11. Annehmer und Ablehner
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Das Konzept des dreiseitigen Menschen soll vor allem erklären, wie unsere Gruppendynamik wirkt. Wir beschäftigen uns gleichzeitig mit Verhalten, Gefühlen und Einstellungen. Um die Aufmerksamkeit mehr auf die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit selbst — und nicht auf die Dynamik der Gruppen — zu lenken, habe ich ein zweites dreiteiliges Schema des Menschen entworfen:
An der Oberfläche befindet sich die symptomatische Ebene. Dazu gehört, wie sich der einzelne verhält. Welches sind die Symptome, die er zur Schau stellt? Worin besteht, falls es sich um eine charaktergestörte Persönlichkeit handelt, das Wesen ihrer sekundären Verkapselung? Welche psychologischen Tricks ersetzen, falls es sich um einen Neurotiker handelt, seine Angstreaktionen? Welche gesunden Verhaltensweisen legt der Betreffende an den Tag?
Unter der symptomatischen Ebene liegt die dynamische Ebene. Bei dieser geht es darum, wie der Betreffende emotional auf sich selbst und die anderen reagiert. Welche Gefühle sind entstellt, welche sind gesund ? Welche Art emotionaler Abwehr benutzt er? Die »Flucht«- oder »Kampf«-Reaktionen des Neurotikers auf Gefahr sind schmerzhaft verzerrt. Er unterdrückt den größten Teil seiner überlebensorientierten Gefühle, doch sie tauchen entstellt und angstverzerrt wieder auf. Eine charaktergestörte Persönlichkeit verdrängt die meisten Gefühle und benutzt den Mechanismus des »Einfrierens«, um sich wirksam von jedem bewußten Kontakt mit ihren wirklichen Gefühlen abzuschneiden.
An der Basis der Persönlichkeit liegt die Identitätsebene. Hier finden wir die tiefsten Einstellungen des Individuums zu sich selbst und der Welt. Wie sieht der Betreffende sich selbst? Was erwartet er?
Zwischen diesen drei Ebenen der Persönlichkeit herrschen ständige Wechselwirkungen. Eine signifikante Veränderung bei der einen kann Veränderungen in einer der übrigen oder in beiden hervorrufen.
Am entscheidendsten für die Gesamtpersönlichkeit ist die Identitätsebene. Sie wird schon früh im Leben klar definiert und bestimmt zu einem großen Teil, wie die dynamische und die symptomatische Ebene funktionieren. Sie beeinflußt tief das Wesen signifikanter Beziehungen mit anderen Menschen. Und — wie die Einstellungen — ist die Identitätsebene am schwersten zu erreichen und zu verändern. Doch solange bei einem emotional gestörten Patienten diese Ebene nicht erreicht und verändert worden ist, ist der Weg zur emotionalen Gesundheit noch nicht bis zum Ende zurückgelegt. Alle unsere Regeln und Übungen zielen letztlich auf die Identitätsebene. Wenn die Dynamik erfolgreich ist, können wir eine signifikante Veränderung in der Identität bemerken. Deshalb nenne ich meine gruppentherapeutische Dynamik »Prozeß für neue Identität« (New Identity Process).
Ich erkenne auf der Identitätsebene drei grundlegende Persönlichkeitsprofile. Eines davon ist das des emotional gesunden Individuums, das ich in Kapitel 4 beschrieben habe. Die Menschen, die in meinen Gruppen Hilfe suchen, gehören zu einem der beiden anderen Charaktertypen: Annehmer oder Ablehner. (Niemand paßt genau in ein Profil. Was hier folgt, sind theoretische Beschreibungen vorherrschender Tendenzen innerhalb einer Persönlichkeit.)
Jeder Identitätstyp entwickelt sich im Sinne des ersten Prinzips der Anpassungs-Psychodynamik von Rado und Kardiner (vgl. Kapitel 8): Jedes animalische Verhalten ist motiviert von dem Streben nach Lust oder dem Vermeiden von Schmerz.
Die Identitätsentwicklung des Kindes
Von frühester Kindheit an ist die Motivation hin zur Lust und weg vom Schmerz grundlegend für die Entwicklung eines Menschen. Es beginnt schon mit den Beziehungen zwischen Eltern und Kind. Die Bedürfnisse des Säuglings sind recht einfach: Nahrung, Wärme, Körperkontakt, Schlaf, emotionale Reaktionen und so fort. Für den Säugling ist es ebenso angenehm, wenn seine Bedürfnisse befriedigt werden, wie für den Erwachsenen. Es erzeugt Schmerz, wenn sie nicht erfüllt werden. Der physisch hilflose Säugling ist für die Befriedigung seiner Bedürfnisse völlig auf die Eltern angewiesen. Er ist ihrer Bereitwilligkeit, Fähigkeit und Tüchtigkeit, seine Spannungen zu lösen, seinen Schmerz zu lindern und ihm Lust zu verschaffen, völlig ausgeliefert.
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Ein Säugling wird durch die signifikante Person oder die signifikanten Personen in seinem Leben konditioniert. Er lernt, nach vorgegebenen Verhaltensmustern zu reagieren. Das Programmieren beginnt, bevor er sprechen (denken) oder physisch für sich sorgen (handeln) kann. Seine grundlegende Reaktionsweise ist emotional. Die frühe Konditionierung eines Menschen geht zunächst emotional vor sich.
In unserer Kultur ist die früheste Dauerbeziehung eines Säuglings in den meisten Fällen die zu seiner Mutter oder Ersatzmutter. (Andere Menschen, etwa Väter, Geschwister, Onkel, Tanten, Hausgehilfinnen, Kinderfrauen, können signifikant sein oder auch nicht. Um die folgenden Beschreibungen zu vereinfachen, benutze ich die Wörter »Mutter« oder »Eltern« als Bezeichnung der signifikanten Personen.)
