8. Neurose und Charakterstörung
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Stellen wir uns folgende Szene auf dem Fernsehschirm vor: Drei Männer in den Dreißigern unterhalten sich in einem eleganten modernen Wohnzimmer. Das Gespräch wird mit leiser Stimme und in freundlichem Ton geführt. Plötzlich springt einer der Männer wütend auf und erklärt den anderen, sie seien Narren und hätten kein Recht, »so« mit ihm zu sprechen. Dann stürmt er aus dem Zimmer und schlägt die Tür hinter sich zu.
Die beiden schauen einander verdutzt an, und einer fragt schließlich: »Findest du nicht, daß Hank ein bißchen neurotisch wird?« Die Frage ist jedem Zuschauer sofort verständlich. — Nehmen wir einmal an, der Mann fragte statt dessen: »Findest du nicht, daß Hank ein bißchen charaktergestört wird?« Der Ausdruck klingt so albern klinisch, daß die Zuschauer lachen würden.
Im alltäglichen Sprachgebrauch ist <neurotisch> dem Ausdruck <charaktergestört> turmhoch überlegen — obwohl ich überzeugt bin, daß eine große Mehrheit der Menschen in unserer Kultur charaktergestört ist.
Selbstverständlich wird der Begriff <Charakterstörung> in den Konversationen der Gebildeten nicht so bald den Ausdruck <Neurose> verdrängen. Einmal hat das Wort <Neurose> einen verteufelt interessanten Beiklang — es erinnert an die Filmrollen, die Tony Randall so geschickt spielt. <Charakterstörung> dagegen klingt wie das moralische Verdikt einer Jury.
Zum andern wird seit Jahrzehnten über Freud, Adler, Jung, Pawlow und andere unterrichtet. Gebildete Erwachsene in den USA wissen, was Neurose ist. In großstädtischen Zentren wie Manhattan ist es modern, zuzugeben, daß man ein bißchen neurotisch sei (vorausgesetzt, daß dieses Verhalten interessant genug ist).
Kennen alle, die den Ausdruck <neurotisch> verwenden, seine Bedeutung? Im allgemeinen ja. Sie haben eine ganz vernünftige Vorstellung davon. Vielleicht würden sie Schwierigkeiten haben, wenn sich die Notwendigkeit ergäbe, zwischen neurotischen und nichtneurotischen Symptomen zu unterscheiden — doch das fällt oft genug auch dem Psychiater schwer. Ebenso haben die meisten Menschen eine recht gute Vorstellung von dem, was sie <psychotisches> Verhalten nennen, wenn sie natürlich auch nicht die berufliche Ausbildung besitzen, eine genaue Diagnose der Psychose zu stellen.
Die Probleme der diagnostischen Abgrenzung
Fast jeder läßt sich psychiatrisch einem der folgenden drei Persönlichkeitstypen zuordnen: psychotisch, neurotisch oder charaktergestört. Diese drei Kategorien bilden für die meisten Ärzte, die heute psychotherapeutisch tätig sind, die diagnostische Ausgangsbasis. Meiner Ansicht nach sind die einzige Ausnahme Menschen mit organischen Hirnschäden, die durch Krankheit, Geburt oder angeborene Defekte, durch Infektion, Gift, Tumor oder physische Verletzung verursacht worden sind. Außerdem gibt es einige Amerikaner, die ich nach den in Kapitel 3 behandelten Maßstäben »emotional gesund« nennen würde.
Wenn ich psychiatrischen Etiketts im allgemeinen auch kritisch gegenüberstehe, finde ich die Unterscheidungsmerkmale doch wichtig. Ich bin überzeugt, daß ein wesentlicher Unterschied zwischen der psychischen Dynamik einer charaktergestörten und der einer neurotischen Persönlichkeit besteht. Dieser Unterschied erklärt vielleicht, weshalb es vielen Psychiatern nicht gelingt, charaktergestörte Persönlichkeiten erfolgreich zu behandeln. Die Psychoanalyse und viele andere Formen der Einzeltherapie sind nur in der Behandlung von Neurotikern erfolgreich. Die Gruppentherapie kann dagegen, wenn sie mit den elementaren Gefühlen arbeitet, sowohl in der Behandlung von neurotischen wie von charaktergestörten Persönlichkeiten wirksam sein.
Trotzdem muß man nachdrücklich daran erinnern, daß psychiatrische Klassifizierungen Hinweise geben und keine scharfumrissenen Realitäten sind. Wie die meisten Etiketts, die sich mit dem menschlichen Verhalten beschäftigen, dienen sie als Richtlinien. Wenn ein Patient ein Neurotiker mit Angstreaktionen ist, können wir uns in etwa vorstellen, wie er sich zum Verlust seiner Stellung verhalten würde oder weshalb er sie überhaupt verloren hat. Wir erhalten auch einige wertvolle Hinweise darauf, wie wir ihn verstehen, wie wir seine Abwehrmechanismen durchstoßen müssen usw. Doch das sind lediglich Fingerzeige, die aus der Beobachtung und der klinischen Erfahrung stammen. Es sind keine klar definierten Tatsachen.
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Allzu häufig, oft schon bei der ersten Diagnose, stempeln Psychiater Menschen zu einem bestimmten Persönlichkeitstyp ab. Von diesem Augenblick an wird der Patient unter dem Gesichtspunkt der Merkmale seines Prototyps betrachtet, nicht mehr als individuelle Persönlichkeit. Seine Gefühle, sein spezieller Schmerz oder seine Verwirrung und seine tiefsten Bedürfnisse werden zur Bequemlichkeit des Therapeuten in ein Klischee gepreßt. Die Menschlichkeit des Patienten wird geopfert. Das Etikett wird der Patient.
Unter einer so oberflächlichen Beurteilung muß jeder leiden. Die Gefahr einer solchen Beurteilung sehe ich häufig bei meiner Arbeit mit Drogensüchtigen in der AREBA. Klassischerweise werden die meisten Süchtigen als ernstlich Charaktergestörte diagnostiziert. Bis vor ganz kurzer Zeit hatte ihre Behandlung wenig Erfolg. Da es ihnen an besserem Verständnis mangelt, nehmen viele Psychiater und Psychologen automatisch an, daß schwere Charakterstörungen »unbehandelbar« seien. Schlimmer noch, sie »behandeln« die »Unbehandelbaren« entsprechend. Ich bin überzeugt, daß der strafende, restriktive Umgang mit Süchtigen überwiegend auf diese Einstellung zurückzuführen ist. Doch unser Gruppenprozeß weist erhebliche Erfolge mit Süchtigen auf, besonders in einer therapeutischen Gemeinschaft.
»Unbehandelbar« scheint der Dauerzustand des charaktergestörten Drogensüchtigen wirklich nicht zu sein. (Zu Anfang der Daytop-Geschichte war mehr als die Hälfte der dort Aufgenommenen anderswo als psychotisch diagnostiziert worden. Doch diese Diagnosen waren falsch. In Wirklichkeit wiesen die meisten schwere Charakterstörungen auf, und viele sprachen gut auf die Daytop-Dynamik an.)
Ganz gewiß kann man Menschen nicht exakt in Schubladen mit Diagnose-Etiketts einordnen. Niemand fällt genau in die eine oder andere Kategorie. Ich habe niemals einen Charaktergestörten gesehen, der nicht auch einige neurotische Symptome aufwies, oder einen Neurotiker ohne gewisse Anzeichen von Charakterstörung. Obwohl nur ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung klinisch als psychotisch diagnostiziert würde, kann theoretisch jeder psychotisch werden, falls er längere Zeit schwerem Umweltstreß ausgesetzt ist, verbunden mit zu wenig Schlaf, Nahrung und menschlichem Kontakt. Diagnostische Etiketts beziehen sich in Wirklichkeit nur auf das in einer bestimmten Person zu einer bestimmten Zeit vorherrschende Thema.
Ein weiteres Problem liegt in dem Begriff der »Krankheit«. Ich habe festgestellt, daß die meisten Psychotiker medizinisch krank sind. Wie viele Kliniker bin ich davon überzeugt, daß ein gestörtes chemisches Gleichgewicht im Stoffwechsel des Kranken seine Wahrnehmungs- und Denkprozesse beeinträchtigt.
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Das bedeutet jedoch nicht, daß alle Psychotiker unbedingt »kränker« sind (wie wir gewöhnlich im Kontext emotionaler Unausgewogenheit meinen) als andere Menschen. Im allgemeinen fällt es Psychotikern weit schwerer, sich angemessen zu verhalten, als den meisten charaktergestörten oder neurotischen Personen. Dennoch sind viele Neurotiker und Charaktergestörte ebenso »durcheinander« und sich selbst und anderen gegenüber ebenso destruktiv wie Psychotiker.
Ferner variiert die Schwere der Probleme innerhalb eines jeden Persönlichkeitsprofils. Manche Neurotiker haben mehr beunruhigende Gefühle als andere Neurotiker. Manche charaktergestörte Personen sind stärker von ihren Grundgefühlen abgeschnitten als andere. Einige Leute sind gefährlich, andere verhalten sich höchst verantwortungsbewußt. Auch wechselt der Grad der »Gesundheit« beim einzelnen zu verschiedenen Zeiten.
Mindestens achtzig Prozent meiner Patienten sind charaktergestört, wenn sie zu mir kommen. Die anderen sind im wesentlichen neurotisch. Mit ganz wenigen Ausnahmen habe ich Leute mit Schwachsinn oder schweren körperlichen Behinderungen — etwa Blindheit oder Querschnittlähmung — nicht in meine Gruppen aufgenommen. Es ist einfach zu schwierig für andere Gruppenmitglieder, die Situation der behinderten Person zu begreifen, wenn auch Schreiübungen einigen körperlich Behinderten geholfen haben, mit ihren Gefühlen fertig zu werden.
Jedoch nehmen einige Psychotiker — sämtlich Grenzfälle der Schizophrenie, deren Zustand durch Medikamente kompensiert worden ist — an sorgsam ausgewählten Gruppen teil. Da die Zahl der Gruppen im ganzen Land immer mehr zunimmt und eine verantwortliche Kontrolle bei vielen Gruppen fehlt, ist es wichtig, die Psychosen kurz zu besprechen, ehe wir uns mit den beiden diagnostischen Profilen beschäftigen, zu denen meine Patienten gehören — Neurose und Charakterstörung.
Psychosen
Nach meinen Aufzeichnungen leiden weniger als zwei Prozent der Menschen, die zu uns kommen, unter Psychosen. Technisch gesehen gibt es zwei Arten von Psychosen: Jene, die auf organische, nachweisbare Hirnschädigung zurückzuführen sind, und jene, bei denen solche Schädigungen nicht vorliegen. Bei organischen Psychosen zeigen sich Hirnschädigungen, die auf einer Vielfalt von Ursachen beruhen, etwa Alkoholismus, Trauma, Läsion oder Gift.
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Die Schädigung ist mit dem Mikroskop feststellbar. In chronischen Fällen helfen Chemikalien nicht. Beschädigtes Gewebe ist nun einmal beschädigtes Gewebe. Bei nichtorganischen Psychosen läßt sich keine Hirnschädigung finden. Achtzig bis neunzig Prozent dieser Fälle sind Schizophrene oder Manisch-Depressive, wobei die überwiegende Mehrzahl zu den Schizophrenen zählt. Viele Kliniker halten die Schizophrenie primär für eine physische Krankheit, verursacht von spezifischen enzymatisch-genetischen Gleichgewichtsstörungen des Stoffwechsels. Häufig können Medikamente helfen. Meine klinische Erfahrung stimmt mit dieser Ansicht überein. Ich nehme Schizophrene jetzt nicht mehr in meine Gruppen auf, doch diejenigen, die von früher bei mir geblieben sind, scheinen auf Medikamente anzusprechen.
