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12.  Der Prozeß: Tabus, Strukturen, Leiter, Marathonbegegnungen 

 

 

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Die Gruppen für neue Identität beschäftigen sich mit der symptomatischen, der dynamischen und der Identitätsebene der menschlichen Persönlichkeit:

  1. Wir begegnen der symptomatischen Ebene, indem wir sie verpönen. Wir verschwenden keine Zeit an die Diskussion destruktiver Verhaltensmuster. Wir sagen der Person einfach, sie solle dieses Verhalten aufgeben. Wir sagen Alkoholikern, sie sollen zu trinken aufhören. Wir sagen homosexuellen Männern, sie sollen auf Männer verzichten und sich mit Frauen verabreden. Wir sagen schwänzenden Studenten, sie sollen erheblich mehr arbeiten. Wir erlauben den Gruppenmitgliedern nicht, bei ihren Symptomen zu verweilen, indem sie in den Gruppen ausführlich darüber reden.

  2. Auf der dynamischen Ebene ermutigen wir die Menschen, ihre Gefühle zu zeigen, und wir machen Übungen, die ihnen dabei helfen, tiefer in ihre Gefühle einzudringen und ihre gesunden Gefühle zu stärken. Der Name des Spiels lautet Emotionen. Die Gruppenmitglieder bekommen ihre größten Belohnungen nur dann, wenn sie ehrliche Gefühle zeigen.

  3. Auf der Identitätsebene helfen wir den Menschen herauszufinden, wer sie sind. Wenn sie Annehmer sind, drängen wir in den Gruppen vor allem auf Zornübungen, um ihnen zu helfen, daß sie die Kraft ihrer eigenen Persönlichkeit bejahen. Sind sie Ablehner, versuchen wir ihnen beizubringen, daß sie ihren Schmerz fühlen und lernen, wie sie Liebe und Zuneigung anderer Menschen annehmen können, damit sie sich nicht so sehr allein fühlen. Bei beiden untersuchen wir die Einstellungen, die sie vielleicht daran hindern, ein gesünderes Leben zu führen.

Praktisch gesehen, sind meine Gruppen für neue Identität eine emotional aufgeladene, aber disziplinierte Dynamik der Selbstbeobachtung (wie der analytische Prozeß), der Prüfung (Begegnung), der Projektion und Übertragung mit einer entscheidenden Struktur, einigen Grundregeln und einer Anzahl wertvoller Übungen.

Die Struktur gründet sich auf Erfahrung. Das Ziel der Struktur ist es, die Gruppendynamik so zu regulieren und zu kontrollieren, daß sie das Optimum an therapeutischen Ergebnissen bringt. Wir bemühen uns nicht einfach darum, zornige Begegnungen oder angenehme Gefühle um ihrer selbst willen zu haben. Wir versuchen vielmehr, den Gruppenmitgliedern zu helfen, daß sie emotional gesund werden. Die Regeln gehören zur Struktur.

 

    Die Grundregeln  

 

1. Kein Alkohol vor oder während der Gruppen.

Alle Gruppenmitglieder werden aufgefordert, vor den Gruppensitzungen nicht einmal einen einzigen Cocktail zu trinken. Wenn ein Mitglied ein »Alkoholproblem« hat, wird es natürlich gebeten, völlig auf das Trinken zu verzichten. Doch selbst wenn jemand keinerlei Schwierigkeiten mit dem Alkohol hat, wird er gebeten, abends (oder nachmittags), bevor er zur Gruppensitzung kommt, nicht zu trinken. Der Grund: Alkohol ist ein Beruhigungsmittel. Er reduziert Ängste und Spannungen. Wer Alkohol getrunken hat, kann zu Prahlerei und herausforderndem Benehmen neigen. Der Alkohol verhindert ganz einfach das Hauptziel unserer Gruppen­therapie: die Menschen in besseren Kontakt mit ihren Emotionen auf der Eingeweideebene zu bringen.

2. Keine Drogen vor oder während der Gruppe.

Dieses Tabu hat den gleichen Grund wie das Alkoholverbot. Drogen können falsche Hochs und Tiefs hervorrufen und den Zweck des Gruppentherapieprozesses gefährden. Diesem Gebot unterliegen neben den Rauschgiften auch die Drogen, die in der Gesellschaft als »akzeptabel« gelten - etwa Tranquilizer und Tabletten zum Abnehmen.

3. Keine Zigaretten während der Gruppensitzungen.

Zigaretten vermindern Spannungen und Ängste. Die meisten Raucher werden, wenn sie einem schwer zu zeigenden Gefühl gegenüberstehen, eine Zigarette anstecken, um die Spannung zu erleichtern. Ich glaube, es ist therapeutisch besser, daß sich die Angst aufbaut. Sie könnte dazu beitragen, daß der Betreffende zu einem intensiveren Gefühl gelangt.

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4. Die Gruppenmitglieder müssen sich darauf konzentrieren, Gefühle zu zeigen, nicht darauf, Fakten zu berichten oder über die Vergangenheit zu diskutieren.

Die Emotionen, nicht die Vergangenheit sind das Medium, mit dem wir uns beschäftigen. Realitätsprobleme sind von entscheidender Wichtigkeit, doch die Gruppen sind nicht dazu da, fürsorgerische Beratung zu liefern. Ob man ein bestimmtes Mädchen heiraten, eine neue Stellung annehmen, was man wegen einer schwangeren Schwester unternehmen, wie man den Chef um Gehaltserhöhung bitten oder einem Geschäftspartner gegenübertreten soll - das sind reale Situationen, für die Gruppenleiter und -mitglieder im Gruppenprozeß einfach nicht die besten Berater sind. Es sind nicht alle Tatsachen bekannt, und aller Wahrscheinlichkeit nach wird das betreffende Gruppenmitglied die Fakten, die es mitteilt, gefühlsmäßig gefärbt haben. Wir haben jedoch gelernt, daß Realitätsprobleme gewöhnlich deshalb verschärft werden, weil der Betreffende glaubt, keinen Anspruch auf die Fülle seiner Gefühle zu haben, und nicht imstande ist, sie sich zunutze zu machen. Wenn diese Gefühle befreit werden, öffnen sich oft neue Einsichten, die auf neue Wahlmöglichkeiten hinweisen. Sind die Gefühle erst einmal gezeigt und ausgedrückt worden, dann kann man besprechen, was die emotionale Erfahrung bedeutet und wie sie mit dem Verhalten und den Einstellungen des Betreffenden zusammenhängt.

5. Gruppenmitglieder müssen ehrlich sein.

Gruppen sollen keine Partys oder gesellschaftlichen Zusammenkünfte sein. Eins der therapeutischen Ziele der Gruppen ist, gestörten Menschen zu zeigen, wie andere wirklich auf sie reagieren. Gewiß, das kann unbehaglich, schmerzlich und manchmal destruktiv sein. Aber wo sonst kann ein Mensch solche Ehrlichkeit finden? Wo sonst kann jemand das Vertrauen aufbringen, den anderen das zu glauben, was sie über ihn sagen? Weil in unserer Gesellschaft so vieles unehrlich ist, brauchen wir die ehrliche und manchmal schmerzhafte Direktheit der Gruppentherapie.