Alles, was geschieht, trägt zur Konditionierung eines Kindes bei: sowohl das, was Lust verursacht, wie auch das, was Schmerz bereitet. Unvermeidlich lernt das Kind, daß es sehr viel Frustration (d.h. Schmerz) gibt, wenn die Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Manchmal ist der Schmerz gering, manchmal ist er groß. Eltern sind schließlich auch nur Menschen. Sie haben ihre eigenen Bedürfnisse, und diese Bedürfnisse sind häufig entstellt. Selbst in den gesündesten Familien kommt es unvermeidlich zu Verzögerungen oder Irrtümern bei der Befriedigung der Bedürfnisse eines Säuglings. Wenn ein Kind größer wird, muß es lernen, daß manche Bedürfnisse nicht unverzüglich befriedigt werden können — wenn überhaupt. Solche Lektionen sind realistisch, aber sie können sehr schmerzhaft sein.
Sehr viele, häufig unvermeidbare Faktoren können zum Schmerz eines Kindes beitragen. Selbst einer emotional reifen Mutter wird es schwerfallen, die Bedürfnisse ihres Kindes zu befriedigen, wenn sie körperlich krank, von Armut bedrückt, von ihresgleichen isoliert oder ohne angemessenen und verantwortlichen Partner ist. Ein emotional gesunder Vater wird ernste Probleme bei der Bedürfnisbefriedigung seiner Kinder haben, wenn er sich Sorgen macht, ob er seine Stellung behält, wie er Schulden abzahlen, seinen Militärdienst im Ausland ableisten kann und so fort.
Die Bemühungen, die emotionalen und physischen Bedürfnisse eines Kindes zu befriedigen, sind anstrengend.
Abgesehen von praktischen Hindernissen ist es nicht immer einfach zu begreifen, daß das Kind andere Bedürfnisse hat als man selbst. Vor etwa vier Jahren kam ich eines Abends in meine Wohnung und griff nach Seth, meinem damals zweijährigen Sohn, um ihn in den Arm zu nehmen. Doch in diesem Augenblick war Seth mit seinem Spielzeug beschäftigt. Er kehrte mir den Rücken zu und wies meine ausgestreckten Arme zurück. Ich war durch diese Abweisung verletzt.
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Zwei Stunden später ruhte ich mich nach dem Abendessen auf der Couch aus. Seth kam angelaufen, sprang mir in die Arme und warf mein Buch auf den Fußboden. Ich ärgerte mich über die Störung und war außerdem immer noch verletzt, weil Seth vorher meine Liebe zurückgewiesen hatte. Meine erste Reaktion war: ihn auf den Fußboden zu setzen und weiterzulesen. Doch nach wenigen Sekunden inneren Ringens begriff ich, daß Seths Bedürfnisse nach einem anderen Zeitplan funktionierten als die meinen. Ich nahm Seth in den Arm, küßte ihn und balgte mich mit ihm. Ich sah einfach ein, daß Seth nicht ich war. Als ich das Bedürfnis hatte, ihn zu lieben, hatte er nicht den Wunsch, von mir geliebt zu werden. Seth war das Kind und ich der Erwachsene. Es war für mich leichter, seine Bedürfnisse zu verstehen und mich ihnen anzupassen, als es für Seth war, sich meinen anzupassen.
Eltern sollten, ohne sich tyrannisieren zu lassen, versuchen, die emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder zu erfüllen — vorausgesetzt natürlich, daß es sich machen läßt. Tyrannei zu vermeiden ist nicht leicht. Der Schlüssel dazu ist, daß man zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen des Kindes unterscheidet. Kinder haben Bedürfnisse, die sich quantitativ und zeitlich von denen eines Erwachsenen unterscheiden. Es genügt nicht, die biologischen und physischen Bedürfnisse eines Kindes zu erfüllen, also ihm Nahrung, Sauberkeit, Ruhe, Wärme zu geben und ihm die Windeln zu wechseln. Eltern müssen auch die biologisch begründeten psychischen Bedürfnisse eines Kindes befriedigen. Wenn die physischen Bedürfnisse nicht erfüllt werden, kann ein Kind sterben oder physisch verkrüppelt aufwachsen. Wenn psychische Bedürfnisse nicht befriedigt werden, kann ein Kind psychisch verkrüppelt werden.
In unserer Kultur verstoßen die Eltern aus der Ober- und Mittelschicht am häufigsten gegen diese Regeln. Sie befriedigen die physischen Bedürfnisse ihrer Kinder, verstehen und erfüllen die psychischen Bedürfnisse jedoch nicht. Viele von uns, die in Familien der Mittelschicht aufgezogen worden sind, leiden, wie ich fürchte, an emotionaler Unterernährung. Und um es noch schlimmer zu machen, hat unsere Kultur die Unterernährung verstärkt.
Bei einem großen Teil des menschlichen Wachstumsprozesses handelt es sich darum, die Unterschiede zwischen dem Ich und der übrigen Welt verstehen zu lernen. Was bin ich? Was sind die anderen? Wieviel von dem, was ich wahrnehme und fühle, stammt von mir? Wieviel geht tatsächlich dort draußen, in der objektiven Welt, vor sich?
Der größte Teil der Psychotherapie beschäftigt sich mit solchen Unterscheidungen. Mein Gruppenprozeß umfaßt auch dieses Ringen: Enthülle deine Gefühle, Reaktionen und Einstellungen und beschäftige dich so mit ihnen, daß du lernen kannst, was verzerrte Hinterlassenschaften aus deiner Vergangenheit und nicht realistische Reaktionen auf gegenwärtige Geschehnisse sind.
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Wenn du deine eigenen Gefühle, dein Verhalten und deine Einstellungen verstehst, bist du besser geeignet zu erkennen, was in anderen Menschen vor sich geht! Welche Gefahren sind real und welche eingebildet? Welche Freuden sind möglich? Wann kann Schmerz — zu deinem Besten — vermieden werden? Wenn du solche Unterscheidungen machen kannst, bist du viel freier in deiner Wahl. Du bist nicht mehr Sklave der falschen Programmierung in der Kindheit, die du noch in den Eingeweiden herumschleppst.
Beim Heranwachsen eines Kindes spielt der Prozeß, Ich- und Weltverständnis voneinander zu trennen, eine entscheidende Rolle. Zuerst erlebt das Kind die Eltern als Teil seiner selbst. Ganz allmählich erkennt es durch Erfahrung, daß es eine Trennung gibt. Schritt für Schritt verändert es seine Vorstellung vom Elternteil als seinem Privatgeist zu der von seinem Privatsklaven, Privatdiener und schließlich seiner privaten Mutter, die seine Bedürfnisse erfüllt, aber immer stärker fordert, daß das Kind dafür auch einige ihrer Bedürfnisse befriedigt.
