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3. Die Reise eines Analytikers: Von der Couch zur Begegnung 

 

 

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Manchmal erscheint es mir seltsam, daß ich ein Buch über Gruppentherapie schreibe. Meine berufliche Beschäftigung mit der Psychiatrie begann vor über dreiundzwanzig Jahren, doch Gruppentherapie als therapeutische Technik fing ich erst vor neun Jahren an.

Ich legte das medizinische Staatsexamen im Jahr 1949 an der Universität Cincinnati ab. Während der folgenden vier Jahre arbeitete ich am Institut für psychoanalytische Ausbildung und Forschung an der Columbia-Universität und am Veterans' Administration Hospital Kingsbridge und diente danach anderthalb Jahre als Psychiater in der Armee der Vereinigten Staaten.

Während dieses militärischen Dienstes war ich in Okinawa, und die Erfahrung mit einer anderen Kultur veranlaßte mich, Dr. Abram Kardiner aufzusuchen, der wegen seiner anthropologischen Arbeiten sehr bekannt ist. Bei ihm befand ich mich siebeneinhalb Jahre lang in Psychoanalyse. Im Winter 1953 eröffnete ich meine Privatpraxis als Psychiater in New York City. Meine erste Gruppe für Privatpatienten richtete ich dagegen erst zehn Jahre später ein.

Während dieser zehn Jahre verließ ich mich auf die Psychoanalyse, die ich bisweilen mit den weniger aufreibenden Methoden der Individual­psychotherapie durchführte. In einigen Fällen ergänzte ich diese Methoden mit den Erleichterungen, die die Psycho­pharmakologie anbietet. Ich führte keinerlei Gruppen­sitzungen durch. An der Columbia-Universität und in Kingsbridge war mir beigebracht worden, mit Gruppen vorsichtig zu sein. Mehr Menschen im therapeutischen Prozeß bedeuteten mehr Variable, und die wiederum bedeuteten zusätzliche Probleme in einem Vorgang, der ohnehin schon ungeheuer kompliziert war.

Selbst heute ist der Argwohn gegen die Gruppentherapie unter konservativen Psychoanalytikern nicht ungewöhnlich.

Vor dem Zweiten Weltkrieg hatten S.R. Slavson und Alexander Wolf mit Gruppen experimentiert, doch die Gruppentherapie fand breitere Unterstützung als behelfsmäßige Folge des Zweiten Weltkrieges, wo sie annehmbar wurde, um der Flut von neuropsychiatrischen Patienten zu helfen, die der Krieg hervorgebracht hatte. 

Doch damals wurde die Gruppenarbeit lediglich als vorübergehendes therapeutisches Verfahren betrachtet. In jüngster Zeit beurteilen sehr viele Psychiater und Psychologen die Gruppentherapie bestenfalls als Behelfstechnik und schlimmstenfalls als gefährliche Behandlungsmethode, obwohl die Zahl der klassischen, der Begegnungs-, der Sensitivitäts- und der Trainingsgruppen überall in den Vereinigten Staaten ständig zunimmt.

Vermutlich wäre ich bei dieser Ansicht geblieben, wenn ich nicht beruflich mit Problemen der Rauschgift­sucht in Berührung gekommen wäre. 

Kurz nachdem ich meine Praxis eröffnet hatte, wurde ich beratender Psychiater bei einem Versuchsprogramm in New York. Das Programm wurde in drei städtischen Schulen durchgeführt, um die Wirksamkeit eines intensiven psychia­trischen Hilfsdienstes als Mittel zur Verminderung der Jugendkriminalität zu erproben. Ich wurde der Psychiatergruppe einer höheren Schule in einem Stadtviertel mit hoher Verbrechensrate zugeteilt. Später übernahm ich eine Aufgabe als Psychiater am Sondergericht in Manhattan, wo es bei schätzungsweise 70 Prozent der Fälle um Rauschgiftsüchtige ging. 

Es war erschütternd, welch große Rolle die Rauschgiftsucht bei der Jugendkriminalität spielte. Ich erlebte hier unmittelbar, wie Kinder zu Prostituierten und Zuhältern, zu Taschendieben, Einbrechern, sogar zu bewaffneten Räubern wurden, um das Rauschgift bezahlen zu können, nach dem sie süchtig waren. Der Preis an Leid und verlorenem menschlichen Potential war ungeheuerlich. Es wurde mir — wie so vielen anderen — klar, daß Gesetze und Polizeigerichte niemals eine Lösung für die Probleme der Rauschgiftsucht sein konnten. 

Waren die Jugendlichen erst einmal drogenabhängig geworden, dann wandten sie sich dem Verbrechen zu, um ihre Sucht befriedigen zu können. Um der Entdeckung zu entgehen, benutzten sie Lügen, Tränen, heraus­forderndes Benehmen, emotionale Erpressung, Charme, Schmeichelei, mürrisches Schweigen — eine fast endlose Reihe von Manipulationen. Die Versuche, solche Abwehrhaltungen zu durchbrechen, erforderten zahllose Stunden ärztlicher Behandlung — und schienen doch immer wieder zum Scheitern verurteilt zu sein.

Auf der Suche nach einem anderen Weg, das Problem anzugehen, arbeitete ich halbtags im Metropolitan Hospital, dem damals modernsten und kompetentesten Zentrum für die medizinische Behandlung und Erforschung der Rauschgiftsucht in New York City. Es war ein neues Krankenhaus, das dem New York Medical College unterstand.

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Meine Erfahrung in diesem Zentrum machte mich immer pessimistischer hinsichtlich der Möglichkeiten, Rausch­giftsüchtige erfolgreich zu behandeln. Fast alle Süchtigen waren »charaktergestörte Persönlichkeiten«, und die klassischen psychiatrischen Methoden zur Behandlung dieses Charaktertyps hatten sich als deprimierend unwirksam erwiesen. Ich begann die Ansicht der meisten Psychiater zu begreifen: Rauschgiftsucht ist unheilbar.

Während ich eine Reihe von Vorträgen vor Bewährungshelfern hielt, lernte ich einen bemerkenswerten Mann kennen, der meine Überzeugung teilte, daß neue Behandlungsmethoden gefunden werden müßten. Dieser Mann war Alex Bassin, damals Gerichtspsychiater an der Bewährungsabteilung im zweiten Gerichtsbezirk des Obersten Gerichtshofes von New York. (Jetzt ist er Professor für Kriminologie an der Universität von Florida.) Bassin fragte mich, ob ich bereit sei, in einer Art »Zwischen­station« für Rauschgiftsüchtige, falls eine solche in New York City errichtet würde, psychiatrischer Berater zu werden. Es war eine Frage mit vielen Unsicherheiten, doch ich sagte zu.

Das war der Anfang der Einrichtung, die einmal Daytop Lodge heißen sollte. (Das Wort »Daytop« bedeutet »Drug Addicts Treated on Probation«: Rauschgiftsüchtige, die während ihrer Bewährungszeit behandelt werden.) Als dem National Institute of Mental Health ein Antrag auf Gewährung von Mitteln vorgelegt wurde, gefiel dieser Behörde der Vorschlag, sie regte jedoch an, daß wir uns zunächst über bereits vorhandene Organisationen informieren sollten, die überall in den USA zur Kontrolle und Behandlung der Rauschgiftsucht eingerichtet worden waren. Die Behörde stellte Geld für die Informationsreise zur Verfügung, und wir machten uns an die Untersuchung.

Der Höhepunkt war der Besuch in Synanon, einer Gemeinschaft für die Rehabilitierung von Rauschgiftsüchtigen und Alkoholikern an der Westküste, im Juli 1972. Denn um die Zeit, als ich in Synanon eintraf, war ich stärker entmutigt denn je, was die Möglichkeiten betraf, Rauschgiftsüchtige wieder zu gesunden Menschen zu machen.

