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7.  Eine charaktergestörte Gesellschaft

 

 

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Als Psychiater versuche ich nicht, den ganzen Bereich der sozialen Kräfte zu verstehen, die die Kultur, in der wir leben, gestaltet haben. Ausführliche Kommentare überlasse ich den Soziologen, Ethnologen und anderen Sozialwissenschaftlern, die besser gerüstet sind, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. 

Hier möchte ich nur das hervorheben, was ich für den Übergang von einer neurotischen zu einer charaktergestörten Gesellschaft halte.

Die Unterschiede zwischen Neurotikern und Charaktergestörten sind meistens schwer zu deuten, weil so viele Menschen Merkmale beider Typen aufweisen. Psychiatrisch gesehen bestimmen die vorherrschenden Merkmale die Kategorie, in die eine Person hineingehört.

Ein Neurotiker hat entstellte Gefühle, unter denen er heftig leidet. Er erlebt seinen Schmerz.

Eine charakter­gestörte Persönlichkeit dagegen kann entfremdet und einsam sein, doch sie weiß nicht, daß sie leidet. Ein Mensch, der charaktergestört ist, kann nicht auf die eigenen Emotionen reagieren, weil er nicht weiß, was er fühlt. In seinem Dasein fehlt die echte Gemüts­bewegung. Schon früh hat er, um dem Schmerz zu entgehen, seine Emotionen gegen sein Bewußtsein abgekapselt.

Ein Charaktergestörter kann seinen innersten Gefühlen keinen Ausdruck verleihen — sie sind zu tief verschüttet. Da er einen sinnvollen emotionalen Kontakt mit anderen weder herstellen noch unterhalten kann, fällt es ihm unvermeidlich schwer, anderen Vertrauen zu schenken. Wie kann er den Emotionen anderer trauen, wenn seine Gefühle so dürftig und nicht vertrauenswürdig sind? Häufig ist er ziemlich erfolgreich (im Gegensatz zum Neurotiker, dessen unangepaßte Gefühle gewöhnlich jedem Erfolg entgegenwirken).  

Doch selbst wenn seine Leistungen Erfolg und Anerkennung finden, hat der Charaktergestörte den Eindruck, isoliert und einsam zu sein. Beifall, Geld und Besitz sind kein Ersatz für die Liebe, nach der er sich sehnt, ohne zu wissen, wie er sie annehmen soll.

Da dem charaktergestörten Menschen der Zugang zu seinen tiefsten Emotionen fehlt, ist er in gewissem Maß nicht vertrauens­würdig. Er ist vor allem das Opfer seines Unbewußten. Wenn sich der Druck verdrängter Emotionen aufstaut, agiert der Charaktergestörte auf destruktive Weise aus — vielleicht durch sexuelle Promiskuität, zuviel Essen, Rückzug aus der Gesellschaft, große Ausgaben oder physische Gewalt­tätigkeit. Psychologen und Psychiater haben charaktergestörte Personen meistens als »unbehandelbar« betrachtet. Dagegen ist neurotischen Menschen leichter mit traditionellen psycho­therapeutischen Methoden zu helfen.

Nach meinen Beobachtungen in meiner Praxis ist die Zahl der Personen, die charaktergestört sind, gewaltig gestiegen. Die Gesellschaft, über die Freud schrieb, war eine völlig andere. Starre Wertsysteme hielten das Verhalten unter Kontrolle, und die Neurose war der vorherrschende Typ psychischer Erkrankung. Heute ist die Einstellung zum Verhalten unvergleichlich viel duldsamer. Und außerdem haben im Gefüge unserer Gesellschaft signifikante Veränderungen stattgefunden.

Seit mehreren Jahren sind achtzig Prozent meiner Patienten bei den Einführungs­gesprächen charakter­gestörte Persönlichkeiten. Annähernd fünfzehn Prozent sind neurotisch und ein bis zwei Prozent schizophren. Der Rest (drei bis vier Prozent) ist im Grunde gesund trotz des emotionalen Stresses, der aufgrund einer spezifischen Gegebenheit oder emotionaler Probleme entsteht. Dieses Verhältnis hat sich in Gesprächen mit Berufskollegen bestätigt, die ernste Probleme mit charaktergestörten Persönlichkeiten haben, denen sie zu helfen versuchen.

Ein entscheidender Faktor beim Übergang von einer neurotischen zu einer charakter­gestörten Gesellschaft ist meiner Auffassung nach das Verschwinden der Großfamilie.

