!

(Cathy steht auf und verläßt die Gruppenmitglieder, die um Nancy auf den Matten knien.)

casriel: Fang einfach zu schreien an, Nancy! Der Ton wird die Gefühle schon herausbringen. (Nancy schreit dreimal.)

casriel: Ich höre schon Zorn in deinem Schrei. peter: Ich auch.

barry: Das stimmt. Es klingt nach Zorn. casriel: Was fühlst du, Grete?

grete: Ich glaube, ich bin nicht zum Richter geeignet. Aber ich spüre den Zorn auch, Nancy.

casriel: Versuch doch mal, den Zorn wirklich loszulassen, Nancy! Du wirst es genießen, dich frei zu fühlen. 

(Nancy erhält nun Anweisungen, wie sie sich entspannen und einen Schrei ausstoßen, wie sie den Kopf und die Arme bewegen und mit den Füßen treten soll. Nancy macht einige falsche Versuche, und ihre Bewegungen werden korrigiert. Jetzt beginnt der Wutanfall. Nancy schreit wild und wirft sich auf der Matte hin und her.)

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Eine stimme: Schiebt ihr das andere Kissen näher!

nancy: Es hat keinen Sinn. Ich habe Angst, den ganzen Zorn herauszulassen. (Sie stellt die Bewegungen ein.)

cathy (aus der entfernten Ecke des Raumes): Du bist eine gehemmte und herrschsüchtige Nutte! Ich hab's doch gewußt, daß du nicht zu diesem Gefühl kommst!

nancy (setzt sich auf): Und du bist ein großsprecherisches Ding mit widerlichen Ausdrücken.

(Einige Gruppenmitglieder schauen Cathy ärgerlich an. Peter geht zu ihr und redet beruhigend auf sie ein.)

casriel (wendet sich wieder Nancy zu): Nancy, du warst eben auf dem besten Weg. Leg dich noch mal auf die Matte. 

(Nancy braucht einen Augenblick, um ihre Fassung wiederzugewinnen, und legt sich wieder hin. Dann beginnt unter der Last des neuen Zorns auf Cathy der Wutanfall abermals, lauter als vorher. Bald hat sie die bewußte Kontrolle verloren, hämmert mit den Fäusten auf die Matte und schlägt mit den Füßen auf den Mattenboden. Ihr Kopf fällt locker von einer Seite zur anderen. Plötzlich hören die Schreie auf, und sie weint.)

nancy (einen Arm über den Augen, einen über dem Bauch - Beine hochgezogen, halb auf der Seite liegend): Meine Mutter! Es ist meine Mutter!. Ich habe sie so geliebt. Ich habe sie so sehr gebraucht . . . und sie war schrecklich zu mir. Sie hat mir ständig weh getan. Sie hat mich im Klosett eingesperrt. Sie hat Papi Lügen über mich erzählt. Aber was konnte ich dagegen tun? Ich habe sie gebrauchte (Die Schreie des Schmerzes und des Zorns werden zu Schreien qualvoller Not.)

casriel: Schrei dein Verlangen heraus! Laß das kleine Mädchen seine Not vollständig ausdrücken!

nancy: Ich brauche dich! Ich brauche dich! 

casriel: Wie alt fühlst du dich, wenn du das sagst? 

nancy: Sechs, sieben, vielleicht acht.

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casriel: "Wie hast du deine Mutter damals genannt?

nancy; Mummy.

casriel: Sag: »Mummy, ich brauche dich.«

nancy; Ich brauche dich, Mummy. Ich brauche dich. Mummy, ich brauche dich. Sieh mich an. Mummy, ich brauche dich. sieh mich an! Ich brauche dich. Mummmyyy! (Der Raum ist in Schweigen erstarrt. Cathy weint. Nancy hat ihre Umgebung vergessen.) Sieh mich doch an! Sieh mich, Mummy! Sieh mich an! Sieh mich an! Sieh mich doch! Mummmyyy - sieh mich doch an! (Sie weint wieder. Nun fallen die emotionalen Schranken zwischen vielen Mitgliedern der Gruppe.)

roger (legt den Arm um Nancy): Es war nicht fair, Nancy.

(Auch er schluchzt. Ihre Gesichter berühren sich, ihre Emotionen verbinden sich einen Augenblick lang miteinander.)

casriel: Du bist berechtigt, diese Forderung zu stellen, Nancy. Das bist du wirklich. Es war nicht deine Schuld, daß sie dich nicht geliebt und nicht angesehen hat. Du hast nie die Liebe deiner Mutter gefühlt. Deine Tochter stellte die letzte Chance für dich dar, die Liebe deiner Mutter zu fühlen. Deine Tochter wurde du - und du wurdest deine Mutter. Du hattest dir verzweifelt gewünscht, daß sie dich liebt. Was du wirklich von deiner Tochter wolltest, war die Versicherung, daß du liebenswert bist. Kein Wunder, daß sich deine Tochter unbehaglich fühlte und rebellierte. Du hast sie genährt - wenn du hungrig warst. Mit all deiner Liebe für deine Tochter hast du sie nicht gesehen - ihre Bedürfnisse. Und du hast dich nicht berechtigt gefühlt, Liebe von deinem Mann zu verlangen oder anzunehmen. Es brachte zuviel Not, zuviel von dem Schmerz der Vergangenheit wieder hervor, wenn du etwas von der Liebe angenommen hättest, die er dir in den ersten Jahren deiner Ehe gab. Er fühlte deinen Schmerz, aber er mißverstand ihn. Dann hörte er auf, dir seine Liebe zu zeigen. Du bist berechtigt zu lieben, Nancy. Und du bist jetzt sehr liebenswert. Der Zorn, die Gespanntheit und Zurückhaltung sind verschwunden. Du bist sehr empfindsam und sehr liebenswert.

(Ein Gruppenmitglied nach dem anderen umarmt die auf der Matte liegende Nancy. Alle umarmen sie, außer Grete und Cathy.)

casriel: Möchten Sie Nancy umarmen, Grete?

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grete: Ich fühle mich ein bißchen befangen, Dr. Casriel.

casriel: Okay, Sie brauchen es nicht zu tun. Aber Sie würden sich dann besser fühlen, und Sie könnten das Gefühl der Nähe und der Verbundenheit erleben. Anfassen ist etwas anderes als Hören, Sehen oder Riechen. Sie würden ein anderes Gefühl für Nancy bekommen, wenn Sie sie umarmen könnten.

nancy: Ich fühle mich so gut, ich werde aufstehen und dich umarmen. Ich brauche die Liebe meiner Tochter nicht, um zu beweisen, daß ich liebenswert bin.