 

Synanon und Begegnungsgruppen

Zu meiner Überraschung sah ich in Synanon, wie sich frühere Rauschgiftsüchtige in aktive, gesunde Menschen verwandelten. In Synanon schien mehr als die Rehabilitierung zu gelingen. Manche Drogenabhängige waren tatsächlich seit ihrem Eintritt in Synanon, das damals vier Jahre alt war, symptomfrei geblieben (das medizinische Kriterium für »Heilung« sind fünf Jahre).

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Mein erster Eindruck war der geschäftiger, hektischer Aktivität. Ich sah Männer und Frauen, Schwarze und Weiße, Menschen verschiedener Altersstufen. Sie malten, sägten, hämmerten. Bei der Arbeit redeten sie begeistert miteinander. Ihr Gesichts­ausdruck war gesund und lebendig. Sie begrüßten Besucher mit offener Freundlichkeit. Alles bildete einen verblüffenden Gegensatz zu den mürrischen, verschlossenen, häufig lethargischen Personen, denen wir auf unserer Informations­reise anderswo begegnet waren.

Mehr als froh war ich, als ich Süchtige sah, die ich aus New York kannte und die jetzt voller Arbeits- und Lebensfreude waren. Das hielt ich für das Bedeutsamste. Was machte Synanon erfolgreich? Ich war so fasziniert, daß ich Chuck Dederich, den Gründer und Leiter von Synanon, fragte, ob ich in die Gemeinschaft eintreten könne, um sie mir »genauer anzusehen«. Besonders neugierig war ich auf die »Synanon-Spiele«, die dreimal in der Woche stattfanden. Es waren tatsächlich »Begegnungsgruppen« — eine neue Konzeption, mit der ich noch keinerlei Erfahrungen hatte. Mehrere Mitglieder kamen für mindestens zwei Stunden zusammen und setzten sich, oft sehr gefühlsgeladen, mit allem auseinander, was sie ärgerte.

Chuck erfüllte meine Bitte, und so begann das Abenteuer, das meine Einstellung zur Psychiatrie verändern sollte. Ich zog in den Strandkomplex von Synanon ein, damals eine Gemeinschaft von weniger als hundert Seelen in Santa Monica. Für den Tag meines Einzugs war keine Begegnungsgruppe angesetzt, doch ich fand auch die Diskussionen angenehm und aufschlußreich.

Am nächsten Tag war ich entsetzt, als ich an meinem ersten »Synanon-Spiel« teilnahm. Die verbalen Angriffe waren so massiv und so häufig, daß ich schon für meine Sicherheit fürchtete. Mehrmals war ich drauf und dran, hinauszulaufen oder aus dem Fenster auf den Strand hinunterzuspringen. Doch ich fürchtete, mich lächerlich zu machen, wenn ich so etwas riskieren würde.

Während der Gruppenarbeit hatte ich geschwiegen, bis ein Spielleiter von Synanon, den ich Roger nennen will, ein schwarzes Gruppenmitglied ansah und plötzlich fragte: »He, Nigger, wie würde es dir gefallen, wenn du schwarzes Arschloch genannt würdest?« Schockiert brach ich das Schweigen und sagte Roger, es gebe bereits genug Probleme in der Gruppe, ohne daß man auch noch Rassenvorurteile zusätzlich einführe.

Langsam — und überraschenderweise ohne Zorn — wandte die ganze Gruppe den Blick auf mich. Ein Mann fragte: 
»Haben Sie den Eindruck, daß Sie gegen Schwarze voreingenommen sind?«
»Nein«, entgegnete ich ohne Zögern.

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»Haben Sie den Eindruck, Wilbur sei weniger gleich als Roger?« fragte ein anderes Gruppenmitglied.
»Nein, den habe ich nicht«, murmelte ich und fühlte mich unbehaglich wegen der Aufmerksamkeit, die ich erregte.
»Glauben Sie, er sei unzulänglicher als Roger?«
»Nein«, sagte ich noch einmal, ein wenig verärgert, aber trotzdem höflich bleibend.
»Glauben Sie, er ist weniger intelligent als Roger?« fuhr mich eine Stimme an.
»Grundsätzlich nicht«, erwiderte ich rasch.

Die Gruppe explodierte gegen mich.

»Weshalb müssen Sie dann Wilburs Verteidigung übernehmen?« 
»Kann Wilbur nicht für sich selbst sprechen, ohne daß Sie ihn verteidigen?«  
»Wer gibt Ihnen überhaupt das Recht, hier den Onkel Tom zu spielen?«

Laute Stimmen bombardierten mich mit zornigen Fragen. Meine Einstellung sei schlecht, sagten sie; ich sei voreingenommen, wenn ich das Bedürfnis hätte, einen Schwarzen zu verteidigen, der von einem Weißen beschimpft werde.

Die Attacke war furchteinflößend, aber sie war zugleich stärkend. Ich war im Zorn auf die Probe gestellt worden und nicht weggelaufen oder verschwunden. Ich fühlte mich wirklich sehr gut — geradezu heiter. Als später die Gruppenmitglieder bei Kaffee und Kuchen zusammensaßen, fiel es mir leicht, mich als Teil ihrer Kameradschaft und ihres Wohlbehagens zu fühlen.

Als ich das Gefühl der menschlichen Nähe genoß, überlegte ich, wie wohl die Patienten meiner Privatpraxis auf eine solche Begegnung reagieren würden. Ich meinte, daß viele meiner Patienten dieses Gefühl menschlicher Verbundenheit suchten, das ich jetzt erlebte. Der Unterschied lag nur darin, daß sie dieses Gefühl mit ihren nächsten Angehörigen und Freunden teilen möchten, mit denen sie durch soziale Bande verknüpft sind.

Mehrere andere provokative Begegnungsgruppen in Synanon riefen das gleiche Gefühl in mir hervor. Ich verspürte auch Furcht wie in der ersten Sitzung. Die verbalen Angriffe waren grausam. Es wurde geschrien, gekreischt, geflucht, geschimpft. Als Arzt hatte ich häufig den Eindruck, die Begegnungen seien zu heftig, zu persönlich und zu sehr auf sich selbst bezogen. Ich bezweifelte den therapeutischen Wert einer Reihe von Angriffen.

Doch die Begegnungen waren ein wichtiger Teil der gesamten Behandlung in Synanon. Fraglos dienten sie einem lebenswichtigen Zweck in der Gemeinschaft.

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Nachdruck auf dem Verhalten

 

So wichtig die Begegnungsgruppen auch waren, die Konzentration auf das Verhalten beeindruckte mich in Synanon am meisten. Den Süchtigen wurde gesagt, sie sollten aufhören, Rauschgift zu nehmen, aufhören zu lügen, aufhören zu stehlen, aufhören, Alkohol zu trinken — oder verschwinden! Einfach ausgedrückt, schien die Grundvorstellung in Synanon die zu sein: Verändere das Verhalten eines Süchtigen, dann kannst du anfangen, einen gesunden Menschen aus ihm zu machen. Ohne Verhaltens­änderung gab es keine Hoffnung auf Heilung. Ein Süchtiger ist emotional ein Kind, das stiehlt, lügt, betrügt, bettelt, schwindelt und Tricks anwendet, um seine Gewohnheit beibehalten zu können.

Für jeden traditionell ausgebildeten Psychiater wie mich war die vernünftige Einstellung zum Verhalten in Synanon frisch und faszinierend. Mir fehlte ein solcher Fixpunkt in meiner Einstellung zu Analyse und Therapie, und ebenso erging es den meisten meiner Kollegen.

Meine Privatpatienten waren keine Süchtigen, doch viele wiesen Abwehrhaltungen auf, die ein durchaus abzulehnendes Verhalten zur Folge hatten. Nehmen wir einmal an, ihnen würde ohne jedes Federlesen gesagt, sie sollten ihr destruktives Verhalten einstellen. Wie würden meine Patienten auf eine solche Kritik reagieren? Wie verletzt würden sie sein? Wie ärgerlich? Wie würden sie ihren Zorn äußern? Welchen Schaden würde das vielleicht anrichten? Wie viele von ihnen würden positiv auf die Herausforderung reagieren? Die Fragen waren interessant, aber schwer zu beantworten. Wegen des spezifischen Charakters der Analytiker-Patient-Beziehung schien es unmöglich zu sein, daß ich meine Patienten sofort so nachdrücklich herausforderte.