In den Vereinigten Staaten leben ein junger Mann und eine junge Frau, die sich zueinander hingezogen fühlen, zusammen — in den Großstädten mit oder ohne Eheschließung. Sie wollen sich von Eltern und Verwandten nicht stören lassen und dem entgehen, was sie für Neugier und Einmischung der älteren Leute halten. Großeltern, unverheiratete Tanten, ein oder zwei ledige Onkel gehören nicht mehr zur Szene. Die verschiedenen Ansichten und die wechselnden Grade von Emotionalität, die die vielen Individuen in einer Großfamilie mitbringen, sind verschwunden.

Ein jungverheiratetes Paar schließt sich buchstäblich in eine Wohnung oder ein Haus ein und beginnt — gewöhnlich auf ganz symbiotische Weise — Barrieren zwischen »uns« (der neuen Familieneinheit aus zwei Personen) und »ihnen« (allen anderen) aufzurichten. Das neue Paar kauft Geschirr, Besteck, Gardinen, Möbel, ein Hi-Fi-Gerät. 

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Die beiden richten sich die neue Behausung ein und definieren sich durch einen spezifischen Lebensstil und Geschmack. Sie laden Bekannte aus der Vergangenheit ein und versuchen (während sie sie bewirten) festzulegen, welche Freunde sie als Ehepaar weiterbehalten wollen. Es scheint recht wenig Bindung dabei im Spiel zu sein. Freunde, mit denen man zehn Jahre lang verkehrt hat, werden rasch fallengelassen, wenn der neue Partner Einwendungen erhebt. Wenn dann die Kinder kommen, ist der Nachwuchs im Grunde nur den beiden Symptomkomplexen seiner Eltern in einer psychisch komprimierten Situation ausgesetzt.

Das Gefühl für Strukturierung, das eine patriarchalische Familie vermittelt, ist nicht mehr vorhanden. Es gibt nicht mehr die für jeden einzelnen festgelegte Rolle in der Familie, wie es früher der Fall war. Im Jahr 1940 lebte die Mehrheit der Amerikaner noch in landwirtschaftlichen Gebieten. Doch der Zweite Weltkrieg brachte die gewaltige Abwanderung in die Großstädte und einen Bevölkerungsverlust in den ländlichen Gebieten; und die Landflucht hält weiter an. 

Trotz der Bevölkerungszunahme in den Vereinigten Staaten verlieren Dutzende von ländlichen Kreisen ständig an Menschen, wie die Volkszählungen der letzten drei Jahrzehnte aufzeigen. Heute sind in mehr als einem Dutzend der großen Staaten weniger als fünfzehn Prozent der berufstätigen Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt. In unserem Land, wo die Farmen über 205 Millionen Amerikaner und dazu schätzungsweise 160 Millionen Menschen aus anderen Ländern ernähren, ist die Zahl unter sechs Millionen und nimmt rasch weiter ab. Der Grund liegt in der wachsenden Nutzleistung unserer landwirtschaftlichen Maschinen; heute verrichten Maschinen die Arbeit, die früher Menschen geleistet haben.

Die entscheidende Tatsache dabei ist, daß Kinder auf einer Farm die Kenntnisse und Fertigkeiten sehen, verstehen und respektieren konnten, die ihre Väter benutzten, um die Familie zu ernähren.

Heute in der Großstadt gibt es nur selten ein Kind, das die Fähigkeiten seines Vaters versteht oder respektiert. Auf einer Farm war ein neugeborenes Kind ein potentieller wirtschaftlicher Aktivposten, ob es ein Mädchen oder ein Junge war. Nach wenigen Jahren konnte man es schon zu einfachen Arbeiten heranziehen — es fütterte die Hühner, hackte Holz, holte Gemüse aus dem Garten, half beim Melken, beim Pflanzen und Ernten und so fort. 

In der Stadt dagegen sind Kinder wirtschaftliche Passivposten — sie brauchen Nahrung, Unterkunft, Kleidung und Ausbildung. Unausweichlich spiegelt sich diese wirtschaftliche Tatsache des städtischen Lebens im Verhalten der Eltern ihren Kindern gegenüber wider. 

