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10.  Der <dreiseitige> Mensch: Verhalten, Gefühle, Einstellungen

Casriel-1972

 

191-211

Als die Wirksamkeit meiner Methode klinisch immer evidenter wurde, begann ich nach der theoretischen Grundlage für ihren Erfolg zu suchen. Das Material, das sich ansammelte, war umfangreich. Es deutet darauf hin, daß viele Menschen in signifikant kürzerer Zeit Fortschritte in der emotionalen Gesundung machten, als es in der Einzelanalyse bei mir, in der Therapie bei anderen Ärzten, in institutionellen Programmen, in Kranken­häusern oder therapeutischen Gemeinschaften der Fall gewesen war. 

Außerdem zeigten sich Erfolge bei der Behandlung von Persönlichkeitstypen, die von den Psychiatern bislang als »unheilbar« bezeichnet worden waren. Meine Ausbildung in Freudscher Theorie und in der Adaptations­psychodynamik gab mir keine ausreichenden Gründe für die außerordentlichen Ergebnisse an, die ich sah.

Weshalb erbrachte diese besondere Methode der Gruppentherapie in so kurzer Zeit gute Resultate? Meines Wissens ließen sich in den verbalen, »diskutierenden« Gruppen, die sich nicht auf das Verhalten konzent­rierten, nicht die gleichen Ergebnisse feststellen.

Meine Suche führte mich dazu, das Schema eines »dreiseitigen Menschen« aufzustellen. Die eine Seite des Dreiecks bezeichnete ich als das Verhalten des Menschen, die andere als seine Emotionen und die dritte als seine Einstellungen. Ein Blick auf die Psychotherapie in ihrer Gesamtheit ließ mich erkennen, daß sich mein Berufsstand auf zwei Seiten des Dreiecks beschränkt hatte: auf die Emotionen und die Einstellungen. Die Psychoanalyse beispielsweise begann mit einer weitschweifigen Erforschung der Einstellungen, die, falls es zu einer Übertragung kam, zu einem tiefen Verständnis für die Gefühle des Patienten gelangte. 

Die Adaptationspsychiatrie konzentrierte sich darauf, wie die emotionalen Reaktionen in der Kindheit verlaufen waren und das Erwachsenenleben beeinflußten. Carl Rogers und seine Anhänger konzentrierten sich ebenfalls auf die Gefühle. Und wenn es auch zutrifft, daß die Existentialpsychiater einigen Nachdruck auf das Verhalten gelegt hatten, so ging es ihnen doch nur darum, wie sich das Verhalten aus den Einstellungen entwickelte. 

Verändere die Einstellung, so lautete die Argumentation, dann ändert sich auch das Verhalten. Frederick Perls' Gestalttherapie verteidigte mit ihrem Interesse an der Entwicklung des totalen Bewußtseins eines Individuums tatsächlich die Signifikanz des Verhaltens. Doch die Existentialpsychiater waren nicht in dem Sinn an Gefühlen interessiert, wie es meine Gruppen waren und sind. Mir erschien ihre Betrachtungsweise moralistisch und philosophisch — voll wortreicher Formulierungen, die nachdrücklich das Soll und das Muß auf Kosten tiefempfundener Emotionen betonten.

Je mehr ich darüber nachdachte, desto stärker wurde meine Überzeugung: Keine psychotherapeutische Methode hatte versucht, sich wirksam mit allen drei Seiten des »dreiseitigen Menschen« zu beschäftigen und dabei zuerst den Nachdruck auf das Verhalten zu legen. Dieses Verfahren schien jedoch der Hauptgrund zu sein, weshalb sich die aus der Synanon-Begegnung erwachsene Gruppentechnik als ungewöhnlich erfolgreich erwies.

Von Anfang an stellte man sich in Synanon einem Symptom dadurch entgegen, daß man sagte: »Hör auf damit!« Wenn Alkohol dein Problem ist, gib ihn auf. Nimmst du Rauschgift? Hör auf! Sofort — ohne jedes Drumherum! Außerdem fang an, dich wie ein verantwortungsbewußter Mensch zu benehmen! Tu deine Arbeit in der Gemeinschaft! Keine Ausflüchte, keine Rationalisierungen!

Gewiß, es gab Moralisieren. Man hörte: »Du sollst und du mußt.« Aber hinter dem Moralisieren stand verhaltensorientierte Straßenklugheit. Diese Klugheit sagte eines sehr laut und sehr deutlich: Gib dein Symptom auf, sofort, von Anfang an! Benimm dich wie ein verantwortlicher Erwachsener! Wenn du nicht weißt, wie du das machen sollst, dann tu, als ob du es tätest! Wenn dich das ängstlich oder zornig macht, heb dir diese Gefühle für die Gruppe auf. Dann laß alles heraus und sieh es dir an!

 

Verhalten 

Meine Gruppen waren zuerst nicht so energisch in ihren Angriffen gegen destruktives Verhalten wie die Synanon-Gruppen. Ich dachte immer ernsthafter über die Notwendigkeit nach, bei meinen Mittelschichtpatienten Nachdruck auf das Verhalten zu legen. Beispielsweise hatte ich einen Patienten, der eine Art Don Juan war. Während der zwei Jahre, die sich Charlie bei mir in Behandlung befand, hatte er außereheliche Beziehungen mit sieben Frauen. 

192/193

Jedes Verhältnis hatte mit Charlies Klagen darüber angefangen, wie wenig Verständnis er zu Hause finde. Wenn dann nach mehreren Monaten die neue Geliebte begann, Forderungen an Charlies Zeit und Emotionen zu stellen, suchte er sich eine andere Frau, bei der er seine Probleme abladen konnte. Während einer kurzen Zeitspanne hatte er zwei Geliebte nebeneinander, und dazu noch eine Ehefrau. Endlich wurde die frühere Geliebte völlig aufgegeben, und die neue Geliebte trat an ihren Platz.

Eins von Charlies Problemen war, daß seine Frau ihn zu gut verstand. Als charaktergestörte Persönlichkeit war er völlig von seinen tiefsten Gefühlen abgeschnitten. Er lebte auf einer genau ausbalancierten Wippe zwischen Furcht und Zorn, ohne in der Lage zu sein, eine der beiden Seiten zu erreichen. Um seine Furcht und seinen Zorn zu tarnen, hatte Charlie eine Draufgänger­manier entwickelt, die tatsächlich recht charmant war. (Er erinnerte mich ein bißchen an Humphrey Bogart.) Er verheimlichte seine Furcht und seinen Zorn, ebenso seinen Schmerz und seine Zuneigung. Sein Beruf war langweilig und füllte ihn nicht aus, wenn die Bezahlung auch gut war. Er brachte Charlie nicht das Gefühl der Erfüllung oder Leistung. Charlie hatte überhaupt keine männlichen Freunde — nur Arbeitskollegen und Nachbarn. Er hatte keine Hobbys — kein Interesse an Sport, an Briefmarkensammeln oder Skilaufen, um nur einige Beispiele zu nennen. Er hielt sich für einen sehr schlechten Sportler. In Wirklichkeit fühlte sich Charlie in seiner Männlichkeit sehr verunsichert. Daher stammte seine Abhängigkeit von Frauen. Wenn Charlie mit einer Frau schlief und sie zum Orgasmus brachte, fühlte er sich berechtigt, ihre Liebe anzunehmen. Er suchte ständig neue Frauen, mit denen er schlafen konnte. Bei jeder neuen Frau konnte er für eine Weile »offen« sein und über die emotionale Verarmung seines Lebens sprechen, wobei er die Bedürfnisse betonte, die er vor der übrigen Welt verbarg. Doch wenn die Frau dann begann, Charlies Bedürfnisse zu erfüllen, geriet er in Angst und Schrecken. Charlies Fähigkeit, Liebe anzunehmen, war sehr beschränkt. Seine Lösung war, ein neues Verhältnis mit einer anderen Frau zu suchen, um seine Unsicherheit zu vermindern.