Einstweilen bin ich noch nicht in der Lage, die Möglichkeiten unserer Gruppenmethode für die Behandlung Schizophrener zu beurteilen. Das geringe klinische Material, das ich sammeln konnte, spricht dafür, daß zwar manche Schizophrene durch den Prozeß mehr Interesse gewinnen, daß jedoch kein Schizophrener wirkliche Fortschritte macht. Manche Schizophrene werden unerwünschte Brüche in den Gruppen hervorrufen. Sie können den Prozeß stören, und davon hat niemand einen Nutzen.
Es kann auch wirkliche Gefahren mit sich bringen, wenn man Schizophrene in den Gruppen hat. Die Intensität des Prozesses könnte eine Verschlechterung eines kompensierten schizophrenen Zustands hervorrufen. Entscheidender ist jedoch, daß die Fallgeschichte mancher Schizophrener darauf hinweist, daß sie in solcher Umgebung einen anderen töten könnten.
In diesem Zusammenhang muß auf eine Gefahr besonders aufmerksam gemacht werden. Da Gruppentherapie heutzutage sehr in Mode gekommen ist, nehmen viele Leute daran teil, ohne über die Qualifikationen der Gruppenleiter oder die Stabilität der anderen Gruppenmitglieder orientiert zu sein. In einem Fall ließ ein Schizophrener, der ziemlich viel Charisma besaß, in einer New Yorker Zeitung Anzeigen erscheinen und veranlaßte dadurch etwa vierzig Menschen, an Gruppen teilzunehmen, die er leitete. Seine eigene Krankheit wurde bald offenbar, und man brachte ihn wieder in einer Heilanstalt unter. Die Gruppen hatten damit ein Ende, aber wer weiß, welcher Schaden inzwischen bei anfälligen Gruppenmitgliedern angerichtet worden ist?
Über die Gruppentherapie für Menschen, die an Psychosen leiden, bleibt noch sehr viel mehr zu entdecken. Psychiater, die in einem Spezialprogramm in New Haven mit Psychotikern gearbeitet haben, berichten über gewisse Erfolge. Meiner persönlichen Überzeugung nach können solche Menschen Hilfe in Gruppen finden, doch zweifellos sollte in Gruppen experimentiert werden, die sich nur aus Psychotikern zusammensetzen.
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Ich nehme an, daß dies in der therapeutischen Gemeinschaft von R.D. Laing in England geschieht. Sein ungemein interessantes Buch, Das geteilte Selbst, lehrt uns, daß diagnostische Etiketts überaus schädlich sein können, und gibt bedeutsame Aufschlüsse über einzelne Psychotiker.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es wichtig, Schizophrene aus den Gruppen für Neurotiker und Charaktergestörte herauszunehmen. Der Aussiebungsprozeß erfordert große berufliche Fähigkeiten. Deshalb sollte man in jedem System der Gruppentherapie einem ausgebildeten Psychiater oder Psychologen die Aufsicht übertragen.
Neurotische Persönlichkeiten
Die Psychiater beschreiben Neurotiker aufgrund ihrer »Reaktionen«. Alle sind »ichentfremdet«. Die Reaktionen bringen ständiges emotionales Unbehagen mit sich, das oft sehr ernst ist und dem der Neurotiker kaum entgehen kann. Trotz ihres abnehmenden Anteils an der Gesamtbevölkerung lebt der Psychoanalytiker im wesentlichen immer noch von den Neurotikern.
Angst ist das Schreckgespenst aller Neurotiker. Das Gefühl kann sehr unangenehm sein. Häufig bezeichnen wir Angst als »Schmetterlinge im Magen«. Meiner Ansicht nach ist Angst getarnte Furcht, die der realen Situation nicht angemessen ist. Sie ist also »schlecht angepaßt«. Die Art der Tarnung macht sie wirkungslos und häufig sehr schmerzhaft. Das Gefühl der Furcht ist selbstverständlich ein entscheidender emotionaler Mechanismus, mit dem sich das Individuum gegen Schmerz oder die Antizipation von Schmerz — die wir »Gefahr« nennen — verteidigt.
Bei Furcht wird das Adrenalinsystem aktiviert, wodurch das Individuum beispielsweise in die Lage versetzt wird, schneller zu laufen und den Gefahren, denen es sich gegenübersieht, eher zu entgehen. Doch die Angst verhindert die wertvolle Nutzung der Furcht, und wenn die Angst ernst ist, ist sie sehr schmerzlich. Die Bedrohung ist innerlich, die Gefahr häufig nicht zu identifizieren. Die meisten Menschen können gewöhnlich Impulse und Gefühle, die schwere Angst hervorrufen würden, vermindern. Sie entwickeln Verhaltensmuster, um ihre Bedürfnisse, die inneren wie die äußeren, zu befriedigen, ohne in angstauslösende Situationen zu geraten. Doch dem Neurotiker gelingt das nicht. Seine Angst staut sich wie in einem Druckkessel auf, und der Neurotiker versucht unbewußt, den Druck durch irgendeinen psychologischen Mechanismus freizusetzen.
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Die Form, die der spezifische Abwehrmechanismus eines Neurotikers annimmt, bildet sein neurotisches Symptom oder seine Reaktion. Es gibt sechs Grundkategorien. Außerdem gibt es noch die Kategorie der »undifferenzierten« Reaktion — ein typischer Sammelausdruck, der all die Neurotiker umfaßt, die nicht recht in die sechs Grundkategorien hineinpassen. In jeder Kategorie helfen Schreiübungen dem Neurotiker, sich von seinem Schmerz zu befreien, wenn er beim Schreien bis zu den tiefsten Gefühlen vorstößt, die er getarnt hatte.
1. Der Neurotiker mit Angstreaktion löst die Spannung offen aus. Gewöhnlich ist eine frei fließende, unkontrollierte Angst sein Hauptsymptom. Wenn die Angst chronisch ist, sendet er fast ständig nervöse Signale. Beim geringsten Streß — der in Wirklichkeit häufig gar nicht bedrohlich ist — schlägt sein Herz schneller, seine Handflächen werden schweißnaß, und vielleicht bricht er sogar in panische Hysterie aus. Ein weniger ausgeprägter Zustand fällt unter alltäglichen Bedingungen nicht so auf, doch jede Drucksituation führt immer zu einem überwältigenden Gefühl der Hilflosigkeit, fast zu einer Art Panik und häufig zu dem Verlangen, einfach davonzulaufen.
Ich habe festgestellt, daß Menschen nicht unbedingt vor der Furcht Angst haben. Aber viele bringen Furcht mit Hilflosigkeit in Verbindung, mit einem Zustand, an den sie sich unbewußt aus der Kindheit »erinnern«. Sobald eine Person Furcht mit Hilflosigkeit verwechselt, wird sie durch die daraus entstehende Angst gelähmt. In Wirklichkeit macht einen Furcht jedoch nicht hilflos. Die Furcht ist ein Beweis dafür, daß man nicht hilflos ist. Die Furcht kann ein geeignetes Überlebensgefühl sein, das einem erlaubt, realer Gefahr zu entgehen. Das Behandlungsproblem in unseren Gruppen ist, solche Menschen zu der Erkenntnis zu bringen, daß das Gefühl der Furcht, das ihrer Angst zugrunde liegt, nicht magischer Natur ist.
Wir ermutigen die Gruppenmitglieder dazu, Furcht durch Schreien auszudrücken, jedem Gruppenmitglied zu sagen: »Ich fürchte mich« und andere Übungen zu machen. Wenn die Worte wie die eines hilflosen Kindes klingen, spornt die Gruppe den Betreffenden an, sich nicht ganz so hilflos zu äußern, sondern die Verantwortung für sein Gefühl zu übernehmen und es mit Zustimmung auszudrücken. Die unheilvolle, bösartige Magie der Furcht beginnt abzufallen, sobald diese Menschen die Kraft und die Freiheit fühlen, Furcht zu äußern, ohne hilflos zu werden. Allmählich lernen sie sowohl gefühls- als auch verstandesmäßig begreifen, daß Furcht sie nicht hilflos zu machen braucht. Sie lernen, daß es möglich ist, Furcht zu empfinden und zu äußern — und dennoch leistungsfähig zu sein.
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2. Depressive Reaktionen
sind typisch für etwa drei Viertel aller Neurotiker, die Psychiater aufsuchen. Die klassische Erklärung dafür ist die, daß chronische Depressionen aus einer oder mehreren von drei Situationen stammen: verdrängter oder unterdrückter Zorn, den man nicht zum Ausdruck bringen kann; verringerte Selbstachtung; Verlust eines signifikanten geliebten Objekts. In meinen Gruppen finde ich, daß ein Grund entscheidend für alle Depressionen ist: die Furcht, Schmerz zu äußern. Unsere Dynamik stößt rasch durch die Depression zu ihrer Ursache vor — dem Schmerz.
Sophie, eine zierliche Buchhalterin, Ende Fünfzig, litt seit dem Tod ihrer Schwester, der sechs Monate zurücklag, unter depressivem Verfall. Sie war völlig unfähig zu arbeiten und war schon drauf und dran, ins Krankenhaus zu gehen, um sich einer Elektroschockbehandlung zu unterziehen, als ihre Tochter sie überredete, mich aufzusuchen. In unserem Gespräch verhielt sich Sophie zurückhaltend, sprach kaum und schaukelte auf ihrem Stuhl hin und her — in den Qualen ihrer Depression. Von ihrer Tochter erfuhr ich, daß Sophie ihre Schwester sehr geliebt hatte. Sophies Mann war sechs Jahre zuvor gestorben, und ihre Kinder waren erwachsen.
Nachdem ich zu dem Ergebnis gekommen war, daß es sich bei Sophie nicht um eine organische oder psychotische Depression handelte, nahm ich sie in eine Gruppe auf. Während der ersten Stunde saß sie wie ein Stein da, fast katatonisch. Dann bemerkte ich, wie sie kurz zu einer Frau aufschaute, die gerade sagte: »Ich bin liebenswert.« Behutsam wandte ich mich Sophie zu und sagte: »Sie sind auch liebenswert.« Sie sah mich an, um festzustellen, ob ich zu ihr redete. Ich nickte. »Sagen Sie es!« Zum erstenmal, nach über einer Stunde, äußerte sie ein Wort: »Ich bin liebenswert?« Es war eine Frage, keine Aussage. Ich bat sie, den Satz mehrmals zu wiederholen und ihn jeder Person im Raum zu sagen. Es war immer eine Frage. »Ich bin liebenswert?« Doch sie merkte allmählich, daß die Gruppenmitglieder auf sie reagierten, sie in dem Gedanken bestärkten, daß sie tatsächlich liebenswert sei. Wir brachten Sophie dazu, den Satz immer lauter zu sprechen. Schließlich brüllte dieser winzige Körper: »Ich bin LIEBENSWERT!«
Die Schreie endeten in einem schmerzlichen Wimmern. Sophie war im Begriff, physisch zusammenzubrechen, als eine andere Frau sie ergriff und stehend festhielt, während Sophie unbezähmbar schluchzte und dabei immer wieder die Worte murmelte: »Ich bin liebenswert.« Vier oder fünf andere Gruppenmitglieder sammelten sich um sie, faßten sie an und streichelten sie, bis ihre Tränen versiegten.
