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Um frei wählen zu können, muß man zunächst in der Lage sein, frei zu fühlen, frei zu denken und frei zu handeln. Wie erkennen wir eine solche Freiheit? Wie erreichen wir sie? Was ist eigentlich emotionale Gesundheit? Haben wir in einer Welt, wo die Symptome emotionaler Krankheit wild wuchern, überhaupt noch einen realen Maßstab dafür, wie Menschen aussähen, wenn sie nicht emotional »krank« wären? Was gäbe es dann statt der Symptome?
Es gibt leider wenig psychiatrische Ausdrücke, die die Gesundheit beschreiben. Schließlich widmen wir Psychiater uns der Behandlung unterschiedlicher Zustände emotionalen Unbehagens und emotionaler Selbstzerstörung. Mit emotionaler Gesundheit sind wir nicht vertraut. Unsere Tätigkeit gilt den Symptomen. Selbst unsere ärztlichen Diagnosen sind im wesentlichen Bezeichnungen für schlecht angepaßte Gefühle, Einstellungen oder Verhaltensweisen.
Beseitigt man die sichtbaren Symptome, dann nennen wir den Patienten allzuoft »gesund«. Nur wenige von uns haben versucht, das Wesen der emotionalen Gesundheit zu definieren. Wir haben nicht darum gerungen, das Ziel zu präzisieren, auf das uns unser Beruf angeblich hinweist!
Man braucht nicht Psychiater oder Psychologe zu sein, um zu wissen, daß manche Menschen emotional gestört sind. Sie wissen beispielsweise, daß einer Ihrer Freunde zu starr in seinen Ansichten ist; daß ein anderer nicht über sich selbst lachen kann und oft ein bißchen großspurig ist. Vielleicht kennen Sie auch eine Frau, der Sie nicht trauen, weil sie »zu nett« ist. Wenn Sie so sind, wie die meisten von uns, dann haben Sie Freunde oder Bekannte, die zu streitsüchtig, zu geschwätzig, zu klatschhaft, zu rasch beleidigt, zu ruhig, zu anmaßend oder sonstwas sind. Die Liste der »menschlichen Exzesse« der anderen kann nahezu endlos sein.
Trotzdem glauben Sie vermutlich, daß viele von Ihren Freunden psychisch einigermaßen gesund sind. Nicht alle lassen sich scheiden, leisten zu wenig in ihrem Beruf, leiden an Magengeschwüren, trinken zuviel, essen sich fett, nehmen Rauschgift, verpfuschen die Beziehungen zu ihren Kindern (oder Eltern) oder streiten ständig mit Mitarbeitern oder Verwandten. Manche von den Leuten, die Sie kennen, führen ihr Leben produktiv und verantwortlich, ohne sich anscheinend dauernd in einem Zustand der Verzweiflung zu befinden. Und die meisten dieser Leute sind als Freunde, Nachbarn, Mitarbeiter, Eltern, Kinder und sonstige Verwandte ganz in Ordnung.
Oder doch nicht? Wie beurteilt man die psychische Gesundheit eines Freundes oder Nachbarn? Ist es so schwer, emotional gesund zu sein, daß es überhaupt niemand schafft? Wie mißt man die eigene psychische Gesundheit?
Um diese Fragen zu beantworten, muß man meiner Ansicht nach alle drei Aspekte des »dreiseitigen Menschen« betrachten. Man muß das Verhalten, die Gefühle und die Einstellungen berücksichtigen.
Einfache Fakten über das Verhalten reichen nicht aus, um Gesundheit anzuzeigen. Mit wenigen Worten ausgedrückt: manche emotional gestörte Personen »agieren« destruktiv, andere nicht. Doch ob sie destruktiv agieren oder nicht, gestörte Menschen »strömen« schlechte Gefühle aus, wie etwa Aggressivität. Ein Mensch kann unter gewaltigem inneren Druck stehen und dennoch scheinbar normal reagieren. Wenn man ihn nicht gut kennt oder aus irgendeinem Grund nicht empfänglich für die »Signale« ist, die er aussendet, könnte man ihn emotional für ganz gesund halten. Und dennoch würde man sich täuschen, wie einem im vertraulichen Gespräch diejenigen versichern, die diesen Menschen lieben.
Der Mensch, der sich scheinbar so verantwortlich verhält, kann eine charaktergestörte Persönlichkeit sein, ohne jeden Kontakt mit seinen Gefühlen. Zwängen unterworfene Menschen handeln oft verantwortlich — jedem anderen, nur nicht sich selbst gegenüber. Im allgemeinen sind sie nützlich für die Welt, aber sie erlangen nicht die Freude, auf die sie berechtigten Anspruch haben. Das gleiche gilt für ihre Partner, ihre Kinder und ihre Mitarbeiter.
Also kann offensichtlich das äußere Verhalten allein nicht der Maßstab für emotionale Gesundheit sein. Man muß auch wissen, was ein Individuum über sein Leben »fühlt« und wie die ihm am nächsten Stehenden die Beziehung mit ihm empfinden. Man muß die Gefühle hinter der Fassade der gesellschaftlichen Konventionen erkennen — sonst wird man, wenn man nicht gerade ungemein empfänglich für menschliche »Signale« ist, leicht getäuscht.
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Einstellungen sind der dritte Maßstab. Bei emotional kranken Menschen spürt man selbstzerstörerische Einstellungen. Man hört sie aus ihren Worten heraus. Man erkennt sie in ihrem Blick. Oder daran, daß sie Kontakte mit Menschen meiden. Einstellungen sind Restwertsysteme, die wir alle mit uns herumschleppen, und gründen sich auf die Erlebnisse, die wir gehabt haben. Bei emotional gestörten Menschen sind viele Ansichten ichfeindlich.