Bezeichnenderweise konzentrierten sich die meisten Konfrontationen in Synanon auf das Verhalten. Was die Gruppenmitglieder in der Gemeinschaft taten oder nicht taten, rief intensiven Zorn hervor. Beispielsweise glaubte ein Gruppenmitglied, daß ein anderes Mitglied seine Arbeit in Synanon nicht verantwortungsbewußt tue. Ein anderes fühlte sich von der defätistischen Haltung bedroht, die ein Gruppenmitglied einnahm.

Meistens schienen die Konfrontationen insofern erfolgreich zu sein, als sie sofortige Verhaltensänderungen bewirkten. Wenn ein Mann mit Teilnahmslosigkeit gegenüber seiner Arbeit konfrontiert wurde, konzentrierte er sich darauf, härter zu arbeiten. Einer begann, sein Benehmen zu ändern, weil andere sich dadurch mißachtet gefühlt hatten. Ein weiterer früherer Süchtiger kämpfte ernstlich gegen die destruktive Haltung an, auf die ihn andere hingewiesen hatten.

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Bei diesen Begegnungen beobachtete ich mehr überlastete Emotionen, als ich in meiner Praxis je erlebt hatte. Ich war verblüfft, wie häufig zornige Konfrontationen zu späterer Zuneigung führten — sowohl bei dem Angreifer als auch bei dem Angegriffenen. Ich sah, daß intensive Wut gesündere Einstellungen und neue Einsichten förderte. Hochbelastete Gefühle erzeugten tatsächlich therapeutische Beziehungen und Ergebnisse.

Doch die Medaille hatte auch eine Kehrseite. Viele benutzten die Wut bei den Begegnungen geschickt als Defensivwaffe. Ihre zornigen Ausbrüche waren ständig ungerecht. Häufig waren sie für niemanden von therapeutischem Wert. In vielen Fällen rief der Zorn entsetzliche Angst bei den Angegriffenen hervor. Das beunruhigte mich. Die Furcht konnte vielleicht so stark sein, daß sie jemanden veranlaßte, die Synanon-Gemeinschaft zu verlassen. Schlimmer noch, das Opfer konnte einen Selbstmord­versuch unternehmen oder dem Angreifer physischen Schaden zufügen.

In der Atmosphäre der Synanon-Gemeinschaft fing ich an, etwas von der Gewalt der menschlichen Psyche zu spüren. Ich sah, wie Menschen vernichtende verbale Angriffe auf lebenslange Abwehrhaltungen ertrugen und dennoch bei der nächsten Begegnung mit größerer — keineswegs geringerer — Ichstärke erschienen. Zu beobachten, wie sich am Schluß der Gruppensitzung der bösartige Zorn bei einigen Mitgliedern in zärtliche Zuneigung verwandelte, erlaubte überdies neue Einblicke in das Verlangen des Menschen, mit anderen verbunden zu sein.

Ich kehrte nach New York zurück, angefüllt mit Eindrücken aus Synanon und mit zahlreichen Notizen. Diese wurden zur Grundlage meines Buches So Fair a House, das Ende 1963 veröffentlicht wurde. Vorher wurde der Bericht über die Informationsreise für das National Institute of Mental Health formuliert und als Teil des überarbeiteten Vorschlags von Dr. Bassin vorgelegt. Die Behörde bewilligte die Mittel für eine fünfjährige Forschungsarbeit über Möglichkeiten der Rehabilitierung Rauschgiftsüchtiger. Ich wurde psychiatrischer Berater des Projekts, das vier verschiedene Behandlungswege für süchtige Schwerverbrecher erproben sollte. Einer dieser Wege führte über eine Zwischenstation, Daytop Lodge genannt, aus dem später Daytop Village wurde.

Daytop Lodge wurde im Sommer 1963 gegründet. Es verband ein Berufsausbildungsprogramm mit Elementen der Gruppen­dynamik und Struktur von Synanon — alles mit erheblichen Sicherheitskontrollen ausgestattet. Leider gelang es den sechs Erziehern — von denen nur einer, und auch nur teilweise, in Synanon ausgebildet worden war — während des nächsten Jahres nicht, das Experiment in Daytop Lodge therapeutisch lebensfähig zu machen.

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Während dieses Jahres stand ich in dauernder Verbindung mit Chuck Dederich. Ich fragte ihn, was man brauche, um eine Synanon-Gemeinschaft an der Ostküste der Staaten zu gründen. Seine Antwort war bezeichnend: Zweitausend Dollar — genug Geld für zwei Monatsmieten, einen gebrauchten Kombiwagen, Benzin und das Essen für sieben Mitglieder von Synanon, die zur Ostküste kommen würden. Ich gab ihnen das Geld, und sie eröffneten im Februar 1963 eine Gemeinschaft in Westport, Connecticut. Der fortgesetzte Kontakt mit Synanon-Gruppen in Westport regte mich an, über Gruppentherapie für meine bürgerlichen Patienten weiter nachzudenken, doch die Gefahren und Grenzen der Angriffs-Begegnungs-Methode machten mir große Sorgen.

In Synanon gab es eine genau regulierte, arbeitsorientierte therapeutische Umwelt, in der sich die Patienten täglich vierund­zwanzig Stunden aufhielten. Eine solche Gemeinschaft konnte ich für meine Patienten nicht nachbilden. Es gab kein System, etwaige psychische Schäden zu beseitigen, die durch Gruppenangriffe verursacht wurden, keine Möglichkeit, Patienten zu überwachen, nachdem sie eine Gruppensitzung verlassen hatten. Einige meiner Patienten waren, wie ich wußte, stark genug, um Gruppenangriffen standzuhalten. Doch andere hatten vielleicht keine ausreichende Ichstärke. Ich brauchte einen Weg, um meinen Patienten sowohl Unterstützung und Liebe als auch Herausforderung zu bieten.

Die Probleme, die meine Patienten beim Geben und Empfangen von Liebe hatten, waren zahlreich. Eine Hausfrau sagte, sie sehne sich nach Zärtlichkeit von ihrem Mann, und beklagte sich darüber, daß er mit Sex beginne, ohne ihr seine liebevollen Gefühle zu zeigen. Doch als ich bei einer Sitzung mit ihm sprach, sagte er, er habe den Eindruck, daß seine Frau Zärtlichkeit zurückweise, wenn er sie anbiete. Ein anderer Patient lebte seit über zwei Jahren von seiner Frau getrennt, ohne daß sie bereit war, sich scheiden zu lassen. Er befand sich in einem schmerzlichen Machtkampf mit seiner Frau. Anscheinend war er nicht in der Lage, die Bedürfnisse seiner Frau oder ihre liebevollen Gefühle zu verstehen.

Gruppentherapie konnte Patienten wie diesen vielleicht helfen, doch ich hatte den Eindruck, daß es bei den Gruppensitzungen um sanftere und zärtlichere Gefühle gehen sollte, als ich sie bei den Synanon-Begegnungen erlebt hatte. Andererseits lag der Wert einer nüchternen Betonung des vernünftigen Verhaltens auf der Hand. Und Zorn schien eine grundlegende Emotion des Menschen zu sein, die der Äußerung bedurfte. In Synanon hatte ich häufig erlebt, daß Menschen in Furcht gerieten und in Tränen ausbrachen, wenn sie zornig wurden. Bei einigen Mitgliedern zeigte sich intensive Furcht, wenn sie im Zorn herausgefordert wurden. Andere, die nicht unmittelbar an dem zornigen Wortwechsel beteiligt waren, begannen plötzlich zu weinen oder zitterten in einem Ansturm der Gefühle. Der Zorn war deutlich das Vorspiel zu vielen anderen Emotionen.