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In diesen fünf Minuten kam ihre ganze Lebensgeschichte zum Durchbruch, über die sie dann auch sprach. Sie hatte niemals einen Menschen geliebt außer ihrer Schwester und bis zu einem gewissen Grad auch ihren Mann. Als er starb, stützte sie sich völlig auf ihre Schwester, die allmählich an Krebs dahinsiechte. Ihr ganzes Leben lang hatte sich Sophie nicht liebenswert gefühlt, doch die Liebe ihrer Schwester angenommen. Nun bedeutete der Tod dieser Schwester für sie, daß der letzte Mensch auf Erden, der sie liebte, gestorben war. Sie hatte den Eindruck, daß niemand sonst, ihre Kinder und Enkel eingeschlossen, sie liebe.
Während Sophie sprach, wurde sie sich wieder bewußt, daß sie liebenswert sei, und brach in einen schrecklichen Wutanfall über die Entbehrung all dieser Jahre aus. Die Wut verwandelte sich in Schmerz, doch es war ein reiner und einfacher Schmerz, den sie intuitiv verstand und annahm. Ihre Depression verging bei dieser Gruppensitzung. Sie nahm ihre Arbeit wieder auf und ist wieder lebenstüchtig.
Wenn sich der deprimierte Neurotiker in Gruppen sicher fühlt, lernt er das unterdrückte Gefühl zu äußern, das seinen Schmerz verursacht hat. Ist er ein Mensch, der den Schmerz geringer Selbstachtung verspürt, dann macht er Übungen, in denen er aussagt, daß er liebenswert sei und Anspruch auf Liebe habe, und er fängt an, dies auch zu fühlen. Er lernt, die Liebe der anderen zu erwarten und anzunehmen. Wenn es sich bei ihm um eine Depression wegen eines Verlustes handelt, wird ihm in den Gruppen bewußt, daß er mehr Liebe, zusätzliche Liebe, entwickeln kann. Die Gruppe unterstützt ihn in seinem Kummer über den Verlust. Wenn er weiß, daß er den Verlust ersetzen kann, weil er liebenswert ist, wenn er darauf vertraut, daß er neue Liebe erwarten darf, dann gelingt es ihm, seinen Schmerz über den Verlust zu zeigen. Wenn verdrängter Zorn aus Furcht vor Zurückweisung und die sich daraus ergebende Hilflosigkeit die Ursachen der Depression sind, ermutigen wir die Äußerung des Zorns und der damit verbundenen Furcht. Wenn der Betreffende das tun kann, während er die Zustimmung und Liebe der Gruppe annimmt, vergeht die Depression in wenigen Minuten. Wenn er seine Furcht-, Zorn-, Liebes-, Schmerz- und Freudegefühle in den Gruppen übt, lernt er die Depression bekämpfen, sobald sie über ihn hereinbricht.
3. Die klassische Literatur beschreibt Zwangs-Symptome so:
»Eine defensive Regression des psychischen Apparats in die präödipale, analsadistische Phase mit konsequentem Auftreten früher Funktionsweisen des Ichs, des Über-Ichs und des Es.
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Diese Faktoren verbinden sich mit der Funktion spezifischer Abwehrmechanismen des Ichs und produzieren die chronischen Symptome der Phobien, Zwänge und Zwangshandlungen.« Sandor Rado hat dieses Konzept vereinfacht und erklärt, der Phobiker sei in der Zwickmühle von Furcht und Zorn gefangen: »Ich möchte gern ... ich fürchte ...« Ein Neurotiker dieser Art kann sich kaum zu einer Entscheidung in dieser oder jener Richtung durchringen. Wenn die Spannung in ihm wächst, wird er von einer fixen Idee besessen oder zu irgendeiner Zwangshandlung gedrängt.
Unser Gruppenprozeß hat mich dazu gebracht, den Phobiker als einen Menschen zu betrachten, der eine sehr geringe Selbsterkenntnis besitzt. Er hat ein Identitätsproblem. In Wirklichkeit weiß er nicht, wer er ist. Ist er er selber? Oder ist er ein Anhängsel von Mutter oder Vater? Wenn er eine Handlung ausführt oder an eine Situation denkt, ist er emotional an seine frühe Kindheit gebunden und nicht imstande zu unterscheiden, was richtig und was falsch für ihn ist. Was würde Mutter wünschen? Und dann ist er wütend auf die Mutter, weil sie diese Macht über ihn hat. Einerseits möchte er gefallen; andererseits ist er wütend, weil er gefallen muß. Er fürchtet sich, es falsch zu machen, und ist gleichzeitig genötigt, es falsch zu machen, um es Mutter zu »zeigen«.
In diesem Konflikt weiß er nie genau, ob er etwas denkt oder tut, um seiner Elternfigur zu gefallen, oder ob er es für sich selbst tut. Wenn er in einer bestimmten Situation die entgegengesetzte Richtung einschlägt, ist er abermals verwirrt: Ist diese andere Richtung Ausdruck seiner selbst oder der seiner Elternfigur? Diese Erklärung des phobischen Zwangs erhält noch mehr Sinn, wenn man daran denkt, daß in der Pubertät zwanghafte Verhaltensweisen sehr häufig auftreten. Die Jugendlichen machen schließlich eine traumatische Krise durch: den physischen Wandel vom Kind zum Erwachsenen. Und sie bereiten sich psychisch und verhaltensmäßig auf die Unabhängigkeit vor; sie wollen aus eigenem Antrieb handeln und Regeln folgen, die sie selbst wählen und nicht von den Eltern bestimmen lassen.
Ich habe herausgefunden, daß wir phobische oder Zwangszustände durchbrechen können, wenn wir den Betreffenden veranlassen, Aussagen wie die folgenden herauszuschreien: »Ich bin ich! Ich habe Anspruch auf meine eigenen Gefühle! Ich pfeife auf dich, Mummy! Ich bin ich!« Wenn der Betreffende es wagt, seine Eltern auf diese Weise herabzusetzen und seine Identität unabhängig von ihnen zu behaupten, gewinnt er ein gewaltiges Freiheitsbewußtsein, und seine phobischen Symptome fallen allmählich weg.
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Seine Gefühle als die eigenen zu akzeptieren, lernt man zum Teil auch durch Anerkennung der Tatsache, daß das Individuum widersprüchliche Gefühle haben kann. Eine Frau in unseren Gruppen hatte beispielsweise einen Waschzwang. Sie lief täglich mehrere dutzendmal zum Ausguß und bürstete sich die Hände. Wütend wusch sie ihre Handtasche, selbst wenn sie auf einen sauberen Teppich gefallen war. Es gelang ihr, eine untergeordnete Stellung in einer Behörde zu behaupten, doch jede freie Minute ihrer Zeit kreiste um ihren Waschzwang. Sie hatte keinerlei gesellschaftliches Leben. Sie gab ihr ganzes Geld, abgesehen von den notwendigsten Lebensbedürfnissen, für Therapie aus. Jean war sechzig, als sie zu mir kam, und hatte bereits vierzig Jahre Einzelbehandlung hinter sich.
In ihrer zweiten Gruppensitzung verlor Jean ihren Waschzwang für immer. Mit siebzehn war sie von ihrem Freund »vergewaltigt« worden. Sie war gedemütigt worden, hatte aber auch Lust empfunden. Sie fühlte tatsächlich einen gewissen Zorn, weil sie geschändet worden war, aber es war ein Zorn, den sie nach den Lehren ihrer Eltern und der Gesellschaft fühlen sollte. Jedesmal, wenn sie sich zornig fühlte über das, was ihr geschehen war, fühlte sie sich außerdem schuldig wegen des Vergnügens, an das sie sich unbewußt erinnerte, eines Vergnügens, das ihre Eltern abscheulich gefunden hätten. Ihr Händewaschen war ein Ausdruck dieses Konflikts. Sollte sie Zorn oder Freude fühlen? Sie war schuldbewußt, wenn sie sich zornig fühlte, und sie war schuldbewußt, wenn sie Freude fühlte. Deshalb kam ihr Zorn niemals kraftvoll zum Vorschein. Ebenso stand es mit der Freude.
Die Gruppenmitglieder zeigten Jean, daß sie ihre ambivalenten Gefühle über die Vergewaltigung akzeptieren konnten. Sie ermutigten ihren Zorn und sagten, Jean habe ein Recht darauf - um ihrer selbst willen. Aber sie ermutigten auch ihre Freude. Als Jean diese Einsicht akzeptierte, begann sie, von der Gruppe gedrängt, ihrem Zorn Ausdruck zu verleihen. Zunächst war das eine Art Übung, nicht wirklich mit ihren wahren Gefühlen verbunden. Doch plötzlich verwandelte sich die Übung in explosive Schreie mit geballten Fäusten und Fußstampfen: »Ich bin zornig!« Jean ließ die gewaltige Wut heraus, die ihre Schuldgefühle bisher erstickt hatten. Dann begann sie zu äußern, daß sie es genossen habe, vergewaltigt zu werden. »Ich habe es genossen, ich habe es genossen!« schrie sie und gewann immer mehr Freude daraus. Schließlich gab sie emotional das volle Maß der Freude zu, die sie empfangen hatte.
Ihr Zwang fing an sich aufzulösen — bereits in der ersten Gruppenstunde. Sie hat sich seither die Hände nicht mehr aus Zwang gewaschen. Natürlich war das Trauma durch die ihr angetane Vergewaltigung und ihre Verwirrung darüber von sehr schweren Krankheitserscheinungen überlagert, die sich schon in Jeans Kleinkinder- und Kinderzeit entwickelt hatten.
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Sie hatte also immer noch viel von dieser Vergangenheit durchzuarbeiten, nachdem sie ihr Zwangssymptom abgelegt hatte, und blieb danach noch etwa ein Jahr in Behandlung. Vorigen Sommer hatte Jean, die ein Leben lang Psychiaterrechnungen bezahlt hatte, genug Geld gespart, um ihre erste Europareise machen zu können. Der Zwang, unter dem sie von ihrem zwanzigsten bis sechzigsten Lebensjahr gelitten hatte, war verschwunden. Ihre Hände waren nicht mehr rot und rauh vom Scheuern. Jean, die jetzt fast zweiundsechzig ist, genießt das Leben mehr als je zuvor. Sie akzeptierte und genoß zum ersten Mal in ihrem Leben eine Liebesaffäre. Sie akzeptiert die Freiheit, zwei gegensätzliche Emotionen nebeneinander zu haben. Es sind ihre Gefühle.
4. Eine phobische Reaktion stellt symbolisch eine schreckhafte Situation oder ein furchteinflößendes Objekt aus der Vergangenheit des Kranken dar. Es kann beispielsweise die Furcht vor geschlossenen Räumen sein, die das Opfer veranlaßt, würgend aus der U-Bahn zu rennen oder die U-Bahn überhaupt zu meiden. Diese Art von Neurose ist durch Furcht bedingt, durch die Furcht, kontrolliert zu werden oder hilflos zu sein. Wenn man an einer solchen Reaktion mit einem Patienten arbeitet, findet man stets heftige Aggressivität gegen die Mutter oder den Vater, je nachdem, wer diese Furcht zuerst hervorgerufen hat. Manchmal ist die Phobie Furcht vor der eigenen Aggressivität. Doch die wirkliche Furcht hat etwas mit Schmerz zu tun: mit der Furcht, dem Schmerz elterlicher Superkontrolle oder dem Schmerz eines unerfüllten Bedürfnisses nach elterlicher Liebe ausgesetzt zu sein, bei dem der Betreffende hilflos ist, weil er nichts daran tun kann.