Ich habe einen Patienten, der die Einstellung mit sich herumschleppt, daß Frauen weniger intelligent, weniger tüchtig und weniger vertrauenswürdig seien als Männer. Dieser allein lebende Junggeselle in den Dreißigern ist heterosexuell, trifft Verabredungen mit Mädchen und schläft manchmal mit ihnen. Doch keine Beziehung zu einem Mädchen dauert länger als ein paar Monate. Die Frauen, mit denen er sich verabredet, finden ihn physisch attraktiv, doch anscheinend langweilen sie sich rasch bei ihm. Zweifellos »fühlen« sie die Einstellung, die er ihnen gegenüber hat, und ebenso auch die Furcht und Aggression, die mit seinen frauenfeindlichen Ansichten verbunden sind. Dieser Mann war einziges Kind in einem Haushalt ohne Frauen. Sein verwitweter Vater hegte Widerwillen gegen Frauen. Und der Sohn übernahm diese Einstellung. Während der therapeutischen Sitzungen beklagte sich der Sohn in aufrichtiger Bestürzung über seine Unfähigkeit, eine dauerhafte Beziehung zu einer Frau zu unterhalten.
Einer meiner ersten Gruppenpatienten hatte Schwierigkeiten, Freude zu empfinden. Seine Einstellung war die, daß freudige Erlebnisse mit Schmerzen bezahlt werden müßten. Im Lauf von drei Jahren gab er seine Symptome — Depressionen und akuten Alkoholismus — auf, verarbeitete seinen Zorn auf Mutter und Vater, zog zu einem Mädchen und heiratete es schließlich. Doch während dieser ganzen Zeit und auch nachher noch mußte er gegen seine Einstellung ankämpfen, daß auf Freude Schmerzen folgen würden. Eine Zeitlang genießt er es, mit seiner Frau und mit Freunden zusammenzusein. Dann wird er von Depressionen überwältigt, die mit Schmerz vermischt sind.
Diese Geschichte veranschaulicht, weshalb ich Einstellungen als »Restwerte« bezeichne. Lange nachdem ein Mensch seine »Symptome« aufgegeben, sich durch seine Eingeweidegefühle hindurchgearbeitet und angefangen hat, sich zu verhalten, wie er es sollte, beeinträchtigt die Vielfalt destruktiver Einstellungen, die ihm in der Kindheit einprogrammiert worden sind, seine Gefühle immer noch. Und auch seine Handlungen, wenn er es zuläßt.
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Einstellungen sind schließlich strukturierte Denkmuster, die ein Leben lang Zeit gehabt haben, sich zu entwickeln. Obwohl sie spezifisch sind, sind sie doch wandelbar und erscheinen in unendlichen Variationen. Sie können subtil und deshalb schwer zu identifizieren sein. Sie können alle Gebiete des Lebens durchdringen. Einstellungen lassen sich nicht leicht verändern. Wenn eine schlecht angepaßte Einstellung nicht entdeckt wird, kann sie ein im Grunde gesunder Mensch sein Leben lang behalten.
Wir berücksichtigen alle drei Seiten des dreiseitigen Menschen, wenn wir mit neuen Patienten im Casriel-Institut sprechen. Das Bewertungssystem, das wir beim Einführungsgespräch verwenden, kann Ihnen eine Vorstellung davon vermitteln, was ich für emotional gesund halte.
Zuallererst fragen wir: Welches sind die Symptome des Menschen? Was hat ihn dazu veranlaßt, Therapie zu suchen? Ist er Alkoholiker, dem es schwer fällt, eine berufliche Stellung zu halten? Ist er homosexuell? Oder ein Student mit hohem IQ, der in den Prüfungen versagt? Ein zu dickes Mädchen, das nie mit Jungen ausgeht? Ist der Mensch entfremdet und einsam oder unfähig, signifikante heterosexuelle Beziehungen unter Gleichen aufrechtzuerhalten?
Die Symptome aufzuspüren ist sehr wichtig, weil meine Therapie es erfordert, daß der Patient die destruktiven Symptome von Anfang an aufgibt.
Einige unserer anfänglichen Fragen, die sich auf die Krankengeschichte beziehen, zielen auch darauf ab festzustellen, ob ein Individuum suizidale oder sonstige Tötungsneigungen haben könnte. Hat es schon einen Selbstmordversuch unternommen? Einer der Elternteile oder ein Verwandter? Falls Depressionen auftreten, wie schwer sind sie? Wie lange haben sie angehalten? Benutzt der Patient Schlafmittel? Weshalb? Hat er jemals aus Versehen zuviel genommen? Wie war die Zeit vor dem sechsten Lebensjahr? Wieviel von der emotionalen Nahrung, deren er bedurfte, wurde ihm vorenthalten? Wie zornig wird der Betreffende? Was macht ihn zornig? Hat er jemals versucht, einen anderen körperlich zu verletzen oder zu töten? Wenn ja, warum? Wie häufig ist er an Akten körperlicher Gewalttätigkeit beteiligt gewesen? Hat er den Eindruck, daß jemand »gegen ihn« ist? Wer? Und warum?
Solche Fragen sollen dazu dienen, Personen zu identifizieren, die in Gruppensituationen besonders beaufsichtigt werden müssen. Gewisse Antworten deuten darauf hin, daß es notwendig ist, diesen Menschen besonders zu prüfen, bevor er zu einer Gruppe zugelassen wird.
Unsere zweite Frage: Ist das Individuum offen oder verschlossen? Ein offener Mensch zeigt seine Gefühle auf dem Gesicht und drückt mit der Stimme die Gefühle aus, über die er spricht. Wenn er über Furcht spricht, höre ich die Furcht in seiner Stimme. Und höchstwahrschein-
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lich verspüre ich etwas von seiner Furcht in meinem Eingeweide. Die Emotionen, die der Mensch fühlt und zeigt, werden mir (oder jedem anderen offenen und unterrichteten Zuhörer) übermittelt. Ich kann mich einfühlen und verstehen.