Was während dieser Periode zwischen einem Kind und den signifikanten Erwachsenen in seiner Umgebung vor sich geht, ist für sein ganzes Leben von Bedeutung.
Wenn die Erwachsenen emotional gesund sind, werden die Kinder dazu konditioniert, gesund auf andere zu reagieren. Wenn die Erwachsenen jedoch emotional gestört sind, dann werden ihren Nachkommen die pathologischen Gefühle, Einstellungen und Verhaltensweisen ebenso sicher vermittelt wie ihre Sprache.
Nehmen wir beispielsweise einmal an, eine Mutter ärgert sich über die Zeit, die sie dem Füttern ihres Säuglings, dem Windelwechseln, dem Waschen von Sachen und Geschirr und anderen niedrigen häuslichen Arbeiten widmen muß. Das Ehepaar ist neu in der Gemeinde, und der Ehemann ist zwei oder drei Tage in der Woche auf Geschäftsreise unterwegs. Die Ehefrau hat niemand, mit dem sie reden kann. Sie ist zu ängstlich, als daß sie versuchen würde, ohne ihren Mann jemand kennenzulernen. Wenn der Ehemann fort ist, sitzt die Frau allein zu Hause, nur den Fernseher als Gesellschaft. Unter diesen Umständen müßte die Mutter schon ein bemerkenswerter Mensch sein, wenn sie nicht ständig ärgerlich auf den Säugling wäre, der sie in ihren Tätigkeiten einschränkt, ohne ihr eine ausreichende Belohnung dafür geben zu können. Die Frau kann nicht anders — sie muß diese verängstigten, deprimierten, zornigen Symbole an ihr Baby weitergeben. Jedesmal, wenn sie den Säugling füttert oder ihn wickelt, spürt er ihren Zorn, ihre Furcht oder ihre Depression. Wahrscheinlich wird dieser Säugling lernen, daß Freude Schmerz zur Folge hat.
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Wenn ein Kind reif wird, lernt es, Schmerz im voraus zu fühlen. Es wird sich einer Gefahr bewußt. Mit Hilfe seiner Augen, Ohren, seiner Nase, seines Tastsinns und Gedächtnisses erinnert es sich seiner früheren Erfahrungen und erkennt, daß gewisse Situationen Schmerz verursachen. Während das Kind jeden Tag mehr für sich selbst tun lernt, hat es über seine Umgebung keine Kontrolle. Es ist hilflos.
Wie reagiert das Kleinkind darauf? Vergessen wir nicht, es befindet sich im Zustand der Abhängigkeit. Es kann weder fliehen noch kämpfen. Da das Kind physisch und kognitiv hilflos ist, kann es lediglich emotional reagieren, um sich gegen Schmerz zu verteidigen und für Freude offen zu bleiben.
Leider ist das, was Schmerz oder Freude bringt, nicht immer so deutlich unterschieden in der komplizierten Welt menschlicher Interaktionen. Was tut ein Kind, wenn Schmerz Hand in Hand mit Freude kommt, wenn die Freude der menschlichen Wärme und Pflege, des menschlichen Verständnisses und der Liebe einen hohen Preis fordert? Wie reagiert es, wenn seine Mutter es beispielsweise jedesmal, wenn es hungrig ist, füttert, es aber beim Füttern ärgerlich oder kühl behandelt? Oder wenn sein Vater es hoch in die Luft wirft, aber dabei das Kind jedesmal aus Grobheit, die aus unbewußtem Zorn oder unbewußter Spannung stammt, leicht verletzt?
Das Verhältnis von Freude und Schmerz im frühen Leben eines Kindes beeinflußt das ganze Leben lang seine Fähigkeit, Liebe zu fühlen. Die Liebe baut sich auf der Erwartung der Lust auf, die man von einem Menschen erhält, auf dem Bewußtsein, daß ein anderer einem etwas schenkt, einem die Bedürfnisse befriedigt und nichts dafür fordert. Wenn einem jemand ständig Lust schenkt oder Spannungen löst und Schmerz beseitigt, dann ist das Reaktionsgefühl Freude. Und das Gefühl für die Person, die die ständige Quelle der Freude gewesen ist, entwickelt sich zu Liebe. Wenn man diese Freude von einem Menschen erwartet, liebt man ihn.
Lust oder Freude ist ein überlebensorientiertes Gefühl. Genau wie Gefahr die Erwartung von Schmerz ist, so ist Liebe die Erwartung von Freude. Der Säugling lernt, wenn er in nassen Windeln liegt und vor Unbehagen weint, daß etwas Großes vor ihm aufragt und ihn trockenlegt. Dieses »Große« beseitigt nicht nur sein Unbehagen, sondern fügt noch die Freude der Berührung und des liebevollen Interesses hinzu. Der Säugling lernt dieses Objekt zu lieben. Es beseitigt jeden Druck, jede Spannung, jedes unbehagliche Empfinden. Es nährt ihn, wartet ihn, wärmt ihn. Er lernt, daß dieses Wesen seine Mutter ist. Dann ist er allmählich bereit dazu, dieses neue Gefühl angenehmer Erwartung - seine Liebe - auf den Vater, die Geschwister, auf Verwandte und Bekannte auszudehnen, falls diese freundlich sind. Und schließlich auf die Welt im allgemeinen.
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Ein Mensch, der die Welt liebt, erhält gewöhnlich eine Menge Liebe von ihr. Umgekehrt wird ein Mensch, der erwartet, gehaßt zu werden, gewöhnlich auch gehaßt. Die Leute bekommen, was sie erwarten, weil sich ihre Einstellungen, Verhaltensweisen und Gefühle miteinander verbinden, um die erwarteten Ergebnisse hervorzubringen. So lernt ein Kind, das von seinen Angehörigen geliebt, beschützt und beschenkt wird, diese zu lieben. Es erwartet Liebe von der Welt und schenkt der Welt seine Liebe. Sein ganzes Leben lang sind seine Beziehungen zu anderen meistens gut. Doch wenn die Liebe von signifikanten Personen in der früheren Kindheit ungesund ist, wenn physische oder emotionale Bedürfnisse auf krankhafte Weise vorenthalten werden, dann hat dieser Mensch, wenn er heranwächst, Schwierigkeiten mit der Liebe.