Phobien werden in unserem Gruppenprozeß dadurch überwunden, daß wir den Betreffenden in die Lage versetzen, seinen tiefsitzenden Zorn zu erreichen; er empfindet dann die Sicherheit, beweglich zu sein und sich nicht der Kontrolle irgendeines Menschen unterwerfen zu müssen. Es kann dabei in der Gruppe zu einem dramatischen Durchbruch kommen, doch es erfordert sehr viel Arbeit und die monatelange Wiederholung der Grundübungen, bevor die Phobie völlig verschwindet. Im Augenblick befindet sich John, ein junger Mann von zweiunddreißig Jahren, in der Gruppe. Der beruflich erfolgreiche Mann hatte eine schwere Phobie gegen Aufzüge entwickelt. Da John Büros in hohen Gebäuden Manhattans besuchen mußte, beeinträchtigte die Phobie ernstlich seine berufliche Tätigkeit.
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Als John in die Gruppe eintrat, tat er alles mit Worten ab. Er besaß viel Sinn für das Komische und lachte häufig über sich selbst und andere. Und er legte Wert darauf, als großes Tier zu gelten — im Beruf wie in der Gruppe. In Wirklichkeit hatte er Minderwertigkeitsgefühle und war voller Wut. Sein Vater, ein erfolgreicher Geschäftsmann, hatte ihm zwar wenig Liebe gegeben, aber immerhin Anerkennung für gute Leistungen. Zorn war nicht erlaubt, und John rühmte sich, »ein netter Bursche« zu sein, der nie zornig würde.
Es klappte in den Gruppen nicht mit ihm, bis wir ihn in eine Marathonsitzung mitnahmen. Nachdem fast alle anderen auf den Matten gearbeitet hatten, streckte sich auch John auf dem Boden aus. Er war ausreichend auf die emotionale Intensität eingestimmt, die sich während der Marathonsitzung entwickelt hatte, und nach kurzer Zeit wurde eine einfache Zornübung zu einem Wutanfall mit Kreischen und Treten.
John war über seinen eigenen Zorn so schockiert, daß er das ganze Erlebnis abstreiten wollte. Deshalb veranlaßten wir ihn, sich noch einmal auf den Boden zu legen. Er bekam abermals einen Wutanfall. Und diesmal übernahm er die Verantwortung für seine Gefühle. Er begriff, daß er gewaltige Aggressivität gegen seinen Vater empfunden hatte, ohne es zu wissen. Außerdem war John kürzlich von der Furcht gepackt worden, er werde seine Kinder umbringen.
Dieses war eine Affektverschiebung: in Wirklichkeit galt dieser Zorn seiner Frau (seinem jetzigen »Vater« — in der Rolle, die sie spielte) und seinem »historischen« Vater. Seine mörderischen Impulse den Kindern gegenüber wurden durch diese Marathonsitzungen erheblich vermindert. Außerdem begann er, gegen seine Furcht vor Fahrstühlen anzugehen. Mit Hangen und Bangen — und viel Mut - fuhr er in der nächsten Woche mehrmals in Aufzügen. Und zwei Wochen später erschien er mit einem breiten Grinsen in der Gruppe und erklärte: »Heute bin ich in einem Aufzug bis zum vierunddreißigsten Stock hinaufgefahren.«
Einige Wochen danach kam John jedoch sehr verängstigt in die Gruppe. Er hatte die Phobie wieder gespürt. Wir wiesen ihn darauf hin, daß er die gleichen emotionalen Übungen in den Gruppen immer wieder machen müsse, um ihre Wirkung gegen die Phobie zu verstärken. Ein einziger Durchbruch emotionalen Verständnisses und die darauf folgende intellektuelle Bewußtheit für das, was geschehen war, kann den Schaden von dreißig Jahren nicht ungeschehen machen. Es braucht Zeit und harte Arbeit, um solche Abwehrmechanismen zu überwinden.
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5. Eine Konversionsreaktion äußert sich als körperliche Krankheit. Der Betreffende wandelt seine verdrängte Angst beispielsweise in eine Lähmung oder in Blindheit um. Der unbewußte Zweck einer Konversionsreaktion ist es, den Patienten von psychischem Druck zu befreien. Häufig spiegelt die Konversion etwas wider, vor dem sich der Patient in seinem Innern fürchtet. Vielleicht verbirgt sich dahinter gewaltiger Zorn und tiefinnerliche Furcht davor, daß er jemanden töten könnte. Diesem Impuls kann er jedoch dann nicht nachgeben, wenn er gelähmt ist, und so wird er buchstäblich gelähmt. Die Konversionsreaktion befreit ihn auf einfache Weise von dem emotionalen Konflikt. Solche Symptome können ihm vielleicht auch helfen, einer bestimmten Verantwortung zu entgehen, und ihm gleichzeitig eine äußere Entschuldigung für sein Versagen geben.
Während des Koreakrieges wurde in Okinawa ein Soldat von seinen Kameraden zu mir hereingetragen - seine Beine waren gelähmt. Mit Hilfe von Natrium-Pentathol gelang es mir, ihn davon zu überzeugen, daß er gehen könne. Einige Tage darauf kam er wieder - er ging -, aber er konnte nicht sehen. Ich holte ihn aus dieser hysterischen Konversion heraus. Dann kam er taub wieder. Und zuletzt stumm. Ich schickte ihn schließlich in die Vereinigten Staaten zurück. (Ich bin freilich nicht sicher, ob er nicht doch schlauer war als ich.) Konversionsreaktionen sind heute seltener, weil die Menschen gebildeter sind. Man findet sie jedoch noch in psychologisch weniger bewußten Kulturen — beispielsweise unter den New Yorker Puertoricanern. Wenn ich dagegen dieses Syndrom bei einem gebildeten Menschen sehe, denke ich ernstlich an Schizophrenie.
6. Die Dissoziationsreaktion gibt dem Betreffenden die Möglichkeit, sich dem klaren Bewußtsein unangenehmer Tatsachen oder Konflikte zu entziehen. Vergessen und Schlafwandeln gehören in diese Kategorie. Diese Reaktion wird manchmal mit Schläfenlappen-Epilepsie in Zusammenhang gebracht. Ich habe das dramatischste Syndrom niemals gesehen — die multiple Persönlichkeit — außer in den Drei Gesichtern Evas. Dagegen habe ich Dissoziation oder Bewußtseinsspaltung auf einer anderen Ebene gesehen, die Gefühle betreffend, nicht die Persönlichkeit.
Ein hübsches junges Mädchen — Helen —, das schon eine ganze Zeit in Gruppen behandelt wurde, konnte Gefühle der Freude beim besten Willen nicht akzeptieren. Ständig war Helen niedergeschlagen. In einer Marathonsitzung nahm sie endlich die liebevollen Gefühle anderer Gruppenmitglieder an. Plötzlich fühlte sie sich wunderbar — lächelnd, lebendig, überschäumend vor Wohlgefühl. Doch eine halbe Stunde später war sie wieder niedergeschlagen. All ihr Wohlbehagen und das der Gruppe hatte es gar nicht gegeben. Sie konnte sich wirklich nicht daran erinnern. Sie konnte nicht akzeptieren, daß sie die Liebe der anderen akzeptiert und glücklich darauf reagiert hatte.
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Die Gruppe arbeitete mit Helen. Sie erreichte das Wohlgefühl wieder. Dann, eine halbe Stunde später, bestritt sie es abermals. Wir wurden wütend auf sie. Wir glaubten, sie wolle uns zum Narren halten. Doch dann begriff ich, daß sie das Wohlgefühl tatsächlich nicht akzeptieren konnte. Es war, als ob es das niemals gegeben hätte. Das Erlebnis war furchteinflößend für sie gewesen, deshalb konnte sie nicht zulassen, daß es existierte. Unbewußt war sie gezwungen, zu bestreiten, daß es sich überhaupt ereignet hatte.
Helen war so tief konditioniert, Freude führe zu Schmerz, daß sie die Erinnerung an das Erlebnis der Freude unterdrückte. Der Schmerz, den sie nach ihrer Programmierung als Folge jeglicher Freude erwartete, erfüllte sie mit zu großer Furcht. Helen war zu mir gekommen — irrtümlich als schizophren diagnostiziert. Nun, nach mehreren Monaten im Gruppenprozeß, hatte sie gelernt, Liebe mit unendlich größerer Sicherheit anzunehmen.
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Alle Menschen fühlen auf irgendeine Weise emotionalen Schmerz. Die quälende Spannung, einen solchen Schmerz aktiv zu erleben, kann uns völlig lähmen. Das gleiche kann die furchterregende Antizipation des Schmerzes tun — unser Gefühl für »Gefahr«. Welches die symptomatische Reaktion auch sein mag, gewöhnlich handelt es sich um den Versuch, Schmerz oder die Antizipation des Schmerzes zu lindern.
Ein Neurotiker hat das Gefühl, nicht mit dem Schmerz fertig werden zu können. Vielleicht ist er äußerst ängstlich oder zornig. Vielleicht verbirgt er seine Angst oder seinen Zorn hinter Depressionen. Vielleicht fühlt er sich nervös oder furchtsam, von Schuldgefühlen gequält, physisch verkrüppelt, im Abwehrzorn sich selbst entfremdet. Das alles sind Mittel, tieferen Schmerz zu vermeiden. Zwischen zwei Kräften gefangen, wird der Neurotiker alles tun, um dem emotionalen Schmerz zu entgehen, den er fürchtet. Mit dieser Einstellung — oder mit diesem Gefühl — zu leben ist qualvoll. Doch der Versuch des Neurotikers, dem Schmerz zu entrinnen, mindert seine Lebenstüchtigkeit. Es ist manchmal schmerzlicher, hilflos und hysterisch zu sein, und dem Neurotiker gefällt dieses Gefühl ebensowenig wie der Schmerz, dem er zu entrinnen sucht. Bewußt fühlt er, daß er es loswerden will, und häufig sucht er ärztliche Hilfe. Unbewußt ist sein Symptom natürlich ein starker Abwehrmechanismus gegen größeren Schmerz, der ebenfalls unbewußt bleibt. Schreiübungen tragen dazu bei, ihn von seinem symptomatischen Schmerz zu befreien, indem sie ihn zu den Eingeweidegefühlen führen, die er seit langem tarnt.
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Charaktergestörte Persönlichkeiten
Der Ausdruck »charaktergestört« ist tatsächlich ein Etikett zum Nutzen der Psychiater und Psychologen. Sie verwenden diesen Terminus häufig, um damit eine breite Vielfalt von Persönlichkeitstypen zu bezeichnen, die sich mit den traditionellen Methoden der Psychotherapie als »unbehandelbar« (oder schwer zu behandeln, je nach Standpunkt) erweisen.
Das soll bedeuten, daß bei der charaktergestörten Persönlichkeit ein permanenter Fehler besteht. Das Etikett deutet auf einen Schaden hin, der normale menschliche Beziehungen und die Einhaltung von Wertmaßstäben unmöglich macht.
