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5. Über das Symptom hinaus

 

 

 

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Grundsätzlich handelt es sich in diesem Buch darum, über die Symptome hinauszugehen. Mit Symptomen (in der Medizin bedeutet das Wort »Krankheits­zeichen«) meine ich die beobachtbaren, auf dem Verhalten beruhenden Etiketts, die so häufig benutzt werden, um emotional gestörte Menschen zu bezeichnen. Wir sagen: »Joe ist homosexuell« oder: »Peter ist Alkoholiker.« Wir nennen John »rauschgiftsüchtig«, Susi eine »Kleptomanin« und Heinz einen »Vielfraß«. Tom ist »unzuverlässig«. Robert leidet an »Arbeitszwang«. Sophie ist »promiskuös«, Doris »verschlossen«, Alfred »leistet nichts«. Betty ist »deprimiert«, Herbert »zugeknöpft«, Hans »raucht zuviel«.

Symptome sind das beobachtbare Verhalten, das, was die Leute tun oder wie sie zu sein scheinen. Symptome schließen Handlungen ein, die für den Betreffenden selbst oder für andere destruktiv sind. 

Wenn die Gesellschaft ein Symptom mißbilligt, versehen wir die »Krankheit« häufig mit einem Etikett, das emotional beladen und schädigend ist. Jemanden in unserer Kultur beispielsweise als Homosexuellen zu brandmarken, kann dem Betreffenden erheblichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schaden zufügen.

Dagegen ist es kein gesellschaftliches oder wirtschaftliches Unheil, wenn das Symptom von der Gesell­schaft gebilligt wird. Nehmen wir eine uns allen vertraute Figur: den Geschäftsmann mit Arbeits­gewohnheiten, die zwanghaft sind. Dafür war einer meiner Patienten namens Harry typisch. Er verbrachte täglich zehn bis zwölf Stunden in seinem Büro, ein paar weitere Stunden für den Weg zum Büro und zurück. Er verdiente gut. Doch er konnte seiner Frau und den Kindern kaum wirkliche Gefühle zeigen. Wenn sein heranwachsender Sohn gute Zensuren aus der Schule mit nach Hause brachte, pflegte Harry sie zu überfliegen, ohne irgendwelche Befriedigung zu äußern, obwohl er insgeheim stolz auf den Jungen war. 

Hatte sich Harry über irgend etwas im Büro geärgert, behauptete er stets, es sei alles in Ordnung, wenn sich seine Frau danach erkundigte, was ihn bedrücke. Seine Einstellung: Männer geben der Furcht nicht nach und gestehen sie schon gar nicht ein. Für Harry endete Sex mit der Ejakulation. Danach gab es nichts mehr von Nähe oder zärtlichen Liebkosungen. Gefühle wirklicher Zufriedenheit über seine eigenen Leistungen oder über die eines ihm Nahestehenden durften niemals offen gezeigt werden.

Harrys Frau genoß viele Vorteile — ein hübsches Haus in einer freundlichen Gegend, Schmuck, schöne Kleider, einen eigenen Wagen, Mitgliedschaft im County-Club. Doch diese Dinge entschädigten sie nicht für den Mangel an Zuneigung oder für die Leere eines Daseins ohne die Emotionalität, nach der sie sich sehnte. Ihr sexuelles Leben war nicht gut. Selbst wenn es physisch in Ordnung war, fehlte etwas Lebenswichtiges. Die Kinder besuchten die besten Schulen, waren gut angezogen und besaßen alle materiellen Güter, die sie sich nur wünschen konnten. Doch sie erhielten nie Gelegenheit, sich ihrem Vater nahe zu fühlen, sich offen mit ihm auszusprechen in der Hoffnung, daß ihre Gedanken und Bedürfnisse verstanden würden. Die Mitglieder von Harrys Familie hatten das Gefühl, in seinen Augen unwichtig zu sein, da er keinem von ihnen seine Gefühle anvertraute.

In menschlicher Hinsicht kann ein »Symptom« wie das von Harry fast ebenso destruktiv sein wie eines mit einem emotional stärker beladenen Etikett, etwa Alkoholismus. Die Frau eines Mannes wie Harry taumelt am Rande der Verzweiflung dahin. Ein Sohn kann sich völlig an das Rauschgift verlieren, eine Tochter schlechte Noten in der Schule haben und außerdem noch promiskuös sein. Doch unsere Gesellschaft kritisiert einen Mann wie Harry nicht allzu hart. Obwohl sein Symptom Leid über seine Familie bringt, wird der Zwang, zuviel zu arbeiten, als sozial wertvoll betrachtet. Nachbarn, Geschäftspartner und Freunde üben Nachsicht mit dem Ehemann. »Das ist Harrys Art«, werden sie sagen. Selbst wenn Harrys Frau in Verzweiflung gerät, werden Freunde ihr sagen, welches Glück sie hat, einen so tüchtigen und fürsorglichen Ernährer zu haben. Doch ihre Isolation und Leere sind real — und vielleicht ebenso groß wie die einer Frau, deren Ehemann sich jeden Abend betrinkt.