Was würde geschehen, wenn man Charlie aufforderte, die außerehelichen Beziehungen aufzugeben? Vielleicht wäre er dann gezwungen, sich der Furcht, dem Zorn, dem Schmerz und dem Bedürfnis nach Liebe zu stellen, die ihn zum »Ausagieren« veranlaßten. Möglicherweise würde Charlie, wenn das symptomatische Verhalten eliminiert wurde, feststellen, daß sich der emotionale Druck in seinem Innern auf eine neue Art aufstaute.

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Eine andere Patientin, Clara, trank zuviel (obwohl sie keineswegs Alkoholikerin war). Die attraktive achtundzwanzigjährige Frau war Pastorentochter. Irgendwie hatte ihr Vater sie so konditioniert, daß sie eine unwirklich altruistische Auffassung vom Leben hatte. Clara war intelligent, begabt und fähig, sich klar zu äußern. Sie arbeitete als Texterin in einer Werbeagentur und kleidete sich gut, wenn auch nicht mit viel Interesse. 

Clara war verantwortungsbewußt gegenüber ihrer Arbeit, ihren Eltern und Verwandten, ihren Bekannten und den Institutionen, denen sie sich verpflichtet fühlte. Wenn der Chef Clara bat, über das Wochenende eine Arbeit zu übernehmen, sagte sie stets ja, auch dann, wenn andere Texter die Aufgabe hätten erledigen können. Wenn es um fünf Uhr nachmittags nötig wurde, für einen unvernünftigen Kunden einen Text zu überarbeiten, war Clara stets ohne Protest dazu bereit. Wenn ihre verheiratete frühere Zimmergefährtin aus dem College einen Babysitter brauchte, sprang Clara ein. Wenn eine Freundin von außerhalb anrief und für ein oder zwei Tage Unterkunft suchte, schaffte Clara immer Platz auf ihrer Couch. Sie lieh ihren Bekannten Geld, machte sich viel Mühe bei den Spendenaktionen für ihr früheres College und hatte immer Zeit, sich die Probleme anderer anzuhören.

Claras Schwierigkeit war nicht so sehr, daß sie trank, als vielmehr, daß sie den Alkohol als Entschuldigung für ihr »Ausagieren« benutzte. Wenn sie nüchtern war, spielte sie unablässig die tugendhafte Rolle, die ihr Vater von ihr erwartete. Sie mied zornige oder schmerzliche Konfrontationen, verzichtete darauf, selbstsüchtigen Gefühlen oder Motiven nachzugeben, und wich starken Emotionen aus, die die Grundlage der echten Intimität sind. Sie mied auch sexuellen Umgang und verabschiedete sich von Männern, mit denen sie ausging, mit einem kurzen kühlen Kuß an der Haustür.

Wenn Clara jedoch zuviel getrunken hatte, war sie völlig anders. Sie hatte mit dem Ehemann ihrer früheren Zimmergefährtin und mit dem Verlobten ihrer besten Freundin geschlafen. In jedem Jahr hatte sie mit mindestens einem Dutzend Fremden Geschlechtsverkehr. Das Trinken begann gewöhnlich am Freitagabend; Clara suchte mehrere Bars der New Yorker East Side auf, wo sich Männer und Frauen kennenlernen konnten. In einer der Bars las sie einen Mann auf — irgendeinen, der beharrlich, extravertiert und aufmerksam war. (Claras Vorliebe galt — in ihren eigenen Worten — »mitteilsamen, gefühlvollen Angehörigen der Mittelmeerrasse«.) Dann nahm sie den Mann zu einer Sexorgie, die achtundvierzig Stunden dauerte, in ihre Wohnung mit. Während dieses Wochenendes tat Clara alles nur Mögliche, um den Mann zu befriedigen. Sie war zu Fellatio, Analverkehr und den verwegensten Stellungen bereit. (Eine Stellung, die mir Clara beschrieben hat, halte ich noch immer für physisch unmöglich!) Doch sie war so darauf aus, dem Mann Vergnügen zu bereiten, daß sie selbst niemals einen Orgasmus hatte.

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Die Bemühungen, ein so unwirkliches Dasein von Freitag bis Montag durchzuhalten, übten zuviel Druck auf Clara aus. Sie empfand ihr Verlangen nach Liebe und ihre sexuelle Deprivation zu stark. Alkohol war der Mechanismus, der ihr erlaubte, Dinge zu tun, die sie sonst nie getan hätte. Am Montagmorgen konnte sie immer dem Alkohol die Schuld geben und so der Verantwortung für ihr Verhalten entgehen.

Am Montagmorgen war Clara nie mit sich einverstanden. Wenn sie das Wochenende nicht mit Trinken begann, verbrachte sie ihre Zeit mit Lesen, hörte Musik, ging gelegentlich ins Kino oder in die Oper oder traf sich mit Freunden (ohne echte Vertraulichkeit). Die Spannung nahm zu, und am Anfang der neuen Woche hatte sie unerträgliche Angst. Wenn sie dagegen mit Trinken anfing, führte das zu einer sexuellen Begegnung, nach der sie sich gedemütigt und schuldig fühlte.

Dennoch unternahm Clara mindestens jedes zweite Wochenende einen »Zug«. Was würde geschehen, wenn sie völlig aufhörte zu trinken, so wie wir es von echten Alkoholikern verlangen? Was würde sie mit dem emotionalen Druck tun, der sich aufstaute? Würde sie dann den Zorn und den Schmerz äußern können, den sie in der Einzeltherapie nicht zu zeigen vermocht hatte?

Ich sprach mit einem Gruppenleiter und mit einigen Gruppenmitgliedern über diese beiden Patienten. Wegen der Bedeutung, die ich der Synanon-Idee beimaß, destruktive Symptome unverzüglich aufzugeben, bat ich die Gruppen, daß sowohl Charlie als auch Clara aufgefordert würden, mit dem Ausagieren ihrer Symptome aufzuhören.

Die Ergebnisse waren erstaunlich. Clara (die darauf programmiert worden war, andere gern zufrieden­zustellen) war sofort bereit, das Trinken völlig aufzugeben. In den folgenden Wochen hatte sie einen einzigen Rückfall (als ein früherer Liebhaber unerwartet von außerhalb eintraf), hielt sich jedoch danach an das alkoholfreie Leben. Nach etwa sechs Wochen Abstinenz schrie sie intensive Schmerz- und Zorngefühle über ihre Beziehung zu ihrem Vater heraus. Sie erlebte auch tiefen Schmerz über die Feindseligkeit, mit der sie ihrer Mutter stets entgegengetreten war — eine Aggressivität, bei der sich keine warme, liebevolle Beziehung hatte entwickeln können. Die Äußerung der Gefühle führte zu wertvollen neuen Einsichten für Clara. Sie erkannte ihren Vater nun als Manipulator voller Probleme (einschließlich mehrerer sexueller), über die er nie aufrichtig gewesen war. Und während sie auch ihre Mutter als Manipulatorin erkannte (mit einem Rückgrat aus Stahl, obwohl sie wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe aussah), entwickelte Clara dennoch eine herzliche, respektvolle Zuneigung zu ihr.

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Charlie verhielt sich anders als Clara. Er wehrte sich gegen die Anweisung des Gruppenleiters und behauptete, er liebe die Frau, mit der er ein Verhältnis hatte, und sie liebe ihn. Er behauptete weiter, daß seine Frau ihn nicht verstehe und daß seine sexuellen Bedürfnisse zu stark seien, als daß sie nur durch den Verkehr mit seiner Ehefrau befriedigt werden könnten - er sei eben ein außergewöhnlicher Mann, der intime Beziehungen zu zwei Frauen unterhalten müsse. Er wollte sich keinesfalls mit der Forderung des Gruppenleiters abfinden und suchte mich deshalb auf. Er bat, in eine andere Gruppe versetzt zu werden. Ich weigerte mich und erklärte Charlie, daß er, um gesund zu werden, zunächst seine Geliebten aufgeben müsse. Charlie verließ wütend mein Sprechzimmer und ließ sich in den nächsten beiden Wochen nicht in seiner Gruppe sehen.

Dann kam er eines Abends verzagt in mein Sprechzimmer. Die Beziehung zu seiner jetzigen Geliebten beginne auseinander­zugehen, wie er sagte, und er überlege, ein neues Verhältnis mit »einem Weib, das in meinem Büro arbeitet«, anzufangen. Doch bevor er »mit dem neuen Weib ausgehe«, sagte er, wolle er gern noch einmal hören, weshalb es so wichtig für ihn sei, auf Liebesaffären zu verzichten.