Um zu verstehen, was wirklich mit charaktergestörter Persönlichkeit gemeint ist, müssen wir zunächst untersuchen, was »Persönlichkeit« und »Charakter« für uns bedeuten. »Persönlichkeit« bezieht sich auf die gesamte Struktur des Individuums — auf die charakteristischste Integration seiner Handlungsweisen, seiner Interessen, seiner Intelligenz und anderen Fähigkeiten, seiner Einstellungen und der Formen seiner Emotionalität. Ich sage charakteristischste Integration, weil sich niemand in allen Situationen genau gleich verhält. Die Persönlichkeit hat es mit jenen Zügen zu tun, die wir als mehr oder weniger permanent ansehen. Wenn jemand beispielsweise im allgemeinen ruhig ist, jedoch gelegentlich vor Wut explodiert, wenn er sich nur schwer provozieren läßt, bezeichnen wir ihn als ruhige Persönlichkeit, nicht als zornige.
Das Wort »Persönlichkeit« kommt vermutlich von »persona«, der Maske, die der Schauspieler in der Antike trug, um anzuzeigen, welche Rolle er spielte, damit die Zuschauer gewisse Züge in dem dargestellten Charakter erwarten konnten. Es gibt eine fast endlose Zahl von Zügen, die wir als Merkmale der Persönlichkeit betrachten. In einer Studie sind etwa 1800 Namen von Merkmalen aufgezählt, die in verschiedenen Wörterbüchern gefunden wurden — Intelligenz, Emotionalität, Streitsucht, Dominanz, Soziabilität, Introversion und so fort. Viele Wörter überschnitten sich offensichtlich oder bezogen sich auf dasselbe Merkmal; dennoch ist die Vielfalt enorm.
»Persönlichkeit« hat einen stark sozialen Beiklang - wie wir anderen Menschen erscheinen und wie wir auf sie reagieren. Das physische Aussehen ist hier ein Schlüssel. Menschen reagieren beispielsweise auf unser Aussehen, und wir reagieren wiederum auf ihre Reaktion. Die sozialen Aspekte der Persönlichkeit offenbaren sich besonders in solchen Urteilen wie: »Er hat überhaupt keine Persönlichkeit« oder: »Er besitzt eine starke Persönlichkeit.« Natürlich hat jeder irgendeine Persönlichkeit. Wenn man einen anderen als kleine oder große Persönlichkeit beschreibt, so zeigt das nur, was dem Beschreibenden gefällt und was ihm mißfällt.
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»Charakter« bezieht sich im allgemeinen auf diejenigen Aspekte der Persönlichkeit, die von einem ethischen oder moralischen Standpunkt aus betrachtet werden. Ist die Person ehrlich, zuverlässig, rücksichtsvoll, ehrenwert, vertrauensvoll? Im Grunde geht es bei Charakter um »Verantwortlichkeit« und »Beziehung«. Ist die Person sich selbst gegenüber emotional und physisch verantwortlich, damit sie ihr höchstes Potential entwickeln kann? Ist sie selbstzerstörerisch? Kann man sich darauf verlassen, daß sie verantwortlich handelt und das tut, was sie zu tun verspricht? Kann sie ehrlich sagen, sie wolle etwas nicht tun? Bringt sie anderen Menschen Vertrauen entgegen? Kann man ihr vertrauen? Besitzt sie Empathie? Kann sie ihre Gefühle ehrlich zeigen und emotional gesunde Beziehungen mit anderen Menschen unterhalten?
All diese Fragen haben moralische Bedeutung, doch sie besitzen in unserer Gesellschaft auch Bedeutung für das Überleben. Ein Psychiater wird als Naturwissenschaftler vielleicht behaupten, er stehe dem »Charakter« neutral gegenüber. Doch selbst er kann die Bedeutung dieser Fragen für das Überleben oder die Anpassung nicht leugnen. In unserer interdependenten Gesellschaft sind destruktives Verhalten und ein Verhalten, das andere beiseite drängt, dem Überleben und Wachstum des Organismus nicht förderlich. Daher die Andeutung eines ernsten Fehlers oder Schadens in dem diagnostischen Etikett »charaktergestörte Persönlichkeit«.
Die meisten Drogenabhängigen sind charaktergestörte Persönlichkeiten. Sie sind emotional unreif, egozentrisch und bringen ausschließlich denen eine gewisse Empathie entgegen, die ihre eigene emotionale Orientierung teilen. Die Mehrzahl der schwer Süchtigen wird lügen, stehlen, unterschlagen, fast alles tun, um die Mittel zum Erwerb von Drogen zu beschaffen. Das Gefühl für Recht oder Unrecht gehört, konventionell gesehen, nicht in die Lebensweise des Rauschgiftsüchtigen. In psychiatrischer Hinsicht ist fraglos etwas nicht in Ordnung. Der Ausdruck »Charakterstörung« wird gebraucht, um anzuzeigen, was nicht in Ordnung ist.
Die meisten — aber nicht alle — Alkoholiker sind charaktergestört. Alkoholiker, die eines trügerischen Charmes fähig sind, wenn sie nicht trinken (und manchmal auch, wenn sie es tun), können jeden belügen, bestehlen, täuschen und betrügen, um Alkohol zu erhalten.
Die Liste der Charaktergestörten ist mit den Menschen, die offensichtlich asoziale Symptome zur Schau tragen, noch nicht zu Ende. Auch die meisten Homosexuellen gehören dazu. Ferner eine endlose Zahl von Menschen, die beruflich unter einem Arbeitszwang leiden. Viele Frauen mit Putzteufel. Häufig auch Jugendliche, die in der Schule weniger leisten als ihren Fähigkeiten entspricht.
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Der Schlüssel zum Syndrom der Charakterstörung ist das Verhalten. Die Symptome sind oft erheblich destruktiv, obwohl viele einen positiven sozialen Wert (wenn auch keinen menschlichen Wert) aufweisen, wie etwa bei dem schwer arbeitenden Geschäftsmann, den ich in Kapitel 5 erwähnt habe.
Auch viele Hausfrauen sind typisch für eine »Gattung« der sozial akzeptablen charaktergestörten Persönlichkeit. Eine solche Frau ist jetzt in einer Gruppe. Als Mary mich zum erstenmal aufsuchte, mußte sie alle Arten von »Höhen« und »Tiefen« überwinden, nur um den Tag zu überstehen. Doch sie hielt ihr Haus in einem Vorort tadellos in Ordnung. Alles hatte seinen Platz. Die Fußböden glänzten vom täglichen Scheuern. Die Kinder gingen mit vollendet gebügelten Kleidern in die Schule. Das Problem war, daß Marys Zwangshandeln das Leben ihrer Familie beherrschte. Niemals erlaubte sie einem Kind, ein Spielzeug liegenzulassen. Sie brachte es nicht fertig, Reste in den Kühlschrank zu stellen, sie mußten weggeworfen werden. Wenn sie eine Party gab, war alles perfekt.
Mary litt unter chronischen Kopfschmerzen. Außerdem war sie am Ende des Tages so erschöpft, daß sie nach dem Abendessen einschlief, obwohl ihr Mann ihre Gesellschaft oder Sex wünschte. Sie kam schließlich zu mir, als sie entdeckte, daß ihr Mann eine Liebesaffäre hatte. Sie konnte einfach nicht verstehen, weshalb er sie betrog: Sie war doch eine hingebungsvolle Mutter und Hausfrau.
Der Schock, die Untreue ihres Mannes zu entdecken, bereitete Mary Schmerz. Sonst hätte sie gewiß nicht Hilfe bei einem Psychiater gesucht, obwohl ihr heranwachsender Sohn es gar nicht erwarten konnte, von zu Hause fortzuziehen, und ihre jüngste Tochter an Asthma litt. Heute gewinnt Mary unter Schmerzen Einsicht in ihr Verhalten. Gruppenübungen wie etwa: »Ich bin liebenswert, auch wenn ich nicht vollkommen bin« und: »Steck dir deine Zustimmung in den Arsch, ich bin liebenswert!« tragen dazu bei, ihre Spannung zu lösen. Gleichzeitig fordern die Gruppenmitglieder von ihr, nicht so hysterisch in bezug auf die Ordnung ihres Haushalts zu sein. Sie fordern, sie solle die »Sachen« vergessen und sich auf menschliche Rücksichten konzentrieren. Vor kurzem gab ihr die Gruppe in einer Sitzung die Hausaufgabe, mindestens zweimal vor der nächsten Sitzung mit ihrem Mann zu schlafen. Sie erledigte diese Hausaufgabe (und genoß sie).
Mary sieht sich einer Menge Arbeit gegenüber. In den Gruppenübungen muß sie weiter in den tiefen Zorn eindringen, den sie auf ihre dominierende (längst tote) Mutter fühlt, und außerdem in die entsetzliche Furcht, die sie als Kind hatte, wenn sie die Erwartungen ihrer Mutter nicht erfüllte. (Ihre Mutter spendete ihr Beifall — keine Liebe.)
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Mary muß ferner Verhaltensaufträge übernehmen — »tun, als ob« —, nämlich sich dazu zwingen, den Abwasch gelegentlich warten oder einen Aschenbecher schmutzig stehenzulassen und sich ihrer Familie gegenüber anders zu verhalten. In den Gruppen und in der übrigen Zeit muß sie ihre Einstellung überprüfen, ob sie »eine gute Mutter und Hausfrau« ist. Was geschieht, wenn sie die starren Maßstäbe nicht erfüllt, die sie sich gesetzt hat (Maßstäbe, die in Wirklichkeit die ihrer Mutter sind)? Was bedeutet Perfektion für sie? Wie ist es, wenn sie Fehler macht ? Marys entstellte Erklärung für ihr Verhalten lautete, daß »Mütter das Haus in Ordnung halten« müssen. Das ist typisch dafür, wie charaktergestörte Personen vorgehen. Sie finden alle möglichen Mittel, um ihr Verhalten zu rationalisieren, und suchen nach »Realitäten«, um zu erklären, weshalb sie sich so verhalten, wie sie es tun.
Der Alkoholiker George pflegte meinen Gruppen zu erzählen, daß er den Eindruck habe, ein oder zwei Gläser »als kleine Entspannung« trinken zu dürfen. Seine Grausamkeit seiner Frau gegenüber pflegte er damit zu entschuldigen, daß er »ein bißchen angeheitert« gewesen sei.
Sam, ein leitender Angestellter der Bekleidungsindustrie, pflegte die vielen Überstunden im Büro damit zu erklären, daß er alle Probleme aufzählte, die gelöst werden mußten. In Wirklichkeit müßte er lernen, wie man Arbeit an andere delegiert und ein besseres Verhältnis zu seinen Mitarbeitern entwickelt.
Isabel, die kürzlich geschiedene Mutter zweier Kinder, schlief jede Woche mit einem anderen Mann. Sie verlangte von ihren Freunden, daß sie sich all ihre Eskapaden anhörten, um »ihr Glück« mit ihr teilen zu können. Und das glaubte sie tatsächlich — trotz des eingefrorenen Lächelns, das bei jedem ein unbehagliches Gefühl hervorrief.