Zum Glück für Harry und seine Familie half die Gruppentherapie. Ursprünglich war Harrys Sohn Tommy zu mir gekommen, und er überredete seinen Vater schließlich, an einer Gruppe teilzunehmen. Als Tommy nach mehreren Sitzungen imstande war, seinen Zorn und sein Bedürfnis nach seinem Vater heraus­zuschreien, wurde Harry in der Defensive zornig und begann dann zu weinen. Er versuchte die Tränen zu verbergen, doch die Gruppe drängte ihn sanft, seine Furcht vor Liebe dadurch zu äußern, daß er immer wieder sagte: »Ich fürchte mich, ich fürchte mich.«

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 Nach kurzer Zeit schrie er die Worte heraus, und plötzlich wurde daraus ein gequältes: »Ich brauche Liebe! Ich brauche sie!« Und er war imstande, die Umarmung seines weinenden Sohnes zu akzeptieren. Allmählich lernte Harry durch die Gruppen und durch harte Arbeit mit seiner Familie (auch Frau und Tochter erschienen jetzt in den Gruppen), seine Furcht als ein normales Gefühl zu akzeptieren und sein Bedürfnis nach Liebe wie auch seine Fähigkeit zur Freude zu zeigen.

Jede allgemeine Erörterung individueller Symptome für emotionale Störungen stößt aus verschiedenen Gründen auf Schwierig­keiten. Zunächst einmal gibt es Hunderte von unterscheidbaren Symptomen. Zum anderen wird kein Symptom einzeln ausagiert; es tritt mit anderen Symptomen zusammen auf. Drittens beurteilt jede Kultur Symptome im Rahmen ihres jeweiligen Wertsystems: was in der einen Kultur sexuelle Promiskuität ist, kann beispielsweise in einer anderen sexuelle Gesundheit sein.

Solche Komplikationen können es für Ärzte und Psychologen recht riskant machen, allgemeingültige Regeln für das menschliche Verhalten aufzustellen. Wenn wir Symptome als destruktive Verhaltensmuster und Einstellungen definieren, stehen wir vor der Aufgabe, zwischen dem, was »destruktiv«, und dem, was »nichtdestruktiv« ist, zu unterscheiden. 

Die meisten von uns stimmen darin überein, was offensichtlich destruktiv ist: Rauschgiftsucht, Alkoholismus, Kriminalität, vielleicht Homosexualität und so fort. Aber wie steht es mit den Formen emotionaler Absonderung, die von der Gesellschaft als weniger schädigend für ihre Struktur betrachtet werden? Wie steht es mit einer durchaus attraktiven Frau, die als Jungfrau durchs Leben geht, ohne daß sie versucht, irgendeine sinnvolle Beziehung zu Männern aufzubauen? Vielleicht arbeitet sie als städtische Bibliothekarin und leistet täglich Dutzenden von Menschen notwendige und nützliche Hilfe. Und doch hat sie ihre Fähigkeit, eine vitale, voll entwickelte Frau zu sein, unterdrückt. 

Wie beurteilen wir einen hart arbeitenden Werkmeister, der zwei Posten ausfüllt, um für seine Familie zu »sorgen«, sich jedoch, sobald er nach Hause kommt, vor den Fernsehschirm oder in die Kegelbahn flüchten muß? Wie steht es mit einem glänzenden Chirurgen, der Hunderte von Menschenleben rettet, aber keinerlei emotionalen Kontakt zu seinen Patienten, seinen Mitarbeitern, seinen Freunden oder Familien­angehörigen herstellen kann? Wie mit einer zu dick gewordenen Hausfrau, deren Gespräche sich auf das beschränken, was ihre Kinder jeden Tag tun oder sagen oder was sie selbst im Fernsehen sieht?

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Mag auch die Gesellschaft unter den Symptomen solcher Menschen nicht gerade leiden, der Preis, der dem menschlichen Leben abgefordert wird, ist hoch. Übrigens kann der Verlust für die Gesellschaft ebenso hoch sein. Wenn die Produktivität des einzelnen verkümmert, dann wird, mögen die Symptome auch gesellschaftlich nicht destruktiv sein, die daraus resultierende emotionale Störung zweifellos viel menschliche Energie vergeuden.

 

Die Symptome einer kranken Gesellschaft 

 

Die Symptome emotionaler Störungen haben heute viele Gesichter, viele Formen. Hierher gehören die Leute, die zu wenig leisten, die unglücklich Verheirateten, die Menschen, die vorzeitig aus der Schule ausscheiden oder ständig die Stellung wechseln, die Ausgeflippten, die chronisch Desorganisierten, die dauernd Arbeitslosen. Der Preis an Leid und Elend läßt sich nicht messen. Das Problem ist bedeutsam für die Wirtschaft, die Regierung, die Steuerzahler und wichtig für alle verant­wortungs­bewußten Amerikaner.

In den Großstädten Amerikas bilden die Rauschgiftsüchtigen einen Großteil aller Kriminellen. Jeden Tag sind sie verantwortlich für eine erschreckende Anzahl von Einbrüchen, Diebstählen, Raubüberfällen, Unterschlagungen, Fällen von Prostitution und Körperverletzung. Die Motivierung ist, sich Bargeld für Rauschgift zu beschaffen. Fachleute schätzen, daß ein Rauschgift­süchtiger im Durchschnitt 36.000 Dollar braucht, um seiner Sucht frönen zu können. Wenn es auch unmöglich ist, genaue Zahlen aufzustellen, so geht die Expertenschätzung doch dahin, daß die Rauschgiftsucht — dazu gehören der finanzielle Verlust der Verbrechensopfer, die Polizei und andere Präventivausgaben, Forschung, Erziehung, Behandlung und Rehabilitierung — die Vereinigten Staaten jährlich über zwei Milliarden Dollar kostet. Der Posten im Bundeshaushalt für Behandlung und Rehabilitierung betrug allein für das Haushaltsjahr 1972 etwa 200,2 Millionen Dollar, und dabei sind die kommunalen Ausgaben überhaupt noch nicht berücksichtigt. New York City erhält beispielsweise keinerlei Bundeszuschüsse.