Da ich begriff, daß Charlies Frage ein Test für mein persönliches Interesse an ihm war, erklärte ich ihm den Grund so deutlich, wie ich es wußte. Ich sprach von der Furcht und dem Zorn, die ich in ihm spürte, und wie sehr ich glaubte, daß es nötig für ihn sei, diese Gefühle anderen zu zeigen. Ich erinnerte ihn daran, wie wenig Freundschaften mit anderen Männern er habe und wie nötig solche Freundschaften für ihn seien. Ich sagte ihm, daß ich mir etwas aus ihm machte und wünschte, daß er glücklicher werde. Als ich aufhörte zu sprechen, faßte ich spontan nach Charlies Schulter.

Charlies Augen waren feucht, als er sich bereit erklärte, wieder zur Gruppe zu kommen und sich zu verpflichten, »sechs Wochen lang kein anderes Weib zu haben«. Zwei Wochen später schrie Charlie in den Gruppensitzungen vor Furcht. Es war der Anfang einer neuen Beziehung zu seiner eigenen Frau (die danach mit ihm zusammen zur Gruppe kam).

 

Gefühle

 

Wenn man die Menschen gleich zu Beginn der Behandlung dazu brachte, mit ihren Symptomen zu kämpfen, beschleunigte man den therapeutischen Prozeß beträchtlich. Die Begegnungstechnik trug, da sie alle gesellschaftlichen Regeln durchbrach, erheblich dazu bei, allen Gefühlen, die die Menschen ihr Leben lang zu verbergen gelernt hatten, freien Lauf zu lassen.

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Doch viele Gruppenmitglieder waren sehr geschickt darin, bei den Begegnungen zum Gegenangriff überzugehen oder ihre Reaktionen zu unterdrücken. Allein mit den Begegnungstechniken gelangten wir nicht zu ihren tieferen Gefühlen. Wenn wir jedoch den Gruppenmitgliedern die Möglichkeit nahmen, ihre Symptome als Ventil zu benutzen, gewannen wir ein neues Instrument, verborgene Gefühle zu erreichen. Der Druck baute sich nicht mehr durch die Konfrontation von außen, sondern innerlich auf. Solange die Mitglieder den inneren Druck nicht durch »Ausagieren« neutralisierten, traten die Gefühle mit Sicherheit binnen kurzem an die Oberfläche.

Etwa um diese Zeit erkannte ich, wie wichtig es ist, durch die Begegnungen auf die Gefühle um ihrer selbst willen einzuwirken, statt sie lediglich als einen aufeinander einwirkenden Ausdruck der einzelnen Gruppenmitglieder zu betrachten. Wir gaben die Begegnungstechniken jedoch nicht auf. Wir ermutigten immer noch irgend jemand, unmittelbar auf den zornig zu werden, der ihn zornig gemacht hatte. Das Recht zu empfinden, dies zu tun, war ein wichtiger Teil des Reifeprozesses. Bei einem Menschen, der nicht gewöhnt war, zornig zu werden, trug es dazu bei, auf das Etikett »netter Bursche« zu verzichten, und führte ihn häufig zu seinen tieferen Gefühlen. Bei anderen, die es gewöhnt waren, zornig zu werden, gab uns der Angriff auf ein Gruppenmitglied die Möglichkeit festzustellen, wie ehrlich das Gefühl tatsächlich war. Fühlte sich der Betreffende wirklich berechtigt, zornig zu werden, und übernahm er als Erwachsener die volle Verantwortung für dieses Gefühl? Oder versuchte er, Menschen mit seinem Zorn zu tyrannisieren? Schlug er mit einer Beleidigung zu wie mit einem Degen und zog sich dann zurück, ehe man ihm begegnen konnte? Wer machte ihn zornig? Welche Hinweise auf seine Kindheit konnten wir in seinen Angriffen erkennen?

All diese Möglichkeiten machten die Begegnung für unsere Gruppen wertvoll. Ich merkte jedoch, daß die Begegnung zu einem Mittel wurde, Energie zu verbrauchen, ohne tiefer nach Gefühlen zu sondieren. Aus dem gleichen Grund begnügten sich viele Mitglieder damit, einen kurzen Schrei auszustoßen und sich in die Wärme einer Umarmung zu begeben, als die Liebe in unseren Gruppen wichtig wurde. Wenn ein Mitglied begann, Schmerz zu zeigen, nahm ein anderes den Betreffenden in den Arm, während er weinte — wobei häufig viel Gefühl freigesetzt wurde. Doch dann war es vorüber. Die Spannung des Schmerzes war besänftigt, und tiefere Gefühle wurden nicht berührt. Ich erkannte immer deutlicher, daß die Gefühle in vollem Umfang ausgedrückt werden mußten, um einen therapeutischen Wert zu haben.

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Unsere Hauptaufmerksamkeit verschob sich von der Begegnung zur Einübung spezifischer Gefühle, sobald diese auftauchten. Zu Beginn einer unserer ersten Marathonsitzungen nahm Sally nach einem zornigen Meinungsaustausch zwischen zwei anderen Frauen kein Blatt vor den Mund. Der Meinungsaustausch hätte sie in Furcht versetzt, sagte sie, weil in ihrer Familie Zorn verboten gewesen sei. Ich erwiderte, ich könne ihre Furcht verstehen, und schlug vor, daß sie — falls sie sich wieder in Furcht versetzt fühle — versuchen solle, den Tränen, die sie zurückgedrängt habe, freien Lauf zu lassen. Ferner solle sie sich während der Marathonsitzung bemühen, zornig zu werden, sobald ihr irgend jemand dieses Gefühl einflöße.

Seit mehreren Wochen schon kämpfte Sally mit ihrem Symptom. Sie war ein schüchternes, gehemmtes Mädchen, das die arbeitsfreien Stunden allein mit einem Buch verbrachte, während alle Gleichaltrigen zu Partys oder Einzelverabredungen gingen. Wir hatten sie gebeten, auch auszugehen und sich zu bemühen, Menschen kennenzulernen und mit ihnen zusammen zu sein. Sally traf durch ein Computersystem mehrere Verabredungen. Einige der Männer waren nicht schlecht gewesen. Mit ihren Arbeits­kolleginnen ging Sally auch zu Partys und trat sogar in einen Skiklub ein. Doch sie hatte immer noch nicht viel Spaß, und man spürte, daß die Angst in ihr aufstieg. Ich hatte den Eindruck, daß Sally für einen emotionalen Durchbruch bereit sei; deshalb beobachtete ich sie äußerst sorgfältig, während die Marathonsitzung ihren Fortgang nahm.

Im Lauf der nächsten Stunden bauten sich im ganzen Raum intensive Gefühle auf. In der Morgendämmerung brach Sally in Tränen des Schmerzes aus, der sich seit Jahren aufgestaut hatte. Es war ein positives Erlebnis für sie. Nach der Marathonsitzung war ihr Gesicht offen, und sie fühlte sich gut. Diese Euphorie hielt eine beträchtliche Zeit an. Sally wurde sogar darin bestärkt, weil es ihr jetzt entschieden leichter fiel, eine Verabredung zu vereinbaren (schließlich werden Männer vom vitalen Wohlgefühl einer Frau angezogen). Es bestand wirklich kaum noch ein Grund, weshalb sie mit ihrem Symptom hätte ringen müssen. Doch in den Gruppen kam Sallys emotionaler Fortschritt zum Stillstand. Sie fürchtete sich immer noch, wenn es zu einer besonders zornigen Begegnung kam. Diese trieb ihr sogar Tränen in die Augen. Schmerz war dagegen ein leicht zugängliches Gefühl für Sally geworden. Sie brachte es aber nicht fertig, sich an einem zornigen Meinungsaustausch innerhalb der Gruppe zu beteiligen, und wenn sie sich fürchtete, gab es Tränen. Sie hörten auf, wenn sie ein wenig geweint und Trost von einem Gruppenmitglied angenommen hatte, das sie in die Arme schloß.