Jimmy war Vorarbeiter in einer Fabrik und machte jede Woche Überstunden, weil seine Familie das Geld brauchte. Tatsächlich jedoch hatte er einen Konsumfimmel, zum Teil ausgelöst durch die lebenslange Rivalität mit einem älteren Bruder, der stets mehr geleistet hatte als er und nun als Erwachsener erheblich mehr verdiente. Jimmy hatte sich tief in Schulden gestürzt, weil er einen neuen Farbfernseher und einen schneidigen Wagen gekauft hatte, Dinge, die seine Familie gar nicht brauchte. Er arbeitete so hart, daß er kaum einmal Zeit fand, seinen neuen Besitz zu genießen oder sich mit seiner Familie zu freuen. Seine Geldgier war für die Familie eine schwere Last.
All diese Leute hatten den Kontakt mit ihren tiefsten Gefühlen — vor allem mit dem Schmerz — verloren. Ihre verschiedenartigen destruktiven Verhaltensweisen waren Mittel, diesem Schmerz auszuweichen.
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Eine charaktergestörte Person ist wie ein Mensch mit einem kariösen Zahn. Er spürt den Schmerz nicht, obwohl das Loch tiefer wird. Wenn der Zahn bei irgendeiner Gelegenheit dann doch schmerzt, nimmt dieser Mensch ärztliche Hilfe in Anspruch. Aber er wird sie nur so lange fortsetzen, wie der Streß andauert. Er wird das zugrundeliegende Problem, das ihm wieder Schmerz bereiten könnte, nicht anerkennen und auch nicht versuchen, mit ihm fertig zu werden. (Ein Neurotiker ist dagegen wie ein Mensch mit chronischen Zahnschmerzen. Er wird eher Hilfe suchen und in Behandlung bleiben, bis die Ursache des Schmerzes beseitigt ist. Er weiß, was Schmerz für ein Gefühl ist, und möchte ihn ein für allemal loswerden.)
Charaktergestörte Persönlichkeiten können sich tatsächlich jahrelanger Einzeltherapie unterziehen, ohne wirkliche Fortschritte zu machen. Sie reden über ihre Symptome, malen Wortgemälde von ihrem Leben in Vergangenheit und Gegenwart, rationalisieren, verteidigen, wehren sich gegen den Therapeuten. Doch nur selten werden ihre tiefsten Gefühle einmal berührt.
Wenn Drogenabhängige in Daytop oder AREBA Behandlung suchen, fragen wir sie nicht, welche schmerzlichen Gefühle sie zu uns geführt haben. Statt dessen fragen wir: »Wer ist hinter dir her?« Vielleicht hat man dem Süchtigen die Wahl gelassen, ins Gefängnis oder nach Daytop zu gehen. Viele Jugendliche werden von ihren Eltern zu AREBA geschleppt. Einige Süchtige kommen unter körperlichen Schmerzen zu uns. Einige haben das Leben satt, das sie führen müssen, um ihrer Gewohnheit zu frönen. (Im Winter haben wir immer sehr viel mehr Bewerber für Daytop. Sie haben ihre Mäntel und alles andere verkauft, und draußen ist es kalt. Im Sommer sind die Süchtigen alle oben auf den Flachdächern und fixen. Wer braucht dann Hilfe?)
Die gleiche fehlende Motivation, gesund zu werden, findet man bei den meisten Homosexuellen. (Denken Sie bitte an die Geschichte von der klassischen Analyse eines Homosexuellen in Kapitel 5.) Gewöhnlich kommt der Homosexuelle, weil sich eine Liebesaffäre zerschlagen hat. Oder vielleicht ist er kürzlich von der Polizei oder durch die Drohung, ihn in seinem Betrieb bloßzustellen, in Schrecken versetzt worden. Sobald ein neuer Freund erscheint oder sich die Polizei zurückzieht oder der Kranke eine neue Stellung hat, bricht er die Behandlung ab. Sein Augenblicksschmerz ist vergangen. Die Gefühle, die ihn dazu gebracht haben, homosexuell auszuagieren, sind überhaupt nicht berührt worden. Der Homosexuelle ist geschickt darin, sein Symptom zu schützen und zu verteidigen.
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Dasselbe gilt für den Süchtigen. Deshalb muß sich der Süchtige, der in Daytop eintritt, einer strapaziösen Sitzung mit früheren Süchtigen unterziehen, bevor er zugelassen wird. Diese Süchtigen kennen alle Tricks. Jeder von ihnen hat sie selber mitgemacht. Wenn der Bewerber das Ausmaß seiner Gewöhnung verkleinert, hämmern sie auf ihn los: »Quatsch doch nicht! Wir sehen genau, daß du gerade gefixt hast, ehe du hergekommen bist. Sei doch wenigstens ehrlich, Mann!«
Oder wenn er mit seiner Gewohnheit prahlt (ein typisches Bedürfnis), setzen sie ihn herab und nennen ihn dumm. Wenn er sagt, er sei gekommen, weil er Hilfe suche, beschimpfen sie ihn auch deshalb. Die früheren Süchtigen wissen genau Bescheid. Was sie von dem Neuankömmling in dieser Sitzung wollen, ist ein echtes Flehen um Hilfe. Schließlich haben sie ihn so weit, daß er nach Hilfe schreit. Vielleicht fängt er an zu schreien, nur um sie zu beschwichtigen, doch gewöhnlich schafft dieses Schreien — wenn auch nur für einen kurzen Augenblick — die erste Verbindung mit dem Gefühl echter Not, die der Süchtige seit frühester Kindheit erlebt hat. Es ist der erste Schritt des Süchtigen aus seinem Symptom heraus, dorthin, wo er einen flüchtigen Blick auf die emotionale Gesundheit werfen kann.
Im Casriel-Institut lassen wir die Symptome eines Charaktergestörten von Anfang an unbeachtet. Ich höre mir die Geschichten von Liebesaffären oder von abscheulichen Müttern einfach nicht mehr an, wenn ich ein Gespräch mit einem Homosexuellen führe. Statt dessen frage ich ihn: »Wollen Sie wie ein Heterosexueller fühlen, denken und handeln? Wollen Sie das Gefühl des heterosexuellen Mannes genießen — und sogar von Frauen träumen?« Meistens wird der Betreffende mit Ausflüchten kommen und entgegnen: »Kann ich nicht beides haben?« Wenn ich den Mann dazu bringen kann, sich für zwei Wochen intensiver Gruppenarbeit zu verpflichten, aufzuhören, homosexuell auszuagieren, und zu handeln, als ob er heterosexuell wäre, indem er sich mit Frauen verabredet, dann besteht die Aussicht, daß er mit der schmerzlichen Suche nach den Gefühlen hinter dem Symptom beginnt.
Eine charaktergestörte Persönlichkeit muß so rasch wie möglich anfangen, die tief verschütteten Gefühle zu erschließen, vor denen sie sich so lange und so gründlich abgeschirmt hat. Unsere Schreiübungen bringen sie auf diesen Weg.
»Kämpfen« ... »Fliehen« ... oder »Einfrieren«
Als sich meine Gruppen entwickelten, erkannte ich, daß es einen grundlegenden Unterschied zwischen der neurotischen und der charaktergestörten Persönlichkeit gibt. Diese Beobachtung beruhte zum Teil auf meiner früheren Ausbildung in der Adaptations-Psychodynamik, die von Sandor Rado und Abram Kardiner an der Columbia-Universität entwickelt worden war.
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Diese Schule der Psychotherapie entstand wie manche andere, die sich im und nach dem Zweiten Weltkrieg bildete, aufgrund der Unzufriedenheit mit Freuds Libidotheorie. Freuds Ideen waren im wesentlichen eine biologische Erklärung der menschlichen Evolution und der Persönlichkeitsentwicklung. Die von Freud abweichenden Schulen dagegen betonten den Einfluß der Kultur auf den menschlichen Organismus und brachten ihn, wenn sie es konnten, in ein theoretisches System. Diese Schulen waren der Ansicht, daß die Persönlichkeit mehr umfaßt als die fixierte, instinktive Entwicklung der Libido. Sie wollten auch die Rolle der Gesellschaft und der Kultur auf die Persönlichkeit eines Menschen berücksichtigt wissen. So entwickelten sich die Schulen der Psychodynamik von Horney, Sullivan-White und Rado-Kardiner. Horney und Rado-Kardiner formulierten Theorien, die mit ihren klinischen Beobachtungen übereinstimmten. Die Sullivan-White-Schule entwickelte trotz ihrer originären Beiträge keine zusammenhängende Theorie.
Rado und Kardiner versuchten die Faktoren des biologischen Wachstums und der Entwicklung mit den vorhandenen Kenntnissen über die Neurophysiologie und Kultur zu verschmelzen. Sie waren bestrebt, Denken, Emotionen und Verhalten des Menschen in der Sprache der medizinischen Wissenschaft zu erklären statt in der Metapsychologie von Freuds Über-Ich, Ich und Es. Die Freudsche Libidotheorie beschäftigte sich überwiegend mit Sexualität und Lust — die Columbia-Schule versuchte, alle Emotionen einzubeziehen.
Zwei Grundprinzipien der Adaptations-Psychodynamik von Rado und Kardiner treffen auf meinen Gruppenprozeß besonders zu. Das erste Prinzip erkenne ich vorbehaltlos an. Das zweite habe ich erheblich modifiziert:
Voraussetzung eins: Jedes animalische Verhalten ist motiviert von dem Streben nach Lust oder dem Vermeiden von Schmerz. Diese Voraussetzung ist physisch fraglos richtig. Wir neigen dazu, auf Dinge zuzugehen, die uns Lust bringen — Sex, Nahrung, Anerkennung, Geld, Selbstachtung und was sonst. Und wir entfernen uns von Dingen, die uns Schmerz bringen. (Was für den Menschen Lust und Schmerz ausmachen, kann natürlich je nach der individuellen Programmierung des einzelnen und den Wertmaßstäben der Kultur, in der er lebt, erheblich kompliziert werden.) Diese Voraussetzung ist wohlbegründet und bedarf keiner Verteidigung. Ich akzeptiere sie.
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Voraussetzung zwei: Wir reagieren auf Schmerz oder Gefahr mit Kampf oder Flucht. Die Antizipation eines Schmerzes wird als Gefahr erlebt. Sobald wir Gefahr oder Schmerz empfinden, passen wir uns der Situation an, indem wir mit einem der beiden Hauptabwehrmechanismen reagieren. Diese sind:
Fliehen — die Emotion der Furcht sowie der Gedanke und die verhaltensgeprägte Absicht, vor der Gefahrenquelle zu fliehen; oder
Kämpfen — die Emotion des Zorns sowie der Gedanke und die verhaltensgeprägte Absicht, die Gefahrenquelle zu vernichten oder zu neutralisieren.
Nach der Theorie Rados und Kardiners sind Fliehen oder Kämpfen die einzigen grundlegenden animalischen Mechanismen der Abwehrreaktion auf Schmerz oder Gefahr.
Ich habe einen dritten Mechanismus beobachtet, den ich »Einfrieren« nenne: Dies ist die Unterdrückung jeder Emotion — was ich als »Sichabschließen« bezeichne — sowie der Gedanke und die verhaltensgeprägte Absicht, sich von der Gefahrenquelle zu isolieren.
Meiner Auffassung nach gibt es also drei - nicht zwei - an das Überleben angepaßte Reaktionen angesichts der Gefahr. Die Notfallreaktionen sind Furcht, Zorn und Sichabschließen (genauer: Gefühllosigkeit). Ihre Verhaltensentsprechungen sind Fliehen, Kämpfen und Einfrieren. Ein Mensch kann vor der Gefahrenquelle weglaufen. Er kann bleiben und kämpfen. Oder er kann sich, wie eine Schildkröte, abschließen, den Kopf in den Panzer ziehen und sich nicht bewegen.