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6. Keine physische Gewalt.

Diese Regel ist notwendig, weil die Gruppenmitglieder sowohl emotional als auch ehrlich sind. Die Menschen können angeschrien, lächerlich gemacht, beleidigt und bisweilen einer Tat beschuldigt werden, für die sie sich zu Unrecht angegriffen fühlen. Zivilisierte Höflichkeit wird wenig beachtet. Der Zorn kann intensiv werden. Manchmal sieht es so aus, als ob es jeden Augenblick zu Schlägen und Tritten kommen müßte. Die Regel, keine Gewalt anzuwenden, dient nicht nur der Sicherheit, sondern auch der besseren Therapie. Sie zwingt die Leute, sich mit ihren Gefühlen zu beschäftigen, statt sie dadurch entfliehen zu lassen, daß man körperliche Energie freisetzt. Wir verhindern also, daß sich Macht Recht schafft.

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Das sind die einzigen Regeln, die wir für Gruppenmitglieder aufstellen. Dagegen wird nicht kontrolliert, was zwischen Erwachsenen vor sich geht, wenn sie sich außerhalb der Gruppen befinden — wenn wir auch darauf dringen, daß die Mitglieder ihre Symptome aufgeben. Ein Don Juan, der in den Gruppen hört, was unglückliche Frauen zu sagen haben, könnte mit diesen Informationen aus erster Hand versuchen, so vielen Frauen nachzustellen, wie er zu verführen vermag. Einen Haken gibt es freilich dabei: Die Frauen werden in den Gruppen reden und ihm schließlich entgegentreten. Der Don Juan wird sich dem Zorn der Gruppe stellen müssen.

Oder es kommt jemand zur Gruppentherapie mit einem massiven Zorn, der sich in seinem täglichen Leben außerhalb der Gruppe aufgestaut hat, und lädt diesen Zorn auf jeden einzelnen in der Gruppe ab. Es wird jedoch nicht lange dauern, bis die Gruppen­mitglieder genauso wütend sind. Der Betreffende wird jemanden finden, der zorniger auf ihn ist, als er es je für möglich gehalten hätte, und dieser Zorn wird ihn verletzen und dazu veranlassen, daß er seinen eigenen verzerrten Zorn beachtet. Wir möchten in den Gruppen die Handlungsfreiheit fördern, aber wir wünschen zugleich, daß die Menschen lernen, Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen.

 

Struktur und Dynamik

 

Meine erste Gruppe bestand aus acht Patienten, zwei ihnen gleichgestellten Leitern mit Erfahrung in Begegnungsgruppen und mir. Es handelte sich zunächst um Begegnungsgruppen. Wir begannen mit einer »Runde«, wo jeder Anwesende kurz berichtete, was ihm geschehen war und was er fühlte. Bald kam es dann dazu, daß jemand einen anderen herausforderte und die Begegnungs­dynamik in Gang brachte. Von diesen Gruppen lernten wir etwas über den therapeutischen Wert der Liebe — aber auch des Zorns. Und wir begannen die Rolle der anderen drei Grundgefühle — Schmerz, Furcht und Freude — zu verstehen.

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Allmählich wuchs die Gruppe auf zwölf bis fünfzehn Leute an, dazu ein Leiter. Wir stellten fest, daß bei dieser Zahl noch wirksame Interaktionen aufgenommen werden konnten. Innerhalb der zwei bis drei Stunden, die eine reguläre Gruppensitzung dauerte, konnte eine signifikante Anzahl von Leuten arbeiten, und die meisten anderen waren an dieser Arbeit emotional beteiligt.

Es war immer noch die grundlegende Begegnungstechnik, doch wir lernten damals bereits, wie wertvoll es ist, Gefühlen durch Übungen Ausdruck zu verleihen. Wenn jemand bei einer zornigen Begegnung in Tränen ausbricht, erörtern wir nie den Grund und regen ihn auch nicht dazu an, zornig zu antworten. Häufig bitten wir ihn, jedem von uns das zu zeigen, was er fühlt. Wenn es Furcht war, sagte er zu jedem einzelnen: »Ich fürchte mich« und konzentrierte sich darauf, das Gefühl »in vollem Maß« zu fühlen. Wenn er Schmerz verspürte oder sich isoliert fühlte, baten wir ihn, sein Gefühl mit Worten wie: »Ich habe Schmerzen« oder: »Ich bin in Not« zu zeigen. Da diese Übungen zu tieferen Gefühlen führen, identifizieren sich andere Gruppenmitglieder oft mit ihnen und beginnen, den eigenen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Aus diesen Anfängen entwickelten sich die vielen verschiedenen Übungen, die später in Kapitel 14 beschrieben werden. Aus diesen Anfängen ging auch unser Verständnis für den therapeutischen Wert des Schreiens hervor, mit dem man seine Gefühle äußerte.

Heute sind manche meiner Gruppen noch größer. In Marathonsitzungen finden sich bis zu fünfundzwanzig Menschen zusammen. Bei der Schreitechnik, die wir entwickelt haben, stellen wir fest, daß eine größere Zahl von Gruppenmitgliedern den Prozeß nicht unbedingt verzögern muß. Unsere Methoden machen es möglich, daß mehrere gleichzeitig arbeiten, wobei immer einige andere Mitglieder ihnen helfen, ihre Gefühle auszudrücken. Die Emotionalität in einer solchen Atmosphäre kann den Prozeß sogar beschleunigen, indem sie mehrere Menschen rascher zu ihren Gefühlen führt. Von Zeit zu Zeit legen wir Pausen ein, um darüber zu sprechen, was geschehen ist. Jeder, der gearbeitet hat, bemüht sich, sein Erlebnis im Licht gewisser Einstellungen und Verhaltensweisen zu sehen. Andere Mitglieder tragen ebenfalls ihre Einsichten bei.

In diesem Stadium ist eine Gruppe mehr an einem Lehr/Lern-Gespräch beteiligt als an einer Begegnung. Das ist wichtig für die Beschäftigung mit Einstellungen, die gelegentlich ein subtiles Einsichtsvermögen erfordern, um aufgespürt und verarbeitet zu werden. Während der Erkundung solcher Einstellungen bitten wir den Betreffenden oft, eine andere Übung zu machen: Er soll sich mit einem entstellten Gefühl auseinandersetzen, das seine Einstellung verursacht hat, und statt dieses Gefühls gesunde Gefühle üben. 