Die Kernidentität eines Kleinkindes nimmt Gestalt an, einerseits rund um das biologisch bedingte Bedürfnis nach Freude/Liebe und andererseits um den »Preis« - Schmerz/Gefahr -, den es dafür zu zahlen hat. Die Basis seiner Identität wird dadurch gebildet, wie es in Gedanken, Gefühlen und Handlungen auf Liebe/Freude, Gefahr/Schmerz reagiert, die es von signifikanten Personen in seinem Leben erfährt.
Die Grundstruktur richtet sich nach der spezifischen Mischung von Freude und Schmerz am Lebensanfang eines Kindes. Es gibt viele Faktoren, die dazu beitragen. Die Erbanlagen. Was das Kind physisch und emotional von signifikanten Personen erhält. Was es in ihren Signalen spürt. Die Art, in der seine Bedürfnisse erfüllt oder nicht erfüllt werden. Die Art des Stresses und der Spannungen im Haus. Die Vitalität der Familie. Diese und andere Faktoren beeinflussen die Rolle, die die Antizipation von Freude und Schmerz in seinem Leben spielt.
Wenn sich die Mischung richtig auswirkt, wächst das Kind zu einem emotional gesunden Erwachsenen heran. Geschieht das nicht, dann wird das Kind schlecht angepaßt und entwickelt eine Annehmer- oder Ablehneridentität, wie ich es nenne. Beziehungen mit signifikanten Personen im frühen Leben konditionieren den schlecht angepaßten Menschen dazu, daß entweder der eine oder der andere Typ aus ihm wird. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es, wenn der Betreffende nicht in wirksame Therapie kommt, bei jeder signifikanten Beziehung, die er in seinem ganzen ferneren Leben hat, zu einer Fortsetzung dieser Fehlprogrammierung kommen.
Nur selten paßt jemand genau in den einen oder anderen Identitätstyp. Bei jedem Individuum ist die Orchestrierung der Charakteristika anders. Und in jedem Typ erscheinen unweigerlich auch Merkmale des anderen. Dennoch sind die Basisprofile recht brauchbar.
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Wenn der Schmerz die Freude überwiegt, die ein Kind erlebt, während seine biologisch bedingten Bedürfnisse in seinen signifikantesten Beziehungen erfüllt werden, lehnt es früher oder später diese Beziehung als Quelle seiner Bedürfnisbefriedigung ab. Es erhält eine Ablehner-Identität. Manchmal ist schwer zu sagen, was tatsächlich vor sich gegangen ist. Vielleicht mußte der Säugling immer wieder zu lange und zu laut schreien, um gefüttert zu werden. Oder seine Mutter war ständig gereizt, und das Kind erlebte ihre Reizbarkeit nur, wenn es in Kontakt mit ihr kam — etwa beim Anziehen oder Baden.
In meinem Prozeß ist es nicht wichtig, alle Ursachen oder Nuancen der Hauptfaktoren zu kennen. Wichtig ist vielmehr die Reaktion des Kindes. Manchmal waren die erhaltene Liebe und Pflege den Schmerz nicht wert. Sobald das Kind alt genug ist, manches selber zu erledigen, sagt es unbewußt zu sich: »Ich werde es selber tun, sobald ich es kann. Ich brauche sie nicht als Hilfe — und auch sonst niemand.« Schon sehr früh im Leben lernt dieses Kind, daß die Gefühle in einer menschlichen Beziehung mehr schmerzhaft als freudespendend sind. Sobald das Kind dazu in der Lage ist, wird es alles selber tun. Es wird sich die Freude selbst spenden. Wenn das vielleicht auch nicht ganz so befriedigend ist, argumentiert das Kind unbewußt, so gibt es doch wenigstens keinen Schmerz. Und so schneidet sich das Kind ständig von der Erwartung der Freude — der Liebe — und von signifikanten menschlichen Bindungen für sein ganzes ferneres Leben ab.
Bei anderen Säuglingen übersteigt die Freude den Schmerz, ganz gleich, wie schmerzhaft die Beziehung ist. Oder vielleicht fühlt sich das Kind so hilflos, daß es lernt, den Schmerz zu ertragen, um einige für das Überleben notwendige Bedürfnisse befriedigt zu bekommen. Es fühlt sich in der Abhängigkeit von seinen Bedürfnissen hilflos. Welches die Gründe auch sein mögen, dieses Kind nimmt die menschliche Beziehung trotz des Schmerzes an. Es entwickelt eine Annehmer-Identität. Eine menschliche Beziehung erscheint ihm als der beste oder als der einzige Weg, seine Bedürfnisse befriedigt zu bekommen. Er erscheint nicht nur als der einzige Weg, Freude zu gewinnen, sondern als der einzige Weg zu überleben.
Diese Entscheidung, signifikante Beziehungen emotional abzulehnen oder anzunehmen, wird in der frühen Kindheit unbewußt getroffen. Selbst wenn die Entscheidung ursprünglich bewußt getroffen worden ist (ich persönlich und einige meiner Patienten konnten uns genau an diesen Punkt in unserem Leben erinnern), sinkt sie rasch in einen Bereich hinab, dessen man sich nicht bewußt ist. Obwohl diese Entscheidung im Unbewußten vergraben liegt, hat sie Folgen, die das Leben des Betreffenden auf vielerlei Arten beeinflussen.
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Die Ablehnerpersönlichkeit
Charlie, den ich im vorigen Kapitel vorgestellt habe, war ein Ablehner. Er wich signifikanten Beziehungen aus, um Schmerz zu vermeiden. Damit wich er auch der Liebe aus. Der Ablehner sperrt jede potentielle Quelle emotionaler Schmerzen aus; doch gleichzeitig sperrt er auch jede Erwartung aus, daß sein Bedürfnis nach Liebe von anderen Menschen erfüllt wird. Der Betreffende fühlt, daß dieses Bedürfnis unmöglich erfüllt werden kann, deshalb verdrängt er es. Er leugnet auf bewußter, vorbewußter oder unterbewußter Ebene überhaupt, daß er emotionale Liebe braucht. Er ist ein freies, sich selbst genügendes Wesen. Er »braucht keine anderen Leute«. Er »wird allein fertig«.