Ein gesunder Mensch ist zu jeder Reaktion oder zu jeder Kombination von Reaktionen fähig, je nachdem, was in der jeweiligen Situation vernünftig ist. Bei emotional gestörten Menschen gründet sich die Wahl dieser Mechanismen nicht auf die objektive Realität. Solche Menschen sind emotional darauf konditioniert worden, so zu reagieren, wie sie es als Kleinkinder und Kinder getan haben. Sie wissen nicht, wie sie emotional als Erwachsene reagieren sollen.
Fliehen, Kämpfen und Einfrieren; Furcht, Zorn und Sichabschließen sind natürliche Reaktionen auf gefährliche Situationen. Es ist völlig normal, daß ein kleines Kind einen Wutanfall hat, wenn seine Bedürfnisse nicht erfüllt werden, daß es sich in einem Zimmer voller Menschen, die es nicht kennt, hinter dem Rock der Mutter versteckt oder aus dem Zimmer läuft und sich weigert, wieder hereinzukommen. Aus vielen Gründen werden in unserer Kultur diese Notfallemotionen und -handlungen beim Kind häufig unterdrückt.
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Eltern, die meinen, sie hätten kein Recht auf die eigenen Emotionen, werden intolerant gegen diese Gefühle bei ihren Kindern. Sie lieben die Verantwortung nicht, die das Schreien ihres Kindes wachruft; deshalb bestrafen sie das Kind, das vor Zorn, Furcht, Schmerz oder gar aus Liebe schreit, oder lachen es aus. Wenn es Eltern nicht gelingt, sich in die starken Emotionen ihrer Kinder einzufühlen, können sie ihnen nicht helfen. Schließlich ist es gesellschaftlich immer leichter, wenn Kinder still sind. Die Welt hat nicht viel übrig für wütend kreischende Bälger. Es gilt das Vorurteil: »Ruhige Kinder sind die besten Kinder.«
Zwei Geschichten sollen nun veranschaulichen, was vielen meiner Patienten geschehen ist. Es waren keine traumatischen, das Leben verändernden Erlebnisse. Aber sie sind typisch. Es muß in der Kindheit der Patienten viele ähnliche Ereignisse gegeben haben, Szenen, die die häusliche Atmosphäre und ihre konditionierende Kraft enthüllten.
Eine Frau, Marie, schrie, als sie etwa fünf Jahre alt war, ihren Bruder ständig an und schlug nach ihm. Ihre Mutter löste das Problem dadurch, daß sie sie in einen Stuhl setzte und ihr die Hände festband. Marie fühlte sich gedemütigt und wurde wütend. Doch sie äußerte danach nur selten wirklichen Zorn — vielleicht ein- oder zweimal während des Heranwachsens und später als Erwachsene. Sie hatte bei ihren Eltern gelernt, daß Zorn Demütigung, Hilflosigkeit, Versklavung und Nicht-Liebe bedeutet. Doch sie war ein ängstliches, furchtsames Kind, das entsetzlich darunter litt, wenn sie keine guten Zensuren in der Schule bekam (was selten geschah). Sie weinte leicht, und Kinder in ihrem Alter wollten gewöhnlich nicht mit ihr spielen. Als Teenager ging sie allein ins Kino. Häufig mußte sie bei den Filmen weinen und blieb noch lange auf ihrem Platz sitzen, wenn die Vorstellung vorüber war. Die wenigen Male, die sie mit einem Freund verabredet war, fühlte sie sich verängstigt; sie schwieg den ganzen Abend und war deprimiert. Wenn es aussah, als ob sie nicht rechtzeitig wieder zu Hause sein würde, geriet sie in Panik und forderte hysterisch, der Junge solle sie auf dem kürzesten Weg nach Hause bringen.
Marie geriet beim Zorn anderer in Furcht. Zorn bedeutete für sie, daß die anderen sie ablehnten, und ihr stand keine dem Zorn ebenbürtige Verteidigung zur Verfügung. Sie konnte überhaupt nicht zornig werden, wenn sie es auch fertigbrachte, zornig zu handeln, etwa absichtlich eine Schüssel fallen zu lassen, wenn sie ihrer Mutter half. Offen zornig zu werden, das hieß nicht nur, Ablehnung zu riskieren, sondern auch Strafe. Erst als sie Ende Zwanzig mit Gruppentherapie begann, gelang es ihr, sich von dem Zorn zu befreien, der sich in ihr aufgestaut hatte. Sie bekam einen heftigen Wutanfall, schlug mit Händen und Füßen auf den Boden, schüttelte den Kopf und schrie. Die Wut strömte aus ihr heraus.
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Und dann der Schmerz, der Schmerz eines ganzen Lebens, in dem sie sich den natürlichen Ausdruck eines vitalen Überlebensgefühls hatte versagen müssen. Jetzt äußert sich ihr Zorn regelmäßig. Sie lernt, ihn in den Gruppen zu üben. Sie ringt darum, ihn zu verstehen und zu äußern — oder auch nicht zu äußern —, je nach ihrem eigenen Willen.
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Cal, ein erfolgreicher Akademiker Anfang Vierzig, hat immer noch große Schwierigkeiten, Furcht und Schmerz zu zeigen. Er fühlt sie häufig. Doch er unterdrückt sie gewöhnlich dadurch, daß er zornig losschimpft. Als er sechs Jahre alt war, wurde er von den kleinen Raufbolden seines Viertels gezwungen, ihnen jeden Tag auf dem Schulweg Geld zu bringen. Er war von ihren Drohungen so eingeschüchtert, daß er seiner Mutter Kleingeld aus der Handtasche stahl. Er fürchtete sich zu sehr, als daß er ihr erzählt hätte, was vor sich ging, oder daß er zugegeben hätte, er würde sich vor den größeren Jungen fürchten. Seine Mutter hatte dem sechsjährigen Cal nämlich immer wieder eingeschärft, »ein Mann zu sein« (seine Eltern waren geschieden), sich zu wehren und zu kämpfen, wenn er Furcht habe. Als die Mutter die ganze Angelegenheit entdeckte, hielt sie dem Jungen eine Strafpredigt über Männlichkeit und schickte ihn ohne Geld hinaus, damit er sich den Raufbolden stellte. Cal wurde natürlich verprügelt, wenn ihn die Jungen danach auch in Frieden ließen.
Cal wurde, als er heranwuchs, ein aggressiver Schlägertyp. Es schien, als kenne er überhaupt keine Furcht. Er forderte Kämpfe mit größeren Jungen heraus und siegte meistens. Wenn er verletzt wurde, weinte er niemals. Wenn jemand andeutete, daß er ein Schläger sei, weil er sich in Wirklichkeit fürchte, leugnete er das heftig und versuchte, aggressiv einen Streit vom Zaun zu brechen.
Heute hat es Cal mit Hilfe von Zwangshandlungen geschafft, in seinem Beruf eine Spitzenposition einzunehmen. Doch seine persönlichen Beziehungen sind unbefriedigend. Durch Gruppenübungen und Konfrontation lernt er es, Furcht und Schmerz zu zeigen, statt sie mit aggressivem Zorn abzuwehren. Er ist jetzt fähig, in den Gruppen nach Hilfe zu schreien. Er erkennt, daß Furcht zeigen nicht heißt, Hilflosigkeit zuzugeben. Furcht zeigen heißt vielmehr, ein Bedürfnis zuzugeben, zu dem man als Mensch berechtigt ist und auf das man eine Reaktion erwarten darf. Tatsächlich ist es eine der besten Kuren gegen das Gefühl der Hilflosigkeit, wenn man imstande ist, um Hilfe zu schreien, sobald es nötig ist. Cal lernt, daß es emotionell, Verhaltens- und einstellungsmäßig in Ordnung für ihn ist, Furcht zu haben. Jetzt kann er — selbst wenn er Furcht fühlt und sie zum Ausdruck bringt — effektiv handeln, ohne sich dabei gelähmt und hilflos, einsam, lächerlich oder unmännlich zu fühlen.
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Wie die besondere Kindheitssituation beim einzelnen auch aussehen mag, die Mehrzahl der Kinder in unserer Kultur lernt es, den offenen Ausdruck grundlegender Notfallemotionen zu tarnen oder überhaupt zu vermeiden. Ich will damit nicht sagen, daß die bewußte, freiwillige Kontrolle dieser Gefühle kein Erfordernis der Zivilisation sei. Das ist sie fraglos. Doch allzu viele Kinder in unserer Kultur werden gezwungen, ihre überlebensorientierten Notfallemotionen zu leugnen, ehe sie lernen, sie zu üben. Der Zugang zu diesen Gefühlen schwindet. Das Kind büßt die Fähigkeit ein, Gefühle wirksam aufzubieten, wenn eine realistische Situation eine solche Reaktion erfordert. Dieses Kind wird, wenn es erst erwachsen ist, in jeder Situation nur über begrenzte emotionale Wahlmöglichkeiten verfügen.
Eine gesunde Familienatmosphäre bietet für alle Gefühle Verständnis — für Schmerz und Freude ebenso wie für Liebe, Furcht und Zorn. Eltern sollten dem Kind zeigen, daß seine Gefühle natürlich sind, daß es jedoch viele Gelegenheiten gibt, bei denen gewisse Gefühle im Zaum gehalten werden müssen. Leider fehlt es heute den meisten Erwachsenen an diesem Verständnis. Deshalb sind sie unfähig, ihre Kinder zu führen. Die Eltern sind fraglos in sehr frühem Alter gezwungen worden, starke Gefühle zu unterdrücken. Gefühle bei ihren kleinen Kindern zu erleben ist für solche Eltern unbewußt bedrohlich und bewußt anstrengend.
Wenn die Eltern einem Kind nicht mit verantwortungsbewußter Führung und liebevollem Interesse erlauben, seine Grundgefühle zu üben, lernt das Kind sehr bald, daß es weniger schmerzlich ist und weniger Kraft kostet, wenn man starke Gefühle von vornherein dämpft. Es stellt fest, daß seine Emotionen ja doch nur Mißbilligung und Lachen provozieren und ihm Schmerz und anderen aufreibenden Ärger einbringen.
Menschen, die unter der Dynamik unterdrückter Schmerz- und Furchtgefühle leiden, sind in dem quälenden Unbehagen ungelöster Angst oder Aggressivität gefangen. Diese Menschen gehören nach der klassischen diagnostischen Terminologie zu den Neurotikern. Die Gefühle vergehen nicht, doch ihre Ursache ist ungewiß und ungreifbar. Es ist, als ob in der Nähe ein Alarmsystem ausgelöst worden wäre, das nicht wieder zum Schweigen kommt. Man nimmt es in seinem peripheren Bewußtsein wahr, weiß aber nicht, wo oder warum es klingelt, und es gibt keine Möglichkeit, den endlosen Lärm irgendwie abzustellen.
Ein Neurotiker versucht unbewußt, seinen augenblicklichen Schmerz und seine Spannung durch psychologische Tricks wie Phobien und Zwangshandlungen, die ich oben bereits besprochen habe, zu vermindern.