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Ein Mann, der sein Leben lang ein Perfektionist war, könnte folgende Erfahrung machen: Zunächst, während des Arbeitens auf der Matte, äußerster Zorn und Schmerz über seinen Vater, der abweisend und anspruchs­voll war, ohne Liebe zu zeigen. Danach ein intellektuelles Verständnis dafür, wie dieses Gefühl den Patienten dazu gebracht hat, sich für unfähig zu halten, etwas richtig zu tun, und für nicht berechtigt, etwas falsch zu machen. Auch, wie die Einstellung oder das Gefühl ihn äußerst kritisch anderen gegenüber hat werden lassen. Schließlich die Bejahung des Gefühls: »Ich kann Fehler machen. Ich kann Fehler machen und trotzdem geliebt werden. Ich pfeife auf dich, Vater, ich bin liebenswert ... um meiner selbst willen!« Eine solche Erfahrung geschieht am besten in einer Atmosphäre von Liebe und Anteilnahme. In diesem Stadium könnte die Begegnungstechnik schädlich sein.

Die Begegnungstechnik hat jedoch immer noch ihren Wert in meinen Gruppen. Sie kann dazu beitragen, daß sich Menschen ihren Gefühlen öffnen (obwohl das unsere Übungen oft ebensogut tun). Sie liefert dem Betreffenden wichtige Einsichten darüber, wie er sich der Welt tatsächlich darbietet. Sie ist ferner ein wirksames Instrument, Menschen wegen ihres Verhaltens zur Rechen­schaft zu ziehen und sie dazu zu bringen, daß sie sich der Gruppe und sich selbst gegenüber verantwortungsbewußt benehmen.

Da war etwa Katie, ein hübsches junges Mädchen aus einer Mittelschichtfamilie. Sie studierte an der New Yorker Universität. Ihre Leistungen waren vorzüglich. Doch sie war heroinsüchtig und wäre vor kurzem fast an Hepatitis gestorben. Ihre Kindheit war traurig gewesen, da beide Eltern sie zurückgewiesen hatten. Ein sadistisches Dienstmädchen hatte sie geprügelt, und sie selbst geriet immer wieder in Verlegenheit wegen des unbezähmbaren Wunsches, beim Umhergehen ihre Genitalien zu halten. (Ihre Mutter hatte Katie, als sie etwa fünf Jahre alt war, wegen dieser Gewohnheit zum Arzt geschleppt. Der legte das kleine Mädchen nackt und mit gespreizten Beinen auf einen Tisch und sagte ihr, wenn sie sich dort noch ein einziges Mal berührte, könnte sie keine Babys bekommen.) Katie wuchs isoliert auf, von ihrer Familie entfremdet und von dem Zwang besessen, gute Schulleistungen zu erzielen. Sie heiratete früh und wurde bald geschieden. Um diese Zeit war sie bereits süchtig.

Wie die meisten Süchtigen war Katie emotional noch ein Kleinkind. Ein Monat in der Gruppe lehrte sie ein wenig, wie sie ihren Zorn äußern konnte. Sie fand auch Zuflucht in der liebevollen Gruppenatmosphäre. Dennoch mußte sie noch viel lernen. Sie berichtet darüber:

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»Während meines ersten Monats in der Gruppe saß ich eines Tages im Hörsaal der New Yorker Universität und fühlte mich furchtbar ängstlich. Ich wußte nicht, weshalb ich mich so unerträglich ängstlich fühlte, aber ich wußte, daß ich mir brennend wünschte, high zu sein. Plötzlich sprang ich mitten in der Vorlesung auf und ging hinaus. Ich nahm ein Taxi und gab die Adresse des Casriel-Instituts an. Ich konnte es gar nicht erwarten, dort zu sein. Dauernd wollte ich aus dem Taxi aussteigen und den ganzen Weg rennen. Als ich schließlich hinkam, platzte ich in eine Gruppe hinein. Die Tränen liefen mir über die Wangen. Der Gruppenleiter fragte mich, was los sei. Ich sprach unter Tränen und sagte, ich hätte mir so sehr gewünscht, high zu sein, und ich könne es einfach nicht ertragen, wie ich mich fühlte, deshalb sei ich aus der Vorlesung weggerannt und zur Gruppe gekommen.

Als ich mit meiner Erklärung fertig war, fing ich noch heftiger zu weinen und schluchzen an. Ich fühlte mich ziemlich rechtschaffen, weil ich hergekommen war, deshalb bedeutete es einen erheblichen Schock für mich, als ich mich umsah und nichts anderes erblickte als Verachtung und Abscheu auf den Gesichtern rund um mich her. Ein Bursche sagte wütend: >Wo bleibt denn deine Entschlossenheit ?< Ich verstand das einfach nicht. Immer wenn ich mich so gefühlt hatte wie in diesem Augenblick, meinte ich, die Leute müßten sehr fürsorglich und sanft mit mir sein. Ich hatte immer geglaubt, falls mich jemand nur schief ansah, wenn ich mich schlecht fühlte, würde ich in tausend Stücke auseinanderfallen. Ich hätte wirklich gern ein Schild mit der Aufschrift zerbrechlich getragen, doch ich vertraute darauf, daß meine qualvollen Blicke diese Nachricht aussenden würden. Was stimmte nicht mit diesen Menschen? Warum sahen sie nicht, wie gefährlich das war? Ein böses Wort, ein häßlicher Blick konnten mich umbringen, wenn ich mich so fühlte wie jetzt (und das war meistens der Fall). Warum verstanden sie das nicht? Und besonders jetzt, wo ich mich so rechtschaffen fühlte, weil ich zur Gruppe gekommen war, statt Heroin zu spritzen.

Dieser Angriff war unbegreiflich. Je wütender sie wurden, desto weinerlicher wurde ich. Schließlich hielt ich sie alle für gefühllos und krank. Als die Gruppe zu Ende war, blieb ich zur nächsten Sitzung. Ich erzählte den neuen Leuten meine Geschichte. Ich tat mir selber so leid wegen der ungerechten Behandlung, die mir zuteil geworden war, daß ich noch lauter zu wimmern anfing. Und wieder gab es die gleiche Reaktion. Abscheu, Verachtung und sogar Langeweile. Niemand wollte sich damit abgeben. Meine schlimmsten Alpträume wurden wahr. Ich wurde angegriffen, als ich mich am hilflosesten fühlte. Und der Gruppenleiter, der immer so nett gewesen war, wurde der gemeinste von allen.

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Während der ganzen zweistündigen Sitzung saß ich da und weinte still vor mich hin und tat mir noch mehr leid als je zuvor. Alle ignorierten mich. Niemand kümmerte sich um mich. Und dann war die Gruppensitzung aus. Ich war schon drei Stunden da, und eine neue Gruppe kam herein. Ich blieb und erzählte der dritten Gruppe meine traurige Geschichte, und, mein Gott, es passierte wieder dasselbe! Der Leiter war noch schlimmer als vorher — geradezu grausam.