Das Rauschgiftproblem beschäftigt übrigens nicht nur die großen Städte. Immer mehr Vororte und Kleinstädte erleben neuerdings das Entsetzen von Todesfällen durch übergroße Dosen, offenen Rauschgifthandel in den Höfen nagelneuer Schulen, Diebstähle bei den Eltern, damit die Drogen bezahlt werden können.

Das Bundesministerium für Gesundheit, Erziehung und Wohlfahrt schätzt, daß es in den Vereinigten Staaten neun bis zehn Millionen Alkoholiker gibt. Häufig scheinen diese Alkoholiker »Gesellschafts­trinker« zu sein. 

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Es ist nicht immer leicht, das Symptom zu diagnostizieren. Doch die Arbeitgeber sehen es in unentschuldigtem Fernbleiben von der Arbeit, Zuspätkommen, Verantwortungslosigkeit bei der Arbeit und Problemen mit Arbeitskollegen. Und die Angehörigen fühlen es voller Schmerz in der täglichen Destruktion.

Man nimmt an, daß jeder zwanzigste Amerikaner und jede fünfzigste Amerikanerin praktizierende Homosexuelle sind. Viele von ihnen sind aus der produktiven heterosexuellen Gesellschaft ausgeschieden, weil sie es vorziehen, in einer homosexuellen Subkultur zu leben. Häufig arbeiten sie in Stellungen, die weit unter ihren Fähigkeiten liegen, als Kellner oder Barmänner, um in scheinbar sicherem Milieu bleiben zu können. Doch ständig leiden sie dabei unter der Entfremdung, der Furcht vor Polizeirazzien, den immer häufiger abreißenden Beziehungen infolge der Promiskuität, die gewöhnlich mit dieser Lebensweise einhergeht. Die Familien lehnen die Homosexuellen ab, die meisten Mitglieder der Gesellschaft verachten sie. Wenn sich ein Homosexueller entschlossen hat, in der »normalen« Welt zu arbeiten, dann sieht er sich der ständigen Furcht vor Entdeckung oder gar Erpressung gegenüber.

Übergewicht ist ein weiteres Symptom emotionaler Störungen. Nach Angaben der American Medical Association hat jeder fünfte amerikanische Erwachsene mindestens zehn Prozent mehr als sein Idealgewicht. Man kann das Elend all dieser Zwangsesser, die sich bis zur Fettleibigkeit vollstopfen, förmlich spüren. Nach medizinischen Maßstäben ist jeder, der zwanzig Prozent mehr als sein Idealgewicht hat, fettleibig. Nach diesem Kriterium ist also jeder zehnte Erwachsene fettleibig. Doch wie steht es mit den Millionen von Menschen, die zunehmen, ohne einem eigentlichen Eßzwang zu unterliegen? Nehmen wir das junge Mädchen, das einen Kasten Konfekt verschlingt, weil es darüber unglücklich ist, daß es keinen Freund hat, oder den Witzbold, dessen Körperumfang Teil seines jovialen Image ist. 

Gewiß, es gibt genug zu essen - für einige -, und die arbeitsparenden Maschinen fordern ihren Zoll an unverbrannten Kalorien. Die Schäden des Übergewichts sind groß. Nach der neuen maßgeblichen Framingham-Studie nehmen Störungen erheblich zu, wenn das Gewicht eines Menschen fünfundzwanzig Prozent über dem Idealwert liegt, und auch die Sterblichkeit infolge von Herz- und Gefäßkrankheiten steigt an. Bestimmt nimmt bei jedem mit signifikantem Übergewicht die Energie und damit die Produktivität ab. Und häufig leiden übergewichtige Menschen darunter, daß sie wenig attraktiv und deshalb nicht gern gesehen sind.

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Ein anderes in unserer Welt weitverbreitetes Symptom ist die Passivität. Es gibt eine Art der »Soll-es-sonstwer-tun«-Einstellung, wenn es darum geht, mit den Problemen des Alltags fertig zu werden und sich damit auseinanderzusetzen, wer und was man sein soll und was man tun muß, um es zu werden.

Ich habe einen Sechzehnjährigen, der sein Elternhaus in Westchesier verlassen, sich lange Haare hatte wachsen lassen und sich nun in East Village mit Perlenketten schmückte, gefragt, wovon er zu leben gedenke. »Von Brot natürlich, Mann«, sagte er in allem Ernst. Seine Einstellung war die, daß Lebensmittel und alle Grundbedürfnisse irgendwie da seien. Er hatte ein behagliches Zuhause, ein eigenes Zimmer, ständigen Zugang zu einem Wagen, genügend Geld, um Zigaretten, Kinobesuche und Abendessen mit Freunden zu bezahlen. Doch irgendwelche wichtigen Ingredienzien schienen zu fehlen. Sonst hätte dieser Junge — und Tausende seinesgleichen — die Schule nicht aufgegeben, um eine völlig neue Welt zu suchen.