Ein verschlossenes Individuum übermittelt häufig, wenn es über Emotionen spricht, überhaupt keine Gefühle. Ein verschlossener Mensch wird vielleicht darüber sprechen, wie er in einem Liebesverhältnis zurückgewiesen worden ist. Doch seine Worte werden spröde, kalt, nüchtern und langweilig moduliert sein. Man hört sie dahinrattern wie die Aufzeichnungen eines Computers in einem Science-fiction-Film. Auf der Gefühlsebene erlebt der Zuhörer Spannung und Angst, wobei sporadisch auch Aggressivität, Furcht, Haß und so fort »durchsickern«. Diese Gefühle sickern nur deshalb durch, weil der Betreffende sie nicht offen zeigen kann. Man langweilt sich schnell, wenn man einer verschlossenen Persönlichkeit zuhört, und möchte dieses Durcheinander abschalten. Es ist, als ob Bild und Ton bei einem Fernsehgerät nicht synchron abliefen. Man möchte entweder den Ton oder das Bild abschalten. Oder beides. Der Versuch, sich auf alles zu konzentrieren, was vor sich geht, erzeugt Spannungen, ist unbehaglich und nutzlos.
Die meisten verschlossenen Menschen wissen nicht, daß sie verschlossen sind. Häufig sind sie sich jedoch bewußt, daß in ihrem Leben »etwas fehlt«. Sie fühlen sich einsam und ohne Kontakt mit anderen Menschen. Doch sie vergessen, daß sie selber den anderen Menschen keine wirklichen Gefühle übermitteln.
Die meisten offenen Menschen können Zorn zeigen, verschlossene Menschen bringen dagegen eine erhebliche Selbstbeherrschung auf — und dann geschieht es eben, daß Aggressivität »durchsickert«, statt daß Zorn zum Ausdruck gebracht wird. Offene Menschen können Furcht zeigen; verschlossene Menschen ziehen sich statt dessen zurück.
Unsere dritte Frage versucht, die Reife einer Person in bezug auf Emotionen, Verhalten und Einstellungen zu bewerten. Wir fragen: Ist die Person ein Kleinkind? Ein Kind? Ein Jugendlicher? Oder ein Erwachsener?1
Es ist nicht immer leicht, jemanden in eine dieser vier Klassen einzuordnen. Manche Individuen stehen genau auf der Grenze zwischen Kind und Jugendlichem oder zwischen Jugendlichem und Erwachsenem. Häufig ist der neue Patient in einer Hinsicht erwachsen, in anderer ein Kind. Aber wir bemühen uns, einige Unterscheidungen in unse-
1 Diese Klassifikation ähnelt zwar der Klassifikation in Eric Bernes »Transaktionsanalyse« (»Eltern«, »Kind«, »Erwachsene«), ist aber nicht mit ihr identisch.
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rem Einführungsgespräch festzulegen. Die Diagnose stellen wir aufgrund dessen, was wir während dieses Gesprächs sehen und hören. Wir beurteilen die emotionale Reife nach den Gefühlen, dem Verhalten und den Einstellungen des Betreffenden. Hier seien einige der Richtlinien genannt:
Erwachsene erkennen, daß sie ihren Kuchen nicht essen und gleichzeitig behalten können. Sie zeigen in ihrer beruflichen Stellung und in ihrem persönlichen Leben Verantwortung. Man kann sich auf sie verlassen, weil sie tun, was sie sich zu tun vornehmen. Sie übernehmen die Verantwortung für das eigene Leben, sind sich ihrer Wahlmöglichkeiten bewußt und begreifen, daß für gewisse Entscheidungen, die sie treffen, ein bestimmter Preis zu zahlen ist.
Jugendliche möchten ihren Kuchen essen und machen ihren Eltern dann Vorwürfe, weil der Kuchen weg ist. Sie sind böse auf Mutter oder Vater oder auf beide und oft genug auch noch auf die Geschwister. Sie wissen es zwar selten, aber sie schieben den Eltern die Verantwortung für ihr eigenes Leben zu. Häufig bringt das Verhalten eines emotional Jugendlichen (der in Wirklichkeit fünfundfünfzig Jahre alt sein kann) destruktives Ausagieren mit sich. Rebellion ist das Motiv. Lehrer, Professoren, Collegepräsidenten, Chefs, Lebenspartner — alle können für sie Autoritätssymbole darstellen, gegen die sie vorgehen müssen. Emotional Jugendliche sind schwer zufriedenzustellen und rasch bereit zu nörgeln. (Leider erweisen sich ihre kritischen Einsichten oft als allzu richtig!)
Die Schwierigkeit bei ihnen ist nur, daß sie selten ihre Probleme lösen. Wie Grashüpfer springen sie von einem Problem zum anderen, das ähnliche Schwierigkeiten aufweist. Emotional Jugendliche fordern Freiheit des Handelns, übernehmen jedoch für ihr Handeln keine Verantwortung. Wenn man darauf besteht, daß sie die Verantwortung übernehmen, werden sie wütend.
Personen, die emotional auf der Stufe von Kindern stehen, unterscheiden sich von emotional Jugendlichen darin, daß sie nicht rebellieren. Statt dessen spielen sie im wesentlichen verführerische Rollen gegenüber den Partnern, den Chefs, den Kindern. Ein Mensch, der emotional noch ein Kind ist, »verwandelt« eine wichtige Person in Mutter oder Vater und führt dann seinen Auftritt vor, um Liebe oder Beifall zu erlangen. In der Therapie besteht immer die Schwierigkeit, daß ein solcher Patient seinen Therapeuten rasch in Mutter oder Vater verwandelt und dann dem Sinn nach sagt: »Du brauchst mir nur zu sagen, was ich tun soll, dann tu ich's sofort. Ich will ein artiges kleines Mädchen sein, dann bist du nett zu mir, machst mich gesund, und ich liebe dich für alle Zeit, Vater.«
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Personen auf der emotionalen Stufe von Kleinkindern möchten, daß sie mit ihrem Kuchen in alle Ewigkeit gefüttert werden. Wenn solch ein Mensch in meiner Sprechstunde erscheint, wird er unweigerlich vom Ehegatten, einem Elternteil oder sonst einer Autoritätsperson gebracht. Während des Einführungsgespräches verlangt das »emotionale Kleinkind« unverzüglich Magie. Die meisten Rauschgiftsüchtigen gehören in diese Kategorie. Ihre Einstellungen sagen: »Heilen Sie mich unverzüglich und schmerzlos, Dr. Casriel! Schwingen Sie Ihren Zauberstab über mich, dann werde ich Sie als Gott verehren.« Solche Menschen sind egozentrische und anspruchsvolle Babys, unfähig, eine Beziehung zu den eigenen Gefühlen und den Bedürfnissen anderer herzustellen. Wenn man auch nur ein wenig Wahrnehmungsvermögen besitzt, sind sie leicht zu erkennen.