Plötzlich war ich aufgesprungen und schleuderte alle dreckigen Worte, die mir einfielen, den verdammten Schweinehunden entgegen. Ich war wütend. Ich schrie und schrie, und als ich endlich fertig war und mich umschaute, sah ich lauter lächelnde Gesichter, die mir zugewandt waren. Der Gruppenleiter fragte, wie ich mich fühlte. Und ich merkte, daß ich mich stark und gut fühlte. Ich war nicht mehr schwach und hilflos. Meine schlimmsten Befürchtungen waren Wirklichkeit geworden. Ich war angegriffen worden - und nicht gestorben! Ich hatte mich gewehrt und fühlte mich verdammt gut. Ich fühlte mich wie eine Frau. Ich hatte wirklich eine Lektion erhalten, die ich nie wieder vergaß. Ich bin kein Krüppel. Ich bin nicht beschädigt. Und ich kann alles tun, was ich wirklich tun will. Das zu wissen ist sehr gut.«

Katie brauchte mehrere Wochen Gruppenarbeit, ehe sie den tiefen Identitätszorn zu fühlen begann, der ihr dabei helfen konnte, ihre Bedürfnisse als Erwachsene — und nicht als emotionales Kind — geltend zu machen. Die meisten Patienten, die in meine Praxis kommen, nehmen in der ersten Zeit mindestens an drei Gruppen pro Woche teil und begnügen sich mit zwei Sitzungen in der Woche, wenn sie mit ihren fundamentalen Gefühlen in Berührung gekommen sind und mit dem Alltagsleben besser fertig werden. Wenn irgend möglich, rate ich den Patienten, mit einer intensiveren Gruppenarbeit zu beginnen — während der ersten ein bis zwei Wochen drei Sitzungen täglich. Gewöhnlich erreicht sie dann der Prozeß weit schneller, und die Tiefe des emotionalen Erlebens bei so konzentrierter Mitarbeit in den Gruppen über mehrere Tage hinweg scheint von anhaltenderer Wirkung zu sein als bei den Patienten, die nur mit wenigen Gruppensitzungen in der Woche beginnen. 

Janovs intensive Arbeit mit neuen Patienten scheint auf das gleiche Ergebnis hinzudeuten. Doch im Gegensatz zu Janov beginnen wir mit dem Gruppenprozeß, nicht mit Einzeltherapie.

 

Projektion und Übertragung

 

Die Interaktion der Begegnungen gibt uns auch Hinweise auf die Probleme der Patienten. Natürlich ist die Gruppe nicht die reale Welt. Sie ist eine besondere, geschützte Situation. Doch in der Gruppe enthüllen die Menschen unvermeidlich, wie sie sich außerhalb der Gruppe verhalten, wie sie fühlen und denken. Die Gruppeninteraktion und verbales Feedback zwingen jeden einzelnen, sich so zu sehen, wie die anderen ihn sehen.

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Sowohl Projektion als auch Übertragung spielen eine wichtige Rolle in den Gruppen. Projektion ist der psychologische Trick, Charakterzüge, die wir haben und für die wir die Verantwortung nicht übernehmen, bei anderen Menschen aufzuspüren (und häufig zu attackieren). Ich habe so manches emotionale Kind erlebt, das in der Gruppe andere anschrie, sie seien »so hilflos«, während sich dieses Kind in Wirklichkeit selbst hilflos fühlte und benahm. Menschen, die andere beherrschen, werden andere wegen dieser Eigenschaft verächtlich machen, Hysteriker werden bei anderen sofort auf Hysterie hinweisen. Ein Teil des therapeutischen Wertes, mehrere Menschen gleichzeitig in einer Sitzung beisammen zu haben, statt als Arzt mit einem einzigen Patienten zu arbeiten, besteht im raschen Abstreifen aller Fassaden. Die Projektion ist ein wertvoller Bestandteil dieser Dynamik. Sie erlaubt der Gruppe Einblicke sowohl in die angegriffene als auch in die angreifende Person.

Das projizierende Gruppenmitglied kann außerdem lernen, wie solche Projektionen sein Leben außerhalb der Gruppe beeinflussen. Der Mensch, der unablässig redet, begreift, daß sein Widerwille gegen einen Arbeitskollegen, der viel redet, in Wirklichkeit eine Verteidigung der eigenen Geschwätzigkeit ist, und es kann geschehen, daß das Verhältnis zwischen beiden danach besser wird. Eine Mutter, die ihre Kinder anschreit, weil sie nicht zugeben, daß sie etwas angestellt haben, erkennt leichter, daß es ihr selber schrecklich ist, eigene Fehler zuzugeben. Eine solche Einsicht könnte ihr kommen, nachdem sie sich klar darüber geworden ist, mit welchem Nachdruck sie ein anderes Gruppenmitglied beschuldigt hat, »immer so perfekt zu sein«.

Projektion kann jedoch auch zu einem negativen Element in den Gruppen führen, zum Abschließen von »Verträgen«, wie wir es nennen. Menschen mit bestimmten Symptomen versuchen häufig, andere mit ähnlichen Symptomen zu schützen. Sie vermeiden es, einander entgegenzutreten, und kommen einander zu Hilfe, wenn die Gruppe angreift. Wir bemühen uns, solche Verträge rasch bloßzustellen, damit jeder der Beteiligten gleich sieht, daß er in Wirklichkeit nur das eigene Symptom zu schützen versucht.

Im alltäglichen Leben schließen wir alle Verträge mit einem großen Kreis von Menschen — Chefs, Sekretärinnen, Onkeln und Tanten, Nichten und Neffen, Nachbarn, Golf- und Tennispartnern und so fort. Zu einem solchen Vertrag gehört die schweigende Vereinbarung, einen anderen auf bestimmten Gebieten nicht zu kritisieren, damit der andere einen selbst auf anderen Gebieten nicht kritisiert.

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Beispielsweise dürfte ein Chef seine Sekretärin nie tadeln, daß sie zu spät kommt oder ihre Mittagsstunde zu lange ausdehnt, während sie sich dafür niemals beschwert, wenn er sie bittet, abends länger zu bleiben oder Arbeiten zu erledigen, die eigentlich nicht zu ihrem Aufgabengebiet gehören. Das ist im wesentlichen ein praktischer Vertrag, der das Verhalten betrifft.