Gewiß, unsere Wohlstands­gesellschaft züchtet verwöhnte Kinder. Und ich kann gut verstehen, weshalb viele dieser Jugendlichen versuchen, den Reichtum zurückzuweisen, mit dem ihre Eltern sie überschütten. Doch ich sehe Verwirrung und Not bei vielen meiner jungen Patienten. Sie wissen einfach nicht, wie sie in einer Welt erwachsen werden sollen, deren Werte ihnen wie Flitter auf einem dürren Weihnachtsbaum vorkommen.

Man schätzt, daß die amerikanische Durchschnittsfamilie wöchentlich über 42 Stunden vor dem Fernseh­apparat verbringt. Wenn das Fernsehen auch manche ausgezeichnete Unterhaltung und Information bietet, die meisten Programme liefern doch nur geistlosen Eskapismus. Es ist schwierig, die Fähigkeit zur Kommunikation zu erwerben, wenn Einbahn-Unterhaltungen so leicht zu haben sind. Es wird keinerlei Mühe gefordert, um selbst etwas beizutragen. Der durchschnittliche Jugendliche hört wöchentlich bis zu 13 ½ Stunden Radio. Viele können ihre Schularbeiten nicht machen, ohne daß der Radioapparat lärmt, oder nicht die Straße hinuntergehen, ohne daß ihnen ein Transistorgerät in die Ohren quäkt. Es ist, als brauchten sie die Ablenkung, um sich die vor ihnen liegende Aufgabe zu erleichtern. Oder vielleicht liefert ihnen der Lärm erst die Gewißheit, daß sie nicht in einer Leere leben.

Viele Menschen können in unserer Gesellschaft einfach nicht ohne Chemikalien irgendwelcher Art leben, die ihnen den Bewußt­seinsschmerz, den Schmerz des alltäglichen Daseins lindern. Eine Hausfrau in Indiana nimmt Tabletten, um die Spannung ihres Alltagslebens zu mildern. Sie kann nicht aus dem Haus weglaufen, sie kann nicht gegen die Verworrenheit ihres Lebens ankämpfen, und so entrückt sie einfach sich selbst durch ein Medikament — Milltown, Librium, Pervitin, Dexedrin, Barbiturate oder irgendeines von den vielen anderen, die Milliarden-Dollar-Unternehmen aus den Arzneimittelfabriken gemacht haben.

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  Wenn das Leben ständig Schmerzen verursacht, ist offenbar etwas nicht in Ordnung. Doch Chemikalien zu nehmen, um den Schmerz zu beseitigen, beseitigt die Ursachen nicht. Bald muß man mehr Tabletten nehmen, um den Schmerz zu lindern. Und trotzdem vergeht er nicht, weil die unerfüllten Bedürfnisse hinter dem Schmerz unberührt bleiben.

Viele Frauen benutzen die Ehe als Mittel, um den Kampf zu vermeiden, in dem sie ihr menschliches Potential erfüllen könnten. Die Forschung wird die Zahl nie genau angeben können, aber ich möchte schätzen, daß Millionen von Frauen auf diese Art als Bürger zweiter Klasse leben. Ich kann mir nicht helfen, ich habe Mitgefühl mit ihrem Los. Unsere Kultur übt extremen Druck auf Frauen aus, damit sie heiraten und mindestens stillschweigend ihre Identität durch die Ehe gewinnen. Eine »alte Jungfer« wird gewöhnlich bemitleidet und oft sogar verspottet. Der Mann, der der Ehe »entwischt«, wird dagegen häufig als Held betrachtet. Es ist verständlich, daß viele Frauen die Selbsterfüllung durch die Ehe suchen, doch allzu viele glauben, daß die Institution die Identität mit sich bringt, während sie ihnen doch nur die Chance bietet, zu sein, wer sie sind und wer sie werden können. Die Tatsache bleibt bestehen, daß viele Frauen bei allem Zorn über die zweitrangige Rolle, die sie übernommen haben (ohne zu wissen, weshalb sie unglücklich sind), in Wirklichkeit dem Kampf und der Befriedigung aus-weichen, ihre Individualität zu entwickeln.

Nehmen wir Ellen, eine Patientin, die mehreren anderen Frauen in meinen Gruppen ähnelt. Nach dem College übernahm sie einen Posten in einer Public-Relations-Firma, der ihr nicht besonders behagte. Sie fand den Kampf, zu arbeiten und ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, schwierig und wenig lohnend. Sie gab sich wenig Mühe, in der Arbeit voranzukommen, weil sie erwartete, früher oder später zu heiraten. Inzwischen erlebte Ellen eine großartige Zeit auf dem Tummelplatz der Junggesellen in der Upper East Side von Manhattan. 

Als sie Mitte zwanzig war, lernte sie einen Mann kennen, den sie nicht gerade unangenehm fand; er machte ihr einen Antrag, sie heirateten und hatten Kinder. Ihre Beziehung entsprach einem gewiß nicht seltenen Modell. Es war genügend Geld vorhanden, doch Liebe oder Einfühlungsvermögen in der Ehe reichten nicht aus. Als tüchtige, intelligente Frau hatte Ellen wenig Mühe, ihren Haushalt in einem Vorort zu führen und ihre Kinder aufzuziehen. Doch sie fühlte sich gelangweilt und unausgefüllt. Häufig trank sie zuviel, nahm Schlaftabletten und Pillen zum Abnehmen. Da sie ans Haus gefesselt war, erwartete sie von ihrem Mann, daß er die Herausforderung und Erregung, die ihrem Leben fehlten, ins Haus brachte. Sie haßte ihn, weil er es nicht tat oder tun konnte.