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Als sie eines Tages zu weinen anfing, griff ich ein, bevor jemand sie umarmen konnte. »Weshalb weinst du, Sally?« Sie sah mich ein wenig verdutzt an. »Weil sie sich so angeschrien haben. Du weißt doch, daß ich mich dann immer fürchte.« In ihrer Stimme lag etwas Zorn.

»Warum zeigst du dann nicht uns allen, daß du dich fürchtest? Versteck dich nicht in den Armen einer einzelnen Person! Sag es Doug dort und dann Jane! Sieh sie einfach nacheinander an und sag: >Ich fürchte mich<.«

Sally wirkte entsetzter, als ich sie je gesehen hatte, doch sie tat, was ich ihr auf getragen hatte: »Ich fürchte mich«, flüsterte sie und sah Doug flüchtig an. »Ich fürchte mich«, zu Jane. »Ich fürchte mich.« - »Ich fürchte mich. - Ich fürchte mich.« Als sie die Hälfte des Raumes durchquert hatte, war Gefühl in den Worten. Sally sprach immer lauter. Die Kraft ihrer Worte erfüllte sie mit noch größerer Angst, aber Sally ging von einem zum anderen weiter. Die Tränen flössen ihr übers Gesicht. Immer noch hatte sie Furcht. Sally geriet nicht in hysterischen Schmerz. »ich fürchte mich. ich fürchte mich, Jim. Ich fürchte mich, Dan. Ich fürchte mich.« Als sie die Runde fast hinter sich gebracht hatte, begann sie die Worte zu schreien. Und dann kam der wirkliche Schmerz in erschütterndem, qualvollem Schluchzen. Inzwischen weinten fast alle. Alle konnten sich mit der Tiefe und Ehrlichkeit von Sallys Gefühlen identifizieren. Wenn Menschen sie jetzt in den Arm nahmen, geschah es mit einem starken Gefühl der Verbundenheit. Sally hatte ein Erlebnis gehabt, das alle verstehen, in das sich alle einfühlen konnten.

Nach dieser Episode beschäftigte sich Sally in den Gruppenstunden nach und nach mit all ihren Gefühlen. Sie lernte, zornig zu werden. Sie lernte Gefühle mit dem Anspruch äußern, ein Recht auf sie zu haben. Sie spürte allmählich ihre Kraft als erwachsener, fühlender Mensch, der nicht hilflos war. Und sie fing an, ihre Einsichten auf ihr alltägliches Leben anzuwenden. Bald darauf hatte sie eine gute Beziehung zu einem Mann angeknüpft. Etwa ein Jahr später waren sie verheiratet.

 

Einstellungen

 

Die Verhaltensänderungen vom Typ »als ob«, die Sally zu Beginn ihrer Gruppensitzungen hatte, führten sie zu wichtigen emotionalen Einblicken, die sie erforschte und in der Gruppe übte. Sie brachte es fertig, das, was sie dabei lernte, auf ihr Leben außerhalb der Gruppe anzuwenden. Doch bei vielen anderen Gruppen­mitgliedern habe ich beobachtet, daß sie ein ebenso tiefes Stadium emotionalen Bewußtseins erreichten wie Sally, dann aber schwankten, zu alten Verhaltensmustern zurückkehrten und wieder Opfer der entstellten »historischen« Gefühle wurden, die in der Gruppe bereits behandelt worden waren. 

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Dabei wurde mir klar, daß auch dem dritten Teil des »dreiseitigen Menschen« — den Einstellungen — entgegengetreten werden mußte. Es genügte nicht, mit dem Verhalten zu ringen, in die falsch programmierten Gefühle hinabzutauchen und zu lernen, reale, gesunde Gefühle auszudrücken. Es war für viele zu einfach, eine gewisse Ebene des emotionalen Bewußtseins zu erreichen. Woche um Woche in den Gruppensitzungen zu erscheinen, um Gefühle auszudrücken, aber keinerlei Fortschritt im täglichen Leben zu machen. Es war kaum mehr als emotionale Onanie. Wir mußten weiterforschen, wenn wir erfahren wollten, welche schlecht angepaßten Einstellungen sie an wirklichen Fortschritten hinderten.

Bernard ist ein gutes Beispiel. Er war Lehrer an einer höheren Schule, Jude und hatte zwei Kinder. Bernard kam mit starken Selbstmordwünschen in die Gruppen. Es war ihm seit Monaten nicht mehr gelungen, eine Erektion zu haben, und er war deshalb überzeugt, homosexuell zu sein. Als Heranwachsender hatte er ein einziges homosexuelles Erlebnis gehabt, aber nie wieder daran gedacht, bis seine sexuellen Leistungen in der Ehe nachließen. Er befand sich in einem hysterischen, verzweifelten Zustand, als er m der Gruppe erschien. Es gelang uns, ihm sehr bald dabei zu helfen, daß er zu seinen Gefühlen vorstieß. Er lernte schnell, seinem Schmerz und seiner Furcht Ausdruck zu verleihen. Aus dem Interesse und Verständnis der Gruppe gewann er sofort erhebliche Kraft. Nach wenigen Wochen bekam er sogar einen Wutanfall auf einen Mann in der Gruppe, der ihn mit dem Vorwurf, er sei ein »Pantoffelheld«, geärgert hatte.

Bernard explodierte an jenem Tag tatsächlich, als er sich durch einen Stau »historischen« Zorns gegen seinen Vater und Bruder durchzuarbeiten begann, die ihn sein ganzes Leben lang verhöhnt und herabgesetzt hatten. Er freute sich so sehr über seinen Zorn, daß er, wenn es ihm irgend gelang, in jeder Gruppenstunde daran üben wollte. Zu Hause bekam er gelegentlich eine Erektion, obwohl sein Geschlechtsleben immer noch nicht gut war. Wir wußten, daß er Schwierigkeiten hatte, seine Bedürfnisse seiner Frau gegenüber durchzusetzen, und wir ermunterten ihn, seine neu entdeckten Gefühle, wenn sie berechtigt waren, zu Hause anzuwenden. Wenn seine Frau ihn zornig machte, sollte er den Zorn zeigen. Wenn er das Bedürfnis nach Liebe fühlte, sollte er das Bedürfnis zeigen.

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Bernard berichtete jede Woche, wie er seiner Frau gegenübergetreten war und ihr seinen Zorn gezeigt hatte, wenn sie ihn geärgert oder versucht hatte, ihn zu beherrschen. Dann sprang er auf und machte in der Gruppe eine Zornübung. Das Gefühl war echt. Bernard war so zornig, wie man es nur sein konnte. Er fühlte sich zu diesem Zorn berechtigt. Doch irgend etwas fehlte. Eines Tages bat ich ihn schließlich, der Gruppe zu berichten, was seit der letzten Gruppensitzung zu Hause geschehen sei.

»Es war eine recht gute Woche«, sagte er. »Ich hatte einige Schwierigkeiten mit dem Sex, aber wegen des Wochenendes habe ich Joanie gründlich die Meinung gesagt.«
»Was ist passiert?«
»Sie wollte in die Catskill-Berge fahren, und ich wollte mit den Kindern an den Strand. Ich habe sie richtig angebrüllt.«
»Wohin seid ihr gefahren?«
Eine Pause. »In die Catskill-Berge ... Aber ich habe ihr deutlich zu verstehen gegeben, daß mir das nicht paßte.« Die Gruppe brach in Gelächter aus.
Ich hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Passiert so etwas häufig, Bernard?«
»Was meinst du? Ach so, ja. Ich werde sehr oft ärgerlich auf sie.«
»Ich meine, tut sie immer das, was sie will, statt das, was du willst? Auch dann, wenn du wütend auf sie wirst?«
Bernard schluckte und sah sich nervös im Raum um. »Ja. Ich glaube schon. So habe ich das noch gar nicht gesehen.«

Bernards Einstellung zum Zorn hatte sich überhaupt nicht geändert. Er hatte geglaubt, Zorn wirklich zu fühlen und zu lernen, ihn seiner Frau gegenüber zu äußern, sei genug. Er sah nicht, daß Zorn die Chance verbessern soll, das zu erreichen, was man will. Nur das Gefühl auszudrücken bedeutet wenig, wenn Bernard die Realität seiner Situation niemals verändern konnte. Seine Frau setzte weiter ständig ihren Willen durch.