Ein Vertrag kann jedoch auch in Gebiete hineinreichen, die rein psychischer Natur sind. Ein Paar, das miteinander geht, könnte eine Beziehung aufbauen, in der sie die Rolle des kleinen Mädchens spielt, während er die Rolle eines tüchtigen und autoritären Vaters übernimmt. Dieser »Vertrag« erfüllt ihre jeweiligen emotionalen Bedürfnisse. Das einzige Problem dabei ist, daß er in einer realen Situation für beide destruktiv sein könnte und nicht zu einer gesunden, sich weiterentwickelnden Beziehung führt. Falls die beiden heiraten und Kinder haben, wird es zu ernsten Problemen kommen. Die »Klein-Mädchen«-Einstellung der Frau könnte sie zu einer verantwortungslosen Mutter und Hausfrau machen. Die »Supermann«-Rolle des Ehemannes läßt sich einfach nicht aufrechterhalten, und dennoch wäre es ihm unmöglich, seiner Frau gegenüber einige Nummern kleiner zu erscheinen und ihr seine Befürchtungen und Nöte mitzuteilen. Früher oder später muß es unausweichlich zu Unzufriedenheit und Konflikten kommen.

In der Gruppentherapie entwickeln sich solche Verträge gewöhnlich als schweigende Übereinkunft, Abwehrmechanismen, die den eigenen ähnlich sind, nicht zu kritisieren. Das ist nicht nur therapiefeindlich für die Beteiligten, sondern solche Verträge können sich auch als schädlich für die gesamte Gruppendynamik erweisen. Stellen wir uns eine Gruppe vor, die vor allem aus jüngeren Menschen besteht, von denen die meisten antiautoritär eingestellt sind. Wenn nun ein Vater in der Gruppe erscheinen würde, um sich seinem Sohn entgegenzustellen, würde er vermutlich auf erhebliche Feindseligkeit von allen Gruppenmitgliedern stoßen, die stillschweigend vereinbart haben, die Autorität zu attackieren, statt sich über die eigene Verantwortungslosigkeit klarzuwerden. Oder stellen wir uns eine Gruppe vor, in der die meisten Mitglieder gelernt haben, sich der Autorität zu unterwerfen, und deren Leiter ein Mann ist, der die Macht genießt. Die Verträge zwischen der Autoritätsperson und den Untergebenen könnten die Dynamik ziemlich unterdrücken und keine wirklichen Wachstumsmöglichkeiten erlauben — weder für die Gruppenmitglieder noch für den Leiter.

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Mit der Übertragung weist jemand unbewußt einem Gruppenmitglied die Rolle einer für ihn signifikanten Person zu. Typischerweise wird ein starker Mann zum dominierenden Vater oder rivalisierenden Bruder des Betreffenden. Eine reife Frau wird zur Mutter — warmherzig und liebevoll oder tyrannisierend, je nach der Vergangenheit des Gruppenmitglieds, das aus dem Unbewußten heraus die Übertragung vornimmt. Eine sexuell attraktive Frau, die sich wie ein kleines Mädchen benimmt, kann einen Mann äußerst wütend machen, weil sie ihn an eine ältere Schwester erinnert, die ihn, als er noch jung war, herausfordernd hänselte.

Solche Übertragungen kommen in der Gruppe ständig vor, übrigens auch im realen Leben. Ein junger Mann, der Schwierigkeiten hat, seinem Chef entgegenzutreten, überträgt auf ihn vielleicht die besondere »Magie«, die er seinem Vater zuschrieb. Die Ehefrau, die schmollt oder einen hysterischen Anfall bekommt, wenn ihr Mann sie bittet, das Haus sauberzumachen, könnte tatsächlich auf die gleiche Weise ausagieren, wie sie es als Kind tat, wenn ihre Mutter ständig hinter ihr her war, damit sie sauber blieb.

Übertragungen zu verstehen, sobald sie auftreten, ist in unseren Gruppen wichtig. Manchmal benutzen wir die Übertragung als therapeutisches Mittel. Der Hasenfuß, der sich vor seinem Vater fürchtet und diese Gefühle auf einen imponierenden Mann in der Gruppe übertragen hat, wird beispielsweise dazu ermutigt, auf diesen Mann zornig zu werden.

Doch im Grunde versuchen wir, die Übertragung rasch bloßzustellen, damit sie verstanden und dann bekämpft werden kann.

Im Gegensatz zur Psychoanalyse oder anderen Einzeltherapiesystemen hätscheln wir die Übertragung in unserem Prozeß nicht und versuchen auch nicht ständig, sie zu ergründen. Nehmen wir das schüchterne Mädchen, deren Mutter schön war und die sich in Gegenwart eines, sagen wir, Fotomodells in der Gruppe häßlich und sexuell reizlos vorkommt. In unseren Gruppen redet dieses Mädchen nicht endlos darüber, wie minderwertig es sich fühlt. Wir bitten die junge Frau vielleicht, den Schmerz über ihr Minderwertigkeitsgefühl oder ihre Furcht vor sexueller Attraktivität zum Ausdruck zu bringen. Doch das Ziel, das wir so rasch wie möglich ansteuern, ist, sie dazu zu bringen, daß sie ihre eigene erwachsene Weiblichkeit ausdrückt - trotz der Gegenwart des Fotomodells im Raum. Wir veranlassen sie, jedem einzelnen im Saal gegenüber zu erklären: »Ich bin eine Frau, und ich bin liebenswert.« Diese Übung zu machen und dann die Bestätigung und Zustimmung der Gruppe aufzunehmen hilft ihr beim Lernen, welches Gefühl es ist, eine selbstsichere und sexuell anziehende erwachsene Frau zu sein.

Wir konzentrieren uns auf die gesunden Gefühle, die man sich selbst entgegenbringt, nicht auf die ungesunden Gefühle, die in der Übertragung vorherrschen.

 

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Parallelgruppen

 

Das unvermeidliche Auftreten von Projektion und Übertragung hat mich veranlaßt, die Gruppen so einzurichten, daß die meisten Patienten (vor allem neue) verschiedene Gruppen und nicht immer nur dieselbe besuchen und sich mehr als einem Gruppenleiter gegenübersehen. Auf diese Weise vermeiden wir einige »Vertrags«-Probleme, die sich aus der Projektion ergeben und von Leuten verursacht werden, die es einander allzu bequem machen. Wir verringern außerdem die Gefahren der Übertragung — besonders auf Gruppenleiter, denen aufgrund ihrer Rolle unausweichlich besondere »Magie« zugeschrieben wird.

Ich habe Reste von blinden Flecken, Vorurteilen und Verklemmungen, und ebenso geht es meinen Gruppenleitern. Wenn die Patienten Gruppen mit verschiedenen Leitern besuchen, werden sie verschiedenen Arten des Vorgehens, verschiedenen Verklemmungen, verschiedenen intuitiven Reaktionen auf Abwehrmechanismen ausgesetzt. Ein Gruppenleiter kann von einem einzelnen getäuscht werden (in der Einzeltherapie ist das eine ständige Gefahr), doch zwei oder drei in den Gruppen über längere Zeit hinweg zu täuschen, ist fast unmöglich.