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Eine Begegnungsgruppe für Privatpatienten

 

Im Herbst 1963 nahm ich eine experimentelle Gruppentherapiesitzung in meine Praxis auf. Ich suchte dazu acht im wesentlichen charaktergestörte Personen mit Obsessionen (Zwangsneurosen) aus, die seit zwei bis fünf Jahren bei mir in der Analyse waren. Da ich wegen etwaiger Schäden unsicher war, die sich ergeben mochten, falls ich mich einem meiner Patienten direkt entgegenstellte, bat ich zwei »Katalysatoren« aus Synanon, an der Gruppe teilzunehmen. Einer war in Synanon ausgebildet worden. Der andere war Kriminologe und mit mir zu den Begegnungsgruppen der Synanon-Gemeinschaft in Westport gekommen.

Die Gruppe wurde ein durchschlagender Erfolg. Alle acht Patienten berichteten auf eine Art, die sich verblüffend von ihren Reaktionen in analytischen Sitzungen unterschied. Auf der Couch war es ihnen gelungen, ihre Emotionen zu kontrollieren und sich methodischer zu artikulieren. In der Gruppe kamen die Reaktionen rascher, intensiver, emotionaler.

Jack, ein Mann mit Obsessionen, hatte die Gewohnheit, dadurch Selbstkontrolle zu üben, daß er sich eines monotonen Singsangs bediente. Als ihm der Katalysator entgegentrat und Jack darauf Einwände erhob, bestätigte die ganze Gruppe, daß das Urteil des Katalysators richtig sei. Zum ersten Mal, seit ich Jack kannte, brach seine verstandesmäßige verbale Kontrolle zusammen, und die dahinterstehende Beherrschung des Zorns blieb aus. Jacks Stimme wurde so laut, so schneidend, daß jeder in der Gruppe schockiert war. Dann traten bei Jack jene Zeichen von erleichterter Heiterkeit auf, die ich in Synanon gesehen und selbst erlebt hatte. Er nahm herzlichen und verletzbaren Augenkontakt mit anderen im Zimmer auf und war völlig auf die Anteilnahme eingestimmt, die ihm entgegengebracht wurde. Die folgenden Einzelsitzungen bewiesen, daß der Gruppenzwischenfall ein wesentlicher Faktor bei der Änderung von Jacks Einstellung zu Zorn und Liebe war. Danach begann sich sein gesamtes Lebensschema zu verändern.

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June, Grundschullehrerin, versetzte mich ebenfalls in Überraschung. In den Einzelsitzungen hatte sie immer die Kontrolle über alles, was sie sagte, behalten und nur geringe Emotionen gezeigt. Sie bemühte sich stets, sich auf gegenwärtige Probleme in ihrem Leben zu konzentrieren, die unverzüglich gelöst werden mußten. In der Gruppe brach sie zusammen, weinte hysterisch und voller Angst, und von da an wurden die Einzelsitzungen völlig anders. June äußerte Gefühle der Angst und Unzulänglichkeit und hielt sich für nicht liebenswert. Die Therapie wurde produktiver. Wir konnten uns mit ihrem echten Unsicherheitsgefühl beschäftigen, statt daß sie weiter die jeweils anstehenden Probleme als Bemäntelung benutzte.

Ich entschloß mich, einmal in der Woche die gleichen Menschen zu einer Sitzung zusammenzubringen. In den Einzelsitzungen gab es weiter erheblich stärkere Gefühlsausbrüche ohne psychischen Schaden für die Patienten. Die Erkenntnisse, die meine Patienten als Ergebnis ihrer Gruppenbegegnungen zunehmend gewannen, erwiesen sich ausnahmslos als therapeutisch wertvoll. Alle acht Patienten machten in der privaten Analyse bessere Fortschritte hinsichtlich ihrer emotionalen Gesundung, weil sie offeneren Zugang zu ihren Gefühlen bekamen.

In der Rückschau zeigt sich nun, daß Synanon und Daytop ebenso wie die Gruppen, die ich durchführte, eine Sache waren, die allen Menschen nicht nur Rauschgiftsüchtigen — weiterhalf. Die »Human Potential Movement« (Bewegung für menschliches Potential, menschliche Möglichkeiten) hatte begonnen. Das Nationale Trainingslaboratorium wuchs rasch. Die Anhänger von Maslow und Rogers hatten die Gesellschaft für humanistische Psychologie (mit dem Ziel der Selbstverwirklichung des Menschen) gegründet. 

Das im Jahr 1959 in Big Sur von Michael Murphy und Richard Price begonnene »Esalen« wurde unter der Leitung von William Schulz allmählich bekannt. Frederick S. Perls praktizierte seine Gestalttherapie in Gruppenkursen. Besonders an der Westküste entwickelten einige bahnbrechende Psychiater und Psychologen Neuerungen der Gruppentherapie. Klassische Gruppen, Begegnungsgruppen und Trainingsgruppen waren nicht mehr die einzigen. In vielen Fällen war »Sensitivität« die Richtung, die die Gruppen einschlugen. Diese letzteren Gruppen, eher informatorisch als provokativ, waren ihrer Absicht nach zunächst nicht therapeutisch. Statt dessen konzentrierten sie sich darauf, Bewußtsein für die Gefühle, die Reaktionen und die Selbstdarstellung des einzelnen Mitglieds durch Interaktion mit anderen Menschen zu entwickeln.

Da das einleitende Experiment anscheinend ein voller Erfolg gewesen war, entschloß ich mich, vorsichtig eigene Versuche mit der Gruppentherapie zu unternehmen. Ende 1963 und das ganze Jahr 1964 vergrößerte sich allmählich meine Gruppenpraxis. Für meine sämtlichen Patienten wurde die Zahl der Einzelsitzungen verringert und die der Gruppen erhöht.

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Patienten, die früher drei- oder viermal die Woche zur privaten Analyse gekommen waren, sahen mich nun nur noch ein- oder zweimal die Woche allein und nahmen an zwei bzw. drei Gruppensitzungen teil.

 

Zorn und Liebe

 

»Begegnung«, das war das Motiv in diesen ersten Gruppen. Meine Patienten sahen sich Beschuldigungen ausgesetzt, die ich nie hätte vorbringen können. Sie kritisierten ihr Verhalten und ihre Einstellungen häufig mit mehr Zorn, als irgend jemand verdiente. Sie wurden angeschrien, daß sie emotional unehrlich seien; getadelt, sie seien langweilig, wenn sie sich über Fakten statt über Gefühle ausließen; laut gemahnt, wenn sie sich emotional von der Gruppe zurückzogen. Und sie wurden aufgefordert, ihre destruktiven Symptome aufzugeben. Überwiegend machten diese Patienten raschere Fortschritte als im streng analytischen Programm. Nur in einigen wenigen Fällen sah ich keine wirkliche Besserung. (Doch dies waren Fälle, bei denen ich auch in privaten Sitzungen keine Besserung gesehen hatte. In keinem Fall konnte ich beobachten, daß die Gruppensitzungen meinen Patienten irgendwelchen Schaden zufügten.)

Zuerst leitete ich alle Gruppen selbst, obwohl ein bezahlter Katalysator ebenfalls anwesend war. Im Lauf der Zeit erkannte ich, daß meine Katalysatoren den Zorn spontaner ausdrücken konnten, als ich es vermochte. Meine medizinische Ausbildung hatte mich dazu geschult, Zorn in der Beziehung mit Patienten zu vermeiden, und in jenen frühen Gruppen fand ich es nahezu unmöglich, sie zornig anzuschreien. Ich fragte mich deshalb, ob ich ständig an allen Gruppen teilnehmen mußte — oder sollte. Vielleicht sollte einer meiner Leiter gelegentlich die Gruppe allein übernehmen.