Der Realismus des eingeweidetiefen Gefühls der Selbstgenügsamkeit bei einem solchen Menschen hängt natürlich jeweils vom einzelnen ab. Aggressive jugendliche Kriminelle können Ablehner sein — ebenso aber auch verantwortungsbewußte produktive Geschäftsleute. Am bedeutsamsten dabei ist, daß das Identitätsgefühl des Ablehners etwas mit der unbewußten Furcht vor Schmerz zu tun hat, der ihn veranlaßt, signifikante menschliche Beziehungen zu vermeiden. Tief im Innern denkt und fühlt der Ablehner, er brauche keinen Menschen, der ihm beim Überleben hilft. Ob er dagegen produktiv in einem Beruf tätig sein kann oder nicht, ist eine völlig andere Frage.
Dadurch, daß sich der Ablehner vom Schmerz-Liebe-Komplex absondert, lebt er emotional allein. Er neigt zum Stoizismus. Ganz gleich, was weh tut — oder wie sehr es schmerzt —, er kann die Zähne zusammenbeißen und allein darüber hinwegkommen. Er wird seinen Schmerz nicht mit anderen teilen. Wenn er das täte, würde er dadurch zu verletzbar. Er verdrängt oder unterdrückt den Schmerz.
Da der Ablehner jede Abhängigkeit von anderen zurückweist, lebt er in einem ständigen Zustand der Spannung, mit dem fertig zu werden er gelernt hat. Er spürt Gefahr: Er ahnt Schmerz voraus und fürchtet ihn. Er muß ständig manövrieren, um die gefährliche Situation zu meiden. Doch er kann auf keines Menschen Hilfe rechnen.
Die emotionale Isolierung des Ablehners in den signifikanten Aspekten seines Lebens veranlaßt ihn, seinen Kopf zu gebrauchen. Er ist ein »Denker«, wie ich es nenne. Obwohl Gefühle die fundamentale Kommunikationsquelle sind, hat der Ablehner beim letztenmal, als er seine Gefühle mit anderen zu teilen versuchte, zuviel Schmerz verspürt. Seit jener Zeit im Säuglings- oder frühen Kindesalter hat er keine liebende Fürsorge oder Hilfe mehr von anderen erwartet. Seine Gefühle sind durch Nichtgebrauch »verkümmert«, und die Leere wird nun von seinem Denken gefüllt. Es wäre schwer für ihn, wirklich um Hilfe zu schreien — selbst wenn er ertränke.
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Es widerstrebt ihm, zu schreien oder die Kontrolle über irgendein Gefühl zu verlieren, selbst wenn er Gefahr liefe, getötet zu werden. So lernt der Ablehner, sich lediglich auf das eigene Denken, die eigenen Fähigkeiten zu verlassen, da Emotionen nur wenig oder keinen Wert für ihn haben. Er versucht unbeugsam, selbstgenügsam und unabhängig zu sein.
Dieser Typ ist gewöhnlich höchst verbal, da Worte nicht unbedingt emotionale Aufhänger brauchen. In der Gruppentherapie benutzt der Ablehner häufig Worte, um nicht mit seinen eingeweidetiefen Gefühlen, vor allem nicht mit seinem Schmerz, in Berührung zu kommen. Er schwatzt ständig über die Fakten seines Daseins, besiegt andere Leute mit seinen schlagfertigen verbalen Erwiderungen und bringt manchmal glänzende Erklärungen über das, was im Gruppenraum vor sich geht. Er kann sogar Witz und Humor haben und die Gruppe zum Lachen bringen. Wenn er es will, kann er Freude und Liebe geben. Aber er wird nie wagen, vor Schmerz zu weinen oder sein Verlangen nach Liebe hinauszuschreien.
Dieses Verlangen nach Freude und Liebe ist ein auf das Überleben gerichteter menschlicher Charakterzug, der den Hominiden seit mindestens 1.750.000 Jahre gemeinsam ist. Dem Ablehner fehlt es an gesicherter menschlicher Freude; sein Bedürfnis nach Liebe wird von keinem anderen Menschen erfüllt. Doch wenn die Liebe abgelehnt wird, muß etwas anderes ihren Platz einnehmen; deshalb versucht der Betreffende, diesen Mangel durch Objekt-Befriedigung auszugleichen. Er sucht Befriedigung und Freude in Dingen, die er selbst tun oder kontrollieren kann. Vielleicht findet er Erfüllung in einem Beruf. Vielleicht strebt er nach guten Zensuren in der Schule oder nach viel Geld im Geschäft. Vielleicht wird er Führer einer Gang. Vielleicht wird er Fachmann für Tischler- oder Näharbeiten oder - wie Charlie - für sexuelle Eroberungen. Oder er sammelt nur Flaschen. Vielleicht genießt er es bis zu einem gewissen Grad sogar, anderen Liebe zu schenken. Doch welche Wahl er auch trifft, der Ablehner findet Befriedigung in den Dingen, die er leistet, schafft oder sammelt.
Ablehner halten sich aus signifikanten emotionalen Beziehungen heraus, ganz gleich, wie hoch der Preis an Einsamkeit oder Isolierung ist, den sie zahlen müssen. Das soll nicht heißen, daß sie nicht mit Menschen scheinbar enge Bindungen eingehen; es gibt nur nichts von dem, was wir emotionale Bindung »auf Eingeweideebene« nennen. Ablehner können Liebesaffären haben und heiraten, und sie tun es auch. Aber emotional sind sie nicht wirklich beteiligt.
Früher oder später haben Ablehner den Eindruck, in einer Falle zu sitzen. Sie haben das Gefühl, viel zu geben und nicht genug Liebe oder Befriedigung als Belohnung zu bekommen. Der Grund dafür, daß die Ablehner nicht genug bekommen, ist natürlich der, daß sie nicht genug hereinlassen. Es ist ein Teufelskreis. Der Ablehner wird reizbar und verärgert und isoliert sich noch mehr von seinem Partner.