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Doch welche psychologischen Tricks der Neurotiker auch benutzen mag, sie beseitigen den Schmerz nicht. Sie verringern vielmehr seine eigene Lebenstüchtigkeit. Sie fördern weiteren Schmerz. Sie erfordern immer mehr Kraft, immer mehr Aufmerksamkeit. Ihre Wirkung auf die Spannungen wird immer geringer, bis schließlich selbst das extremste Verhalten die innere Qual des Neurotikers nicht mehr lindern kann. Wie ein Tyrann verlangt eine Neurose immer größere Summen zu ihrer Befriedigung. Die Forderungen enden erst, wenn der Betreffende emotional bankrott ist und bleibt.
Ein Neurotiker fühlt den Schmerz der Angst fast permanent. Ein charaktergestörter Mensch dagegen spürt seine Eingeweidegefühle einfach nicht. Er verdrängt sie völlig. Er isoliert sie, löst sich vollständig von ihnen ab.
Ich will damit nicht sagen, daß ein Charaktergestörter in besonderen Krisen keinen Schmerz, Zorn oder keine Furcht empfindet. Einem Alkoholiker kann die vernachlässigte Familie ernstes Unbehagen und schwere Schuldgefühle bereiten, wenn er seine Wochenend-Sauftour hinter sich hat. (Von seinem Standpunkt aus würde das Unbehagen verschwinden, wenn seine Frau und die Kinder »ihn in Ruhe lassen« würden.) Wird ein Homosexueller von seinem Liebhaber verlassen, so bringt das im allgemeinen tiefe Depressionen mit sich (bis ein neuer Liebhaber auftaucht). Und die Angst eines dicken Menschen, keine Freundin zu finden, kann äußerst schmerzlich sein (d.h., bis eine Freundin auf der Bildfläche erscheint). Selbst wenn äußerer Druck dem Unbehagen zugrunde liegt, ist der emotionale Streß doch sehr real. Je nach dem Charakter des Betreffenden erzeugt der Streß Schmerz-, Furcht- oder Zorngefühle.
Doch jeder charaktergestörte Mensch weicht emotionalem Streß aus, so schnell er nur kann. Die Schildkröte sucht Sicherheit in ihrem Panzer; die charaktergestörte Persönlichkeit sucht nach dem Panzer, den ihr die Natur nicht geliefert hat. Ein solcher Mensch findet rasch Zuflucht in seinem besonderen Symptom. Wie Cal bricht er immer wieder einen Streit vom Zaun, prügelt sich und arbeitet sich so zum Erfolg durch. Der Alkoholiker betrinkt sich. Der Homosexuelle macht seine Streifzüge durch die Herrentoiletten. Der Dicke stopft sich voll. Der Süchtige fixt. Der Geschäftsmann arbeitet sechzehn Stunden am Tag. Der Schüchterne versteckt sich in Büchern. Die Nymphomanin geht mit dem nächsten Fremden ins Bett. All diese Panzer verstärken die Verdrängung von Furcht und Zorn, um die sich der Charaktergestörte bemüht. Er versucht, mehr Sicherheit und in seinem »Sichabschließen« mehr Behagen zu finden.
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Häufig verletzt er andere Menschen mit seiner Verantwortungslosigkeit, dennoch ist er völlig davon in Anspruch genommen, sich selbst zu helfen. Er fühlt keine Schuld; er hat kein Mitgefühl. Psychiater nennen dieses Verhalten »ausagieren«. Durch solche Verhaltenstricks außerhalb des emotionalen Ichs vermeidet es der Charaktergestörte, auch nur ein ängstliches Zittern seiner innersten Gefühle, besonders seines Schmerzes, zu erleben.
»Einfrieren« und »sekundäres Verkapseln«
Der Charaktergestörte hat die dritte Reaktion auf Gefahr gelernt, eine Überlebensreaktion, die weder Flucht noch Kampf ist. Diesen Abwehrmechanismus habe ich »Einfrieren« genannt: Statt ihre fundamentalen Notfallemotionen zu tarnen oder zu entstellen, verdrängt die charaktergestörte Persönlichkeit diese Emotionen völlig. Sie schließt ihre Gefühle von ihrem Bewußtsein aus und verkapselt sie in einem Panzer der Unbewußtheit, wodurch sie unbewußt eine emotionale Isolation schafft.
Wie die neurotische hat auch die charaktergestörte Persönlichkeit in der Kindheit keine Gelegenheit gehabt zu lernen, wie sie ihre überlebensorientierten Zorn- oder Furchtgefühle als natürliche Emotionen ausdrücken soll. Diese Versagung ruft fraglos Angst und Aggressivität in einer charaktergestörten Persönlichkeit hervor. Doch ein solcher Mensch verdrängt selbst noch diese Tarngefühle.
Dieser Überlebensmechanismus verwendet weder Flucht noch Kampf, weder Furcht noch Zorn. Das »Einfrieren« nutzt keine spezifische Emotion, es ist vielmehr ein Negieren der Gefühle. Die Gefühle des Charaktergestörten sind so weit verdrängt, daß er zu keiner emotionalen Interaktion mit anderen Menschen fähig ist. Sein Sichabschließen ist ein Zustand echter emotionaler Isolierung.
Der Charaktergestörte kann seine Notfallemotionen auf zweierlei Weise negieren. Er kann sie durch »Rückzug« oder durch »Kontrolle« einkapseln. Wenn das emotionale Motiv im wesentlichen verdrängte Angst ist, nenne ich den Betreffenden »zurückgezogen«. Er kann dabei sanft, untüchtig, passiv, zurückhaltend, höflich wirken. Ist diese Charakterstörung besonders schwer, kann er sogar in den menschlichen Beziehungen schizoid erscheinen. Spielt jedoch verdrängte Aggressivität die Hauptrolle, dann ist der Mensch »beherrscht« — zusammengepreßte Lippen, zusammengebissene Zähne, ein Zwangscharakter, nicht frei von Aggressionen. Ist diese Art der Charakterstörung schwer, dann denkt man an die strengen Patriarchen und Demagogen der Viktorianischen Epoche, sogar an Paranoide.
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Emotionales Verkapseln, ob zurückgezogen oder beherrscht, ist ein sich selbst auferlegtes Absterben aller Gefühle. Es dient dazu, schwere Angst, schweren Zorn und Schmerz zu vermeiden — den Schmerz des Bewußtseins, den Schmerz der Deprivation, den Schmerz der Realität und des Lebenskampfes. Im Zustand ihrer Isolierung sind Charaktergestörte sicher, die emotionalen Gefahren nicht zu erleben, die der Alltag und die Aufrechterhaltung bedeutsamer Beziehungen mit sich bringen.
Das sichere Zeichen charaktergestörter Persönlichkeiten ist, daß sie niemals dem heftigen Schmerz zum Opfer fallen, den Neurotiker in den Klauen ihrer Angst fühlen. Der Psychiater spürt bei einem charaktergestörten Menschen statt des bewußten Schmerzes vielleicht eine oberflächliche Spannung. Doch wenn er tiefer eindringt, wird er immer nur mehr Spannung finden, niemals qualvolle Angst. Der Patient kann auch, um sein Verhalten nicht ändern zu müssen, aggressiv zornig werden. (Das war bei Cal typisch.) Doch diese Gefühle sind nie tief mit seinen fundamentalen Emotionen verknüpft.
Der Anpassungsmechanismus des Einfrierens ist nicht immer schlecht. Bisweilen kann er eine lebensrettende Funktion erfüllen. Schiffbrüchige haben dann am besten überlebt, wenn sie ihre Gefühle zurückzogen und sich emotional gegen Schmerz und Furcht vor einer verzweifelten Wirklichkeit abgeschlossen haben. Menschen, die völlig unfähig sind, ihre Gefühle zurückzuziehen oder zu beherrschen, die auf Gefahr stets mit Furcht oder Wut reagieren, sind bei manchen Gelegenheiten auf gefährliche Weise der Vernichtung ausgesetzt. Vielleicht gibt es keinen Ort, an den sie fliehen können, und wenn sie kämpfen, kann es ihnen den Tod bringen.
Doch ein ständiger Rückzug vor Gefühlen ist selbstzerstörerisch.
Wenn charaktergestörte Menschen auch Gefühle vermeiden, die Neurotiker vielleicht zerschmettern würden, so kann der Neurotiker doch motiviert werden, Hilfe zu suchen, die den Schmerz lindert. Ein Charaktergestörter dagegen wird kaum um Hilfe bitten; er leidet einfach unter keinem tiefen Schmerz, ganz gleich, wie bohrend und destruktiv seine Symptome auch sein mögen.
Allzu häufig wird das »Einfrieren«, der Mechanismus des Sichabschließens, zu einer pathologischen, freilich sehr unzuverlässigen Abwehr. Die Forderungen der Außenwelt sind ständig da und drohen, sich Einlaß zu verschaffen. Wenn es Menschen gelungen ist, sich von schmerzlichen Reaktionen auf Streß fernzuhalten, müssen sie ihre Energie daran wenden, daß sie ihre Schutzstellungen verstärken. Ihre Einkapselung erfordert ständig neue Kompressen, wenn ein nicht-schmerzender Funktionszustand erhalten bleiben soll.
Die Abwehr durch Einfrieren wurde wie Kampf und Flucht aus realistischen Gründen entwickelt, die in den frühen Kindheitserlebnissen des charaktergestörten Menschen liegen. Doch dieses Sichabschließen wird zu einem starren Verhaltensmuster, zu einer innerpsychischen Festung, die er sich selbst aufgebaut hat. Der Charaktergestörte hat sich in eine Festung geflüchtet, wo er sich sicher fühlt. In Wirklichkeit ist er dort jedoch völlig isoliert, behindert, gefangen. Seine Festung ist sein Gefängnis geworden. Je länger er in seinem eigenen Kerker bleibt, desto dicker werden die Mauern. Er ist immer weniger fähig, mit den Problemen des täglichen Lebens fertig zu werden, und dennoch immer fester entschlossen, das Eindringen anderer abzuwehren.
Sobald sich der charaktergestörte Mensch in seiner nahezu spannungsfreien Welt abgekapselt hat, kämpft er gegen jeden, der versucht, die Mauern seiner Gefängnis-Festung zu zerschlagen. Der Gedanke an Schmerz, Furcht oder Zorn wird in der Phantasie unerträglicher, als es die tatsächlichen Emotionen in der Wirklichkeit sein könnten. Der Anpassungsmechanismus des Einfrierens ist zu einem primären Mechanismus geworden, der unablässig wirksam bleibt, ob nun eine Gefahr droht oder nicht.
Die psychoanalytischen Standardverfahren, die sich auf zeitraubende, schmerzliche Introspektion und Beobachtung stützen, sind angesichts solcher Verkapselung nutzlos. Der Patient nimmt zwar verstandesmäßig wahr, versteht aber gefühlsmäßig nicht. Er ist nicht zu erreichen. Obwohl er die Situation kennt, steht seine eigene Wirklichkeit nicht auf dem Spiel — wenigstens erscheint es ihm so. Er ist wie ein Mann, der sagt: »Ich weiß, ich sollte das Rauchen aufgeben, aber ...«
Er wird der Wahrheit mit oder ohne bewußte Lügen ausweichen. Er kann vielleicht heuchlerisch erklären, er wolle sich ändern, doch in Wirklichkeit nutzt er seine psychische Energie — bewußt, unbewußt oder beides — dazu, seine defensive Abkapselung zu verstärken.
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