Bernard hatte noch eine weitere Last mit sich herumzuschleppen. Das wurde deutlich, als er, wie wir gefordert hatten, seine Frau in die Gruppensitzungen mitbrachte. Seiner Ansicht nach trug er an all ihren Problemen die Schuld. Er bekam keine Erektion, deshalb war ihr Sexualleben tot. Vor Jahren hatte er sich homosexuell verhalten, also saß seine Frau jetzt mit einem Menschen da, der kein richtiger Mann war. Nach Bernards Beschreibung war Joanie eine liebevolle Frau, ein wenig herrschsüchtig (aber »das sind ja alle Ehefrauen«), eine gute Mutter und tüchtige Hausfrau, die mit einem Versager als Ehemann dasaß. Kein Wunder, daß sie alles regelte: Er war eben untüchtig und brachte nicht mal einen »Ständer« fertig. Er war zwar froh, daß er jetzt wenigstens darauf zornig werden konnte, wie sie alles anordnete, aber es war eben tatsächlich so, daß »sie alles besser machte«.

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Als Joanie dann in die Gruppe kam, sahen wir sofort, wie verzerrt seine Einstellungen waren. Sie war eine verkniffene, mürrische Person, die sich als Frau offensichtlich selber schrecklich fühlte. Sie pflegte mit schrillen Beschuldigungen gegen Bernard loszulegen, sich dann zurückzulehnen und zuzusehen, wie er am Haken baumelte und versuchte, sie zufriedenzustellen und sich gleichzeitig auch noch zu verteidigen.

Kein Wunder, daß er keine Erektion zustande brachte! Joanie war der Inbegriff einer kastrierenden Schwanzfopperin. (Um ihr gegenüber gerecht zu sein: Mit Bernards Hilflosigkeit und seinem Mangel an Selbstbewußtsein fertig zu werden war wirklich schwer.)

Es brauchte mehrere Wochen gemeinsamer und getrennter Gruppensitzungen, bis sie anfingen, die Symbiose zu zerbrechen, die ihre Ehe zerrüttet hatte. Doch als Bernard erst einmal erkannte, daß gesunder Zorn ein Weg war, sich durchzusetzen und wenigstens hin und wieder das zu erreichen, was er wollte, begann er, seine Wünsche auf gesündere Weise geltend zu machen. Joanie erschrak erheblich über diesen Wandel. Als sie merkte, daß ihre alten Tricks, ihn verächtlich zu machen und zu beherrschen, nicht mehr funktionierten, zog sie sich zurück und schmollte eine Weile.

Dann begann sie in der Gruppe an ihrer Furcht zu arbeiten. Und sie stellte gesunde Forderungen an ihren Mann. Sie wollte wirklich, daß er ihr entgegentrat und die Verantwortung übernahm; wenn er das nicht tat, konnte sie ihn nicht achten. Sie kommen noch zu den Gruppensitzungen, doch ihr Verhältnis ist sehr viel besser geworden. Statt sich wie früher in endlosen Tiraden zu ergehen oder mit Duldermiene zu kapitulieren, sind jetzt beide fähig, auf gesunde Art zornig zu werden. Jeder von ihnen kann seine Bedürfnisse zeigen. Ihr Geschlechtsleben ist unvergleichlich viel besser. Sie haben mehr Freude miteinander und mit ihren Kindern.

Bernard hatte die falsch programmierte Einstellung, daß Zorn nie gut tun könne. Selbst als er lernte, seinem Zorn Ausdruck zu verleihen, hielt ihn seine Einstellung davor zurück, etwas damit zu erreichen. Er mußte sich mit allen drei Seiten des »dreiseitigen Menschen« beschäftigen, um innerlich zu wachsen: Er mußte sich wie ein selbstbewußter Mann verhalten (wenn er sich auch häufig nicht so fühlte). Er mußte seine Furcht und sein Bedürfnis nach Liebe erleben und lernen, seine gesunden Gefühle auszudrücken. Er mußte schlecht angepaßte Einstellungen bekämpfen, die ihn daran hinderten, ein emotional gesunder, erwachsener Mann zu werden.

Solche Einstellungen sind in unserer Gesellschaft zahlreich und oft schwer zu erkennen.

 

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Die Dynamik des dreiseitigen Menschen

 

Die Wechselwirkung von Verhalten, Gefühlen und Einstellungen muß bei jedem Mitglied meiner Gruppen intakt sein, wenn es ein emotional gesundes Leben führen will. Da war beispielsweise Louie, ein schöner Mann voller Zartgefühl und Empfindsamkeit, der zwangshomosexuell war, als er zu den Gruppen erschien. Wir verlangten von Louie, daß er aufhöre, Streifzüge durch Herren­toiletten zu unternehmen, und statt dessen anfange, Verabredungen mit Mädchen zu treffen. Das tat er, und bald lag er in den Gruppen auf der Matte und schrie sein Bedürfnis nach Liebe heraus. Schließlich begann er, mit einem Mädchen zusammen­zuleben. Später heirateten sie.

Obwohl Louie die meisten seiner Probleme verarbeitet hat, besitzt er doch noch eine schlecht angepaßte Einstellung, mit der er ständig zu ringen hat. Louie war darauf programmiert worden zu glauben, daß Freude unausweichlich Schmerz bringe. Jedesmal, wenn er einen besonders schönen Abend mit seinem Mädchen oder mit Bekannten verbracht hatte, jedesmal, wenn der Geschlechtsverkehr gut war oder er bei der Arbeit gelobt wurde, verspürte er starke Angst. Er mußte jedesmal darum ringen einzusehen, daß die unangenehmen Gefühle aus einer schlecht angepaßten Einstellung stammten. Er mußte sie außer acht lassen und sich auf andere, gute Gefühle konzentrieren.

Clara machte gute Fortschritte, sobald sie nicht mehr trank und dadurch zu ihren tieferen Gefühlen vorstieß. Ihre »historischen« Gefühle waren zutage getreten, und durch neue Gruppenübungen lernte sie, ihr Bewußtsein, eine attraktive erwachsene Frau zu sein, geltend zu machen. Sie trank nur noch selten einmal, und dann lediglich aus gesellschaftlichen Gründen. Das ging gut, wenn sie mit einem Freund ausging, doch wenn sie zu einer Party ging, fühlte sie sich sehr unbehaglich. An einem Wochenende fiel sie in ihr altes Symptom zurück. Sie ging am Freitagabend zu einer Party, kam sich neben all den schicken Frauen dort völlig unbedeutend vor, fühlte sich deshalb miserabel, betrank sich am Samstag und landete mit einem jungen Mann, den sie in einer Kneipe aufgelesen hatte, im Bett. Als er sie am Montag nicht, wie er versprochen hatte, anrief, ging sie in seine Wohnung. Sie sah, wie er ein anderes Mädchen in ein Taxi setzte, wartete einige Minuten und klingelte dann bei ihm. Er bat sie herein. Sie tranken ein paar Gläser und gingen ins Bett. Im Bett tat sie alles, was er sich wünschte, empfand selbst jedoch keine Befriedigung.

Auch danach rief er sie nicht an. In der Gruppensitzung am Freitag fühlte sich Clara erbärmlich. Sie wurde in einer Gruppen­übung sehr zornig, doch es wirkte nicht überzeugend. Die Signale waren gemischt.

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Als sie uns erzählte, wie minderwertig sie sich auf der Party gefühlt habe, ehe sie mit dem »Ausagieren« begann, brachten wir sie dazu, ihre Furcht zu äußern und dann zu behaupten, daß sie eine schöne Frau sei. Trotzdem war noch etwas nicht in Ordnung. Sie hatte nicht das saubere, frohe Ich-Gefühl, das ich bislang nach Gruppenübungen bei ihr gesehen hatte.