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In Wirklichkeit hatte Ellen ihre Ehe benutzt, um ihrem eigenen Identitätskampf auszuweichen. Sie hatte nicht heraus­zufinden versucht, wer sie war, was sie wollte und was sie brauchte.

Und da ist Janie, die gleich nach der Mittelschule überstürzt heiratete, weil sie fürchtete, später keine Gelegenheit mehr dazu zu haben. Auch sie erhielt keine Chance, ihr Potential zu erkunden. Ihre Identität war an ein romantisches Bild von Ehebett und Haushalt geknüpft. Der Traum verflog sehr bald, als Kinder kamen und sich Janies junger Ehemann jeden Abend heimschleppte, verstört und verängstigt von der harten Aufgabe, eine Familie zu unterhalten. Anfangs machte es Janie Freude, ihrem Mann die Socken zu waschen und seine sorgsam gebügelten Sachen wegzuräumen. Doch schon bald wurde aus der Freude mühevolle Plackerei. Janie wurde ärgerlich auf ihn, weil das Leben ihnen keine Anregung bot und weil sie ständig Geldsorgen hatten. Doch in Wirklichkeit wartete Janie immer noch darauf, vom Zauber der Ehe glücklich gemacht zu werden. Sie war wie ein Kind, das immer spielen will. Sie hatte sich nicht getraut, erwachsen zu werden und zu entdecken, was für eine Frau sie ist.

 

Das Feilschen um Unterhalt ist ebenfalls ein Symptom. Solchen Frauen begegne ich nicht selten in meinen Gruppen. Und auch hier trägt unsere Kultur überwiegend die Schuld: Unterhaltszahlungen machen geschiedene Frauen zu Bürgern zweiter Klasse. Viele geschiedene Frauen benutzen die Unterhaltszahlung dazu, parasitär von ihren früheren Ehemännern zu leben. Das ist ein Weg, den entscheidenden Problemen des Lebens als erwachsene, verantwortliche Frauen auszuweichen. 

Während die Unterhaltszahlungen für Kinder in den meisten Fällen zweifellos notwendig sind, gibt es doch viele Fälle, wo die Kinder besser daran wären, wenn ihre Mutter keine Unterhaltszahlungen erhielte. Ihr Leben sollte mehr nach außen orientiert sein und ihr stärkere persönliche Produktivität abfordern. Damit würde die Selbstachtung steigen. Die geschiedene Frau hätte ein stärkeres Selbstwertgefühl, wenn sie einen Beruf beherrschen und zu einem Glied der produktiven Gesellschaft würde. Außerdem hätte sie als produktives Mitglied der Gesellschaft, das sich seiner Leistungen wegen wohl fühlt, größere Aussichten, einen besser zu ihr passenden Mann kennenzulernen und in Beziehungen zu ihm zu treten.

Es gibt Menschen mit unzureichenden Leistungen der verschiedensten Art in unserem Land. Man findet Kinder mit hohem IQ, die in der Schule zurückbleiben. Ausgebildete Ingenieure machen in einer Fabrik Wartungs- oder Fließbandarbeit. Juristen sind an Bankschaltern tätig. Man muß jedoch einen Unterschied machen zwischen unzureichenden Leistungen und Leistungs­verweigerung.  

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Viele Menschen, denen die Gesellschaft vorwirft, sie seien »ausgeflippt«, haben sich in Wirklichkeit nach eingehender Überlegung entschlossen, die Gesellschaft und ihre Maßstäbe zurückzuweisen. Ein solcher Entschluß kann sehr wohl eine Bestätigung ihres unabhängigen Persönlichkeits- und Wertsystems sein. Diese Menschen haben die Welt und ihre eigenen Fähigkeiten gegeneinander abgewogen, den Preis abgeschätzt, den sie für das »Aussteigen« aus der Gesellschaft zu zahlen haben, und häufig ist es ihnen gelungen, sich ein gesundes, produktives Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu schaffen.

Manche haben beispielsweise einen landwirtschaftlichen Betrieb aufgebaut, der sich selbst trägt, oder ernähren sich durch kunsthandwerkliche Arbeiten, die ihnen große Freude bereiten, statt den sterilen Beruf auszuüben, den sie erlernt haben. Auf ähnliche Weise mag ein glänzender Werbemanager Volksschullehrer werden, weil ihn diese Rolle weit mehr befriedigt. Oder ein Medizinstudent kann sich dazu entschließen, in die Forschung zu gehen, statt sich als Arzt zu betätigen.

Gewiß sollte das Ziel, das man sich setzt, nicht einfach darin bestehen, daß man mehr Geld verdient oder Anerkennung gewinnt, indem man die Anweisungen anderer befolgt. Produktivität ist ein Zeichen für Gesundheit, und jeder einzelne muß darum ringen, sein Potential zu entdecken und es im Rahmen einer realistischen Einschätzung der Anforderungen, die die Gesellschaft an ihn stellt, am besten zu erfüllen. Ständig zu wenig zu leisten — ob das nun durch »Aussteigen« oder eine berufliche Tätigkeit geschieht, die weit unter den eigenen Fähigkeiten liegt —, bedeutet häufig nichts anderes, als daß man dem Kampf ausweicht, sein eigenes Potential zu verwirklichen. 