In einer dieser ersten Gruppen ereignete sich etwas Wichtiges, das nichts mit Zorn zu tun hatte. Eines Tages saß eine Frau namens Elizabeth auf ihrem Stuhl und weinte hemmungslos. Von diesem Schmerz bewegt, standen der Gruppenkatalysator und eine andere Frau spontan von ihren Plätzen auf, gingen zu Elizabeth und umarmten sie. Dieses Tun verblüffte mich. Ich war von Elizabeths Tränen bewegt, doch meine Ausbildung und meine Stellung als Autoritätsperson in der Gruppe hinderten mich daran, das zu tun, was der Katalysator und die andere Frau getan hatten. Dieser Vorfall wurde zu einem entscheidenden Angelpunkt in meinem Prozeß. Die Umarmung erwies sich als lebenswichtig für Elizabeth. Sie hatte dabei erkannt, wie sehr sie die Liebe ihr ganzes Leben lang nötig gehabt hatte.

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Und was noch bedeutsamer war, die Umarmung stimmte die ganze Gruppe freudig. Die Mitglieder umarmten sich nun auch untereinander, und viele von ihnen weinten vor Freude und Schmerz. Schließlich wandte sich Elizabeth auch mir zu, um mich zu umarmen. Sollte ich meinen menschlichen Impulsen folgen oder mich strikt an meine berufliche Ausbildung halten? Ich war verkrampft, aber ich umarmte sie. Die Gruppe brach in Gelächter aus und rief Bravo. Die Reaktion war bedrohlich, doch ich fühlte mich durch das Erlebnis sehr erregt.

Meine psychiatrische Ausbildung und Erfahrung hatten mich gelehrt, nie einen Menschen zu berühren, mit dem ich beruflich zu tun hatte. Außerdem hatte mich meine Ausbildung auf mancherlei Weise dazu konditioniert, neutral und unempfänglich zu bleiben. Natürlich waren meine Katalysatoren — und meine Patienten — psychiatrisch nicht vorbelastet und freier als ich in ihren Interaktionen mit anderen.

Um diese Zeit hatte Dave Deitch, der Synanon-Direktor in Westport, einen meiner Katalysatoren ersetzt. Ich entschloß mich zu einem Experiment, bei dem ich ihn und meinen anderen Katalysator je eine Gruppe leiten ließ, ohne daß ich dabei anwesend war. (Ich saß zu Beginn in der Gruppe und verließ dann den Raum.) Die Reaktionen der Gruppenmitglieder waren gut. Einige steigerten sich zu heftigerem Zorn als je zuvor, und ich erkannte den Wert dieser Ausbrüche in den folgenden Einzelsitzungen. Selbstverständlich konnten erfahrene Gruppenleiter, eine Menge in eigener Verantwortung tun, deshalb bat ich die beiden Männer, weitere Gruppen zu leiten, an denen ich nicht teilnahm. Ich erschien auch in diesen Gruppen häufig, machte von allen Gruppen Tonbandaufnahmen, leitete selbst Gruppen und arbeitete mit allen Patienten in Einzelsitzungen.

Während der ersten sechs Monate befanden sich in meinen Gruppen nur solche Patienten, die ich auch individuell behandelte. Doch manche Gruppenmitglieder sprachen mit anderen Leuten darüber, was in ihren Gruppen vor sich ging. Und bald erschienen Menschen bei mir, die »nur an den Gruppen teilnehmen« und nicht individuell von mir behandelt werden wollten. Solchen Bitten zu entsprechen widersprach meiner Vorstellung von psychotherapeutischen Methoden. Ich war immer noch der Ansicht, daß die individuelle Behandlung notwendig sei, deshalb wies ich die ersten Bewerber ab. Doch die Nachfragen wurden häufiger. Die meisten, die »nur an Gruppen« teilnehmen wollten, befanden sich anderswo in Behandlung. Schließlich nahm ich mehrere von ihnen in Gruppen auf, ohne zu verlangen, daß sie sich auch privat von mir behandeln ließen, solange ihre Therapeuten einverstanden waren. Innerhalb weniger Monate erkannte ich, daß das Experiment außerordentlich wirksam war.

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Später milderte ich die Regeln, so daß individuelle Behandlung nicht mehr als Vorbedingung betrachtet wurde. Einige neue Patienten, die nur an Gruppensitzungen bei mir teilnahmen, erlebten emotionale Durchbrüche und gewannen Einblicke, die ich in so kurzer Zeit nicht für möglich gehalten hätte.

Im Lauf der Zeit wurden die Gruppen allmählich der Kern meiner Praxis. Inzwischen war ich Mitbegründer, psychiatrischer Direktor und ärztlicher Leiter von Daytop Village geworden, einer therapeutischen Gemeinschaft für Rauschgiftsüchtige in weit größerem Maßstab, als es Daytop Lodge war. Es war die erste der therapeutischen Gemeinschaften, die nach dem Synanon-Modell aufgebaut wurden; diese Gemeinschaft wurde jedoch von der Regierung finanziell unterstützt. Sie hat als Modell für etwa zwanzig andere Gemeinschaften gedient. Jetzt (1972) hat Daytop insgesamt fünfhundert Betten in fünf Häusern. Viele der dort Ausgebildeten sind in anderen therapeutischen Gemeinschaften für Rauschgiftsüchtige tätig, etwa im Phoenix House, New York; in Gateway, Chicago; in Concept House, Miami; in den Marathon Houses, Rhode Island, Massachusetts und Connecticut; und den Gardenzia Houses, Pennsylvania.

Dave Deitch wurde geschäftsführender Direktor von Daytop. (Er leitete außerdem noch einige Gruppen für mich.) Daytop bildete ein ideales Laboratorium für Methoden der Gruppentherapie. In der gemeinsamen Arbeit modifizierten Dave und ich den verhaltens­mäßig orientierten Prozeß von Synanon und definierten ihn neu. Wir nahmen neue Methoden auf, sobald wir sie erprobt hatten. Wir führten in Daytop Verfahren ein, die in meiner Privatpraxis entwickelt worden waren und umgekehrt. Wir zogen ehemalige Rauschgiftsüchtige von Daytop zu einigen meiner Privatgruppen heran und schickten einige meiner Patienten nach Daytop.

Die Gruppen meiner Privatpraxis entfernten sich von dem, was sie anfangs waren. Die Disziplin von Angriff und Begegnung nahm ein weiteres Element auf. Der Zorn blieb weiter wichtig. Doch das gleiche galt für die Liebe.

Zwei Faktoren trugen entscheidend zu dieser Veränderung bei. Der eine war die Freimütigkeit meiner Gruppenkatalysatoren (und vieler Patienten), die nicht Psychiater oder Psychologen waren, ihre Zuneigung und Liebe anderen Gruppenmitgliedern gegenüber offen zu äußern. Der andere war unser Experimentieren mit einer zeitlich ausgedehnten Gruppensitzung, dem »Marathon«. Damals waren beide Wege noch ziemlich kontrovers. Heute wird die Marathonsitzung weithin als wertvolles Mittel der Gruppen­psychotherapie anerkannt. Die Verwendung von Laien als Gruppenleiter bleibt eine Streitfrage.

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Die Einführung des Marathon

 

Während jener frühen Gruppentätigkeit kam mir die Vermutung, daß sich eine Sitzung, die mehrere Stunden ohne Unterbrechung andauerte, als besonders wirksam bei charaktergestörten Patienten erweisen würde. Zu dieser Kategorie gehörten die meisten der ehemaligen Rauschgiftsüchtigen in Daytop, aber auch die meisten meiner Patienten waren charaktergestört. Sie litten an »gelähmten Gefühlen«, wie ich es nenne. Wenn sie vielleicht auch in Berührung mit oberflächlichen, defensiven Gefühlen kamen, fehlte es ihnen doch an echtem Kontakt mit ihren tiefsten Emotionen.