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Die Annehmerpersönlichkeit
Die im vorigen Kapitel beschriebene Clara war ein Annehmertyp. Wir wollen uns daran erinnern, wie eifrig sie darauf bedacht war, jedem zu gefallen und zu tun, was er wünschte, ohne jede Rücksicht auf ihre eigenen Bedürfnisse. Sie brauchte signifikante menschliche Beziehungen, nahm sie an und erhielt sie aufrecht, ganz gleich, wie hoch der Preis war. Ein Annehmer hat den Eindruck, sterben zu müssen, wenn er nicht in Beziehung mit einem Menschen stände. Annehmer sind häufig Märtyrer. Viele ertragen es, geschlagen, betrogen, belogen und gedemütigt zu werden, und stehen dem Partner dennoch auf den leisesten Wink als Sklave zur Verfügung. Sie tun alles, nur um den geliebten Menschen zu behalten. Sie haben den Eindruck, nicht am Leben bleiben zu können, wenn sie nicht ein Objekt haben, das sie lieben dürfen.
Annehmer zahlen hohe Preise. Der höchste Preis ist der Verlust ihrer Identität. Es fehlt ihnen das Verständnis für ihren eigenen Wert und ihre eigene Kraft, und es fehlt ihnen an Selbstachtung. Ihre einzige wirkliche Identität liegt in dem Schmerz ihrer Beziehungen. Sie zeigen den Schmerz auch leicht. Selten können sie in der schmerzvermeidenden Spannung leben, die den Ablehnern vertraut ist.
Annehmer sind keine »Denker«, sondern »Fühler«. Sie machen keinen ausreichenden Gebrauch von ihrer Intelligenz, um Probleme zu erkennen, zu verstehen und vorausschauend zu lösen. Sie benutzen Ausreden oder verdunkeln Tatsachen. Sonst würden sie vielleicht wirklich einsehen, was sie sich gefallen lassen, um Liebe zu gewinnen. Sie könnten sich plötzlich der Furcht, keine eigene Identität zu besitzen, Auge in Auge gegenübersehen. Sie würden vielleicht erkennen, was sie aufzugeben hätten und welche Einsamkeit ihnen gegenüberstände, wenn sie eine Beziehung zurückwiesen.
Wie bei den Ablehnern müssen die Identitätsgefühle des Annehmers nicht unbedingt etwas mit seiner Tüchtigkeit in Beruf und Gesellschaft zu tun haben. Ein Annehmer kann äußerst intelligent und wirksam im Geschäfts- oder Schulleben sein und sich dennoch weigern, die Realität seiner persönlichen Beziehungen klar zu sehen. Das Entscheidende ist, daß Annehmer ihre Selbstachtung opfern, weil sie so ungemein abhängig von der Beziehung mit dem Menschen sind, der ihnen gefällt.
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Ablehner kontra Annehmer
Anders als der Annehmer hat der Ablehner eine klare Selbstidentität, weil er den Eindruck hat, daß er der einzige ist, der ihn (selbst) liebt, ohne ihm Schmerz zuzufügen. Er schenkt sich Befriedigung durch seine eigene Leistung, Produktivität und Arbeit, durch die Objekte, die er gesammelt hat. Er kann nicht begreifen, daß man eine Liebesbeziehung eingehen kann, ohne dadurch Identität, Produktivität, Besitz oder Freiheit zu verlieren. Ablehner schauen häufig auf Annehmer herab, weil sie sich mit so wenig in ihrem Leben begnügen.
Annehmer können wiederum Ablehner nicht verstehen: Wie kann ein Mensch allein leben? Welchen Sinn hat das Leben, wenn nicht den, Liebe mit einer signifikanten Person zu teilen? Wie nichtig erscheint ihm das Streben des Ablehners nach Selbstliebe! Welch ein unbefriedigendes Erlebnis! Annehmer empfinden Mitleid für Ablehner.
Das den Annehmer bewegende Gefühl ist der Schmerz. Die Erfahrung des Schmerzes als Preis für die Liebe, die er erhält, ist ihm vertraut. Er kann damit leben. Viele Annehmer trauen der Liebe einfach nicht oder sind nicht von ihr überzeugt, wenn sie nicht von mehr oder weniger Schmerz begleitet wird. Sie sind schmerzabhängige Persönlichkeiten geworden, für die die Liebe nur dann Signifikanz besitzt, wenn sie weh tut.
Dagegen kann der Annehmer nicht mit der Furcht leben, allein sein zu müssen. Das ist die Gefahr, die er am meisten fürchtet. Allein zu sein würde ihm sein innerstes furchterregendes Geheimnis bestätigen: »Ich bin eigentlich nicht liebenswert; deshalb zahle ich jeden Preis, um Liebe zu erhalten, weil ich allein nicht am Leben bleiben kann.«
Das den Ablehner bewegende Gefühl ist die Spannung. Er gedeiht dabei. Und hält sich durch sie am Leben. Er kann den Schmerz nicht ertragen, den, wie er glaubt, die Liebe mit sich bringt. Seine größte Furcht ist die, in die Falle einer Liebesbeziehung zu geraten, die Schmerz bringt. Diese Möglichkeit bedeutet für ihn Gefahr. In seinem geheimsten Ich glaubt er, ein Recht auf Liebe zu haben, meint jedoch, daß der Preis zu hoch ist. Er fürchtet, die Liebe wird ihn ersticken und einen hohen Preis kosten. Er fürchtet, betrogen zu werden.
Fassen wir zusammen: Die Annehmer (Märtyrer, »Fühler«) machen ihre Identität abhängig von einer Beziehung mit einem signifikanten anderen Menschen. Ihre Freuden stammen in erster Linie vom Zusammensein mit dieser anderen Person. Ihr Schmerz kommt von dem hohen Preis, den sie zahlen, um diese Beziehung aufrechtzuerhalten. Doch allein zu sein wäre schlimmer. Das fürchten sie am meisten; denn dann hätten sie nicht nur keine Identität, die sie als Preis für ein geliebtes Objekt aufgegeben haben, sondern sie hätten auch kein geliebtes Objekt.