Unsere vierte Gruppe von Fragen ist folgende: Ist der Betreffende fähig, eine enge und bedeutsame Beziehung mit mindestens einer ebenbürtigen »gleichen« Person zu unterhalten? Wenn ja, ist die Beziehung wechselseitig ergiebig? Wenn nein, was steht solchen Beziehungen bei ihm im Wege?
Es bedarf größerer emotionaler Reife, eine befriedigende Beziehung zu jemandem zu unterhalten als ein emotional isoliertes Dasein zu führen. Häufig türmen sich Probleme, die winzig zu sein schienen, als das Individuum allein war, unter dem Streß einer nahen Beziehung sehr viel höher auf.
Das Wort »Gleicher« ist wichtig. Ein Mensch, der lediglich Beziehungen mit Personen anknüpft, die intellektuell, gesellschaftlich und wirtschaftlich nicht seinesgleichen sind, läßt sich auf kein großes Risiko ein. Er lebt gewissermaßen in einer »schützenden Werkstatt«. Natürlich sollen Beziehungen auch wechselseitig lohnend sein, sonst geht etwas Ungesundes vor sich.
Unsere fünfte Frage hat etwas mit den drei diagnostischen Etiketts zu tun, die in der Psychiatrie heute von den meisten Leuten benutzt werden: Ist der Betreffende neurotisch, charaktergestört oder psychotisch?
In der heutigen psychiatrischen Terminologie lauten die drei klassischen Kategorien emotional gestörter Menschen: psychotisch, neurotisch und charaktergestört. (Ich untersuche sie eingehend in Kapitel 8.)
Die Menschen in meiner heutigen Praxis sind entweder charaktergestört oder neurotisch. Wenn ich auch gelegentlich Psychotiker in die Gruppen aufgenommen habe — sämtlich schizophrene Grenzfälle, deren Zustand medikamentös kompensiert worden war —, mußte ich doch feststellen, daß die Erfahrung weder für den Schizophrenen noch für die Gruppe von Nutzen war. Ich nehme Schizophrene nicht mehr in nieine Praxis auf.
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Zwischen den charaktergestörten Persönlichkeiten und den Neurotikern gibt es einige wichtige Unterschiede. Grundsätzlich wehrt sich der charaktergestörte Mensch (etwa 80 Prozent meiner Patienten), indem er seine Gefühle betäubt. Von seinen elementaren Gefühlen schneidet er sich völlig ab, so daß er sich in einem Zustand emotionaler Isolierung befindet. Er verstärkt diesen Rückzug, indem er sein Symptom ausagiert, mag er nun Rauschgift spritzen, sich betrinken, sechzehn Stunden am Tag arbeiten, zuviel essen oder das Haus mit dem Zwangsverhalten des Perfektionisten putzen. Welches Symptom es auch sei, es ist für ihn ein Mittel, seine tiefen Gefühle zu neutralisieren, ehe er sich ihnen auf bewußter Ebene stellen muß. Er benutzt einen Abwehrmechanismus, den ich »einfrieren« nenne.
Der charaktergestörte Mensch verdrängt die meisten seiner Gefühle, so daß er sie auf bewußter Ebene nicht fühlt. Der Neurotiker unterdrückt seine Gefühle — besonders die für das Überleben entscheidenden Gefühle der Furcht (die den Abwehrmechanismus der »Flucht« auslösen) und des Zorns (der die Reaktion »Kampf« hervorruft). Doch die unterdrückten Gefühle erscheinen ständig auf entstellte, emotional schmerzende Weise wieder. Der Neurotiker leidet meistens unter Schmerzen, ob diese von schwerer Angst, Depressionen, einer bestimmten Phobie oder anderen Neurosesymptomen stammen.
Der Unterschied zwischen Neurotikern und charaktergestörten Menschen verschwindet schnell, wenn beide erst einmal im Gruppenprozeß stehen. Doch ist es für mich und meine Gruppenleiter wichtig, von Anfang an zu wissen, welchen Abwehrmechanismus der einzelne verwendet.
Unsere sechste Frage versucht den Betreffenden unter zwei Typen einzuordnen: Ist er ein Annehmer oder ein Ablehner?
Diese Ausdrücke klingen hier zunächst ein bißchen nach Jargon. Die Konzeption wird ausführlich in Kapitel 11 erläutert, deshalb will ich jetzt nur die Hauptpunkte erwähnen.
Mit der Diagnose »Annehmer« oder »Ablehner« geht es mir darum festzustellen, wie der Betreffende grundsätzlich auf andere reagiert. Was erwartet er von Beziehungen mit anderen Menschen?
In der Kindheit wird ein Reaktionsmuster festgelegt, das für das Leben eines Menschen richtungweisend wird. Das Kind nimmt die signifikante Autoritäts- oder Liebesbeziehung zu der Person, die für es sorgt, entweder an oder lehnt sie ab. Die unbewußt getroffene Entscheidung ist das Ergebnis vieler Faktoren, die sowohl biologisch als
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auch im Milieu begründet sind. Doch wenn die Entscheidung erst einmal getroffen ist, wird sie nicht mehr geändert. Sie wird zum Angelpunkt der Persönlichkeitsentwicklung.