Meine Privatgruppen, die anderthalb oder gar zwei Stunden dauerten, gaben der Dynamik keine Möglichkeit, sich auf ernstlich charaktergestörte Menschen auszuwirken. Gerade wenn die Dinge in Gang kamen, war die Zeit zu Ende, und die Patienten konnten zur Tür hinausgehen und ihre Abwehr neu aufbauen. Eine längerwährende Gruppensitzung konnte vielleicht diese Menschen erreichen. Was ich über die zeitlich ausgedehnten Gruppensitzungen las und hörte, die George R. Bach1 und Frederick Stoller an der Westküste durchführten, ließ diese Methode recht interessant erscheinen.

Dave Deitch erklärte sich bereit, eine Daytop-Gruppensitzung so weit in die Nacht fortzusetzen, wie die Gruppe es wollte. Am nächsten Tag kam er voller Begeisterung zu mir. Es sei etwas sehr Schönes geschehen, sagte er. Die Gruppe habe die ganze Nacht mit dem üblichen Schreien und Brüllen durchgearbeitet, und gegen fünf Uhr morgens habe sich die Dynamik verändert. Einer der abgebrühtesten ehemaligen Rauschgiftsüchtigen sei tränenüberströmt zusammengebrochen, und plötzlich hätten ihn alle, ebenfalls weinend, umarmt. Die ganze Gruppe sei von Liebe und einem neuen Gefühl menschlicher Nähe erfüllt gewesen. »Es war wie eine Wiedergeburt für uns alle«, sagte Dave. »Wir fühlten uns wie Brüder — alle zusammen wie eine einzige Person.«

Das war der Beginn regelmäßiger Marathonsitzungen in Daytop. Wir übernahmen die Bezeichnung (nicht jedoch den Prozeß) von den an der Westküste durchgeführten Experimenten Bachs und Stollers. Von Anfang an suchten wir das Erlebnis der Liebe und Gemeinschaft in unseren Marathonsitzungen. Diese Sitzungen dauerten dreißig Stunden und gestatteten dem Gruppenmitglied nicht mehr als vier Stunden Schlaf. Wir fanden die Marathonsitzungen außerordentlich

 

1  Vgl. Dr. George R. Bach und Peter Wyden, Streiten verbindet, Gütersloh 1970

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wirksam für das Aufbrechen verhärteter Abwehrmechanismen und dafür, daß sich die Menschen emotional neuen Gefühlen der Zärtlichkeit öffneten. Die Ermüdung nach stundenlangem Wachbleiben hatte viel mit diesen emotionalen Durchbrüchen zu tun, aber wir taten alles, was wir während der Marathonsitzungen — und in den »Post-Marathon«-Gruppen, die ihnen folgten — tun konnten, um die Gefühle und Einsichten, die die Gruppenmitglieder gewonnen hatten, zu festigen und zu verstärken.

Heute haben sich unsere Methoden so weit entwickelt, daß wir keine dreißig Stunden lange Sitzungen brauchen. Die meisten unserer zeitlich ausgedehnten Gruppensitzungen dauern nur sechzehn Stunden und haben doppelt soviel Teilnehmer wie die frühen Marathonsitzungen mit zwölf Leuten. In unseren jetzigen Marathonsitzungen wird in dreißig Minuten mehr Emotionalität geäußert als in den dreißig Stunden des ursprünglichen Marathon! Jetzt gelangen nahezu alle Teilnehmer zu einem signifikanten emotionalen Erlebnis.

 

Schreien  

 

Als meine Gruppenpraxis größer wurde, verwendete ich einige meiner fortgeschrittenen Patienten als Katalysatoren. Ich bildete sie so aus, daß sie selbst Gruppen unter meiner Aufsicht leiten konnten. Wie meine früheren Katalysatoren, die gleichzeitig Leiter waren, trugen diese neuen Leiter viel zu meinem Verständnis der emotionalen Interaktion bei. Manche von ihnen waren außergewöhnlich empfindsam — sie erfaßten intuitiv, was mit ihnen selbst und anderen Gruppenmitgliedern vor sich ging, und waren emotional frei genug, ihre Gefühle auszudrücken.

Häufig halfen diese Leiter Gruppenmitgliedern, wirkungsvollere Möglichkeiten zur Äußerung von Gefühlen zu finden. In einer Gruppe begann eine Frau von ihrer Furcht zu sprechen. Als sie minutenlang damit fortfuhr, wurde die Angst im Raum fast unerträglich. Die Menschen rutschten unruhig hin und her, husteten, schauten auf mich und den Katalysator. Der Gruppenleiter unterbrach die Frau mit der Frage:

»Fürchtest du dich?« Voller Unruhe starrte die Frau den Katalysator an. »Ja«, rief sie, »ich fürchte mich!« Tränen traten ihr in die Augen, während sich ihr oberflächlicher Zorn in Furcht verwandelte. Dann begann sie zu schreien: »Ich fürchte mich! Ich fürchte mich! Ich fürchte mich!« Das Schreien wurde zum Kreischen. Es war ein signifikantes emotionales Erlebnis, nicht nur für die Frau, sondern auch für andere im Raum.

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Durch solche Einzelereignisse wurde deutlich, daß Worte allein häufig Abwehrmechanismen waren, die viele Personen daran hinderten, die Emotionen, von denen sie redeten, tatsächlich zu erleben. Ein andermal erklärte Tom, ein Pantoffelheld, weshalb er sich über seine Frau ärgere. »Dein Tonfall ist überhaupt nicht zornig«, sagte ich zu ihm. Die Gruppe stimmte zu, und die Zustimmung der anderen schien Tom zu ärgern. Plötzlich sprang er auf. »Ich bin wütend! ... Ich bin wütend! ... Ich bin wütend!« Seine Schreie hielten an und wurden immer lauter, bis er eine intensive Wut erreicht hatte. Diese verwandelte sich plötzlich in Freude. Er nahm die Schultern zurück und begann, beim Schreien zu grinsen. Ich fühlte seinen tiefen Zorn, allen anderen ging es ebenso. Nachdem Tom seinen Zorn ausgedrückt hatte, wirkte er freier und selbstsicherer.

»Und warum bist du auf deine Frau zornig, Tom?« fragte ich. Er lachte. »Warum? Zum Teufel damit!« sagte er. »Ich bin wütend. Ich werde ihr sagen, sie soll aufhören. Das ist alles.« (Tom beklagte sich, weil seine Frau ihn in der Öffentlichkeit dauernd unterbrach und korrigierte.)

»Nimm einmal an, Margie ist deine Frau«, sagte ich ihm und deutete auf ein Mitglied der Gruppe. »Sag ihr, sie soll aufhören.«

Tom begann, Margie »Hör auf!« zuzurufen. Zunächst klang es ein bißchen künstlich, bald jedoch immer energischer. Die Kraft seiner Erklärung war ansteckend. Die Gruppe genoß es und gab ihm als Hausarbeit den Auftrag, seiner Frau gegenüber genauso aufzutreten. In der nächsten Woche berichtete Tom, er habe die Aufgabe erfüllt. »Hat sie gesagt, sie will aufhören?« wollte jemand wissen. »Nein«, gab er kleinlaut zu. »Sie hat erwidert, sie unterbreche mich nur, wenn ich etwas Falsches sage.«

»Hat dich das nicht wütend gemacht?« fragte ein Gruppenmitglied. »Nein«, entgegnete Tom mit sichtlichem Unbehagen. »Sie wird recht haben. Manchmal sind die Dinge, die ich sage, wirklich nicht richtig.« Dann setzte er hinzu: »Aber trotzdem — es paßt mir nicht.« Die Gruppe, die in der Woche zuvor Toms Zorn genossen hatte, verlangte, er solle wieder aufstehen und schreien: »Ich bin wütend.« Dann forderte sie ihn auf, seine Erklärung zu wiederholen und in der folgenden Woche über die zweite Konfrontation mit seiner Frau zu berichten.