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In meiner Praxis kenne ich viele Ehepaare, die in heftige Auseinandersetzungen darüber geraten, ob sie Kinder haben wollen oder nicht. In einem typischen Fall ist der Mann geschieden und muß für den Unterhalt der Kinder aus seiner ersten Ehe aufkommen. Doch seine zweite Frau, die vorher nicht verheiratet war, ist kinderlos und möchte von dem Mann, den sie liebt, Kinder haben.

Für den Mann ist das Problem wirtschaftlicher Natur. Kürzlich tobte ein Mann in einer Gruppensitzung über dieses Problem: »Warum sollte heutzutage überhaupt jemand noch Kinder haben wollen? Ich schätze, die beiden Kinder, die ich habe, werden mich jedes 50.000 Dollar kosten, ehe ich sie durchs College gebracht habe. Das sind 100.000 Dollar — eine verteufelte Masse Geld! Und was kriege ich dafür? Mein Junge trägt das Haar länger als das Mädchen. Beide rauchen Hasch — wenn's nicht noch was Härteres ist. Keins von beiden unterhält sich mit mir. Mein Beruf, mit dem ich unseren Lebensunterhalt verdiene, ist ihnen peinlich. Nur zum Geldherausrücken, dazu bin ich gut ...«

Ebenso kenne ich mehrere Frauen mit Kindern aus erster Ehe, die nicht noch einmal »die Schwierigkeit auf sich nehmen wollen«, in ihrer zweiten Ehe »mehr Kinder zu haben«, selbst wenn ihr zweiter Mann sich Kinder wünscht. Eine seltsame Ansicht über Kinder? Gewiß. Aber viele Männer vertreten sie heute — und auch Frauen. Jedes Kind, das solchen Eltern geboren wird, muß das spüren.

Die Art der Arbeit, die Menschen tun, hat viel mit dieser Einstellung zu schaffen. Viele Berufe haben in sich selbst wenig Wert. Für die meisten Menschen ist die Arbeit ein Mittel, Geld zu verdienen, mit dem sie sich andere Bedürfnisse und Wünsche erfüllen können. Wieviel Befriedigung erleben ein Mann oder eine Frau am Fließband einer Automobilfabrik? Beim Verkauf von Massenprodukten in einem großen Kaufhaus? Beim Ausschreiben von Rechnungen? Als Angestellter in einer Registratur?

Selbst wenn ein bestimmter Beruf Tätigkeiten erfordert, die bedeutungsvoll und verständlich sind, ist es doch häufig so, daß die Ziele des Unternehmens selbst entpersönlicht und undurchsichtig sind, so daß man sich schwer mit ihnen identifizieren kann.

Das Problem wird dadurch noch schwieriger, daß viele Ehefrauen in den Schlafstädten abgekapselt und vom Brot­erwerb der Ehemänner völlig abgeschnitten sind. Sie verstehen die Kämpfe und Demütigungen kaum, denen er sich in der entpersönlichten Arbeitswelt täglich gegenübersieht. Ihre Welt ist mit Kindern, Lange­weile, hauswirtschaftlicher Plackerei und fehlenden Anregungen angefüllt. 

Ein großer Teil des ehelichen Lebens ist alles andere als gemeinschaftlich. Die Kommunikation wird schwierig. Und wenn die Mutter die Kinder verläßt, um eine Stellung außerhalb des Hauses anzunehmen, kann sich das Familienleben noch stärker auflösen.

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Kein einzelner Mensch, ob verheiratet oder nicht, kann sämtliche Bedürfnisse eines anderen Menschen ständig erfüllen. Emotional muß jeder von uns mit einer Anzahl anderer Menschen verbunden sein. Wir brauchen Freunde, Verwandte, Arbeitsgefährten, Partner, Mitarbeiter, denen wir vertrauen können. Doch die städtische Wettbewerbs­gesellschaft, in der wir leben, macht es immer schwieriger, Bindungen in unseren Beziehungen zu entwickeln und aufrechtzuerhalten.

Zweiundzwanzig Prozent aller Familien der Vereinigten Staaten ziehen jährlich um, eine Zahl, die sich in unsagbare Angst und Isolierung umsetzt. Denn Umziehen bedeutet neue Arbeitskollegen, neue Freunde, neue Nachbarn, neue Schulen, neue Klubs und Vereine. Viele fangen jetzt an, die »Kunst der Mobilität« an den Universitäten zu studieren. Im Augenblick leben schätzungs­weise 750.000 Studenten fern von ihren Familien und lernen, wie man vorübergehende Freundschaften und sexuelle Beziehungen kultiviert.