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Sie hätten gar nichts. Es würde beweisen, daß sie nicht liebenswert sind, weil niemand sie liebt. Nicht liebenswert zu sein und ohne Identität existieren zu müssen ist für sie schlimmer als der Tod. Tatsächlich ziehen manche Annehmer den Tod dem Nichts vor. (Manche wählen in der Verzweiflung den Tod. Die Zeitungen bringen ständig Berichte über verschmähte Liebe, die mit Selbstmord oder mit Mord und Selbstmord geendet hat.) Deshalb akzeptieren die Annehmer den geringeren Schmerz einer demütigenden Beziehung, um Liebe zu erlangen. Schmerz ist das bewegende emotionale Motiv der Annehmerpersönlichkeit.
Die Ablehner (Stoiker, »Denker«) haben sich so konditioniert, daß sie mehr Schmerz als Lust von menschlichen Beziehungen erwarten. Sie fühlen sich in ihrer Einsamkeit sicherer. Sie besitzen eine starke Identität, die daher stammt, daß sie ständig allein mit allem fertig werden. Sie verlassen sich auf sich selbst. Daß ihnen diese Identität in einer Liebesbeziehung, in die sie hineinstolpern, genommen werden könnte, erscheint ihnen wie Ersticken oder Einkerkerung. Sie lassen nicht zu, daß sie bewußt ernsten Schmerz fühlen, doch die Bedrohung steht ständig vor ihnen. Ablehner leben in einem Zustand ständiger Spannung, spüren die Gefahr des Schmerzes in einer Liebesbeziehung und nehmen alle Kraft zusammen, um selbst die Möglichkeit eines solchen Schmerzes abzuwehren. Diese Spannung ist die Motivierung der Ablehnerpersönlichkeit.
Unnütz zu sagen, daß die meisten Ehen, Liebesaffären und sogar engen Freundschaften zwischen Annehmern und Ablehnern stattfinden. Gewiß passen sie nicht zusammen wie die glatten Kurven von Yin und Yang, doch jeder dieser beiden Identitätstypen weist Merkmale auf, die dem anderen fehlen und die er sucht- wie sehr es auch knirscht, wenn sie ineinandergreifen. Ablehner sind meist weniger emotional; sie werden von der Vitalität der Gefühle eines Annehmers angeregt. Annehmer sind meist weniger verbal oder klar im Denken; sie werden von der Präzision fasziniert, mit denen Ablehner die Welt betrachten. Der Ablehner genießt — wenn er auch fürchtet, erstickt zu werden — die Macht, die er aus der Abhängigkeit des Annehmers von ihm bezieht. Der Annehmer ärgert sich zwar insgeheim über seine Abhängigkeit von dem Ablehner, dennoch gefällt es ihm, seinem Partner die Macht zu verleihen, die Verantwortung für sein Leben mit zu übernehmen.
Annehmer und Ablehner könnten wie das erscheinen, was Freud »Masochisten« und »Sadisten« genannt hat. Ich meine, das trifft nicht zu. Nach Freud tritt Masochismus als eine Art Selbstbestrafung aufgrund sexueller Schuldgefühle auf. Sadismus ist eine Projektion dieses Gefühls auf den anderen.
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Ich meine, Annehmer und Ablehner haben es vielmehr mit dem zu tun, was Rado als Schmerz- und Lust-Syndrom bezeichnet hat, nicht mit Schuldgefühlen wegen sexueller Dinge. Der Annehmer ist »schmerzabhängig«, wie Rado es nennt. Er findet sich mit nahezu allem ab, um seine Identität von dem geliebten Menschen zu bekommen. Der Ablehner dagegen agiert zornige Abwehr gegen den erwarteten Schmerz (die Gefahr) einer Liebesbeziehung aus. Bevor er eine Beziehung eingehen kann, muß er das Liebesobjekt »neutralisieren«. Dabei kann oft »sadistisches« Verhalten beteiligt sein. Indem der Ablehner den Annehmer mit Zorn und Aggression behandelt, manövriert er ihn schließlich in eine Hilflosigkeit hinein, in der er verwundbar und gedemütigt ist. Erst dann fühlt der Ablehner keine Bedrohung mehr und kann den Annehmer lieben. Für den Annehmer bedeutet der ganze Prozeß genau das, was er von einer Beziehung erwartet.
Es ist für jeden einzelnen wichtig, seinen grundlegenden Identitätstyp zu verstehen. Wenn das der Fall ist, erkennt der einzelne, weshalb er die Menschen ausgesucht hat, mit denen er enge Beziehungen unterhält, und weshalb es vielleicht zu ernsten Problemen in diesen Beziehungen gekommen ist. Er will auch wissen, worauf er sich in Gruppenstunden zu konzentrieren hat, um die schlecht angepaßten Einstellungen, Gefühle und Verhaltensweisen zu ändern, die aus seiner Identität stammen.
Neurotiker oder Charaktergestörte
Annehmer und Ablehner können entweder Neurotiker oder Charaktergestörte sein, je nach der grundlegenden Abwehrdynamik, die sie in den Anfängen ihrer Entwicklung lernen. Ein übliches neurotisches Symptom bei Annehmern ist die depressive Reaktion auf Zurückweisung oder den Tod eines für sie wichtigen Menschen. (Sophie, die über den Tod ihrer Schwester deprimiert war, ist ein Annehmertyp, vgl. Kapitel 8).
Ein typischer neurotischer Ablehner ist mein jetziger Patient Steve, der ein Einzelhandelsgeschäft besitzt und ständig von äußerster Angst über dessen Erfolg oder Mißerfolg erfüllt war. Wie er es von seinem Onkel, einem zornigen Selfmademan, bei dem er aufgewachsen war, gelernt hatte, wies Steve jede Hilfe von seiner Frau oder seinen Freunden zurück. Er mußte mit allem selbst fertig werden, obwohl seine Angstreaktionen so heftige Schmerzen hervorriefen, daß er am Rand eines Zusammenbruchs stand, als er in den Gruppen erschien.