Es dauerte drei Wochen, ehe Tom berichten konnte, daß er tatsächlich zornig auf seine Frau geworden sei und sie versprochen habe, ihn nicht mehr zu unterbrechen. (Der nächste Auftrag der Gruppe für Tom: Bring deine Frau als reguläres Mitglied in die Gruppe mit!)

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Die Verwendung von Matten auf dem Fußboden wurde ganz zufällig vor etwa dreieinhalb Jahren eingeführt. Rick, ein ziemlich mürrischer, verschlossener Sozialarbeiter, äußerte Zorn. Wir ermutigten ihn, diesen lauter zu äußern, immer lauter. Im Verlauf der Zornübung wurde er von »Identitätsschmerz« befallen. Er schrie diesen Schmerz immer wieder heraus, faßte sich plötzlich an den Magen und sagte: »O mein Gott, das ist unerträglich!« und fiel vom Stuhl auf den Boden. In diesem Augenblick änderte sich der Charakter seines Schmerzes. Man hörte den Unterschied am Tonfall seiner Stimme und sah ihn auf seinem Gesicht. Es war nicht mehr der Schmerz des Hier und Jetzt, sondern der Schmerz eines bestimmten Moments in seiner Vergangenheit. Das Gefühl völliger Hilflosigkeit, wie er da auf dem Rücken lag und nicht mehr als Gleicher unter uns saß, brachte anscheinend das in seinem Unbewußten verschüttete Gefühl wieder zutage. Ich veranlaßte andere aus Ricks Gruppe, sich sofort ebenfalls auf den Boden zu legen. Unverzüglich veränderte sich auch der Charakter ihrer Gefühle.

Dieses gewaltige Abreagieren »vergangener« (historischer) Gefühle erwies sich als therapeutisch äußerst wirksam, indem es dem Betreffenden dabei half, sich seiner gegenwärtigen Gefühle, Einstellungen und Verhaltensweisen bewußt zu werden. Heute benutzen wir bei allen Marathonsitzungen Matten und behelfsmäßige Kissen für Übungen mit vergangenen Emotionen. Häufig sind mehrere Personen gleichzeitig auf dem Fußboden. Um jeden einzelnen drängen sich zwei, drei Gruppenmitglieder, halten ihm gelegentlich die Hand, streichen ihm die Arme, massieren ihm den verkrampften Bauch und tun alles, um ihn dazu zu ermutigen, daß er die Gefühle aus seiner Vergangenheit äußert. In fortgeschrittenen Gruppen, die nur zwei bis drei Stunden dauern, benutzen wir bei vielen Gelegenheiten ebenfalls Matten. Auf diese Weise können fortgeschrittene Patienten sehr rasch zu ihren tiefen Gefühlen gelangen, sich danach aufsetzen und das Erlebnis mit fesselnden Einblicken in ihren gegenwärtigen Zustand verknüpfen.

So entwickelten sich Schritt für Schritt wirksame Methoden durch die Dynamik des Gruppenprozesses. Gruppenleiter wie auch Gruppenmitglieder trugen zur Entwicklung von Verfahren bei, die den einzelnen bei der Äußerung tiefempfundener Emotionen helfen. Im Lauf der Zeit wurden die Verfahren zu »Übungen«, mit denen viele Gruppenmitglieder und -leiter vertraut waren. Meine Gruppenleiter und ich erkannten, daß die Konfrontation nicht der einzige Weg war. Wir sahen, daß tiefe Gefühle einfach aus sich selbst heraus nach Ausdruck verlangten. Die Gruppenmitglieder wurden ermuntert, Zorn, Furcht oder Schmerz »in vollem Umfang« und lauthals herauszuschreien. Wir stellten außerdem fest, daß das Umarmen Menschen, die schrien, eine zusätzliche emotionale Stütze gab und damit das Erleben der schmerzlichen oder furchterregenden Gefühle ein bißchen leichter machte.

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AREBA

 

Das AREBA-Programm war eine Weiterentwicklung der Daytop-Methoden, bereichert und stark modifiziert durch meinen emotionalen Gruppenprozeß. AREBA (Accelerated Reeducation of the Emotions, Behavior, and Attitudes — Beschleunigte Umbildung der Emotionen, des Verhaltens und der Einstellungen) ist eine therapeutische Gemeinschaft, die straffe Organisation und unbeugsame Disziplin mit Begegnungs- und anderen Techniken verbindet und besonders für die Rehabilitierung Jugendlicher aus der Mittelschicht bestimmt ist, die rauschgiftsüchtig sind oder an anderen schweren Problemen leiden.

Als ich meine Gruppenpraxis entwickelte, sah ich, daß Drogenabhängigkeit weiterhin ein ernsthaftes Problem darstellte. Mehrere Eltern in meinen Gruppen hatten Sorgen mit Kindern, die harte Drogen nahmen und süchtig geworden waren. Diese Jugendlichen brauchten mehr als eine intensive psychotherapeutische Hilfe. Sie brauchten zusätzlich ein Programm intensiver Fürsorge, das ihnen zeigte, wie sie leben sollten.

Das AREBA-Programm besteht aus drei Phasen, die sich über einen Zeitraum von etwa zwölf Monaten erstrecken. In der ersten Phase leben und »arbeiten« die jungen Menschen in der AREBA-Zentrale, die in den oberen vier Stockwerken des Casriel-Instituts untergebracht ist. Während dieser Phase stehen die AREBA-Internen vom Aufstehen bis zum Schlafengehen unter ständiger Aufsicht. Sie haben alle besondere Projekte und Tätigkeiten, für die sie innerhalb der AREBA-Gemeinschaft verantwortlich sind. In der zweiten Phase wohnen die Jugendlichen weiter im AREBA-Gebäude, dürfen jedoch zur Schule gehen oder eine Tätigkeit außer Haus übernehmen. In der dritten Phase können sie außerhalb des Gebäudes wohnen, arbeiten oder zur Schule gehen, aber sie müssen zu Gruppensitzungen oder zu sonstiger Therapie erscheinen.

Während des ganzen Programms nehmen die Jugendlichen an Gruppen teil, die ausschließlich aus AREBA-Mitgliedern bestehen, sowie an Gruppen im Institut, die sich aus Patienten der Mittelschicht und AREBA-Internen zusammensetzen. Außerdem gibt es noch Sondergruppen, die lediglich von AREBA-Jugendlichen und ihren Eltern besucht werden.

Gegenwärtig sind 80 Prozent der achtzig Jugendlichen, die während der letzten fünfundzwanzig Monate in die AREBA eingetreten sind, noch in Behandlung oder haben sie abgeschlossen. Vierundzwanzig der fünfundzwanzig Jugendlichen, die sie abgeschlossen hatten, sind gesund geblieben. Sechzehn Jugendliche sind vor Beendigung des Programms ausgeschieden, davon vier aus finanziellen Gründen, während zwölf ohne Angabe von Gründen fortblieben. Doch auch die Hälfte der Abgesprungenen lebt heute ohne Drogen.

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Menschliche Bedürfnisse in einer kranken Kultur

 

Trotz des materiellen Wohlstands in Amerika herrscht Unzufriedenheit unter den Menschen. Millionen und Abermillionen fühlen sich unerfüllt, unglücklich, ohne Ziel. Immer mehr Menschen scheinen nach den Erregungen des Augenblicks zu greifen, um das Gefühl lebenslanger Deprivation zu mildern. Immer mehr Amerikaner betäuben sich mit Alkohol, Konservenunterhaltung, Rauschgift, Arbeitswut, Zwangssex ohne Gefühl, Zuschauersport. Immer mehr Menschen stellen fest, daß sie zwar nicht gerade unglücklich, aber auch nicht glücklich sind — ohne zu wissen, weshalb sie nicht glücklich sind oder was sie dagegen tun können.