Wir redeten noch eine Weile, und sie beschrieb, wie elegant alle Frauen auf der Party gewesen seien. Clara sagte, sie sei hineingegangen und habe dabei das Gefühl geübt: »Ich bin eine Frau, und ich bin schön.« Doch als sie sich umsah, habe sie sofort »gewußt«, daß sie keine Chance habe. Als wir weitersondierten, zeigte es sich, daß Clara unbewußt die feste Einstellung hatte, alle Frauen seien hübscher als sie. (Das entsprach ganz gewiß nicht der Wirklichkeit!) Mit anderen Worten, sie war bereits besiegt, bevor sie zu kämpfen begonnen hatte. Diese Einstellung hinderte sie daran, so attraktiv auszusehen, wie sie war. Statt die Signale einer entspannten Frau auszusenden, die sich ihrer Weiblichkeit sicher fühlte, wirkte sie in Gesellschaft mit Männern, wenn andere Frauen dabei waren, verkrampft und teilnahmslos.

Es war für Clara entscheidend wichtig, an diese defätistische Einstellung zu denken, wenn sie in der Gruppe ihre Gefühle einübte: »Ich bin eine Frau. Ich habe einen Anspruch auf Liebe. Ich bin liebenswert.« Solange die schlecht angepaßte Einstellung und die damit zusammenhängenden Gefühle nicht durch gesunde ersetzt sind, wird Clara darum kämpfen müssen, sich an ihren guten Gefühlen festzuklammern. Doch diese Aufgabe wird mit der Erfahrung leichter.

James war ein starrer, emotional verschlossener, charaktergestörter Mensch, den ein Gruppenmitglied — recht kreativ — beschuldigte, »angezogen in die Badewanne zu steigen«. James erschien in der Gruppe, weil er sich unglücklich fühlte, ohne zu wissen, weshalb. Seine Mutter war ins Irrenhaus gekommen, als er noch ein Kind war, und er erinnerte sich keiner Gefühle für sie. Sein Vater zog ihn auf und indoktrinierte ihn gründlich mit der Idee, daß alle Frauen minderwertig seien. Die Gruppen halfen James verhaltensmäßig damit, daß sie immer wieder forderten, er müsse lockerer werden, versuchen, Freude an Gesellschaften zu finden, und neue Tätigkeiten, etwa das Fotografieren, auszuprobieren (damit er einem Klub beitreten konnte). Doch es gelang ihm immer noch nicht, eine innere Bindung mit einer Frau einzugehen. Sein sexuelles Leben war in Ordnung, sein Liebesleben abscheulich. Er lebte eine Weile mit einem Mädchen, dann warf er sie hinaus, weil sie dies oder das nicht richtig machte — aufräumen, kochen, sich unterhalten oder sonst etwas. Die Gruppen machten ihn für all seine Gefühle ein bißchen offener. Trotzdem hatte er weiter Schwierigkeiten mit Frauen. 

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Erst als er seiner Einstellung, daß Frauen minderwertig seien, die Stirn bot, begann er seine Anforderungen herunter­zuschrauben und fand schließlich Gefallen an seinen Beziehungen. Hinter seiner schlecht angepaßten Einstellung zu Frauen verbarg sich natürlich ein besonders starkes Bedürfnis nach der Liebe einer Frau. James fürchtete außerdem, daß er, falls er eine »minderwertige« Frau akzeptierte, von seinem Vater, dem einzigen Menschen, den er respektierte, als minderwertig betrachtet würde. Jetzt sieht es so aus, als ob James jemanden gefunden hätte, der seine Bedürfnisse erfüllt. Doch noch wichtiger, er erlaubt dieser Frau, sie zu erfüllen. Jedesmal, wenn er versucht ist, sie zu kritisieren, bemüht er sich, zuerst seine Reaktion zu überprüfen, ehe er sie äußert. Meist ist sie verzerrt und steht mit der bitteren Einstellung seines Vaters im Zusammenhang.

Sol und Miriam sind ein Ehepaar Anfang der Fünfziger. Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, sie ist Malerin. Sie haben eine erwachsene Tochter, die nicht zu Hause lebt. Sowohl Sol als auch Miriam sind gebildete Menschen, die gut in der Lage sind, sich auszudrücken. Sol befand sich seit Jahren in psychoanalytischer Behandlung, doch als sie merkten, daß ihre Ehe in Gefahr war, erschienen sie beide in den Gruppen. Sol war ein Schwätzer, der ohne jede Gemütsbewegung redete und redete, aber nur über Fakten und irgendwelche Geschehnisse. Miriam stand zwar in einiger Verbindung mit ihren Gefühlen, zog sich jedoch gewöhnlich zurück, wenn er sie kritisierte. Ihr Geschlechtsleben war äußerst dürftig, und beide hatten Sex miteinander oder auch sonst vor ihrer Hochzeit nie wirklich genossen. Dennoch standen sie sich äußerst nahe und waren ganz aufeinander angewiesen. Ihre Ehe war ein ausgezeichneter Vertrag nach dem Motto: »Mach keine Wellen!« (Reg du dich nicht auf, dann reg' ich mich auch nicht auf.)

Sols Symptom war das beängstigende unaufhörliche Geschwätz. Das Miriams war die Art, wie sie sich hinter einem liebens­würdigen, aber unverbindlichen Lächeln isolierte. Sie hörte sich alles an, was er zu sagen hatte, stimmte ihm zu, lobte ihn — und malte dann fieberhaft, während er bei der Arbeit war. In Wirklichkeit langweilten sie sich.

Sols Symptom behandelten wir so, daß wir ihm jedesmal das Wort abschnitten, wenn er weitschweifig ausholte. Schon bald wurde er sehr zornig auf die Gruppe und arbeitete sich zu heftigen Gefühlen durch, die den Kern seiner Probleme bildeten und sich etwa um die Formel drehten: »Ich pfeife auf dich, Mutter!« Miriam arbeitete an Zorn und Bedürfnissen. Unsere Aufgabe für die beiden lautete, mindestens zweimal die Woche Geschlechtsverkehr zu haben und die Gefühle, die dabei auftauchten, sofort zu äußern, statt nach dem alten Vertrag zu leben und »keine Wellen zu machen«.

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Ich werde die überschäumende Freude der beiden nicht vergessen, als sie eines Tages in die Gruppe kamen und verkündeten, sie hätten eine phantastische Zeit im Bett miteinander verlebt. Der Sex war für beide großartig gewesen. Danach hielten sie sich im Arm und weinten offen. In der Gruppe war ihre Freude wie die zweier glücklicher Kinder, die gemeinsam umhertollen. Sol sprühte vor Geist. Miriam tanzte herum, kicherte und schlug sogar die Hacken in der Luft zusammen — in völligem Gegensatz zu ihrer sonstigen gemessenen und zurückhaltenden Art. Es war für alle eine große Freude.

In der folgenden Woche kam ich in die Gruppe und sah Miriam allein in einer Ecke. Sol saß durch den ganzen Raum von ihr getrennt, hatte die Hände auf die Knie gelegt und starrte finster vor sich hin. Alle guten Gefühle waren dahin. Einige Abende vorher hatten sie sich zum Schlafengehen bereit gemacht mit der Absicht, Geschlechtsverkehr miteinander zu haben. Dabei war Sol bei hochgezogenem Rouleau nackt zum Fenster gegangen. Miriam war überzeugt, daß Sol vor den Nachbarn angeben wollte. Sie wurde wütend, und alle sexuellen Gefühle vergingen ihr. Als wir die Geschichte untersuchten, zeigte sich, daß beide mit schlecht angepaßten sexuellen Einstellungen zu kämpfen hatten. Miriams Reaktion auf Sol stammte aus der alten Überzeugung, daß Sex etwas Schmutziges sei. Sein »Exhibitionismus«, wie sie es nannte, beschwor diese Ansicht wieder herauf. Sol wiederum benahm sich ein bißchen wie ein ungezogener Junge, der mit seinem Penis angibt. Es war eine Trotztat angesichts unbehaglicher Gefühle, die er dem Sexuellen gegenüber hatte — Gefühle, die aus seiner falsch programmierten Einstellung stammten, daß Freude beim Sex nicht gestattet sei.