(Nancy steht von der Matte auf, geht zu Grete und nimmt sie in den Arm. Die Gruppe findet sich nun wieder im Kreis der Stühle zusammen.)

casriel: Wer hat ein Gefühl, an dem er arbeiten möchte?

cathy: Ich. Ich bin zornig und weiß nicht weshalb. Ich möchte auch auf der Matte arbeiten.

casriel: Gut, dann wollen wir an diesem Zorn arbeiten. (Cathy legt sich auf die Matte.)

cathy: Ich glaube eigentlich doch nicht, daß ich zornig bin. Ich glaube, ich habe Angst\

peter; Hör auf zu reden - und arbeitet

casriel: Schrei einfach, Cathy. Dein Gefühl wird in dem Schrei herauskommen. Fang an! Kreisch los! Der Ton wird das Gefühl finden .... und das Gefühl wird deine Gedanken offenbaren. 

(Cathy beginnt zu schreien. Jeder Schrei dauert etwa vier Sekunden, dazwischen ist es einige Sekunden lang still. Nach neun Schreien atmet Cathy tief, ist sich ihrer seihst und ihrer Umgebung jedoch noch sehr bewußt.)

peter: Was klappt denn nicht, Cathy? cathy: Ich weiß es nicht. Es klingt nicht richtig.

peter: Hör auf, dich zu kontrollieren! Laß dich los!

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(Cathy schreit, diesmal lauter als vorher. Andere ermutigen sie. Nun werden die Schreie zu Lauten des Zorns, dann zu schrillen Wutschreien, und schließlich wird die Wut zu Schmerz. Cathy schluchzt jetzt.)

peter (umarmt Cathy): Es ist ja gut, Cath, es ist ja gut. Es ist dein Schmerz, den du fühlst.

casriel: Das ist er wirklich, Cathy. Bei all deinem zornigen Benehmen hast du einen großen Schmerz.

cathy (lachend, obwohl sie weint): Es ist gut, meinen Schmerz zu fühlen und keine Furcht davor zu haben. Es tut mir leid, daß ich auf alle, die ihm nahegekommen sind, so zornig gewesen bin. Das muß meine Mutter aus mir herausgeholt haben. (Cathy geht nun zu Nancy, umarmt sie und küßt sie auf die Wange.)

 

 

Es kommt jetzt zu viel Interaktion, während sich die Teilnehmer zu Dreier- und Vierergruppen zusammenfinden. Die erfahreneren Gruppenmitglieder genießen es, den neuhinzugekommenen Mitgliedern beizubringen, was sie gelernt haben. Ich gehe zu denen, die am meisten isoliert, verwirrt oder beunruhigt zu sein scheinen. In dieser Zeit wird viel Therapie geleistet. Je fortgeschrittener, emotional reifer und unterrichteter die Gruppe ist, desto länger währt diese Interaktion. Bei Marathonbegegnungen kann es zwei, drei Stunden dauern, bevor die Mitglieder sich wieder als Gesamtgruppe zusammenfinden und eine emotionale Untersuchung jedes einzelnen rund im Kreis verlangt wird. In Gruppen, die nur zwei, drei Stunden zusammen sind, kann diese Periode der Aufteilung in kleinere Gruppen ganz fehlen. Wenn es geschieht, dauert es manchmal nur eine Minute, aber auch ein, zwei Stunden, je nach dem therapeutischen Nutzen, der sich daraus ergibt.

In dieser Gruppe hat die von Nancy und Cathy ausgedrückte intensive emotionale Ehrlichkeit andere Mitglieder beeinflußt. Sie können nicht länger passiv bleiben. Sechs von ihnen spüren die Notwendigkeit, zu sprechen und ihre Gefühle zu äußern. In den verschiedenen kleinen Gruppen klingen spontan Schreie auf. Jede Gruppe hat die anderen vergessen. Jede konzentriert sich gespannt auf die Emotionalität und die intellektuelle Einsicht, die ihre Gefühle gestatten.

Hin und wieder wurde ich gebeten, eine Frage zu beantworten, eine Einstellung zu erklären oder jemandem zu helfen, zu tieferen Gefühlen zu gelangen. Gruppenmitglieder wurden ebenfalls gebeten, dies zu tun, und einige erklärten sich freiwillig dazu bereit. 

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Manchmal bin ich erstaunt über die Gefühle, die Gruppenmitglieder hervorrufen können. Es ist mir dabei deutlich geworden, daß das Interesse der Gleichen und die Interaktion unter Gleichen Gefühle und Einstellungen an die Oberfläche bringen, für die ich als Leiter nicht der geeignete Katalysator gewesen wäre. Andererseits strebe ich so intensiv wie möglich danach, jede Blockierung von Emotionen oder Einstellungen zu beseitigen, die in der Gruppe vorhanden ist. Und ich bemühe mich ständig, sofort zu merken, wenn irgendein Mitglied - wegen schmerzlicher Gefühle - anfängt, sich von seinesgleichen zu isolieren. Außerdem halte ich die Ohren offen, falls irgend jemand schlechte, unverantwortliche oder zerstörerische »therapeutische« Weisungen geben sollte.

Die Vierergruppe, bei der Nancy ist, schreit jetzt unisono: »Ich habe einen berechtigten Anspruch ... ich habe einen berechtigten Anspruch!« Und es herrscht ein freudiges Gefühl im Raum. Nancy hat das Bild der stoischen Matrone, das sie sich von sich selbst gemacht hat, abgeworfen und fühlt sich wohl. Sie ist zu der lebenssprühenden, attraktiven, reifen Frau geworden, die sie immer zu sein hoffte.

Cathy ist ruhig und strahlt Wärme, Frieden, Liebe und guten Willen aus. Sie hat sich den Vierzig- und Fünfzigjährigen in der Gruppe angeschlossen und umarmt die Frauen ebenso wie die Männer. Es macht Spaß zu beobachten, wie sie ihre Freude akzeptiert und ihr Liebesbedürfnis zeigt, das sie mit den älteren Gruppenmitgliedern teilt. Sie befindet sich nicht mehr im Krieg mit der »älteren Generation« (ihren Eltern) und ist nicht mehr gezwungen, sich selbst zu zerstören, um zu beweisen, daß sie sich nicht darum kümmert, was »sie« denken. Cathy wird sich nicht mehr von ihrer Mutter kontrollieren lassen.