Roland behauptete beispielsweise in einer Gruppe, er sei impotent. Er sei nicht in der Lage, bei dem Mädchen, mit dem er gehe (die ebenfalls Mitglied dieser Gruppe war), eine Erektion zu bekommen. Die Gruppe — und das Mädchen — brachte ihm wegen dieses Problems viel Sympathie entgegen. Er sprach über früher, als er zu normalem Geschlechtsverkehr fähig gewesen sei, und allen tat er leid. Er »arbeitete« an seinem Schmerz und seinem Zorn. Dann spürte jemand in einer anderen Gruppe eines Tages »gemischte Signale«, als Roland redete. Als Roland damit konfrontiert wurde, enthüllte er, daß er regelmäßig mit einem kessen jungen Mädchen schlafe, das ihn reize. Die erste Gruppe, die ihm soviel Mitgefühl gezeigt hatte, war wütend, und ebenso die Frau, mit der er ging und die ihm nun prompt den Laufpaß gab. Leider verließ Roland die Gruppentherapie nach dieser Konfrontation. Doch das Wesentliche an diesem Beispiel ist, daß eine Gruppe, die wöchentlich zusammenkommt, lange Monate hätte getäuscht werden können. Zwei Gruppen mit verschiedenen Leitern waren nicht so leicht zu täuschen. Es gab andere Fragen, andere Reaktionen.

Wenn neue Menschen in eine Gruppe eingeführt werden, durchschauen mindestens einige die Abwehrmechanismen eines Manipulators und attackieren ihn. Der ständige Wechsel der Teilnehmer ist für viele unbequem, doch von therapeutischem Wert ist er praktisch für jeden. Er ist ein Hauptprinzip meines Gruppensystems. Hin und wieder versuchen wir, ein paar neue Menschen in jede Gruppe einzuführen.

 

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Ebenbürtige Gruppenleiter

 

Die meisten meiner Gruppenleiter (die ich auch »Katalysatoren« nenne) sind beruflich nicht als Psychologen oder Psychiater ausgebildet. Die fehlende berufliche Ausbildung kann ein Vorteil sein. Sie erlaubt es meinen Gruppenleitern, sich aktiv an der Gruppendynamik zu beteiligen, ohne fürchten zu müssen, daß sie ein berufliches Image verletzen. Katalysatoren müssen ein Gruppenmitglied zornig anschreien, andere liebevoll berühren und umarmen, Furcht zeigen, vor Schmerz weinen und sogar entstellte oder unangemessene Gefühle zeigen können, falls sie welche verspüren. Schließlich sind Gruppenleiter Menschen — mit den Patienten auf gleicher Stufe — und keine gottähnlichen Autoritätsfiguren, die die meisten Psychiater und Psychologen Patienten gegenüber sein zu müssen glauben.

Bezeichnenderweise müssen die Psychologen und Psychiater, die ich mit der Leitung von Gruppen betraue, die eingewurzelte emotionale Isolierung des Arztes ablegen, um ein erfolgreicher Katalysator zu werden. Nur wenige Psychiater und Psychologen sind emotional offen. Ihre klassische Ausbildung verstärkt die emotionale Verschlossenheit noch. Doch wenn sie sich nicht selbst emotional verletzbar machen, werden die Gruppenmitglieder ihnen nicht trauen.

Als Arzt mache ich eine Reihe von Dingen weniger gut als manche meiner Gruppenleiter. Ein ausgezeichneter Katalysator war beispielsweise äußerst erfolgreich darin, zornig auf die Gruppenmitglieder zu werden. Seine Fähigkeit, bestimmte Gruppen­mitglieder mit seinem Zorn herauszufordern, öffnete sie für ihre Gefühle weit schneller, als ich es gekonnt hätte. Meine ärztliche Ausbildung und mein berufliches Image stehen bisweilen auch meiner Fähigkeit im Weg, Gruppenmitglieder so zu berühren und zu umarmen, wie ich es gern wünschte und müßte. Manche meiner Katalysatoren sind auch darin besser.

Alle meine Gruppenleiter waren einmal Gruppenmitglieder in meiner Praxis. Dort erwiesen sie sich durch ihre Wahrnehmung und Einfühlung als ungewöhnlich hilfreich für andere. Sie veranlaßten, daß etwas geschah, bewiesen außergewöhnliche Einsicht und zeigten die Fähigkeit, mit ihren Gefühlen ehrlich zu sein. Unter ihnen wählte ich einige aus und bot ihnen ein besonderes Ausbildungsprogramm an: einen Vorlesungskurs über die Theorie meiner Gruppen, eine Reihe von Gruppen und eine Marathonsitzung. Es folgten Gruppen mit Katalysatoren und anderen angehenden Katalysatoren. Danach erhielt der Betreffende mehrmals Gelegenheit, mit mir oder einem anderen Gruppenleiter als Ko-Katalysator zu arbeiten. Schließlich war er, wenn alles gut ging, bereit, seine erste Gruppe zu leiten — allein!

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Da meine Gruppenleiter Menschen sind, machen sie Fehler — genau wie ich und andere Psychiater. Dennoch besitzen sie drei wichtige Eigenschaften: die Fähigkeit, ihre Gefühle ehrlich zu zeigen; die Fähigkeit, für die Emotionen anderer Empathie zu haben; und die Fähigkeit, ohne allzuviel persönliche Entstellungen zu Einsichten zu gelangen. Wenn man alles zusammennimmt, dann sind meine Gruppenleiter tatsächlich sehr tüchtig in ihrer Arbeit.

Ich bitte jeden Gruppenkatalysator, monatlich einen Bericht über die Fortschritte aller Mitglieder seiner Gruppen zu schreiben, und ich halte regelmäßig Besprechungen mit meinen Gruppenleitern ab, um über die Fortschritte jedes einzelnen Patienten im Gruppensystem auf dem laufenden zu bleiben. Wir diskutieren über schwierige Patienten, über Behandlungsmethoden, darüber, ob ein Wechsel des Gruppenleiters für einen Patienten günstig sein könnte, und so fort. Manchmal erscheint es wünschenswert, daß der Ehepartner eines Patienten ebenfalls an den Gruppen teilnimmt. In solch einem Fall setzt sich der Gruppenleiter nach unserem Gespräch mit dem Betreffenden in der Gruppe darüber auseinander, weshalb der Ehepartner nicht auch an der Therapie teilnimmt. (Häufig fordert die ganze Gruppe, daß ein Mitglied seinen Partner bittet, »zur Gruppe zu kommen«. Wir wollen nicht vergessen: Der Weg zu besserer emotionaler Gesundheit beginnt mit Taten.)

Außerdem begegnen die Katalysatoren und ich uns regelmäßig in Trainingsgruppen. Diese Sitzungen verfolgen viele Ziele. Erstens möchte ich eine emotional fortgeschrittene Gruppe mit meinen Gruppenleitern aufrechterhalten und mich darauf verlassen können, daß wir dort unsere Probleme, die sich auf die Führung von Gruppen beziehen, durcharbeiten. Zweitens wünsche ich in ständigem Kontakt mit der emotionalen Entwicklung meiner Katalysatoren zu bleiben. Drittens stauen wir alle Gefühle des Zorns, der Furcht, des Schmerzes und der Liebe zueinander auf, und diese Gefühle müssen gezeigt und freigesetzt werden.