Unsere Diagnose: »Annehmer oder Ablehner« ergibt sich aus den Fakten, die wir erfahren, und gleichzeitig aus der Dynamik des Einführungsgesprächs. Ein Annehmer ist dazu konditioniert worden, einen hohen Preis an Schmerz für Liebe und Anerkennung zu zahlen. Er ist bereit, für jede Liebe zu zahlen, und ist das, was Freud mißverständlich Masochist nennt. Eine bessere Bezeichnung wäre »schmerzabhängig« (pain-dependent), ein Begriff, den Sandor Rado geprägt hat. Ein Annehmer erwartet Schmerz in einer Liebesbeziehung oder sucht ihn sogar, weil er daran gewöhnt ist. Ein Annehmer gerät häufig in eine schlechte Ehe oder Liebesbeziehung und zahlt einen schrecklich hohen Preis für eine dürftige Portion Liebe. Obwohl er diese Situation als schmerzlich empfindet, neigt er dazu, die fortgesetzte Kränkung als selbstverständlich hinzunehmen.
Ein Annehmer ist häufig gelähmt vor Furcht und bringt nur wenig Zorn gegenüber Menschen auf, die ihm etwas bedeuten. Typischerweise haben Annehmer tiefreichende Identitätsprobleme. Unbewußt fürchten sie, ohne einen signifikanten geliebten Anderen nicht leben zu können. Deshalb sind sie bereit, jeden Preis zu zahlen, ganz gleich, wie ungerecht er ist. Häufig achten sie den Geliebten nicht einmal, wenn der Preis, den sie für seine Liebe zahlen müssen, nicht schmerzlich hoch ist.
Der Ablehner dagegen besitzt ein weit stärkeres Gefühl für seine Identität, hat jedoch sehr viel weniger Vertrauen zu signifikanten menschlichen Beziehungen. Er hat gelernt, »seinen eigenen Daumen zu lutschen« — für sich selbst zu sorgen —, statt sich auf die Liebe anderer, zu verlassen. Er ist so programmiert worden, daß er nur wenig Schmerz erträgt, und den Schmerz in sich und anderen »schaltet« er beharrlich »ab«. Er neigt in seinen Reaktionen zu Mißtrauen. Falls er neurotisch ist, sind seine Reaktionen häufig physischer und aggressiver Zorn. (Das ist Freuds irrige Konzeption vom Sadisten, die aus der Beobachtung von Ablehnern entstand, die zornig reagieren, wenn sie von einem geliebten Objekt mit Liebe bedroht werden.)
Falls er charaktergestört ist, kann seine Reaktion verkniffene Selbstbeherrschung sein. Ein neurotischer Ablehner kann auch mit Furcht, ein charaktergestörter mit offenem oder verstecktem Rückzug reagieren. Der Ablehner behält seine innersten Bedürfnisse nach Liebe für sich. Selbst in einer Ehe, die der Ablehner für gut hält, fühlt er sich häufig einsam und isoliert. Er kann Liebe von anderen deshalb nicht annehmen, weil er unbewußt fühlt, daß der Preis, den er vielleicht in Form von Schmerz zahlen muß, dafür zu hoch ist.
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Der Annehmer genießt, obwohl er Schmerz in einer menschlichen Beziehung erleidet, die Liebe, wenn sie ihm geboten wird. Der Ablehner dagegen ergreift die Chance nicht, emotional beteiligt zu sein. Er leidet keinen Schmerz, aber er fühlt keine Liebe. Statt dessen verspürt er Einsamkeit und Isolation und fühlt sich schließlich erschöpft und bedrückt, als ob er mehr zu der Beziehung beitrüge, als er herausbekommt. Das trifft selbstverständlich nicht zu, aber er erkennt nicht, daß er seine Situation selbst geschaffen hat.
Unsere siebente Frage lautet: Ist der Betreffende im Hinblick auf seine Herkunft und sein Potential produktiv? Ist er potentiell ein »erstklassiger Bürger«, obwohl er behaglich als »Bürger zweiter Klasse« lebt?
Es stimmt etwas nicht, wenn ein Mann, der an der Yale-Universität Examen gemacht hat, eine ständige Stellung als Leiter einer Versandabteilung annimmt. Oder wenn ein Mädchen mit einem philosophischen Magisterexamen ihre Freizeit mit Männern verbringt, die nicht einmal die Mittelschule beendet haben. Es ist etwas falsch, wenn eine intelligente, gebildete und fähige Hausfrau und Mutter so in ihren Alltagsmühen steckenbleibt, daß ihre Gespräche und ihre Einstellungen den Ehemann und die Nachbarn langweilen. Oder wenn ein junger Mann mit ungewöhnlichem Kunst- und Zeichentalent eine Stellung annimmt, in der er mechanisch Filmplakate malt und sich nicht darum bemüht, seine Position zu verbessern.
Das Potential ist bei jedem Menschen verschieden. Es hängt von der Intelligenz, der körperlichen Gesundheit, der Kreativität, von besonderen Begabungen, von der physischen Erscheinung, der Erziehung, dem gesellschaftlichen Status und sogar von den Dingen ab, die man für Geld kaufen kann, gute Ernährung, Medizin, Bildung und Freizeit. Ein gesunder Mensch entwickelt sein Potential produktiv. Er unterbricht die Arbeit, um sich zu entspannen, erfreulichen Tätigkeiten nachzugehen und sich der Kontemplation hinzugeben. Doch im wesentlichen findet er Herausforderung und Anregung darin, seine Fähigkeiten produktiv zu erweitern.
Die letzte Gruppe von Fragen versucht herauszufinden, wie der Betreffende zu Zorn und Liebe steht, zu den beiden Gefühlen, die in unserer Gesellschaft am wenigsten verstanden werden und am stärksten verzerrt sind. Hier handelt es sich um vier Fragen:
Wie nimmt er es auf, geliebt zu werden?