 

Cathys Geschichte veranschaulicht gut die Veränderungen, die unser Gruppenprozeß bei einer schlecht angepaßten Persönlichkeit hervorrufen kann. Ehe Cathy in die Gruppe eintrat, befand sie sich auf einem Katastrophenkurs. Sie war aggressiv, unbeherrscht und handelte aus Trotz und hatte bereits zwei Abtreibungen hinter sich. Es gelang ihr, im College ohne allzuviel Anstrengung ziemlich gute Zensuren zu bekommen, doch die Männer, mit denen sie sich einließ, trugen zu einer symbolischen Situation bei — dem ständigen Kampf um den Beweis, daß man sie nicht bändigen konnte. Niemals zeigte sie Furcht. Stets auf der Suche nach dem unbesiegbaren Mann, kastrierte sie emotional jeden Jungen oder Mann, der nicht zornig auf sie werden wollte. Wenn ein Mann wütend wurde, zog sie sich aus dem Kampf zurück, den sie provoziert hatte, um sich selbst zu bestätigen, daß die Männer Schweinehunde seien. Mehr als vier, fünf Verabredungen mit einem Mann ertrug sie nicht, obwohl sie mit zwölf Jahren die ersten Verabredungen und mit vierzehn den ersten Geschlechtsverkehr gehabt hatte.

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Daß die Mutter sie ängstlich kontrollierte, war zum großen Teil auf Cathys Verhalten zurückzuführen. Die Mutter, die sich unbewußt für Cathys Handlungen verantwortlich fühlte, versuchte (auch durch brutale Mittel), sie vor selbstzerstörerischen Handlungen zurückzuhalten. Doch es war zu spät.

Cathy kam aus einer Familie, die als liberal, kultiviert und gebildet galt. Beide Eltern waren Akademiker — ihre Mutter lehrte als Magister Artium Wirtschaftswissenschaften; ihr Vater war ein erfolgreicher Anwalt. Obwohl Cathy das einzige Kind war, wurde sie von gleichgültigen Dienstmädchen aufgezogen. Cathy empfing keine Liebe. Sie unterdrückte ihr Verlangen danach und verteidigte sich eher mit Zorn als mit Furcht oder Rückzug. Sie wurde auf jeden wütend, der emotional wichtig für sie wurde oder es zu werden versuchte.

Die achtzehnjährige Cathy wollte zu Haus wohnen und ein College in der Stadt besuchen. Sie wollte ihre Mutter provozieren, mit der sie seit sechs Jahren einen emotionalen Krieg führte. Keines der beiden Elternteile hatte während Cathys Entwicklungsjahren emotional auf sie reagiert, und als sie zwölf war, wurde es ihrer Mutter klar, daß Cathys Umgang mit Jungen kriminell war. (Ihr Vater verhielt sich weiter uninteressiert.) Dieses kriminelle Verhalten führte zu einer Psychotherapie, der sich Cathy fünfeinhalb Jahre lang sporadisch bei verschiedenen Therapeuten unterzog. Alle gaben besiegt auf.

Cathys Mutter suchte als erste das Institut auf, weil sie an Erregungszuständen und Depressionen litt. Nach zwei Monaten in unseren Gruppen hatten sich die Gefühle der Mutter so weit verändert, daß selbst Cathy es bemerkte. Weil der Krieg mit der Mutter nicht mehr stets mit deren bedingungsloser Kapitulation endete, wurde Cathy neugierig darauf, was »bei diesem Casriel« vor sich ging.

Cathy war »antiphobisch«. Das heißt, daß sie, um ihre Furchtlosigkeit zu beweisen, von Dächern sprang, in East Village und in Ostharlem spazierenging und mit sechzehn alle Rauschgifte ausprobiert hatte, einschließlich subkutaner Heroinspritzen. Zum Glück neigte sie nicht zur Sucht. (Heute rührt sie Rauschgifte oder Chemikalien nicht mehr an außer einem gelegentlichen Zug Hasch.) Und sie tobte sich sexuell aus. Nicht nur der Geschlechtsverkehr selbst, sondern vor allem die Männer, mit denen Cathy zusammenkam, beunruhigten ihre Mutter. Cathy hatte noch Glück. Sie hätte schwer zusammengeschlagen, von Messerstechern verletzt, sogar getötet werden können. Statt dessen hatte sie dreimal Geschlechts­krankheiten und zwei Abtreibungen.

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Cathy kam mit den gefährlichsten Männern zusammen, die sie nur finden konnte: Männer von der Mafia, Zuhälter aus Harlem, Einzelgänger aus dem Village, Rauschgiftsüchtige und -händler, verheiratete Männer, die alt genug waren, daß sie ihr Großvater hätten sein können. Sie kümmerte sich wirklich nicht darum, wer es war, solange sie nur eine Gefahr und Herausforderung darstellten und ihr nicht ebenbürtig waren. Sie erklärte, daß sie für die Männer, mit denen sie zum College ging, nichts empfinden könne. In Wahrheit jedoch empfand sie vor Männern, die ihr ebenbürtig waren, eine solche Furcht, daß sie keine Wärme oder Liebe für sie aufbringen konnte. 

Peter aus der Gruppe war das erste annehmbare, sozial akzeptable männliche Wesen, für das sie etwas zu empfinden zugab. Es war leicht für sie, sexuelle Gefühle zu haben; das war der einzige Teil ihres Körpers, der, wie sie fühlte, nicht verletzt werden konnte. Dennoch hatte sie keinen der gefährlichen Einzelgänger geliebt, mit denen sie ausging. Mochten sie auch sozial gefährlich sein, so drohte von ihnen doch keine emotionale Gefahr. Paradoxerweise waren die sozial annehmbaren Männer unbewußt gefährlich für sie.

 

Jeder Patient hat eine psychodynamische Geschichte, die ebenso einzigartig ist wie die Cathys. Und nur ein einziges kleines Gebiet aus ihrer Psychotherapie habe ich hier wiedergegeben. Wenn die Therapie für Cathy vorüber ist, wird sie fast alles verstehen — ich ebenfalls. Die Gruppenmitglieder werden dazu gelangen, Cathys Gefühle und etwas von ihrem Verhalten und ihren Einstellungen zu verstehen, doch ihre gesamte Geschichte werden sie nie kennenlernen. Nicht einmal ich werde alle gefährlichen Episoden ihres Lebens erfahren. Ich brauche auch nicht alles zu wissen, um ihr helfen zu können. Sobald ich das Verhaltensmuster und die emotionale Dynamik kenne, sind die Einzelheiten unwichtig. Ein Einführungsgespräch gibt mir gewöhnlich den Hintergrund, den ich brauche, um einen neuen Patienten zu einer Neubildung seiner Affekte, Verhaltensweisen und Einsichten zu bringen.