Wenn ein leitender Angestellter an eine andere Niederlassung versetzt wird, sind seine ersten Kontakte unvermeidlich die mit Leuten seines Unternehmens. Doch welche Fähigkeiten er und seine Frau auch haben mögen, um sinnvolle Beziehungen zu anderen Menschen anzuknüpfen, das Verhältnis zu diesen Leuten wird von den sozio-ökonomischen Fesseln des Unternehmens begrenzt. In einigen Unternehmen herrschen ungeschriebene Gesetze über das Verhalten der leitenden Angestellten. Man kauft ein Haus im angemessenen Teil der Stadt, lebt in einer Wohnung, die kleiner ist als die des unmittelbaren Vorgesetzten, und verkehrt mit Untergebenen nur auf genau festgelegte Weise.

In seinem Roman Der Zukunftsschock läßt Alvin Toffler einen leitenden Angestellten sagen: »Eine Ehefrau kann regelrecht gefährlich werden, wenn sie darauf besteht, enge Freundschaften mit den Frauen der Untergebenen ihres Mannes zu unterhalten. Ihre Freundschaften färben auf ihn ab, beeinflussen sein Urteil über die Untergebenen und gefährden seine Stellung.«

Wenn auch immer noch viele Leute lange Zeit in der gleichen Firma arbeiten, so wird Stellenwechsel doch zum Leitmotiv unseres Jahrhunderts. Von den 71 Millionen Lohnempfängern in den Vereinigten Staaten behielt der Durchschnitt seine Stellung nur 4,2 Jahre. Das unterscheidet sich grundlegend von der Zeit Freuds oder von den Verhältnissen in Japan und anderen heutigen Ländern, wo ein Beruf eher mit einer Karriere gleichzusetzen ist.

Als Gesellschaft haben wir anscheinend die Fähigkeit verloren, das zu tun, was meine Gruppenmitglieder »bei der Stange bleiben« nennen.

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Warum soll man sich die Mühe machen, sich mit einem Nachbarn auseinanderzusetzen, über den man sich geärgert hat? Oder mit einem Freund, der hinter dem Rücken über einen klatscht? Es ist bequemer, die Beziehung abzubrechen und sich die Aufregung einer Konfrontation zu ersparen.

Unsere mobile Gesellschaft fordert noch einen weiteren Zoll: die Menschen stehen nicht mehr unter dem Streß einer bestimmten häuslichen Situation. Statt mit einem emotionalen Problem zu ringen — und dabei vielleicht innerlich zu wachsen —, geht man einfach weg. Frauen verlassen ihre Männer. Jugendliche ziehen von ihren Eltern fort. Ehemänner lassen Frau und Kinder im Stich. 

Furcht und Zorn, die klassischen Abwehrreaktionen auf Streß und Gefahr, treten jetzt auf den zweiten oder gar dritten Platz. Isolierung und Zurückziehen — die Abwehrmechanismen der charaktergestörten Persönlichkeit — bieten viel bequemere Methoden, Unbehagen zu vermeiden. Wenn emotionale Probleme ausbrechen, ist es oft leichter, den Schauplatz zu verlassen, als die Situation durchzustehen. Das ist das Verhaltensmuster in unserem mobilen Amerika um das Jahr 1975.

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Um mehr Selbsterfüllung zu finden und zu den Haushaltskosten beizutragen, arbeiten viele Frauen. Nach der amerikanischen Volkszählung von 1970 waren zwei von fünf Frauen berufstätig. Die Arbeit der Frau kann sowohl für den Mann wie für die Frau eine ausgezeichnete Lösung sein, doch in allzu vielen Ehen ist es leider so, daß die Frau dem emotionalen Streß, eine bessere Beziehung zu ihrem Ehemann und ihren Kindern aufzubauen, aus dem Wege geht. Oft wendet man, wenn ein emotionales Problem schlimmer wird, lieber Zeit für eine andere Tätigkeit (etwa einen Beruf) auf, statt sich den schwer durchzustehenden Problemen menschlicher Beziehungen zu stellen. Wenn es sich darum handelt, Kinder aufzuziehen oder die Beziehungen mit dem Ehepartner zu vertiefen, ist die Qualität der Zeit entscheidend, nicht unbedingt die Menge der Zeit.