 

Wenn Sol und Miriam auch in der Lage waren, ihre Probleme schließlich durchzuarbeiten und zu lösen, möchte ich doch sorgfältig den Eindruck vermeiden, daß das Casriel-Institut jedem, der an ein paar Gruppensitzungen — oder auch an vielen — teilnahm, eine erfolgreiche Therapie geboten hätte. Um wirklich effektiv zu sein, erfordert der Prozeß eine kontinuierliche Behandlung über eine Zeitspanne, die für jeden einzelnen verschieden ist. Viele gestörte Individuen, die sich tief hinter einer Symptomgruppe und einem System von Abwehrmechanismen verschanzt haben, sind von dem Prozeß unmittelbar gefährdet — sie verlassen die Gruppen. Andere werden von der Emotionalität der Gruppen erregt oder intellektuell gefesselt und bleiben, bis ihre Symptome zum absoluten Kernproblem werden. Dann gehen sie. In keinem dieser Fälle erweist sich der Prozeß als wirklich therapeutisch.

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Beispielsweise verließ Nora, eine Lesbierin, die Gruppe, als ihr Symptom zum eigentlichen Problem wurde. Nora, eine sehr intelligente Frau, die von Zeit zu Zeit im Showbusiness arbeitete, kam in die Gruppe, weil sie sich einsam fühlte (ihre Geliebte war mit einer bekannten Sängerin durchgegangen). Nora war in ihrem schwierigen Beruf kommerziell ohne Erfolg geblieben und überdies emotional von allen Menschen isoliert. Sie hatte gelernt, hinter einer Fassade stolzer Selbstgenügsamkeit zu existieren. Obwohl sie eine gute Gesellschafterin war, verkündeten ihre Signale und ihr Verhalten der Welt in Wirklichkeit doch: »Komm mir nicht nahe! Hilf mir nicht! Ich kann allein fertig werden.«

In einer Marathonsitzung erlebte Nora einen emotionalen Durchbruch, der ihr half, einige ihrer Abwehr­mechanis­men abzulegen und ihre verletzbaren Bedürfnisse zu enthüllen. In den Gruppenstunden nach dieser Marathonsitzung forderten die Mitglieder Nora auf, sich mit einem Mann zu verabreden und mit ihm zu schlafen. (Den aktiven lesbischen Umgang hatte sie bereits aufgegeben, als sie in die Gruppe eintrat.)

Nora traf tatsächlich eine Verabredung, stellte jedoch fest, daß sie äußerst ängstlich wurde, als sie mit dem Mann allein war. Sie wollte nicht einmal Küsse und Liebkosungen mit ihm austauschen, wie sie der Gruppe erzählte. Die Gruppe bestand auf ihrer Forderung. »Tu, als ob!« erklärten die Gruppenmitglieder und verlangten von ihr, wenigstens mit Küssen und Berührungen anzufangen. Der Grund, weshalb die Gruppe auf Noras Symptom, die Homosexualität, solchen Druck ausübte, war, daß sie auf Noras Gefühle reagierte. Ganz offenbar fühlte sich Nora als Lesbierin nicht wohl. 

(Ich habe Homosexuelle kennengelernt, die eine emotional erwachsene Anpassung an ihr Symptom erlangt haben. Wenn ihr sexuelles Verlangen nicht zu ändern ist und sie mit ihrem Leben zufrieden und lebenstüchtig sind, besteht nicht die Notwendigkeit, auf eine Änderung zu dringen. Doch in Noras Fall — wie in dem der meisten Homosexuellen, die zu mir kommen — sind die fundamentale Unzufriedenheit mit ihrem Leben und das Unglücklichsein hinter ihrem Symptom nicht zu übersehen.) 

Nora spielte in der Öffentlichkeit, wenn Männer anwesend waren, die Rolle der Verführerin. Sie wollte nicht, daß ihre Berufskollegen auf den Gedanken kamen, sie sei lesbisch. Doch dem schmerzlichen Konflikt zwischen ihrem öffentlichen und ihrem privaten Leben wollte sie nicht ins Auge sehen.

Nach mehrwöchigem Druck seitens der Gruppe erschien Nora zu mehreren aufeinanderfolgenden Sitzungen nicht. Dann traf ein kurzer Brief in meinem Büro ein, in dem es hieß, daß sie »die Gruppe aufgebe«. Später erfuhren wir durch Bekannte Noras, die in meiner Praxis waren, daß sie zum aktiven Lesbiertum zurückgekehrt sei. Wir waren nicht überrascht. 

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Es war uns ziemlich klar gewesen, daß Nora zu der ihr vertrauten Rolle als stolze unnahbare Schönheit — ohne Freunde — zurückkehren und wieder in völlige (und bedrückende) Abhängigkeit von einer einzigen Frau, ihrer angebeteten Liebhaberin, Gefährtin und Vertrauten, geraten würde. Es war ein Leben, das Nora unvermeidlich wieder dahin führen mußte, sich emotional zu verschließen.

Einige Wochen später traf ich Nora zufällig, und wir unterhielten uns einige Minuten. Ich sagte, wir hätten den Eindruck, sie enttäuscht zu haben, und ich hoffte, daß sie wieder zu den Gruppenstunden kommen werde. Sie lehnte ab.

Ihrer Ansicht nach sei der Prozeß zu anspruchsvoll und verlange eine Leistung, die sie für unrealistisch und unnütz halte. »Alle fordern, daß man seine Gefühle zeigt, damit sie ihre Angst loswerden«, sagte sie. »Und es gibt zuviel Zorn. Diese Leute wissen gar nicht, wie ich mich fühle. Sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, mich dazu zu bringen, daß ich tue, was sie wünschen.«

Die Leistung war ein besonderes Problem für Nora gewesen, und ich verstehe ihre Reaktion. Sie hatte äußerst anspruchsvolle Eltern, und es schien ihr, als ob ihr ganzes Leben nichts als Leistung für andere gewesen wäre. Wenn sie nicht irgend etwas leistete (oder darstellte), hatte sie kein wirkliches Bewußtsein dafür, wer sie sei. (Wie es für viele Schauspieler und Unterhalter in meinen Gruppen typisch ist, hatte Nora einen Beruf gewählt, der ihren Identitätsmangel noch verstärkte. Auf der Bühne fühlte sie sich noch am ehesten sie selbst. Dennoch war der Beifall der Zuschauer niemals stark genug, weil sie sonst keine Identität besaß.)

Aber Nora war auf ein ständiges Problem des gruppentherapeutischen Prozesses gestoßen. Man muß Regeln befolgen und Fähigkeiten entwickeln, wenn man Gefühle zeigen will. Der Druck der Gruppe, »die Regeln zu befolgen«, kann stark werden — und nimmt manchmal keine Rücksicht auf die unmittelbaren Emotionen des Betreffenden. Gewöhnlich kann der Leiter oder ein erfahrenes Gruppenmitglied einen solchen Gruppenangriff verhindern, bei dem alle Mitglieder einen einzelnen mehr deshalb attackieren, um die eigene Angst oder Frustration zu erleichtern, als ihm zu helfen.

Ich erinnere mich an eine Frau, eine Alkoholikerin, die für kurze Zeit rückfällig geworden war und sich mürrisch gegen die Gruppe verteidigte. Alle schrien sie an, und die Frau zog sich immer mehr in sich selbst zurück. Plötzlich faßte der Mann neben ihr nach ihrer Hand und sagte zu der Gruppe: »Hört auf! Ich glaube, sie ist ein guter Mensch.« Bei der unerwarteten Freundlichkeit und Besorgnis brach sie in Tränen aus, und damit begann ihr emotionales Offensein. Diese eine Geste brachte sie dazu, ihre Abwehr aufzugeben und einem anderen Menschen wenigstens so lange Vertrauen zu schenken, bis der Prozeß sie erreichen konnte.

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Bei Nora gelang es uns nicht, dieses Vertrauen zu anderen so weit aufzubauen, daß sie anfangen konnte, ihren eigenen Gefühlen und ihrem Wert zu trauen. Das gleiche galt für Paula, die vielleicht noch typischer für meine Gruppenmitglieder war, weil sie kein sichtbares asoziales Symptom aufwies. Paula kam zu uns, weil eine Bekannte, die bereits an den Gruppen teilnahm, sie dazu drängte. Paula, Personal­vermittlerin von etwa dreißig Jahren, war intelligent, attraktiv und arbeitete hart. Als Teenager hatte sie eine unverant­wortliche Zeit mitgemacht — Haschpartys, schlechte Leistungen im College, zahlreiche Sexaffären, ein paar Abtreibungen und später vorzeitiger Abgang aus dem College und Abstieg aus der bürgerlichen Welt ihrer Mutter. Doch in den Zwanzigern war Paula mit Hilfe einer direktiven Therapie eine solide Bürgerin geworden — sie kehrte zum College zurück, machte Examen, kam als Junggesellin nach New York und nahm einen Posten in einer Stellen­vermittlungs­agentur an.