 

(Nachdem die Gespräche in kleinen Gruppen etwa vierzig Minuten gedauert hatten, versammelte ich die ganze Gruppe wieder. Cathy sprach als erste.)

cathy: Ihr sollt alle wissen, daß ich euch liebe, und ich brauche es, daß ihr und Menschen wie ihr mich liebt. (Sie fängt an zu würgen, überwältigt von der Gewalt ihrer Erkenntnis.) Und ... (nun weint sie hysterisch wie ein kleines Mädchen) Mutter ... Meine Mutter ... 

(Vier von den Frauen in der Gruppe - lauter Mütter - gehen zu Cathy und überschütten sie mit Umarmungen und Küssen. Alle weinen, und Cathy wird schlaff wie eine Stoffpuppe. Jahre der Deprivation schmelzen in der Wärme der Liebe dahin, die diese Frauen ihr geben. Und Cathy gibt ihnen dafür nicht nur die Hoffnung, sondern

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auch den Beweis, daß es für sie selbst und ihre Kinder noch nicht zu. spät ist. Es liegt ein Gefühl von Liebe und Freude in der Luft, das ansteckend ist. Vilma umarmt Nancy. Nancy geht dann zu Barry. Auch Cathy geht nun zu Barry und umarmt ihn.)

barry: Das habe ich mir immer gewünscht - so geliebt zu werden. Ich habe es mein ganzes Leben lang bitter entbehrt. Mein ganzes gottverdammtes Leben lang. Ich bin eine verdammte Wüste. Eine verdammte Wüste!

nancy (kommt herüber und umarmt Barry): Ich will dich auch umarmen.

(Barry weint lauter. Es sind Tränen eines Schmerzes aus der Vergangenheit. Sie sind ein sicheres reichen dafür, daß Barry die Liebe annimmt, die ihm geschenkt wird.)

Casriel: Nimm die Liebe an, Barry. Nimm sie ganz an.

barry: Das tue ich, Dan. Ich brauche sie. Komm, Nancy. Komm du auch, Dan! Umarmt mich auch!

Casriel: Gut, wir wollen wieder mit der Gruppe beginnen ... Bilden wir eine Gruppe!

nancy: Ich habe alle Liebe aufgenommen, die ich an einem Abend aufnehmen kann!

barry: Ich ebenso. Ich bin so weit offen, daß man mit einem Panzer durch mich hindurchfahren könnte.

Casriel: Ich weiß, aber einige von uns haben es nötig, ihre Gefühle zu zeigen. Ich habe drei Leute bemerkt, die noch gar nichts für sich selbst getan haben. Fühlst du irgend etwas, Tim?

tim: Ich fühle eine Menge für Barry, wirklich, Dan.

(Tim ist dreiundzwanzig und ledig. Er hat die Mittelschule besucht und arbeitet als Techniker. Er kam zu unseren Gruppen, weil ein Freund ihn dazu gedrängt hatte. Tim ist ein stiller Mensch. Er fühlt sich entfremdet, hat wenig Beziehungen zu Frauen und hält sich vor Menschen zurück.)

Casriel: Möchtest du es durcharbeiten?

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tim: Nein.

Casriel: Du bist voller Schmerz, Tim. Versuch doch, ihn zu äußern . . .

grete: Worauf bezieht sich der Schmerz, Tim?

tim : Auf mein Leben, schätze ich ... Auf meine Eltern. Ich habe nie von ihnen bekommen, was ich mir von ihnen wünschte.

nancy: Was wünschtest du dir von ihnen?

tim: Verständnis. Ich war wohl ein verschlossenes Kind. Meine Eltern waren geschieden, und jeder versuchte, mich gegen den anderen einzunehmen.

vilma: Junge, wie ich diese Szene kenne!

Casriel: Du meinst, Tim, daß man dich im Stich gelassen hat. Keiner hat sich um deine Bedürfnisse gekümmert.

tim: Das ist es. Meine Mutter erzählte mir, wie verantwortungslos mein Vater war, daß er ihr nicht genug Geld gab und daß er anderen Frauen nachstellte. Deshalb ließ sie sich scheiden. Ich wandte mich gegen ihn. Ich machte ihm das Leben schwer. Jetzt ist es zu spät ...

barry: Zum Teufel, warum ist es zu spät?

tim : Er hat wieder geheiratet und lebt in Kalifornien. Seit über zwei Jahren habe ich keinen Brief mehr von ihm bekommen. Er kennt meine Adresse nicht einmal. Er kümmert sich nicht die Bohne um mich.

cathy: Vielleicht glaubt er, daß du ebenso fühlst. Hast du daran mal gedacht? (Tim gibt keine Antwort.)

grete: Was ist geschehen, als Sie das letzte Mal von ihm hörten?

tim : Es war Weihnachten. Er hat mir ein Geschenk geschickt. Es war ein Buch, das ich nicht lesen mochte. Ich war schon zu alt dafür. Das hätte er wissen müssen.

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Casriel: Ich verstehe dein Gefühl, Tim. Wie lange war es her, seit ihr euch nicht mehr gesehen hattet?

tim: Fünf Jahre, vielleicht sechs. So etwa. Damals kam er gerade durch die Stadt.

barry: Mit so einem Geschenk macht man leicht einen Fehler. Ich habe bei meinen Kindern den gleichen gemacht.

tim : Ja, schon. Ich weiß. Aber er hätte es sich besser überlegen müssen.

grete: Was haben Sie ihm zu Weihnachten gekauft? (Tim gibt keine Antwort.)

barry: Du hast deinem alten Herrn kein Geschenk gekauft, nicht wahr?

tim: Nein.

barry: Hast du ihm einen Brief geschickt und dich für das Geschenk bedankt? (Tim antwortet nicht.)

barry: Und wie ist's mit den Geburtstagen? Hat er dir eine Karte und ein Geschenk zum Geburtstag geschickt? (Keine Antwort. Tim nickt.)

barry: Hast du deinem Vater in den letzten beiden Jahren mal geschrieben, ihn angerufen oder sonst irgendwie Kontakt mit ihm aufgenommen?

tim: Nein, eigentlich nicht.

Barry: Du willst, daß er dich enttäuscht. Und deshalb verlangst du, daß er allein alles tut, um den Kontakt aufrechtzuerhalten. So kannst du auf dem hohen Roß sitzen. (Keine Antwort.)

grete: Was wünschen Sie sich von Ihrem Vater, Tim?

tim : Ich weiß nicht. Ich schätze, ich möchte, daß er sich wirklich um mich kümmert.