Das städtische Leben ist kompliziert und verwirrend. Um eine Art Gleichgewicht zu wahren, isolieren sich Stadtbewohner gegen die Reize, die ihre Psyche überlasten. Georg Simmel hat darauf hingewiesen, daß ein Städter, der emotional auf jede Person, mit der er in Kontakt kommt, reagieren oder seinen Geist mit Informationen über sie belasten wollte, »innerlich völlig atomisiert und in einen unvorstellbaren Geisteszustand fallen« müßte.

Beispiele für die Entpersönlichung des Stadtlebens gibt es in Fülle. Ich kenne z.B. eine Frau, die ohnmächtig wurde, als sie in einer überfüllten U-Bahn in Manhattan stand. Die Türen öffneten sich an der Zweiundvierzigsten Straße, und die Menge drängte hinaus. 

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Schwindlig und halb bewußtlos wurde die Frau durch die Tür auf den U-Bahnsteig geschoben — wo sie hinfiel, zwischen Bonbonpapiere, Kaugummi und Spucke. Bis sie das Bewußtsem so weit wiedererlangte, um sich zum Knien aufzurichten, waren buchstäblich Tausende von Menschen über sie hinweggestiegen, weil sie nicht in die Angelegenheit hineingezogen werden wollten. Wahrscheinlich hielten sie die Frau für betrunken. Doch selbst dann ist es noch ein Beispiel für verhärtete großstädtische Unmenschlichkeit.

Der Großstädter wird täglich mit mehr als 1500 Werbeeindrücken bombardiert. Er kann gar nicht all diese Eindrücke aufnehmen oder auf die vielen Reize reagieren. Um geistig gesund zu bleiben, muß er einen Teil seines Bewußtseins abschalten — er übersieht nicht nur diese »Eindrücke«, sondern auch unzählige lebendige Menschen, die seinen Weg kreuzen. Aber wie soll er es anfangen, sich gegen einen Teil dieser Reize abzuschirmen, ohne einen Prozeß in Gang zu setzen, der weiter und tiefer reicht, als er es möchte?

Wenn man eines Tages die Augen vor einem betrunkenen Stadtstreicher verschließt, der an der Ecke liegt, wird es einem das nächstemal leichterfallen, an einem anderen Menschen vorüberzugehen, der auf der Straße zusammengebrochen ist und vielleicht einen Herzanfall hat. Und wenn man erst an einem bewußtlosen Mann vorübergehen kann, der Hilfe braucht, warum dann nicht an einem Kind? Einem Neugeborenen? Wo hören Abschirmung und Gefühllosigkeit auf? Wo beginnt die einfachste Mensch­lichkeit?

Ironischerweise neigen wir dazu, die Wirklichkeit verschwommen zu sehen und die Nichtwirklichkeit mit konzentrierter Aufmerksamkeit zu betrachten. Die Wirklichkeit aus Fleisch und Blut auf der Straße ist zu schmerzlich und bedrohend, deshalb sperren wir sie aus unserem Bewußtsein aus. Um Einblicke und Informationen über die übrige Welt zu erhalten, verlassen wir uns lieber auf die oft einseitigen und unvollständigen Nachrichten, die uns die Medien bieten. Kriege werden zu Filmen mit einem unterlegten Kommentar. Katastrophen schrumpfen zu Interviews mit Augenzeugen zusammen.

An den Abenden der großen Wahlen sagen Computer die Ergebnisse voraus, kaum daß die Wahllokale geschlossen haben. Die typische Großstadtzeitung erhält täglich etwa acht Millionen Wörter Nachrichten und Beiträge aus ihrer Redaktion, den Presseagenturen und -diensten, von Korrespondenten und Kolumnisten. Von diesen Wortmassen werden nur etwa 100.000 Wörter gedruckt.

Was wir täglich über die Welt erfahren, hängt zum überwiegenden Teil davon ab, was andere für uns auswählen. Jahrelang haben wir beispielsweise den Krieg in Vietnam als Drama auf unseren Fernseh­schirmen beobachtet. 

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Wir haben gesehen, wie Soldaten verwundet wurden, wie sie starben, wie Städte bombardiert wurden, Granaten barsten, Hütten brannten und Flüchtlinge die Straßen verstopften. Auch wenn wir noch zusätzlich Zeitungen und Magazine lesen, stammt unsere Kenntnis des Krieges vom Fernsehschirm.