 

 

Sondergruppen

In unseren Basisgruppen von zwölf bis fünfzehn Mitgliedern finden sich Menschen verschiedener Altersstufen, von unter zwanzig bis in die Sechziger oder Siebziger. Die meisten sind in den Zwanzigern, Dreißigern und Vierzigern. Ich bemühe mich, die Gruppen nach den Fortschritten der Mitglieder in der Therapie zusammenzusetzen- Anfänger (mit einigen Erfahreneren zusammen). Mittlere und Fortgeschrittene.

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Von dieser Unterscheidung abgesehen sind die Gruppen ziemlich vielfältig zusammengestellt.

In den letzten Jahren habe ich mit neuen Verfahren und Techniken experimentiert. Wir haben beispielsweise Sondergruppen für Jugendliche von dreizehn bis fünfzehn, die anscheinend erfolgreich sind. Dagegen nehmen wir ältere Jugendliche (sechzehn und darüber) oft in Erwachsenengruppen auf. Wir haben in den Gruppen festgestellt, daß Jugendliche in dem, was sie einander beibringen können, häufig recht begrenzt sind. Manches lernen sie besser von Erwachsenen. Außerdem machen die Jugendlichen beim Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein eine Identitätskrise durch. Wer sind sie? Welche Möglichkeiten haben sie? Was wird von ihnen als Erwachsenen erwartet? Was ist das für ein Gefühl, erwachsen zu sein? Die Jugendlichen haben mehr Aussicht, die Antworten zu finden, wenn sie in den Gruppen Verbindung mit Erwachsenen aufnehmen. Wenn wir die Gruppen mischen, zerstören wir auch die Hackordnung, die sich in jeder festen Gruppe entwickelt. Solche Hierarchien herrschen besonders in Gruppen von Jugendlichen, wo das Urteil der Gleichaltrigen so entscheidend wichtig ist.

Die Jugendlichen, die an Erwachsenengruppen teilnehmen, üben einen erfrischenden und therapeutisch nützlichen Einfluß aus. Ihre Ehrlichkeit und Einsicht bringen manche Erwachsenen in Verlegenheit und spornen andere zur Arbeit an. Und die Jugendlichen haben den Vorteil, aus erster Hand lernen zu können, daß die Erwachsenen zwar nicht für alles Lösungen haben, aber doch für einiges. Die gemischten Gruppen helfen den jungen Menschen meiner Ansicht nach weit mehr, als die reinen Jugendgruppen es könnten. Für kleinere Kinder haben wir altersmäßig gegliederte Gruppen — sechs bis acht, acht bis zehn, zehn bis zwölf. Wir modifizieren den Prozeß ihrem Alter entsprechend, aber die Kinder lernen ebenfalls, zu ihren ehrlichen Gefühlen vorzustoßen, ein »verbotenes« Gefühl wie jedes andere zu akzeptieren und Liebe auf bessere Art aufzunehmen.

Gelegentlich gibt es, wenn es sich als notwendig erweist, Gruppen, die sich auf bestimmte Symptome konzentrieren — beispielsweise auf Homosexualität. Im Augenblick leite ich eine Gruppe für Dicke. Die Ergebnisse sind ausgezeichnet: Eine Reihe von Patienten hat signifikant abgenommen. Ein Vorteil bei Gruppen dieser Art ist, daß die Übertragung leicht durch Symptom­identifizierung erzielt wird. Die Gruppe gelangt sehr rasch zu ernsthafter Arbeit.

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Wir haben auch spezielle Gruppen für Ehepaare. Mindestens ein Partner aus jeder Ehe wird aufgefordert, gleichzeitig noch andere Gruppen zu besuchen. Und wir bemühen uns dafür zu sorgen, daß beide Mitglied in Gruppen werden, die ihr Ehepartner nicht besucht. In den Gruppen für Ehepaare gewinnen die Teilnehmer gewisse Einblicke in ihre Ehe, indem sie an der Dynamik anderer Ehen beteiligt werden. Manchmal erlaubt die sichere Atmosphäre der Gruppe den Teilnehmern auch, sich in einer Art und Weise entgegenzutreten, wie sie es zu Hause nie wagen würden.

Bei diesen Gruppen gibt es einige besondere Probleme. Erstens besteht die Gefahr, daß sie eine Art Klub werden. Paare kommen regelmäßig zu Partys und Abendgesellschaften zusammen, entwickeln starke Freundschaften und schließen sehr häufig »Verträge«, die therapeutisch keinesfalls günstig sind. Zweitens wird der berüchtigte Kampf der Geschlechter offensichtlich. Männer neigen dazu, die Partei von Männern, Frauen die von Frauen zu ergreifen; und diese Abwehrmuster haben mehr mit dem Geschlecht als mit der individuellen Gesundheit zu tun. Die Therapeuten und Gruppenmitglieder müssen für diese Probleme ein besonders wachsames Auge haben, wenn die Gruppe erfolgreich werden soll. Wenn ich sehe, daß sich solche Tendenzen entwickeln, baue ich die Gruppe um.

Als weiteres Experiment haben wir gelegentlich Videoaufnahmen in den Gruppen gemacht, damit sich die Gruppenmitglieder die sofortige Wiedergabe zunutze machen können. Wenn die Menschen zunächst auch der Kamera wegen befangen sind, vergessen sie sie doch sofort, sobald die Dynamik sie erfaßt. Ich habe diese Geräte gelegentlich verwendet, benutze sie derzeit jedoch nicht für Zwecke der Behandlung. Ich bin zwar überzeugt, daß die Einsichten, die Menschen daraus gewinnen, sich selbst auf dem Schirm zu sehen, von therapeutischem Wert sein können, doch die Zeit, die man mit einem Gruppenleiter verbringt, um sich eine Videoaufnahme wieder anzusehen, ist besser genutzt, wenn man in zusätzlichen Gruppen mehr lernt und arbeitet. Das Magnetbildband ist allerdings ein ausgezeichnetes Mittel für die Ausbildung von Gruppenleitern, für die Demonstration meines Prozesses und für einen Unterricht, der mir und anderen Lehrern Zeit spart.

 

Marathonsitzungen

 

Nachdem ein Patient einige Wochen an Gruppen teilgenommen hat, schlagen wir gewöhnlich eine Marathon­sitzung vor. Manchmal ist eine Marathonsitzung schon nach nur ein oder zwei Wochen Gruppen­therapie ratsam. In anderen Fällen empfehlen wir sie erst nach sechs Wochen. Selbstverständlich gibt es keine feste Regel. Es kommt immer auf den einzelnen an.