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casriel: Das hört sich an, als ob er sich einmal um dich gekümmert hat, Tim. Möchtest du, daß er dich liebt?

tim (nach einer langen Pause): Ich glaube, ja.

nancy (erinnert sich der eigenen Arbeit in der Gruppe): »Bitte, lieb mich, Daddy!«

tim: Es ist schwer, das zu sagen.

cathy: Sag's trotzdem!

peter: Versuch's, Tim! Versuch's!

tim : Bitte, lieb mich, Dad ... Bitte, lieb mich ... Lieb mich, Dad. Lieb mich. Lieb mich ... Lieb mich ... Lieb mich! (Bei jeder Wiederholung wird seine Stimme lauter.)

casriel : Sag es sanfter, Tim! Du möchtest ihn bitten - nicht anschnauzen.

(Tim sagt die Worte langsamer und sanfter. Dabei sieht er ein Gruppenmitglied nach dem anderen an. Als er zu Barry kommt, stockt seine Stimme. Er beginnt zu schluchzen.)

barry: Schrei deinen Schmerz heraus, Tim! Schrei ihn heraus! tim (schreiend): Bitte, lieb mich, Dad!

barry: Nur schreien! Keine Worte.

(Tim schreit sechsmal. Seine Stimme klingt qualvoll. Barry steht auf und geht zu Tims Stuhl. Er zieht Tim hoch und umarmt ihn. Es ist der emotionalen Resonanz in der Gruppe gelungen, Tim die Sicherheit zu geben, die er braucht, um sein Bedürfnis nach Liebe zu äußern und seinen zornigen, ohnmächtigen Widerstand dagegen aufzugeben. Tim schreit weiter — es kommen zwölf weitere Schreie, von denen jeder etwa sechs Sekunden dauert. Die Schreie werden immer schriller, bis sie mit Schluchzen und schließlich mit Lachen gemischt sind.)

barry: Wie fühlst du dich jetzt, Tim? tim: Einen Zentner leichter. Wow!

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nancy (tritt neben Barry und Tim): Ich möchte Tim auch umarmen.

Casriel: Das ist dein Schmerz, Tim, und dein Verlangen. Sie sind schön. Sie bringen andere Menschen dazu, daß sie sich wichtig und notwendig fühlen, Tim. Weißt du das ? Als du deinen Schmerz nicht zeigen konntest, konntest du auch dein Verlangen nicht äußern und bliebst allein, sogar auf einer Party. Du brauchst nicht so zu sein. Heute abend in der Gruppe warst du sehr verschlossen. Gewiß, du hast dich bemüht, einigen anderen Liebe zu geben, aber du hast bis jetzt keinem anderen erlaubt, an dich heranzukommen. Trotzdem waren die Menschen hier interessiert genug, dir zu helfen, deine Schutzwehr abzubauen und aus dem Panzer herauszukommen, den du seit deiner Kindheit trägst. Dieser Panzer wird sich — aus Gewohnheit — wieder bilden, und du wirst immer wieder üben müssen, genau wie heute abend, um ihn abzulegen. Es sei denn, daß du ihn zu ganz bestimmten Zeiten einmal brauchst und selber wünschst, daß du ihn trägst. Du wirst lernen müssen, deinen Schutzpanzer zu beherrschen, statt dich von ihm beherrschen zu lassen. Verstehst du, was ich dir zu erklären versuche?

tim: Ich glaube ja. Ich fühle mich recht wohl. 

Casriel: Barry, sag Tim, was du für ihn fühlst.

barry: Ich fühle mich gut, weil ich dir helfen konnte. Ich fühle mich deshalb auch selber besser. Wichtig, weil du mich gebraucht hast.

nancy: Du bist so schön, Tim, wenn du offen bist. (Tim lacht. Er und Nancy umarmen sich.)

tim: Ich fühle mich großartig ... bloß ein bißchen schwach.

Casriel: Das ist etwas, was man wissen muß, Tim. Die Menschen werden auf deine Bedürfnisse reagieren, wenn du offen und direkt bist. Dein Vater wird wahrscheinlich ebenfalls reagieren, wenn du offen zu ihm bist. Die Menschen genießen es, deine Bedürfnisse zu befriedigen, weil sie sich dann wichtig fühlen. Vergiß das nicht! Es ist wie bei einer Köchin: die hat es auch lieber, wenn den Leuten das Essen schmeckt, das sie kocht.

barry: Stell fest, Tim, wo dein Vater wohnt, und ruf ihn an! Ich wette, daß er sich freut, etwas von dir zu hören. Versuch's mal!

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tim (langsam und ein bißchen furchtsam): In Ordnung, ich werd's tun.

Casriel: Tim, du bist jetzt sehr offen. Geh in der Gruppe umher und nimm noch mehr Liebe auf. (Tim macht die Runde und umarmt jedes Mitglied der Gruppe.)

Casriel: Grete, wie fühlen Sie sich?

grete (nach längerem Schweigen): Ganz gut, Dr. Casriel. Im Augenblick noch befangen. Doch Tim hat mich tief bewegt. Und vorher Peter. Peter erinnert mich an meinen Sohn Mickey. Er ...

Casriel: Erzählen Sie es Peter, Grete!

grete: Ja . . . Peter, wissen Sie, mein Sohn Mickey ist Ihnen sehr ähnlich. Er haßt die Schule - besonders Englisch, Geschichte und Algebra. Offenbar halte ich ihm ständig Predigten, daß er sein Zimmer aufräumen soll. Er trägt auch das Haar so lang. Und ich schätze, er hat genauso das Gefühl, daß ich ihn nicht verstehe . . .

cathy: Verstehen Sie ihn denn?

grete: Ich versuche es wenigstens. Ich weiß, die Welt ist heute anders als zu meiner Zeit. Das mit dem langen Haar kann ich verstehen -es ist ein Mittel, seine Unabhängigkeit geltend zu machen. Ein Stil, der ausdrückt, daß junge Leute nicht zum Establishment gehören. Aber was ich nicht verstehe, ist die fehlende Kommunikation - daß sie kein Gespräch suchen.

peter: Lieber Gott! Genau das gleiche, was meine Mutter sagt, wenn sie versucht, mich zu manipulieren. Sie redet schneller als ich und macht große Worte. Aber was sie sagt, ist nichts als Scheiße. Was Sie sagen, ist auch Scheiße. Sie wissen genau, daß Sie wegen der langen Haare Ihres Sohnes verdammt sauer sind. Meine Mutter ist deswegen auch sauer auf mich.

grete: Ich sage ja nur, ich habe Verständnis für Sie. Ich habe Sie heute abend zum erstenmal gesehen, und trotzdem habe ich das Gefühl, Sie zu kennen. Ich mache mir was aus Ihnen.

peter: Gut. Aber trotzdem ist ein Haufen Scheiße in dem, was Sie sagen. Ich weiß, es ist Ihre erste Gruppe und so. Aber hören Sie mir bloß mit diesem herablassenden Quatsch auf, daß Sie mich »verstehen«. Kein Wunder, wenn Ihr Alter abhaut. Wahrscheinlich geben Sie ihm jede Nacht eine Kostprobe »Verständnis«.