Die Abhängigkeit von redigierten und bearbeiteten Informationen aus dritter Hand kann Mißtrauen erzeugen. Als im Jahr 1969 zwei Astronauten auf dem Mond landeten, wirkte das Ereignis so unwahr­scheinlich, daß einer meiner Freunde daran zweifelte, ob es wirklich stattfinde. »Könnte das ein Propagandatrick sein?« fragte er. Angenommen, da stolperten zwei Schauspieler in komisch ausgestopften Anzügen über eine geschickt ausgestattete Bühne? Wie konnte er denn wissen, ob es nicht ein Orwellscher Schelmenstreich war? Wie konnte es überhaupt jemand wissen?

Ist es ein Wunder, daß junge Menschen bei allem, was sie sehen und hören, skeptisch sind? Politiker und führende Persönlich­keiten können Ideen manipulieren, Tatsachen entstellen und übermäßig vereinfachen. Wie läßt sich die Wahrheit aus der Unwahrheit heraussieben?

 

Früher war die Wirklichkeit für einen Menschen so unmittelbar und persönlich wie die Finger an beiden Händen. Sie umfaßte die Leute, mit denen er lebte, und die Bäume, Büsche und Tiere, die er täglich sah. Nachrichten erreichten ihn nicht über einen mechanisierten Prozeß, der sie zum leichteren Verständnis überarbeitete und ordnete. Man verließ sich auf das, was man selbst hörte oder sah. Oder man erhielt Nachrichten von einer Person, die man kannte und der man vertraute — von einer Person also, bei der man sich darauf verlassen konnte, daß sie das gesehen oder gehört hatte, was sie berichtete. Heute geht es bei Gesprächen auf einer Party häufig um Informationen, die aus entpersönlichenden Medien stammen. Die Informationen in den Vereinigten Staaten haben eine kinetische Eigenschaft angenommen — rasch, ständig in Bewegung, ständig auf den neuesten Stand gebracht.

Wenn Sie das nächste Mal zu einer Party gehen, beobachten Sie einmal die Reaktion, wenn eine Dame sagt: »Ich hatte heute ein ganz unglaubliches Erlebnis ...« und dann anfängt, eine sehr persönliche Anekdote über etwas zu erzählen, was ihr tatsächlich zugestoßen ist. Sie können die Geschichte glauben, sie genießen und offen mit der Erzählerin zusammen lachen.

In den Einführungsgesprächen in meiner Praxis begegne ich häufig charaktergestörten Persönlichkeiten, die eher Robotern als Menschen gleichen. Ihre Sprechweise ist entpersönlicht, ohne Gemütsbewegung, ohne Humor. Sie übermitteln Tatsachen ohne Gefühle. Schlimmer noch, ihre Einstellungen scheinen aus Medien zu stammen, zu denen wir alle Zugang haben — aus den auflagenstarken Illustrierten. 

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Solchen Leuten zuzuhören ist wirklich überaus langweilig. Es ist immer eine Erleichterung, den gleichen Menschen einige Monate später wiederzusehen, nachdem er eine Zeitlang an Gruppen­sitzungen teilgenommen hat. Dann hört man Emotion und Gemütsbewegung in seiner Stimme, entdeckt Empfindsamkeit und Empfänglichkeit in seinem Blick.

 

Ich erinnere mich eines Mannes namens Humphrey, der wie ein soziologisches Lehrbuch redete. Er kam zu mir, weil sich seine Ehefrau (die sich bei einem anderen Psychiater einer Einzelbehandlung unterzog und bei mir an Gruppen teilnahm) scheiden lassen wollte. Humphrey erzählte die Geschichte ohne Ausdruck oder Modulation der Stimme:

»Als mich Marlene bat, in eine Scheidung einzuwilligen, war ich mir bewußt, daß jede dritte Ehe mit einer Scheidung endet. Deshalb erklärte ich ihr, ich sei mit ihrem Wunsch nach Scheidung einverstanden. Schließlich ist es ja nicht schimpflich, zu dem Drittel unserer Bevölkerung zu gehören, das die schwierigste Beziehung innerhalb unserer Gesellschaft auf diese Weise löst ...«
»War die Bitte eine Überraschung für Sie, Humphrey?« fragte ich.
»Viele Ehemänner werden durch die Forderung einer Scheidung überrascht. Vorige Woche habe ich ein Buch gelesen, in dem es hieß ...«
»Nein, Humphrey. Ich möchte etwas über Ihre Reaktionen erfahren. Haben Sie gespürt, daß etwas im Gange war? Hielten Sie Ihre Ehe für gut?«
»Die Ehe ist heutzutage ein sehr kompliziertes Verhältnis, Dr. Casriel. Ich habe gelesen, daß in einem Bezirk von Kalifornien die Scheidungsziffer über fünfzig Prozent liegt. Die Probleme der Ehe liegen in ...«
»Aber Humphrey«, unterbrach ich ihn abermals, »ich möchte erfahren, ob Sie gewußt haben, daß sich Ihre Frau scheiden lassen will. Ja oder nein?«
Humphrey sah mich volle zehn Sekunden an.
»Nein, Dr. Casriel«, erwiderte er und lächelte mechanisch. »Ich habe das nicht erwartet. Ich habe geglaubt, wir würden eine ausgezeichnete Ehe führen — relativ gesehen, meine ich.«