Für den jungen Menschen, der sich zornig weigert, in der Schule zu arbeiten, bleibt immer die Realität bestehen, daß seine schulische Leistung für sein ganzes späteres Leben entscheidend wichtig sein könnte. Der Mensch, der sich in bezug auf Einkommen und berufliches Ansehen mit weniger abfindet, als er nach seinen Fähigkeiten erreichen könnte, leidet ebenso darunter, daß er nie etwas riskiert, wie er darunter leiden würde, wenn er bei dem Bemühen voran­zukommen hin und wieder einen Mißerfolg in Kauf nehmen müßte. Denn wenn dieser Kampf auch Anstrengungen und Unbequemlichkeiten mit sich bringt, so kann er doch auch zu befriedigender Anerkennung führen. Diese Lust wiederum kann noch mehr produktive Energie freisetzen — nicht nur bei der Arbeit, sondern in allen Phasen seines Lebens —, und das schafft abermals mehr Freude.

Der Beruf leidet auf mancherlei Weise unter emotionalen Störungen. Ernie, ein intelligentes, gebildetes Gruppenmitglied Anfang dreißig, hat in den letzten zwölf Jahren fünf Stellungen innegehabt, überwiegend in Geschäftsbüros.

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Dort erhielt er eine gewisse Managerausbildung, stieg zu einem recht verantwortlichen Posten auf — und kündigte, weil er sich mit seinem Chef nicht vertrug, die Arbeit langweilig fand oder seine Mitarbeiter nicht mochte. Die Wirklichkeit sah natürlich so aus, daß er in jede Stellung dieselben Probleme mitnahm. Als Sohn eines autoritären Vaters konnte Ernie es nicht ertragen, daß man ihm sagte, was er tun sollte. Ehe er sich in Behandlung begab, begriff er überhaupt nicht, wie verzerrt er seinen Chef oder irgendeinen Mitarbeiter sah, der mit ihm rivalisierte. Es bedurfte einer Menge Arbeit in den Gruppen, bevor Ernie den tiefen Zorn auszudrücken lernte, den er gegen jeden fühlte, der sich in einer Machtposition über ihm befand.

Aus den Zornübungen lernte Ernie außerdem, das zu fühlen, was ich das »vierte Stadium des Zorns« nenne. Das ist übrigens ein positives Gefühl der Selbstbehauptung, verstärkt durch das Bewußtsein, daß man zwar verletzt worden ist, aber dadurch nicht umgebracht wird. Ein Mensch in diesem Stadium hat die Fähigkeit, das, was er braucht, zu suchen und zu erlangen. Ernie mußte außerdem die negativen Einstellungen überprüfen, die er Männern mit Machtbefugnissen gegenüber hatte, und erkennen, wie diese Einstellungen seine Arbeitsfreude und seine Erfolge störten. Und im Beruf hatte er hart darum zu kämpfen, daß er sich realitätsbezogen verhielt. Kürzlich ist er von der Bürotätigkeit in die Verkaufsabteilung eines großen Unternehmens übergewechselt. Bisher gefällt ihm seine Tätigkeit, von der er begeistert ist und die er gut macht, obwohl der Verkaufsdirektor hohe Anforderungen an ihn stellt und die anderen Verkäufer einen hohen Ausbildungsstand haben.

Es gibt viele Ernies auf dieser Welt, Menschen, die ihre Stellungen wegen Kommunikationsschwierigkeiten oder wegen ihrer ständigen Unruhe aufgeben — obwohl sie mit diesen Problemen fertig werden könnten, wenn sie den rechten Einblick in ihren emotionalen Zustand hätten. Fraglos sind solche Leute eine finanzielle Belastung für ein Unternehmen. Vor allem, wenn man bedenkt, wie sehr die Geschäfte darunter leiden, wenn Angestellte infolge von Kommunikationsschwierigkeiten, die zu vermeiden wären, falsche Entscheidungen treffen. Und wie oft wird die rentable Führung einer Firma durch »Büropolitik« gestört?

Und so weiter und so fort. Es gibt Millionen von Menschen, die so oder so von den Symptomen einer kranken Gesellschaft geplagt werden und nahezu ohne Hoffnung sind, die Dinge ändern zu können; sie wissen nicht einmal, wie angenehm das Leben sein kann. Aber es ist nicht meine Absicht, bei den Symptomen stehenzubleiben — ich möchte über sie hinausgehen, wie wir es in unseren Gruppen versuchen.

 

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Die klassische Behandlung der Symptome

 

In der klassisch orientierten Einzeltherapie wird das Verhalten des Patienten nahezu ignoriert; höchstens das, was er von sich aus über sein Verhalten berichtet, wird berücksichtigt. Häufig erzählt der Patient ausführlich, wie er seine verschiedenen Symptome ausagiert hat. Manchmal fragt der Psychiater oder Psychologe dann vielleicht den Patienten, weshalb er nicht damit aufhört. Zu Direktiven neigende Therapeuten geben dem Patienten vielleicht sogar die Anweisung, damit aufzuhören. 

Doch gewöhnlich werden Änderungen des Verhaltens nicht verlangt. Statt dessen sucht der Therapeut nach den zugrunde liegenden Motivationen. Jemand, der zu dick ist, darf weiter zuviel essen. Ein Homosexueller darf weiter sexuellen Kontakt mit Angehörigen seines eigenen Geschlechts suchen. Ein Alkoholiker kann fortfahren zu trinken, dann mit viel Reue über seine Taten berichten, sich über seinen Kater beklagen und sich über seine Schuldgefühle ergehen, weil er seine Frau verprügelt hat oder nicht zur Arbeit gegangen ist.