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cathy (schnell): Gib's ihr, Peter!

peter: Na, was haben Sie dazu zu sagen. Sie Manipulatorin! Antworten Sie!

grete: Sie sind sehr grob.

peter: Klar bin ich grob. Aber stimmt's etwa nicht, was ich sage? Ich habe Sie durchschaut. Sie wissen nicht, wie man wütend wird. Sie können auf Ihren Sohn nicht wütend werden. Sie können auf Ihren Mann nicht wütend werden. Deshalb manipulieren Sie sie genauso, wie's meine Mutter tut. Das ist zum Kotzen.

Casriel: Grete ist nicht deine Mutter, Peter.

peter (ruhiger): Ich weiß . . . Aber sie hat meine Gefühle gegen meine Mutter wieder geweckt.

Casriel: Wenn du zornig auf deine Mutter bist, dann sei doch zornig auf sie! Stell dir vor, deine Mutter sitzt in der Mitte des Raumes. Nun sag ihr, daß du zornig bist!

peter (schreiend): Ich bin zornig. Ich bin wütend! Du hast mir weh getan, und ich bin wütend, Mutter! (Er schreit weiter, bis er weinend zusammenbricht. Sein T.orn ist schrecklich stark und gewaltig gewesen. Peter schluchzt.) Weshalb tut es so weh?

Casriel: Dein Zorn ist jetzt mit deinem Schmerz in Berührung gekommen. Weiter nichts.

barry: Ich werde auch wütend, wenn ich mich verletzt fühle.

Casriel: Hast du das gehört, Peter? Wir alle werden verletzt. Häufig wehren wir die Verletzung mit Zorn, Furcht oder Sichzurückziehen ab. Das ist einfach menschlich. Nimm es auf und begreif es. Dann versuch, es unmittelbar mit der Gruppe zu teilen. Sag allen hier: »Meine Mutter hat mich verletzt.« Kannst du der Gruppe diese Worte sagen?

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peter: Es ist schwer, aber ich glaube, ich kann's ... Meine Mutter hat mich verletzt.

(Er wendet sich an jedes Gruppenmitglied, um diese Worte zu sagen, und sieht dabei jedem in die Augen.)

barry: Geh weiter, sag es Grete!

(Peter ist bei Grete stehengeblieben und ringt mit den Worten.)

peter (weinend): Meine Mutter hat mich verletzt.

grete (steht von ihrem Stuhl auf und umarmt Peter): Ich weiß, daß sie das getan hat. Ich weiß ... ich weiß doch.

peter (weinend): Sie hat mir weh getan . . . grete: Ich weiß, aber sie hat es so gut gemacht, wie sie es konnte.

Casriel: Halt ihn nur im Arm, Grete. Nur im Arm halten. Nicht sprechen. Er braucht keine Worte. Nur berühren - entwickle ein Gefühl der Verbundenheit. Tröste ihn und gib ihm deine Liebe. 

(Peter weint eine Weile in Gretes Armen. Dann geht er im Raum umher und bittet um Liebe. Auch Tim kreist durch den Raum und bittet um Liebe. Im Hintergrund hört man Scherze. Viele Gruppenmitglieder schwatzen, um ihre Spannung zu lindern.)

Casriel: Wie fühlst du dich, Grete?

grete: Liebevoll ... Es war ein gutes Gefühl für mich, Peter so zu umarmen. Ich habe viel Liebe für ihn gespürt.

Casriel: Ja, du siehst sehr offen aus. Das macht dich schön. 

barry: Ja, wirklich, Grete.

Casriel: Wir haben dir nicht bei deinem Problem mit dem untreuen Mann geholfen. Das ist ein schreckliches Problem und ein schreckliches Gefühl, das weiß ich. Was erwartest du von uns?

grete : Ich weiß nicht ... ich denke mir, daß ihr mich darüber sprechen laßt. Und mir dann helft, es besser zu verstehen.

nancy: Dann fang an und sprich darüber!

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barry: Sprich nur, Grete. Wir hören zu.

(Grete berichtet Einzelheiten aus einer zwölfjährigen Ehe, die einen Riß bekam, als Grete die Untreue ihres Mannes entdeckte. Die Gruppe hat Mitgefühl und stellt Fragen. Grete schweift ein wenig ab und versucht, sich auf Einzelheiten zu konzentrieren, um dem Schmerz zu entgehen.)

Casriel : Grete, hast du das Gefühl, du solltest deinen Mann verlassen?

grete: Ich habe das Gefühl, es ist alles vorbei. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich weggehen möchte. Ich liebe ihn. Oder ich glaube ihn zu lieben. Ich weiß es nicht.

Casriel: Ich weiß, daß es eine verwirrende Situation ist. Aber es wäre ganz normal, auf den Ehemann zornig zu sein. Glaubst du, daß du zornig bist?

grete: Nein, das glaube ich nicht. Zornig? Das kommt darauf an, was man darunter versteht. Ich bin erregt, weil er ein Lügner und Betrüger ist. Es schmerzt mich, daß er ein schlechter Vater gewesen ist. Und daß er sich von einem zweiundzwanzigjährigen Ding zum Narren halten läßt. Ich begreife nicht, was sie in ihm sieht. Es ist wirklich nicht so weit her mit ihm. Er wird schon kahlköpfig - und bekommt einen Bauch.

Casriel: Du brauchst ihn nicht herabzusetzen, Grete, wenn du deinen Zorn ausdrückst. Wie heißt dein Mann?

grete: Chuck.

Casriel: Sag: »Ich bin zornig auf dich« und denk dabei an Chuck. Nicht nötig zu schreien. Sag einfach zu jedem Mitglied der Gruppe diese Worte.

(Grete tut, was ihr auf getragen wurde. Doch in ihren Worten klingt Schmerz, nicht 'Zorn. Sie ist beherrscht, wie sie die Worte sagt - und fürchtet sich sehr.)

Casriel: Versuch's einmal mit diesen Worten, 

Grete: »Ich fürchte mich, zornig auf Chuck zu sein.«

(Grete macht die Runde und benutzt dabei die neuen Worte. Die Furcht in ihrer Stimme wird stärker. Die Teilnehmer sagen ihr: »Lauter!« Sie spricht lauter und schreit schließlich fast.)

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casriel: Nun versuch's nur mit den Worten: »Ich fürchte mich.« Und sag sie laut zu jedem hier.