Wie gelingt es ihm, Zorn zu äußern?
Wie nimmt er es auf, zornig behandelt zu werden?
Wie gelingt es ihm, Liebe zu schenken?
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Zorn und Liebe anzunehmen und zu geben sind völlig verschiedene Dinge. Ein Ablehner kann beispielsweise gut darin sein, Liebe zu schenken. Doch Liebe anzunehmen ist schrecklich schwer für ihn. Er weiß, daß er einen Anspruch darauf hat, geliebt zu werden, doch er hat den Eindruck, daß der Preis dafür zu hoch ist. Er hat keine Probleme, ein Individuum zu sein; er besitzt ein starkes Identitätsgefühl. Doch er spürt, daß er nicht Teil einer emotionalen Beziehung sein kann — sein will. Es würde ihn zuviel Schmerz kosten. Um Liebe anzunehmen, muß der Ablehner seine Fassade von Stolz und Unabhängigkeit aufgeben, hinter der er sich den größten Teil seines Lebens versteckt hat. Er müßte offen zugeben, daß er es braucht, geliebt zu werden. Dieses Eingeständnis wäre für ihn der Anlaß, daß er sich gefährlich verwundbar fühlt. Wenn ein Ablehner wirklich Liebe annimmt (also nicht nur gesellschaftlich vorgibt, sie anzunehmen), treten ihm Tränen des früheren Schmerzes in die Augen.
Annehmer können gewöhnlich Liebe leichter akzeptieren. Da sie erwarten, Schmerz als Preis dafür zahlen zu müssen, zeigen sie den Schmerz leichter. Sie sind so programmiert. Doch wenn der Schmerz nicht stark genug ist, können sie die Liebe leugnen oder herabsetzen oder gar den Menschen zurückweisen, der die Liebe schenkt. Der subjektive Schmerz eines Annehmers ist nicht so unerträglich wie das subjektive Schmerzgefühl des Ablehners.
In unserer Kultur hat fast jeder gewisse Schwierigkeiten, Zorn zu äußern oder hinzunehmen. Zorn ist ein Gefühl, das ständig unterdrückt wird. Doch psychologisch ist es unmöglich, jemanden zu lieben, ohne häufig Zorn auf ihn zu haben. Wenn der Zorn nicht gezeigt wird, muß er unterdrückt werden. Und unterdrückter Zorn »sickert« unbewußt als Aggressivität, Langeweile und Depression »durch«.
Ein Annehmer fürchtet den Zorn besonders, weil er den Eindruck hat, das geliebte Objekt dann zu verlieren. Deshalb ist er bereit, einen so hohen Preis für Liebe zu zahlen, und deshalb hat er das Gefühl, keinen Anspruch auf Liebe zu haben, wenn er diesen Preis nicht zahlt. Es bedeutet für ihn kein Problem, der unterlegene Partner in einem emotionalen Paar zu sein, weil er den Eindruck hat, als Individuum ohne diese Beziehung nicht überleben zu können. Er ist von dem geliebten Objekt abhängig, um überleben zu können — dies erst verleiht ihm seine Identität. Er muß die Beziehung selbst dann aufrechterhalten, wenn der Partner sagt, er liebe ihn nicht. Er zeigt seinen Zorn nicht, doch Depressionen sind ein häufiges Symptom dafür.
Unsere Gruppen konzentrieren sich von Anfang an auf Liebe und Zorn, weil es die am leichtesten zu beobachtenden und in einer therapeutischen Situation zu projizierenden elementaren Gefühle sind.
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Doch der Schmerz ist ebenso elementar. Wie sich ein Individuum zum Schmerz verhält, sagt uns, wie es programmiert worden ist. Zunächst einmal reagieren Menschen auf erwarteten Schmerz (»Gefahr« genannt) mit Furcht oder Zorn oder emotionaler Isolation je nach ihrer emotionalen Erziehung.
Ich finde, daß das Gefühl des Schmerzes von vielen Psychotherapeuten grob mißverstanden worden ist. Einer der Gründe dafür könnte der sein, daß Psychotherapeuten selbst Ablehner sind und sich emotional gegen intensive Freude und intensiven Schmerz menschlicher Beziehungen abschirmen. Weil sie persönlich so große Schwierigkeiten haben, ihren Schmerz zu fühlen und zu äußern, meiden sie seine Signifikanz und ignorieren sie. Manche nennen den Schmerz sogar eine körperliche Empfindung und nicht eine Emotion. Umgekehrt bezeichnen sie Depressionen (die in Wirklichkeit getarnter Zorn oder Liebesverlust sind) als Gefühle. Für unsere Gruppen sind Depressionen ein Symptom und werden behandelt wie alle Symptome. Wir versuchen, über das Symptom hinaus zu den dahintersteckenden Gefühlen vorzustoßen.
Das vierte elementare Gefühl - Furcht - ist für Männer in unserer Kultur besonders verzerrt. Von frühester Kindheit an sehen sie sich der Einstellung gegenüber, daß sich »Männer nicht fürchten«. Männer bringen ihr ganzes Leben mit dem Bemühen zu, etwas zu leugnen oder zu bemänteln, was tatsächlich ein für das Überleben notwendiges Gefühl ist. (Vielen Frauen wird beigebracht, Zorn sei »unweiblich«. Der Begriff »Nörgelei« ist dagegen weiblich und in Wirklichkeit Zorn, der sich indirekt äußern mußte.) Ich habe außerdem beobachtet, daß beide Geschlechter Furcht oft mit Hilflosigkeit in Verbindung bringen, mit einem Zustand also, an den sie sich unbewußt aus der frühen Kindheit »erinnern«, als das Individuum tatsächlich Gefahren hilflos gegenüberstand. In den Gruppen ist es häufig dieses Gefühl der Hilflosigkeit, das die Patienten fürchten, nicht das Gefühl der Furcht oder Angst selbst.