 

Nehmen wir beispielsweise das Symptom der Homosexualität. Die Psychoanalyse wird gewöhnlich mit der Homosexualität nicht fertig, weil die analytische Einzeltherapie nicht damit beginnen kann, daß sie das Aufgeben des homosexuellen Verhaltens erzwingt. Hier mag als Beispiel folgen, was geschah, als mich Jim, ein homosexueller Mann, aufsuchte, während ich noch Psychoanalyse praktizierte. Jim war tief deprimiert, weil ihn Johnny, seit zwei Jahren sein Liebhaber, verlassen hatte. Ich bat Jim, mir etwas über die Beziehung zu erzählen. Er beschrieb, welch liebenswerter Mann Johnny sei, wie feinfühlig und einsichtsvoll. Jim beschrieb die Nuancen ihrer Geschlechtsakte, berichtete, welche Freude sie hatten, weil ihnen die gleichen Dinge gefielen. Sie hatten sich so gut verstanden. Und so fort. 

Einige wenige Sitzungen in diesem Stil erleichterten Jims emotionalen Druck etwas. Dann gingen wir zu seinem frühen Leben über. Er erzählte mir, seine Mutter sei ein kastrierendes Frauenzimmer gewesen und seinen Vater habe er kaum zu sehen bekommen. Als er zwölf war, machte er die Bekanntschaft eines Homosexuellen und wurde von diesem Mann in das Geschlechtsleben eingeführt. Er hatte Angst gehabt, doch dann Gefallen daran gefunden. So hatte es angefangen, und ein Homosexueller dieser Art war Jim, als er mich aufsuchte. Mit jedem Signal erzählte er mir, wie schmerzlich es sei, allein zu sein.

Der analytische Prozeß ging etwa drei Monate weiter. Als Jim über seine Kindheit sprach, deutete er seine Ängste und seine Unsicherheit an, seinen Zorn und Schmerz, sein Verlangen nach Liebe. 

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Dann, ehe die Übertragung begonnen hatte (Übertragung ist der Schlüssel zu einer erfolgreichen Psychoanalyse), erschien Jim eines Morgens ganz glücklich, um mir mitzuteilen, daß er gerade Harvey kennengelernt habe. Er erzählte mir von Harveys Charme, seinem guten Aussehen, seiner Intelligenz und Feinfühligkeit. Unvermeidlich war es zu einer sexuellen Begegnung zwischen ihm und Harvey gekommen. Nach einigen weiteren Sitzungen beendete Jim die Behandlung. »Sie haben mir so sehr geholfen, Dr. Casriel«, sagte er. »Meine Depressionen sind vorüber. Ich fühle mich geliebt und sicher.« Jim brach die Therapie ab, und ich sah ihn nie wieder. Seine Schwierigkeit hatte ihm Schmerz bereitet. Die Behandlung nach der klassischen Methode hatte diesen Schmerz gelindert. Doch die Gefühle, die ihn veranlaßt hatten, die Rolle des Homosexuellen zu spielen, waren nicht berührt worden.

 

Die gruppendynamische Behandlung der Symptome

 

In den Gruppen meiner Praxis ist dies nicht so. Statt dessen wird der Homosexuelle (wie auch jeder andere) angewiesen, sofort mit dem Ausagieren seiner Symptome aufzuhören. Er wird von anderen Mitgliedern ermutigt, die den gleichen Kampf oder einen ähnlichen ausgefochten haben, aber die Forderung ist unnachgiebig: »Handle so, als wärst du nicht homosexuell! Verabrede dich mit Mädchen! Geh nicht in Homosexuellenlokale! Bemühe dich, keinen Wunschträumen über attraktive Männer nachzuhängen, denen du begegnest! Dann komm wieder in die Gruppe und sag den Mitgliedern, was du fühlst!«

Wenn er rückfällig geworden ist, kann er es den Mitgliedern kurz mitteilen. Gewöhnlich erkennen sie es ohnehin an seinen Signalen. Aber er darf sich nicht darüber auslassen, was er getan hat, nicht einmal über seine Reue (falls er sie verspürt). Meine Arbeit mit Rauschgiftsüchtigen und später mit Patienten, die andere Symptome zur Schau stellten, lehrte mich, daß ein Patient, der über sein Symptom sprach, nur eine Gelegenheit suchte, dieses Symptom zu hätscheln. Er konnte sich von der Unruhe über sein Verhalten befreien, ohne irgendwelche Verantwortung dafür zu übernehmen, wie er nachher handeln wollte. In unseren Gruppen erklären wir einem Patienten, der sein Symptom ausagiert hat, er solle nicht beschreiben, was er getan hat, sondern ausdrücken, wie er sich im Augenblick fühlt. Gewöhnlich ist es Zorn über den Kampf, den ihm die Gruppe aufzwingt. Häufig tauchen außerdem Schmerz und Angst auf, und der Patient fängt an, die Hilflosigkeit zu zeigen, die er wirklich fühlt, wenn ihm das Symptom genommen ist.

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Der Grund für dieses Verhalten ist tief verwurzelt: Den Homosexuellen beispielsweise hat sein Hauptsymptom davor bewahrt, mit seinen Gefühlen kämpfen zu müssen. Als er heranwuchs, wurde ihm verwehrt, seine tiefen emotionalen Bedürfnisse auszudrücken. Vermutlich war sein Vater physisch oder emotional abwesend. Manchmal standen ihm überlegene Geschwister im Weg. Ausnahmslos war seine Mutter zu anspruchsvoll, zu drohend oder zu verlockend. Welche Faktoren in seinem Leben auch zusammengetroffen sein mögen, seine Homosexualität entwickelt sich als Verteidigung gegen die Verweigerung seiner Bedürfnisse.