Paulas Hauptschwierigkeit war, daß sie nicht wußte, wie sie zu anderen Menschen Beziehungen aufnehmen sollte. Sie war ein bißchen wie ein verwundeter Vogel, zerbrechlich, ohne Vertrauen zu sich selber und deshalb auch ohne Vertrauen zu anderen. Seltsamerweise schien es ihr immer zu gelingen, neue Menschen kennenzulernen und ihnen näherzukommen — vor allem Männern. Doch kurze Zeit darauf führte jede Beziehung, ob es eine Liebesbeziehung oder eine Freundschaft war, zu Streitigkeiten und Meinungs­verschieden­heiten — und schließlich zur Trennung. Paula richtete sich im Endstadium jeder ihrer Beziehungen nach ganz festen Einstellungen, die sich auf »man soll« und »man darf« stützten. Damit tarnte sie ihre schmerzhaften, tiefen Bedürfnisse: »Männer sollten, wenn sie eine Verabredung mit einem haben, nicht über andere Mädchen reden.« Übersetzt: »Ich brauche einen Mann, der mich liebt.« — »Freunde sollten einen nicht kritisieren.« Übersetzt: »Bitte lieb mich so, wie ich bin.«

Selbst in ihrem Beruf herrschte dieses Schema vor. Paula baute rasch eine Beziehung zu einer Arbeitskollegin auf. Doch schon nach wenigen Wochen erwies sich die Beziehung als zu anspruchsvoll und schwierig, und die Frauen zogen sich voneinander zurück. Darauf folgte eine Zeit des Schweigens, wenn die Frauen einander auf den Korridoren begegneten.

Wie kam es zu einem solchen Verhaltensmuster? Es erwuchs aus der Tatsache, daß Paula eine charakter­gestörte Persönlichkeit mit großen emotionalen Bedürfnissen war. In ihrer emotionalen Entwicklung befand sie sich irgendwo zwischen dem Kinder- und dem Heran­wachsenden­stadium. Sie konnte emotional verführerisch sein, wenn es um ihre Bedürfnisse ging; wenn sie jedoch nicht erfüllt wurden, reagierte sie verletzt und wütend. 

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Dennoch war sie nicht bereit, ihre Bedürfnisse wenigstens so lange zurückzustellen, daß die Beziehung aufrechterhalten werden konnte, wenn sich Probleme entwickelten. Sie zog sich aus einer Beziehung zurück, wenn auch nur ein geringes Problem auftauchte. Und Probleme mußten sich mit absoluter Gewißheit aus den Bedürfnissen entwickeln, die Paula verborgen hielt, weil sie sie nicht freimütig äußerte.

Paula brauchte Liebe, verbarg dieses Bedürfnis jedoch. Sie brauchte Lob, bat aber niemals darum. Sie drängte den Schmerz zurück, den sie anderen hätte zeigen müssen, und verbarg Furcht und Zorn hinter einem Schleier angepaßten Verhaltens. Schlimmer noch, Paula erwies ihren Freundinnen oder ihrem Liebhaber ständig Gefälligkeiten. Wenn sie das tat, erwartete sie, daß ihr aufgrund irgendeines Geheimvertrags ebenfalls Gefälligkeiten erwiesen würden. Doch das geschah nur selten. Infolgedessen ärgerte sich Paula über das, was sie für ihre Freundin, ihren Liebhaber oder ihre Kollegin getan hatte.

Auf diese Weise nahm Paulas Leben ein destruktives Zirkelmuster an. Sie ging von einem Liebhaber zum anderen. Sie verließ eine Stellung, weil »der Chef sie nicht mochte«, und nahm einen neuen Posten an, der ihrer Intelligenz und ihren Fähigkeiten ebenfalls nicht entsprach. Sie zog von einem Zimmer ins andere, mußte ständig neue Zimmergenossinnen finden, weil sie sich allein ein Zimmer nicht leisten konnte, denn alle Stellungen, die sie annahm, waren schlecht bezahlt. Aber es war »zu schwierig und dauerte zu lange«, ihre Position dadurch zu verbessern, daß sie weiterstudierte oder sich weiterbildete, um eine bessere Stellung zu finden. Sie sagte, sie wolle heiraten, doch sie verschloß die Augen vor dem, was an ihren Beziehungen mit Männern nicht in Ordnung war: daß sie mit ihren verheimlichten Bedürfnissen die Männer vertrieb.

Paula verschwand schließlich aus den Gruppen. Sie hatte ein wenig gelernt, wie man in der Gruppe zornig wird oder sein Bedürfnis nach Liebe zum Ausdruck bringt, doch sie vermochte das Gelernte nicht auf ihr Leben außerhalb der Gruppen anzuwenden. Sie lernte es nie, der Gruppe genügend Vertrauen zu schenken, daß sie ihren tiefen Schmerz hätte enthüllen können. Ich glaube, ein paar Wochen in einer Gemeinschaft wie AREBA, in der sie vierundzwanzig Stunden am Tag aufgehoben gewesen wäre, hätten ihr geholfen. Sie brauchte tatsächlich das ständige Zusammensein mit anderen Menschen, um zu lernen, anderen zu vertrauen und sich auf die eigene Liebenswürdigkeit zu verlassen. Sie hatte es nötig, sich in einer liebevollen Familiensituation sicher fühlen zu können — etwas, was sie in der Kindheit nicht erlebt hatte. Dieses Sicherheitsgefühl hätte sie schließlich dazu bringen können, daß sie das Risiko auf sich genommen hätte, sich mit ihren Gefühlen, ihren Einstellungen und ihrem Verhalten zu beschäftigen.

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Paula führte — unter anderem — ein bestimmtes Verhaltensmuster vor, das ich als typisch für viele meiner Patienten betrachte. Sobald sie sich mit einem Mann einließ und anfing, Freude mit ihm zu haben, gab es bald Streit, und sie brach schließlich die Beziehung ab. Diese Unfähigkeit, mit Freude fertig zu werden, finde ich in meinen Gruppen immer wieder. Sol und Miriam hatten gerade dann besondere Schwierigkeiten mit dem Sex, wenn sie sich bei einem Erlebnis im Bett ungewöhnlich nahegekommen waren. Louie muß immer noch seine schlecht angepaßte Einstellung verarbeiten, nach der Freude Schmerz bringt.

In unserer Kultur haben die Menschen das Gefühl, einen ungeheuren Preis für Freude zahlen zu müssen. Da sich jedes meiner Gruppenmitglieder durch die ineinander übergehenden Facetten des dreiseitigen Menschen durcharbeitet, kommt es mit diesem Grundproblem früher oder später in Konflikt. Manche Menschen erkennen, daß sie auf die Überzeugung programmiert sind, der Preis für die Freude (wenn die Grundbedürfnisse erfüllt sind) und für die Liebe (die Erwartung der Freude) sei den Schmerz wert. 

Diese Menschen (wie Clara), die ich zum Annehmertyp zähle, zahlen gern den Preis, ganz gleich, wie groß der Schmerz ist. Andere in meiner Gruppe (wie Charlie) finden, daß sie auf die Überzeugung programmiert sind, der Preis für die Freude und die Liebe sei zu groß. Er fordert zuviel Schmerz. Sie verlassen sich deshalb lieber darauf, ihre Bedürfnisse selbst zu erfüllen. Das ist der Ablehnertyp.

Annehmer und Ablehner, die ich im nächsten Kapitel eingehend behandle, sind die beiden hauptsächlichen Persönlichkeitstypen in meinen Gruppen. In der Dynamik des dreiseitigen Menschen lernen beide, nach dem gemeinsamen Ziel zu streben, wie sie mit Schmerz und Freude auf neue, gesunde Weise umgehen können.

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