Das fünfte elementare Gefühl ist Freude — das Gefühl, daß die eigenen Bedürfnisse von anderen und einem selbst erfüllt werden. (Liebe ist die Antizipation der Freude, sowohl durch Beziehungen mit anderen als auch durch Selbstachtung oder Eigenliebe.) Meistens hat der Betreffende zum Zeitpunkt seiner Diagnose keine große Kapazität für Freude. Wir erhalten eine gewisse Vorstellung von seiner Kapazität, wenn wir nach bedeutsamen Beziehungen in seinem Leben und nach seiner Produktivität fragen. Ein grundlegendes Ziel der Therapie ist es natürlich, den Betreffenden wieder so zu konditionieren, daß sein Leben froher wird.
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Die folgenden acht diagnostischen Feststellungen deuten das Profil emotionaler Gesundheit an:
1. Psychisch gesunde Menschen sind frei von selbstzerstörerischen Verhaltensmustern. Sie behandeln ihren Körper und ihren Geist mit Achtung, weil sie sich selbst achten. Sie sind keine Opfer von Rauschgiften, Alkohol, zuviel Essen, nächtlichen Gelagen oder anderen schädlichen Gewohnheiten. Zur höchsten Freude (nicht zum Schmerz) motiviert, tun sie das, was für sie das Beste ist — es sei denn, es brächte anderen Schaden. Sie isolieren sich selbst nicht unnötig. Anders als Saul Bellows Herzog begnügen sie sich nicht mit Konserven, wenn sie Steak essen können. Sie sind in der Lage, ihre Sinnlichkeit und Sexualität voll und ohne Scham zu genießen. Auf jedem, Gebiet des Lebens bewahrt sich der psychisch Gesunde das Maximum an Wahlmöglichkeiten. Er benutzt Einsicht und Gefühle, um seine Aktivitäten zu steuern. Er entfremdet sich nicht von seinesgleichen, solange er nicht einen zielorientierten, realen Grund hat, es zu tun.
2. Psychisch gesunde Menschen sind imstande, emotional offen zu sein, wenn sie es wollen. Ein emotional gesunder Mensch ist für die Gefühle anderer und für seine eigenen Eingeweidegefühle »eingeschaltet«. Seine Emotionen sind unmittelbar mit seinen Wahrnehmungen verknüpft. Seine Worte und Handlungen setzen sich nicht rücksichtslos über die Gefühle anderer hinweg. Weil er ständig Zugang zu seinen eigenen Emotionen hat, kann er weniger starr, spontaner und produktiver sein als diejenigen, die emotional gehemmt sind. Doch er ist nicht gezwungen, dauernd offen zu sein. In gewissen Situationen, etwa, wenn jemand versucht, ihn zu manipulieren oder zu übervorteilen, oder wenn Offenheit ihn unnötigen Verletzungen aussetzen würde, kann ein gesunder Mensch auch emotional verschlossen bleiben.
3. Psychisch gesunde Menschen sind emotional erwachsen. Sie sind sich bewußt, daß ihr Kuchen, wenn sie ihn gegessen haben, weg ist. Sie stellen die Freude über den Schmerz. Aber sie wissen, daß mit der Freiheit die Verantwortung kommt und daß sie — nicht Mutter oder Vater — für ihr Leben verantwortlich sind. Ein gesunder Mensch ordnet die Dinge so, daß er im allgemeinen in jeder Situation eine Menge von Wahlmöglichkeiten hat. Er weiß, daß er verantwortlich dafür ist, wie er wählt, und daß er den Preis für seine Entscheidungen zahlen muß.
4. Psychisch gesunde Menschen sind imstande, enge und sinnvolle Beziehungen mit anderen aufzunehmen und zu unterhalten. Sie können Beziehungen auch beenden, wenn sich herausstellt, daß der
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Preis dafür zu hoch ist. Gesunde Menschen bleiben nicht isoliert. Sie kommen in Kontakt mit anderen. Wenn der Beruf einen psychisch gesunden Menschen in eine neue Gemeinschaft führt, ist er imstande, andere anzusprechen und neue Beziehungen mit ihnen anzuknüpfen. Er ist wie ein Fußgänger, der beim Überschreiten einer verkehrsreichen Straße in der Mitte zu vielen Fahrzeugen begegnet. Er weiß, daß er a) weitergehen, b) umkehren oder c) bleiben kann, wo er steht. Eine Liebesbeziehung oder Ehe kann ein gesunder Mensch, wenn der Preis zu hoch ist, abbrechen. Wenn es notwendig ist, kann ein emotional gesunder Mensch die Beziehung zu jedem abbrechen — zum Gatten, zu einem Elternteil, einem erwachsenen Sohn oder einer erwachsenen Tochter, einem Verwandten, Chef, Geliebten, Angestellten oder politischen Führer.
5. Psychisch gesunde Menschen haben ein Maximum an Wahlmöglichkeiten, sich gegen Gefahr zu verteidigen.
Je nach der Situation können sie den Mechanismus »Flucht« oder »Kampf« anwenden, wenn sie die gesunden, unverzerrten Überlebensgefühle Furcht oder Zorn verspüren. In gewissen Situationen können sie, wenn es angebracht ist, ihre Gefühle unterdrücken.6. Psychisch gesunde Menschen haben Einblick in ihre emotionale Programmierung. Sie benutzen ihre Selbsterkenntnis dazu, ihre Gefühle, ihr Verhalten und ihre Einstellungen zu lenken, zu äußern oder zurückzuhalten.