Wenn der Patient das Symptom - auch nur zeitweilig - aufgibt und versucht, sich auf neue Art zu verhalten, steigen die Gefühle, die so tief verschüttet waren, herauf. Dann kann man sich in den Gruppen mit seinen Emotionen befassen.

 

Für das Überleben entscheidende Gefühle  

 

Furcht, Zorn, Schmerz, Freude und das Verlangen, Liebe zu geben und zu empfangen, sind tiefe, für das Überleben entscheidende Gefühle. In der Gruppentherapie habe ich wiederholt gesehen, daß diese Gefühle nicht nur der Homosexualität, sondern auch einem weiten Bereich anderer Symptome zugrunde liegen. (Bei Symptomen wie Schuldbewußtsein oder Angst hat sich herausgestellt, daß eins der Primärgefühle — oder eine Verbindung mehrerer — ihren Kern bilden.) Symptome sind erworbenes Verhalten. Tief innen, hinter den Symptomen, enthüllt die Dynamik der Schreiübungen eine erstaunliche Ähnlichkeit der menschlichen Gefühle und Bedürfnisse.

In meinen Gruppen ist es nicht ungewöhnlich, daß sich Schreie der Furcht in Schreie des Zorns verwandeln und zornige Schreie zu gequältem Schluchzen und dann zu Entzücken werden, wenn der Übende in frohes Lachen ausbricht. Diese Übung braucht nur fünf bis zehn Minuten in Anspruch zu nehmen. Doch die ganze Gruppe beteiligt sich an der offenen Heiterkeit des Gruppen­mitglieds, das gearbeitet hat. Liebe und Freude erfüllen den Raum. Zärtlichkeit und Billigung sind überall zu spüren.

Die menschlichen Emotionen sind heute immer noch die gleichen wie vor einer halben Million von Jahren, während sich im Lauf der Entwicklung die Kompliziertheit unserer Zivilisation vervielfacht hat» Je stärker sich die Zivilisation entmenschlicht, desto isolierter wird der einzelne, entfremdet von einer Welt, die von ihm zu fordern scheint, daß er seine tiefsten emotionalen Bedürfnisse betäubt.

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(Wir nennen sie »Eingeweide-« oder »Bauchgefühle«, weil ihr intensiver Ausdruck den ganzen Körper in Anspruch nimmt und man den Eindruck hat, daß ihr Zentrum physiologisch im Bauch liegt.)

Heute ist dieser Gedanke schon so häufig ausgesprochen worden, daß er ein Klischee ist: Die Forderungen der Zivilisation liegen im Streit mit den vitalen emotionalen Bedürfnissen des Menschen.

Der entfremdete Mensch, der gezwungen wird, die Äußerung dieser Bedürfnisse zu unterdrücken, zieht sich entweder hinter eine sozial annehmbare Fassade zurück oder verhält sich auf eine entstellte, häufig destruktive Weise, die den Druck der verschütteten Bedürfnisse zeitweilig erleichtert. Keine dieser »Lösungen« funktioniert tatsächlich, keine ist ein unmittelbarer Ausdruck des emotionalen Kerns der betreffenden Person. Einem wichtigen Teil des Individuums bleibt der Ausdruck verwehrt. Dieser Teil ist sich selbst und der Welt, in der der Betreffende lebt, entfremdet.

Die Alternative ist emotional ehrliche Interaktion, eine Dynamik, die jemandem, der nicht an einer Begegnungs­gruppe teilgenommen hat, nicht leicht zu erklären ist. Anfangs richtet sich die Aufmerksamkeit meist auf das Drama der zornigen Konfrontation. Doch es findet etwas Bedeutsameres statt. Es ist der Ausdruck von Schmerz und Lust, das Geben und Empfangen von Liebe und die offene Zurschaustellung von Furcht. Wenn ich Gruppensitzungen auf Videorecorder aufgenommen und die Bänder wieder abgespielt habe, konnten Zuschauer, die niemals an einer Gruppentherapie teilgenommen hatten, die gezeigten Emotionen verstehen und sich in sie einfühlen.

In der emotional ehrlichen Interaktion fühlt sich jeder einzelne sicher genug, nicht nur echte Emotionen zu fühlen und zu zeigen, sondern auch die Emotionen anderer Menschen zu erleben. Das Ergebnis ist Aufnahme­bereitschaft auf allen Seiten und bedeutsamer emotionaler Kontakt. Die Fassade des Stolzes wird durchstoßen und die psychische Distanz überbrückt, mit der wir uns zu schützen suchen.

Symptome sind ausagierte Tarnungen, die den Zweck haben sollen, das verletzte Innere eines emotional gestörten Menschen zu schützen. Hinter den Symptomen liegt in jedem einzelnen von uns ein weicher Kern von Verletzbarkeit und Bedürfnissen. Trotz der oberflächlichen Unterschiede, trotz asozialer Verhaltens­muster, trotz abwehrender Feindseligkeit, trotz Worten und Rationalisierungen, trotz sozio-ökonomischer Verschiedenheit, trotz Leistungen und Prämien sind die emotionalen Bedürfnisse, die wir haben, erstaunlich gleich. Wir alle brauchen Selbstachtung (die in Wirklichkeit Eigenliebe ist). Und wir möchten von anderen geliebt werden.

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