(Grete tut es. Gruppenmitglieder schreien dauernd: »Lauter!« Und Grete wird lauter. Schließlich kreischt sie: »Ich fürchte mich!«)

casriel: Das ist die Wahrheit, Grete. Du fürchtest dich, wirklich zornig zu werden, weil du darauf programmiert bist zu glauben, daß Zorn etwas Unrechtes ist - oder daß Zorn Hemmungslosigkeit bedeutet. (Grete nickt zustimmend.)

casriel: Außerdem möchte ich wetten, daß du und deine Eltern einen Vertrag hatten, nicht wütend aufeinander zu werden.
grete: Ja, ich bin niemals wütend auf sie geworden - ganz besonders nicht auf Daddy. Ich war niemals zornig auf Daddy. Niemals.

casriel: Du hast dich gefürchtet, daß du Daddys Liebe verlieren könntest, wenn du zornig wurdest.
grete: Ja ... nein . . . ich weiß nicht. Daddy hat mich geliebt. Ich weiß, daß er mich geliebt hat.
casriel: Weshalb konntest du nicht zornig auf ihn werden?
grete: Wenn ich mich bei ihm doch einmal über etwas beschwerte, wurde er ärgerlich und zog sich zurück. Dann sah er sehr streng aus, und ich durfte ihn nicht sehen. Ich durfte tagelang nicht an den Mahlzeiten teilnehmen. Diese Zeit erschien mir ewig.

casriel: Wie alt warst du damals? 
grete: Fünf oder sechs.

casriel: Kein Wunder, daß du Schwierigkeiten mit Forderungen hattest-und mit dem Zorn! Wenn man einen Menschen liebt, ist es normal, Forderungen zu stellen oder manchmal zornig auf ihn zu sein. Wenn man seinen Zorn zurückhält, wird man aggressiv oder beginnt zu manipulieren, man schaltet ab oder zieht sich zurück, oder fürchtet sich. Was für ein Gefühl hast du bei diesen Gedanken?

grete: Ich habe noch nie so darüber nachgedacht.

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casriel: Tu es mal! Inzwischen gebe ich dir einen Auftrag als Hausarbeit: Sag deinem Mann, daß du zornig auf ihn bist, daß du dich aber nicht traust, deinen Zorn zu äußern. Warte ab, was geschieht. Dann kommst du das nächste Mal in die Gruppe und bist darauf vorbereitet, deinen Zorn auszudrücken. Einverstanden?

grete: Gut, ich will's versuchen.

vilma: Nicht nur versuchen. Tu's sofort, wenn du nach Hause kommst!

casriel: Vilma, du bist die einzige, die heute nicht gearbeitet hat. Möchtest du arbeiten?

vilma: Ja, ich möchte schon. Ich möchte an meinem Zorn arbeiten.

Barry: Ich möchte, ich möchte! Weshalb hast du den ganzen Abend dagesessen, ohne zu arbeiten?

Peter: Jawohl, Vilma, Barry hat recht. Du brauchst jedesmal eine Extraeinladung. Das mag ich nicht.

Tim : Ich auch nicht. Du bist ein attraktives Mädchen, Vilma, aber ich möchte mit dir nichts zu tun haben.

Vilma: Das verlangt ja auch niemand von dir.

peter: Ach, und weshalb wackelst du dann jedesmal mit dem Arsch, wenn du Tim siehst? Nur, um deine Muskeln ein bißchen zu trainieren?

Vilma: Gar nicht wahr! Ich unterhalte mich einfach mit Tim. Du bist bloß eifersüchtig, weil ich mit dir nicht rede, du kleiner Schwanz.

Casriel: Was hast du gefühlt, als Grete sagte, sie traue sich nicht, auf ihren Mann zornig zu werden?

Vilma: Es klang überzeugend. Ich glaube, sie traut sich wirklich nicht.

Barry: Wir wollen wissen, was du gefühlt hast!

Vilma: Sie hat mir leid getan. Es ist normal, zornig zu werden.

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barry: Warum wirst du dann nicht zornig? Warum wirst du nicht zornig auf Mitchell?

vilma: Es fällt mir schwer, richtig wütend zu werden. Ich meine, hier kann ich schreien und sarkastisch sein, aber draußen in der Welt, wo es wirklich zählt, fällt es mir schwer.

casriel: Vilma, wenn du zornig bist, dann steh auf und schrei den Zorn heraus! Du wirst dich danach besser fühlen und wirst etwas lernen, was dir »draußen in der Welt« hilft.

barry: Jawohl, Vilma, wenn du hier schreien kannst, dann steh auf und schrei! Du machst mich rasend, wenn du nur so dasitzt.

vilma: Ich will nicht. Ich fühle mich jetzt nicht danach. Vorhin war mir so, aber da wollte die Gruppe nicht.

peter: Das ist gelogen! cathy: Lügnerin! Durchtriebenes, manipulierendes Luder!

nancy: Du hast die Möglichkeit gehabt. Du hättest arbeiten können, wenn du es gewollt hättest. Aber du hast lieber dagesessen. Steh doch wenigstens jetzt auf und arbeite!

vilma: Ich mag nicht.

grete : Ich würde mich besser fühlen, wenn du an deinem Zorn arbeiten wolltest, Vilma. Es würde mir helfen.

vilma: Ich bin nicht hier, um dir zu helfen. Hilf dir selbst! Ich bin hier, um mir zu helfen.

barry: Dann tu's! Steh auf und schrei, zum Donnerwetter noch mal!

vilma: Nein, die Gruppe ist jetzt zu Ende. Das macht mich unruhig. Ich fühle mich unter Druck gesetzt. Das mag ich nicht.

cathy: Aber du wartest immer bis zum Ende der Gruppe! Du benimmst dich wie ein Baby, verdammt noch mal! Werde doch nun endlich erwachsen und benimm dich so, als ob du wenigstens dreizehn wärest!

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casriel: Nancy hat recht, Vilma. Du hast die Möglichkeit. Es liegt bei dir. Du kannst arbeiten oder nicht. Aber manipuliere die Gruppe nicht, indem du dich immer wieder nötigen läßt. Willst du arbeiten?

vilma: Ja, ich will arbeiten, aber ich fürchte mich.

(Vilmas zwischen ja und nein schwankende Gefühle rufen eine starke Spannung in der Gruppe hervor.)

Peter: Dann steh auf und arbeite an deiner Angst, du Schwanzfopperin!

Cathy: Hoch, du verdammte Nutte! Arbeite!