Gesunde Menschen wissen, wo ihre Konditionierung schlecht angepaßt ist. Sie bekämpfen verzerrte Gefühle, können stereotype Einstellungsschemata von der Wirklichkeit unterscheiden und schätzen die Folgen ihrer Handlungen richtig ein. Ablehner lernen, verschüttete Schmerzen zu erreichen, so daß sie die Liebe eines anderen Menschen annehmen können. Annehmer erreichen den verschütteten Zorn, so daß sie ohne Furcht und unabhängig von anderen ihre Identität akzeptieren können. Ablehner lernen, wie sie ihre konditionierte Neigung, zu bedeutsamen menschlichen Kontakten nein zu sagen, bekämpfen. Annehmer bekämpfen ihre Neigung, um jeden Preis ja zu sagen. Menschen, die zum Neid programmiert sind, bekämpfen dieses Gefühl. Diejenigen, die aus in der Vergangenheit liegenden Gründen besonders zornig sind, ringen darum, ihren Zorn nicht gegen die Menschen zu kehren, die ihn nicht verdient haben. Von Furcht gelähmte Menschen bekämpfen ihre Furcht und tun trotz dieser Furcht alles, was notwendig ist.
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7. Psychisch gesunde Menschen sind ihrem Potential entsprechend produktiv.
Sie wählen einen persönlich befriedigenden Beruf und benehmen sich wie erstklassige Arbeitskräfte, die Anspruch auf Anerkennung und Wertschätzung haben. Da sie frei von verzerrten Bedürfnissen und Abwehrmechanismen sind, können sie ihre Energie auf die Produktivität konzentrieren. Aber sie fühlen sich nicht genötigt, sich wegen des Beifalls ihrer Vorgesetzten »in Szene zu setzen«. Sie sind selbstsicher genug, ihresgleichen aufzusuchen und Gleichheit in persönlichen und Arbeitsbeziehungen zu genießen. Sie sind auch selbstsicher genug, sich konstruktive Kritik anzuhören, ihre Gültigkeit für sich zu prüfen und auf der Grundlage dessen zu handeln, was sie für richtig halten.Psychisch gesunde Menschen, die in einer Autoritätsstellung sind, benutzen die besten verfügbaren Informationen, um Entscheidungen zu treffen. Sie schieben nichts aus Furcht vor Versagen auf. Wenn ihre Entscheidung falsch ist, sind sie die ersten, die es zugeben und die Entscheidung korrigieren. Sie verteidigen oder verhehlen ihre Irrtümer nicht.
8. Psychisch gesunde Menschen sind fähig, ihre elementaren Emotionen in vollem Maß zeigen.
Sie können vor Identitätszorn explodieren — ihre Selbsterkenntnis sagt ihnen: »Ich bin verletzt worden. Das war nicht fair. Ich werde nicht dulden, daß mir so etwas noch einmal geschieht!« Sie können die zärtliche Zuneigung der Liebe offen erkennen lassen, ungehemmt Furcht zeigen oder in quälendem Schmerz stöhnen. Die ganze Skala der Gefühle steht ihnen zur Wahl. Ihre Anwesenheit bereitet Freude, da sie voller Leben und selten langweilig sind. Weil sie auch auf geliebte Objekte zornig sein können, strömt von ihnen nie Aggressivität aus. Sie erkennen in dem Zorn ihrer Lieben die Besorgnis. Sie wissen, daß Zorn von einem Nahestehenden eine Form der Liebe, also starkes Interesse ist. Sie lasssen zu, daß ihr Gesichtsausdruck sich verändernde Reize widerspiegelt. Emotional gesunde Menschen zeigen ihr Bedürfnis nach Liebe und vermitteln dadurch den Personen, die sie lieben, das Gefühl, wichtig zu sein. Die An ihrer Liebe und Zuneigung gibt allen, denen sie zugetan sind, Zufriedenheit und Wohlbefinden und bedrückt sie nicht.*
Aus all diesen Punkten schließen wir, daß emotional gesunde Menschen die Freude über den Schmerz stellen. Sie steuern, was sie zu steuern fähig sind. Und überlassen anderen die Dinge, die sie beim besten Willen nicht steuern können. Sie unterhalten emotionalen Kontakt mit den Menschen, die sie lieben. Sie stehen in enger Verbindung mit ihren Gefühlen und sind deshalb in der Lage, in ihrer Einstellung zum Leben spontan und kreativ zu sein. Bei jedem Schritt wahren sich gesunde Menschen den Zugang zu einem Maximum an Wahlmöglichkeiten.
Der entscheidende Punkt ist, daß psychisch gesunde Menschen lustvollen Erfolg, nicht schmerzliches oder angsterregendes Versagen erwarten. Sie treten in eine neue Beziehung oder einen neuen Beruf mit angenehmen und freudigen Hoffnungen ein, nicht in der lähmenden Angst, verletzt zu werden. Gesunde Menschen erkennen, daß man Freude ohne Schmerz erlangen kann und daß der Schmerz kein normaler Zustand menschlichen Daseins ist. Doch wenn auch der Schmerz möglichst vermieden werden soll, nehmen sie ihn als ein natürliches Gefühl hin, als einen Preis für das Leben, weil der Schmerz uns vor mehr Schmerz, vor Schaden und Tod bewahrt.
In unserer verworrenen und anspruchsvollen Gesellschaft ist emotionale Gesundheit nicht leicht zu erringen. Sie fordert, daß man emotional offen bleibt, auch wenn es in vielen Fällen weniger schmerzlich und angsterregend wäre, verschlossen zu sein. Emotional gesund sein heißt, mit verzerrten Gefühlen ringen. Verhaltensmuster an neue Verhältnisse anpassen und gegen überholte Einstellungen ankämpfen.
Emotionale Gesundheit gibt einem ein Maximum an Wahlmöglichkeiten, ein Maximum an Reichweite und Nutzung der eigenen Fähigkeiten, ein Maximum an Kontakt mit anderen, ein Maximum an Gelegenheit zur Erfüllung. Gelegenheit zur Erfüllung bedeutet, daß einem die beste Chance für Glück und Freude, für die pulsierende, kraftspendende Heiterkeit, zu leben und lebendig zu bleiben, geboten wird.
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