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Sandy, eine Lehrerin in mittleren Jahren, die unverheiratet geblieben war, zählte zu den charaktergestörten Annehmern in unseren Gruppen. Sie war in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen, und die Eltern hatten sie unverhohlen geliebt. Doch der ältere Bruder war offensichtlich der Liebling der Eltern gewesen. Sandy lernte sehr früh im Leben, im Hintergrund zu bleiben, ihre Angelegenheit ruhig zu erledigen, ihre Gefühle nicht zu zeigen und für jede Aufmerksamkeit dankbar zu sein, die die Familie ihr erwies. Sie wurde Lehrerin und hatte, als sie neunundzwanzig war, eine kurze Liebesbeziehung mit einem recht attraktiven Franzosen. Als dieser sie verließ, folgte Sandy ihm nach Frankreich. Sie entdeckte dort, daß er verheiratet war, doch sie blieb eine Weile als seine Geliebte. Schließlich beendete er das Verhältnis. Sandy kam in die Vereinigten Staaten zurück und widmete sich wieder ruhig ihrem Beruf.
Mary Ellen ist eine charaktergestörte Ablehnerin, die kürzlich in unsere Gruppen eintrat. Die hervorragende, allerdings recht spröde und reservierte Modezeichnerin ist zweimal geschieden und überaus tüchtig in ihrem Beruf. Sie hat viele Freunde, doch sobald ihr einer näherkommt, bricht sie die Beziehung ab und übernimmt ein besonders ehrgeiziges Arbeitsprojekt.
Mary Ellen ist noch nicht lange in den Gruppen. Sie sieht sich in unserem Prozeß schwierigen Aufgaben gegenüber. Sie muß mit dem Ausagieren ihres Symptoms aufhören, und das heißt für sie, daß sie ihren Beruf nicht als Sicherheitsventil für ihre Gefühle benutzen darf. Außerdem muß sie ihre jetzige Affäre (mit einem Mann, der sowohl akzeptabel als auch verantwortungsbewußt ist) mit einem gewissen Gefühl der Bindung betrachten. Typischerweise erfand sie, nachdem sie ein intimes und befriedigendes Wochenende miteinander verlebt hatten, Ausreden, um ihn in der folgenden Woche nicht sehen zu müssen. Sie beendete seine Telefonanrufe ziemlich abrupt und erklärte, sie sei zu beschäftigt, um mit ihm zu reden, oder zu müde, um ihn zu sehen. Die Gruppe gibt ihr den Auftrag, die Verabredungen anzunehmen und ihrem Freund von ihrer Angst zu erzählen, statt ihre Gefühle abzuschalten und bis tief in die Nacht in ihrem Atelier zu arbeiten. In den Gruppen mußte sie daran arbeiten, ihrer Furcht vor intimen Bindungen und ihrem Bedürfnis nach Liebe Ausdruck zu verleihen. Für sie als Ablehnerin ist es entscheidend wichtig, dieses Bedürfnis hinauszuschreien und sowohl die Liebe der Gruppenmitglieder als auch die ihres Freundes anzunehmen.
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Sandy, die Lehrerin, machte nach einigen Wochen Fortschritte in den Gruppen, als sie es lernte, zornig zu werden und den Zorn anderer hinzunehmen. Leider nahm sie eine Stellung in einem anderen Bundesstaat an, nachdem sie drei Monate lang in gruppentherapeutischer Behandlung gewesen war. Ihr vergötterter (und gehaßter) Bruder hatte äußersten Druck auf sie ausgeübt, die Therapie aufzugeben, und ich denke mir, sie ist weggezogen, um dem Konflikt auszuweichen. Ich hoffe, daß sie zurückkommt.
Sophies dramatischer Durchbruch in ihrer ersten Gruppensitzung brachte ihr tatsächlich die Therapie, deren sie bedurfte. Wegen ihres Alters und der Lebensumstände drängten wir in den Gruppen nicht auf eine vollständige Veränderung des Charakters. Sie kam mit ihrem Beruf und ihren Kindern und Enkeln wieder besser zurecht, als das Gruppenerlebnis ihre Depressionen über den Tod der Schwester gelindert hatte.
Steve ist dagegen schon über ein Jahr in Gruppenbehandlung. Er leitet sein Geschäft jetzt recht gut. Er hat gelernt, wenn er sich besonders ängstlich fühlt, seine Frau zu bitten, ihn liebevoll zu umarmen. Er hat in den Gruppenübungen auch gelernt, die volle Tiefe seines Verlangens nach Liebe zu äußern. Er ist jetzt an dem Punkt angelangt, wo er rasche Einsichten in seine schlecht angepaßten Einstellungen gewinnt, und erkennt, wie sie sowohl seine Arbeit als auch sein Familienleben beeinträchtigen. Neulich berichtete er stolz, daß er einen Mann befördert habe, der seit Jahren als zweiter Mann für ihn arbeite. Dieser Mann hatte Steve einen kreativen Plan für die Erweiterung seines Geschäfts vorgelegt, und Steves erste Reaktion war, den Plan sofort abzulehnen. Doch da fühlte er, daß die altvertraute Angst in seinem Bauch aufstieg. Er erkannte, daß er hier aufgrund seiner fehlprogrammierten Einstellung argumentierte, kein anderer sei fähig, etwas für ihn zu erledigen. Mit anderen Worten, er mußte das Steuer ständig selbst in der Hand behalten. Er mußte erheblich gegen sich selber angehen, doch es gelang ihm, dem Mann zu sagen, er wolle sich den Plan ansehen. Als er sah, daß der Plan tatsächlich gut war, nahm er ihn an und ließ ihn von dem Mann ausführen. Heute ist Steve insgesamt ein viel lockerer, liebevollerer Mensch als vor einem Jahr, und er hat viel Freude an seinem Leben.
Für all diese Menschen war die Aufgabe in den Gruppen ein wenig anders, je nach ihren besonderen Problemen und ihrem Charakter. Für einige war der Prozeß erfolgreicher als für andere. Doch die grundlegende Straßenkarte zur emotionalen Gesundheit ist für jeden die gleiche, ob er Annehmer oder Ablehner, Neurotiker oder Charaktergestörter ist: Jeder muß sich mit der symptomatischen, der dynamischen und der Identitätsebene seiner Persönlichkeit beschäftigen, um es zu wahrem Wachstum in seinem Verhalten, seinen Gefühlen und Einstellungen zu bringen.
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