Barry (ist aufgesprungen und schreit heiser): Steh auf und arbeite! Es kotzt einen an, wie du hier manipulierst. Es ist dein Leben — du solltest wünschen, es in Ordnung zu bringen. Du lebst mit einem sadistischen Scheißkerl, der alles auf dir ablädt. Willst du wissen, was Mitchell ist? Er ist ein ungebildeter, sadistischer, drittklassiger Versager, der keine Stellung hat. Und den hältst du aus! Wenn er dich fragen würde, ob du ihn heiraten willst, säßest du ganz schön in der Klemme. Die Wahrheit ist, daß er dir genau in den Kram paßt. Du hast nämlich Furcht vor der Ehe.

Vilma: Das ist nicht wahr. Mitchell ist ständig auf der Suche nach einer Stellung. Wenn er mich heiraten wollte, würde ich ja sagen — sobald er eine Stellung hat und etwas Geld auf dem Konto.

Casriel: Du bist also auf Sicherheit bedacht, Vilma. Wenn Barry nun recht hätte?

Vilma: Er hat nicht recht. 

Casriel: Denk mal drüber nach. Was wäre, wenn er recht hätte?

Vilma: Dann würde ich Mitchell fallenlassen und mir einen anderen suchen. Jemand würde mich schon heiraten. Aber Mitchell wird es tun. Das weiß ich.

(Hier wurden mehrere Gruppenmitglieder sehr zornig auf Vilma und beschuldigten sie, Mitchell und die Gruppe durch ihre Manipulationen beherrschen zu wollen.)

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Casriel: Weißt du, Vilma, die Gruppe macht jetzt Schluß. Du bringst die Gruppe immer wieder gegen dich auf, weil du dich fürchtest, deine wirklichen Nöte zu zeigen. Ich weiß, du fühlst dich ziemlich miserabel, und ich möchte nicht, daß du mit diesem Gefühl nach Hause gehst. Bleib doch zur nächsten Gruppe da. Wir schaffen Platz für dich. Es sind andere Menschen. Bring sie diesmal nicht auf, dann hast du es leichter, deine Gefühle zu zeigen. Bei dir ist es eher so, daß du aggressiv wirst, als daß du den Zorn fühlst, den zu fühlen du durchaus berechtigt bist. Nun noch ein Gruppenschrei, um die Spannung zu beseitigen, dann wollen wir Schluß machen.

(Die Gruppe schreit. Die Spannung ist in wenigen Sekunden verschwunden, und das Gefühl der Liebe durchdringt den Raum. Die Menschen fühlen es, als die Gruppe beendet wird. Sie stehen von ihren Stühlen auf und ziehen die Mäntel an. Es gibt Umarmungen, Gelächter, Neckereien. Zigaretten werden angesteckt. Vilma sitzt allein, isoliert in ihrem Schmerz. Sie hat ihre Schutzwehr mißbraucht, um über die Gruppe zu »siegen« - doch indem sie das tat, hat sie verloren. Ihre Hoffnung ist die nächste Gruppe. Dort überwindet sie vielleicht die seit langem verfestigte Abwehr gegen den Zorn, der in ihrer Kindheit zu furchterregend für sie war, als daß sie ihn hätte ausdrücken können.)

 

 

Diese Szenen sind typisch für das, was in meinen Gruppen vor sich geht. Das Ausmaß des Schreiens hat vielleicht überrascht, doch es war in Wirklichkeit weniger als in den meisten anderen Gruppen. Die emotionale - nicht die verbale - Äußerung ist die Grundlage meines Gruppenprozesses.

Wie ist ein solcher Prozeß zustande gekommen? Welches ist die theoretische Begründung? Weshalb wirkt soviel Schreien therapeutisch?

Es ist die Absicht des vorliegenden Buches, diese Fragen zu beantworten. Die Entwicklung meines Prozesses hat eine Geschichte. Es gibt spezifische Gründe, sowohl empirische als auch theoretische, die erklären, weshalb ich den Prozeß bei Personen mit einer so breiten Vielfalt von Symptomen für wirksam halte.

Der vielleicht entscheidendste Durchbruch kam, als ich erkannte, daß es nicht genügte, einfach über Gefühle zu sprechen oder sie lediglich durch Begegnungen zwischen Gruppenmitgliedern auszudrücken. Ich erinnere mich beispielsweise an eine der ersten Gruppen, bei der ein junger Mann davon redete, wie zornig er auf seine Frau sei. (Sie nahm nicht an der Gruppe teil.) Die anderen Leute im Raum wurden unruhig, und ich wußte, daß sich der junge Mann nur im Kreis bewegte.

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»Einen Augenblick mal, Ned«, sagte ich. »Du sagst, du bist zornig, aber ich fühle es nicht. Sprich nicht nur über den Zorn. Versuch, das Gefühl selbst zu äußern. Schrei es heraus!«

Innerhalb von Sekunden brüllte er aus voller Kehle, und sein Körper bäumte sich auf in einer Wut, wie ich sie kaum je erlebt hatte. Als alles Schreien vorüber war, brach er in Tränen zusammen, erfüllt von dem Schmerz, den jahrelange emotionale Deprivation und unterdrückter Zorn erzeugt hatten.

Dies war eine Erfahrung, die mich erkennen ließ, daß die völlige Äußerung von Gefühlen entscheidend für eine therapeutische Veränderung ist. Tiefempfundene Gefühle von Schmerz, Zorn und Furcht und das Bedürfnis nach Liebe müssen aus dem Unbewußten hinausgejagt werden. Sonst beherrschen sie weiterhin das Verhalten, die Gefühle und Einstellungen des Betreffenden, so daß er kaum noch eine bewußte Kontrolle über sie hat.

Sobald jemand seine tiefen Gefühle dadurch erlebt, daß er sie herausschreit, ist er von einem großen Teil der Last befreit. Sein Abwehrpanzer beginnt auseinanderzufallen. Allmählich gewinnt der Betreffende Einblick in sein Verhalten und seine Einstellungen. Er sieht Wahlmöglichkeiten in seinem Leben, die seinem Gefühl nach vorher unmöglich gewesen waren. Er kann lernen, gesunde Gefühle einzuüben, Zorn zu äußern, sobald er ihn fühlt, ein verletzbares Bedürfnis nach Liebe zu zeigen und mit anderen Menschen verbunden zu sein.

Doch am wichtigsten dabei ist, daß er in diesem Prozeß lernt, echte Freude zu empfinden — die Lust, er selbst zu sein, voller Alternativen im Hinblick auf sein Leben, einschließlich der Möglichkeit, bedeutsame Beziehungen zu anderen Menschen zu haben. Dieses frohe Gefühl für das eigene Ich und für andere kann zu einem freieren, glücklicheren Leben führen. 

Obwohl es schwere Arbeit kostet, lebenslange Verhaltens­muster zu verändern, kann doch jeder Mensch nur einen Schrei vom Glück entfernt sein.

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