Monate später, nach einem Programm von wöchentlich drei Gruppenabenden und drei intensiven Marathon­sitzungen, erlebte ich, wie Humphrey seinen Schmerz über die bevorstehende Scheidung an der Schulter jedes der fünfzehn Mitglieder seiner Gruppe herauschluchzte. Er liebte seine Frau sehr.

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Ich freue mich, berichten zu können, daß diese Geschichte einen glücklichen Ausgang nahm. Erfreut (aber auch erschrocken) über die neuentdeckte Emotionalität ihres Mannes, entschloß sich Marlene, auf die Scheidung zu verzichten. Sie und Humphrey leben zusammen und arbeiten sich in reifer und vernünftiger Art, die sie enger miteinander verbindet, durch emotionale Probleme hindurch.

Humphrey hatte seine Gefühle schon früh im Leben abgeschaltet, um Schmerz zu vermeiden, der ihm unerträglich erschien. Doch indem er dem Schmerz auswich, brachte er sich auch um die Gefühle der Freude. Und er wurde langweilig — es war bedrückend, ihm zuzuhören, man konnte sich nicht auf ihn verlassen, und es war unbefriedigend, wenn man versuchte, auf ihn einzugehen. Das Tragische daran ist, daß Humphrey ein dramatisches Beispiel für die in unserer charaktergestörten Gesellschaft herrschende Tendenz ist.

 

Die Symptome betäubter Gefühle und die Unfähigkeit, Beziehungen zu knüpfen, sind überall zu finden — in unserer hohen Scheidungsziffer, der Entpersönlichung des Sexuellen (innerhalb wie außerhalb der Ehe), in den Klagen über Vereinsamung und Entfremdung, die Zeichen unserer Zeit sind, in mechanisierten oder ritualisierten Aktionen, die ohne Sinn oder Gefühl vorgenommen werden, und in dem massiven Ringen um Identität, das wir alle erleben. Es ist nicht einfach, in unserer charakter­gestörten Gesellschaft zu leben.

Der Report des Gemeinsamen Ausschusses für die psychische Gesundheit der Kinder, dessen Vorsitzender Peter Neubauer ist, bezeichnet die emotionale Gesundheit der Kinder als das wichtigste Problem der öffentlichen Gesundheitspflege. Der Ausschuß schätzt, daß 25 Prozent der Kinder in den Vereinigten Staaten emotionaler Hilfe bedürfen und daß »mangelnde emotionale Gesundheit in unserem Land epidemische Ausmaße angenommen hat«.

Neubauer, der Chef des <Kinder-Entwicklungs-Zentrums> in New York ist, sagt: 

»Wir sehen Kinder im Vorschulalter mit Problemen, die uns zu der Ansicht bringen, daß ihre angemessene Entwicklung bereits beeinträchtigt worden ist. Es gibt Kinder mit erheblichen Schlafstörungen, die wegen Alpträumen nicht einschlafen können. Es gibt Kinder, deren Ängste so groß sind, daß sie ihre Körper­funktionen beinträchtigen. Wir erleben Sprachstörungen, Bettnässen und Wutausbrüche. Wir sehen übergroße Abhängigkeit, so daß ein Kind den nächsten Entwicklungs- oder Wachstumsschritt nicht vollziehen kann. Wir sehen eine Hyperaktivität, die über die normale Zeit hinausreicht, so daß das Kind nicht genügend Ruhe findet, um zu lernen. Wir sehen Kinder, die zwanghaft ordentlich sind und sich zu lange und zu ängstlich auf Rituale verlassen. Wir sehen Kinder mit stark herabgesetzter Toleranzschwelle für Frustrationen jeglicher Art. Bei all diesen Kindern dauert ein Verhalten, das für eine gewisse Entwicklungsstufe angemessen sein mag, weit länger an, als es dies tun dürfte, was erhebliche Schwierigkeiten erwarten läßt.«