Eine gewaltige Zahl von Amerikanern leidet an »gelähmten Gefühlen«. In der psychiatrischen Terminologie sind dies »charakter­gestörte Persönlichkeiten«. Sie sind zornig, voller Furcht, voller Schmerz oder in Not. Aber sie fühlen den Zorn, die Furcht, den Schmerz oder die Not nicht — höchstens einmal sporadisch und oberflächlich. Diese Symptome sind typisch für die Süchtigen in Synanon, Daytop und AREBA und für die Mehrzahl meiner Mittelschicht-Patienten im Institut. Sie sind gegen ihre innersten Gefühle abgekapselt. Ihre Fähigkeit, eine vertrauensvolle Beziehung mit anderen Menschen aufzunehmen und Liebe zu geben und zu empfangen, ist ernsthaft beeinträchtigt. Häufig »agieren« sie destruktiv aufgrund tiefer Gefühle, von denen sie abgeschnitten sind. Sie tun Tag um Tag immer wieder das gleiche, ohne zu wissen, weshalb sie es tun und welchen Sinn das alles hat.

Als einzelne neigen viele von uns dazu, den gesellschaftlich anerkannten Werten und Vorstellungen unserer jeweiligen Subkultur entsprechend zu handeln, nicht jedoch aus dem Gefühl für unseren eigenen Wert. Die Institutionen und Sitten in unserer pluralistischen Gesellschaft belohnen uns sogar für unsere mangelnde Überzeugung. Millionen spielen Rollen: im Beruf, wenn wir unserem Chef Feuer geben; mit unseren Nachbarn, wenn wir vorgeben, herzliche Gastgeber zu sein; mit unseren Kindern, wenn wir versuchen, ihre »Kameraden« zu sein; mit der Partnerin, wenn wir Lehrbücher über sexuelle Techniken durcharbeiten und mechanistisch danach streben, gute Liebhaber zu werden.

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Wir unterdrücken unsere ehrlichen Gefühle, während wir uns bemühen, das gesellschaftlich Angemessene zu tun. »Bleib unbeteiligt!« »Mach kein Aufsehen!« »Werde nicht zornig!« »Hab keine Angst!« Oder in der Sprache der Jugend: »Immer lässig.«

Das Motiv, das dem Gesamtbild zugrunde liegt, ist das emotionale Abschalten. Um ihre Rollen spielen zu können, muß sich eine große Zahl von Amerikanern gegen ihre tiefsten Gefühle isolieren. Sonst würden sie die schmerzliche Verwirrung und die Demütigung fühlen, die ihre Rollen erzwingen. Man bringt uns schon in sehr frühem Alter bei. Eingeweidegefühle zu unterdrücken — Gefühle, die für Tiere und in der Frühzeit auch für die Menschen Überleben bedeutet haben.

Was uns geblieben ist, ist ein wenig Kontakt mit oberflächlichen Gefühlen meist defensiver Art, die den Zweck haben, jene tieferen, von unserer Kultur verbotenen Gefühle abzuwehren. Und geblieben ist uns eine von Krankheitssymptomen geplagte Welt. Häufig verhalten sich Menschen destruktiv sich selbst und anderen gegenüber. Bestenfalls verspüren sie ein Unbehagen — sie haben das Gefühl, daß etwas nicht richtig ist.

Meine Gruppen begannen nicht mit einer Theorie über die Bedürfnisse des Menschen in der heutigen Gesellschaft. Die Gruppen entwickelten sich Schritt für Schritt durch Versuch und Irrtum. Erst als ich beobachtet hatte, daß die Gruppendynamik erfolgreich funktionierte, fing ich an, nach einer theoretischen Struktur zu suchen, die erklären konnte, was vor sich ging und weshalb sich nichtverbale Methoden bei so vielen Patienten als therapeutisch wirksam erwiesen.

Grundlegend war dabei die Erkenntnis, daß wir lernten, uns gleichzeitig mit allen drei Aspekten des »dreiseitigen Menschen« zu beschäftigen — mit seinem Verhalten, seinen Gefühlen und seinen Einstellungen. Wenn wir Erfolg hatten, konnten wir grundlegende Persönlichkeits­veränderungen erzielen. Das Wesen dieser Veränderungen hat mich veranlaßt, den Prozeß als »die Gruppen für neue Identität« (the New Identity Groups) zu bezeichnen.

Ferner erkannte ich, daß wir nicht nur Neurotikern helfen, sondern auch auf einen Abwehrmechanismus Einfluß nehmen konnten, der der charaktergestörten Persönlichkeit eigentümlich ist. Dies ist ein Mechanismus, der sich von den klassischen Reaktionen »Flucht« oder »Kampf« unterscheidet, über die ich in meiner psychiatrischen Ausbildung etwas gelernt hatte. Meines Wissens ist dieser neue Abwehrmechanismus — den ich »Erstarren« oder »Einfrieren« nenne — bislang in der medizinischen Literatur noch nicht besprochen worden.

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Trotz der theoretischen Struktur meiner Gruppen kommt es, wie ich überzeugt bin, in erster Linie auf den Prozeß selbst an. In dem Prozeß geht es um mehr als um Sensitivitäts- oder Begegnungsgruppen. Gelegentlich versuche ich neue Übungen und Verfahren, experimentiere mit verschiedenen Gruppengrößen, füge zur theoretischen Grundlage des Prozesses neue und erprobte alte Erkenntnisse hinzu. Unsere Gruppenmethode ändert sich ständig. Der Nachdruck liegt darauf, die Dinge, die von größerem Wert zu sein scheinen, zu üben und zu verbessern, und jene wegzulassen, die anscheinend von geringerem Wert sind. Seinem Wesen nach ist es ein dynamischer Prozeß.

So wirksam die in meiner Praxis verwendeten Methoden auch gewesen sind, das Casriel-Institut und die AREBA haben auch ihren Anteil an Fehlschlägen. Es ist uns nicht gelungen, jedem Alkoholiker, jeder emotional infantilen Person, jedem Rauschgiftsüchtigen oder auch nur jedem leichten Neurotiker zu helfen. Manche Leute sind zu ein paar Gruppensitzungen erschienen und dann ausgeschieden. Es gibt keine wirkliche Chance, sie zu behandeln. Andere kommen zu Dutzenden von Gruppensitzungen und bleiben weg, wenn der Druck auf sie zunimmt, sich zu ändern. Doch vielen Menschen, die ähnliche Symptome haben wie die Ausgeschiedenen, haben wir geholfen. Einer der Hauptgründe dafür ist, wie ich glaube, der, daß der Prozeß der neuen Identität eine therapeutische Methode ist, die sehr rasch über das Symptom hinausgelangt zu jenen Gefühlen und Einstellungen, die das Symptom hervorgerufen haben. Mit diesen tieferliegenden Schichten des dreiseitigen Menschen muß der einzelne ringen, um sein Leben entscheidend zu ändern.

Eine solche Änderung kann sich nur dann vollziehen und dauerhaft werden, wenn das Gruppen­erlebnis innerhalb einer spezifischen, herausfordernden Struktur stattfindet, in die der einzelne völlig eingegliedert ist. Meine Gruppen beschäftigen sich mit einem Erziehungsprozeß. Es gibt keine Magie.  

Gruppentherapie soll keine Flucht vor dem Kampf, kein Versteck vor der Außenwelt, kein Versprechen sofortiger Heilung bieten. Sie stellt vielmehr ein Erziehungsprogramm dar, das darauf abzielt, den Patienten dadurch zu helfen, daß es sie wieder vermenschlicht. Die Gruppentherapie hilft emotional gestörten Menschen, die Probleme zu erkennen, die sie in ihren Beziehungen zu anderen haben. Sie kann dazu beitragen, destruktives Verhalten, destruktive Gefühle und Einstellungen zu eliminieren. Sie kann Menschen neu programmieren in Richtung auf mehr Freude und auf mehr Kreativität.

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Dan Casriel bei  www.detopia.de