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Die Symptome fehlender emotionaler Gesundheit, die Neubauer hier nennt, werden noch deutlicher, wenn die Kinder älter werden; das Problem nimmt immer größere Ausmaße an. Es trifft tatsächlich zu, daß wir in einem Land leben, wo die meisten Menschen nur beschränkten Zugang zu ihren elementaren Emotionen haben.

 

Wir werden in Familien geboren, in denen die Eltern bereits ihre Emotionen abgeschaltet haben. Wir erleben nicht, was Erich Fromm »Milch und Honig« nennt — die annehmende Liebe und Wärme einer emotional reagierenden Mutter. Wenn wir dann heranwachsen, werden wir konditioniert, mit Aggressivität fertig zu werden statt mit Zorn; mit Depressionen statt mit Zorn oder Schmerz; mit Vorhaltungen und Angriffen, die auf gewissen Einstellungen beruhen und häufig die Furcht und Unkenntnis eines Elternteils tarnen sollen; mit endlosem Tadel statt daß man uns sinnvoll zur Rechenschaft zieht; mit Märtyrertum statt mit gesundem, wechselseitig befreiendem Eigennutz; und mit destruktiven statt mit gesunden Verhaltens­mustern, die als Rollenmodelle benutzt werden können.

 

Dann kommen wir zur Schule, wo wir Tatsachen von Lehrern erfahren, die sich ebenfalls zum emotionalen Abschalten entschlossen haben. Doch das Büffeln der Geschichte von George Washington und dem Kirschbaum, mit der seine Wahrheitsliebe bewiesen werden soll, hilft einem Jungen nicht, die eigene Identität zu finden. Die Geographie des Zorns ist auf den Schullandkarten nicht zu finden. Und das Einmaleins bringt dem Kind nicht bei, was es mit dem Schmerz in seinem Innern, den es nicht zum Ausdruck bringen kann, anfangen soll.

Wir werden über die Freuden des Geschlechtslebens aufgeklärt — doch allzu häufig ohne Liebe. Wir lernen, wie wir die Sexualität anwenden sollen — ein bißchen mechanisch, so als ob es sich um einen Werkzeugkasten handelte. Die Sexualität liefert uns ein angenehmes Mittel, Zugang zu unseren Gefühlen zu gewinnen, doch nur für eine kurze Zeitspanne.

Danach gehen viele von uns zum College, wo man uns mehr davon beibringt, wie man spezialisierte Informationen aufsucht, ordnet und manipuliert. In diesem Prozeß erwerben wir irgendwie eine Fähigkeit, die sich in Geld umsetzen läßt. Wir bekommen einen Job und ziehen aus der Wohnung der Kernfamilie aus.

Nun wählen wir einen Partner, heiraten und schaffen uns selbst ein Heim für eine Kernfamilie. Es ist anzunehmen, daß die Ehe, ob es zur Scheidung kommt oder nicht, schlecht wird. 

Wie kann sie gut werden, wenn wir von den Rollenmodellen ausgehen, die wir beobachtet haben, und von der Konditionierung und Erziehung, die uns zuteil geworden sind? Von unseren innersten Gefühlen abgeschnitten, inszenieren wir mit unseren Kindern die gleichen Szenen, die unsere Eltern mit uns inszeniert haben. Vermutlich werden wir diese Szenen weniger beherzt inszenieren, als sie es getan haben, weil wir schlechter konditioniert worden sind.

Dies ist das Grundmuster unserer charaktergestörten Gesellschaft. Sie unterscheidet sich sehr erheblich von der viktorianischen Gesellschaft, in der Freud seine zutiefst wichtigen Entdeckungen gemacht hat. Freuds Zeit produzierte überwiegend Neurotiker.

Was ist nun der Unterschied zwischen einer charaktergestörten Persönlichkeit und einem Neurotiker? Die Unterscheidung ist wichtig für meinen Prozeß, der vor allem darauf abzielt, die Patienten in Kontakt mit intensiven, lange unterdrückten Emotionen zu bringen. Wir wollen im nächsten Kapitel diesen Unterschied genauer untersuchen.

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