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Die Marathonsitzungen dauerten ursprünglich dreißig Stunden, im allgemeinen von Freitagabend bis Sonntagmorgen mit einer Pause von vier bis fünf Stunden am Samstagnachmittag zum Schlafen. Das Ziel einer Marathonsitzung war es, emotionale und einstellungsmäßige Abwehrmechanismen aufzubrechen, um einem Patienten dabei zu helfen, daß er zu lange verschütteten, tieferen Emotionen durchstoßen konnte.

Von Anfang an waren die Marathonsitzungen außerordentlich wirksam. Sie schufen ein neues Gefühl der Verbundenheit zwischen den Teilnehmern. Durch die bei Marathonsitzungen gewonnenen Einsichten war ich außerdem imstande, einen großen Teil der frühen Theorien und Techniken zu entwickeln, die in meinen Gruppen angewendet wurden. Es war, als ob ich ein neues Instrument hätte, ein Mikroskop für menschliche Bedürfnisse und Gefühle, durch das ich Dinge sehen konnte, die ich vorher noch nie wahrgenommen hatte.

Es ist schwer, Worte zu finden, um diese ersten Marathonsitzungen zu beschreiben. Manche waren besser, andere weniger gut. Eines hatten die meisten gemeinsam: das wesentliche Gefühl von Offenheit, Nähe, Liebe. Es gab ein neues Bewußtsein für andere, eine neue Identität des Ichs. Die Menschen fühlten sich miteinander verbunden wie die Mitglieder einer gesunden Familie. Teilnehmer einer Marathonsitzung umarmten einander liebevoll. Ihre Gesichter waren voller Leben — trotz ihrer Müdigkeit. Sie waren »high« von dem Gefühl der Zusammengehörigkeit, das alle verspürten.

Marathonsitzungen konnten übrigens sehr dynamisch sein. Häufig erlebten Menschen signifikante Durchbrüche zu Gefühlen und besonderen Erinnerungen, die sie zuvor völlig blockiert hatten. Eine Frau, Anfang Vierzig, hatte ein ungewöhnlich unglückliches Leben gehabt. Ihre trunksüchtige Mutter hatte sie »genau nach dem Buch« erzogen, und es war ein grausames Buch — zweimal täglich Schläge mit der Rute, Einsperren in einer fensterlosen Kammer, wenn sie das Bett naßgemacht hatte. Sues Beziehung zu ihrem Vater dagegen war verführerisch. Er nahm sie auf den Schoß und streichelte ihre Waden und Oberschenkel. In der Pubertät massierte er ihr jeden Abend die Beine, um den durch die Hormone ausgelösten Krämpfe zu lindern, die sie wegen ihrer zu lange anhaltenden Menstruation manchmal sechs Wochen lang einnehmen mußte. 

Die Massage erstreckte sich bald auch auf Genitalien und Brüste, und wenn Sue auch begriff, daß die Bemühungen ihres Vaters sexueller Natur waren, genoß sie sie doch zu sehr, um sie beenden zu wollen. Sie hatte eine verschwommene Erinnerung daran, daß ihre Mutter jedesmal ungeduldig im Nebenzimmer wartete, wenn ihr Vater sie streichelte.

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Als Sue erwachsen war, heiratete sie einen Mann, der sie zu Gruppensex zwang. Sie hatte zwei Kinder von ihm. Sue fing zu trinken an und beantragte schließlich die Scheidung. Im Jahr 1965 heiratete Sue einen anderen Mann, dann suchte sie mich einige Jahre später auf, als auch diese Ehe brüchig wurde.

Durch die Gruppenarbeit gelang es Sue, etwas von den Gefühlen ihrer Mutter gegenüber auszudrücken. Sie erinnerte sich ihrer Mutter als einer Frau, die sie ständig ausschalt und auslachte. Aber es wurde ihr schwer, zu Gefühlen über ihren Vater zu kommen. Inzwischen hatte sie eine außereheliche Liaison mit einem empfindsamen liebevollen Mann, der mit schweren sexuellen Problemen rang, unter anderem auch einer langen Zeit der Homosexualität. Sue begann ihre dritte Marathonsitzung — sie wußte, daß sie die Beziehung zu diesem Mann abbrechen sollte, konnte sich jedoch nicht dazu entschließen. Robert war für sie etwas wie ein Ritter in schimmernder Wehr, obwohl sie auch miteinander sexuelle Probleme hatten.

Sue beschrieb die Marathonsitzung folgendermaßen:

»Ich fürchtete mich sehr. Irgendwie wußte ich vorher, daß es den Bruch zwischen Robert und mir bedeuten würde. Nicht nur, daß die Leiter gegen unsere Beziehung waren - das hätte ich um meiner Liebe willen durchgestanden. Es war mehr eine Furcht vor dem, was in der Marathonsitzung herauskommen würde, vor dem, was meine eigenen Gefühle betraf. Jedenfalls gingen Robert und ich zu der Marathonsitzung. Ich arbeitete mit anderen, war aber erst gegen achtzehn Uhr auf meine eigenen Gefühle >eingeschaltet<.

Dann ging ich ins Badezimmer. Ich hatte einen rosa Pullover und lange Hosen an. Ich saß auf der Toilette und schaute an mir herunter — nackt von den Hüften abwärts. Ich war sehr müde. All meine Abwehrmechanismen waren zusammengebrochen, weg. Plötzlich erinnerte ich mich, daß ich auf einer Toilette saß, eine rosa Pyjamajacke trug und Daddy am Waschbecken stand und Wasser über seinen blutigen Penis laufen ließ. Mama lehnte am Türpfosten und lachte hysterisch oder betrunken.

Irgendwie brachte ich es fertig, das Badezimmer in Dans Sprechräumen zu verlassen und in den Marathonsaal zurückzugelangen. Innerlich schrie ich. Äußerlich zitterte ich. Ich unterbrach, was im Saal vor sich ging, und sprudelte die Geschichte jenes Abends heraus, an dem mein Daddy betrunken nach Hause gekommen war und mich vergewaltigt hatte. Ich hatte keinerlei Erinnerung an den Vorfall gehabt bis zu dieser Marathonsitzung. Jede winzigste Einzelheit kehrte zurück kristallklar. 

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An jenen Abenden hatte ich immer nur die Schlafanzugjacke angezogen, wenn ich ins Bett ging, weil ich hoffte, er würde hereinkommen und mir wieder >die Beine massieren<. Dann kam er schließlich. Doch diesmal war es nicht die liebkosende, streichelnde >Liebe< wie bisher. Er zog mir die Decke weg und legte sich auf mich. Er drückte mir die Beine auseinander, und ich spürte nichts als den brennenden, quälenden Schmerz in der Vagina. Er legte mir die Hand auf den Mund, als ich zu schreien begann, und dann drückte er mir ein Kissen auf's Gesicht und stieß die Faust in das Kissen, daß ich würgen mußte. Ich begann zu erbrechen. Ich wurde ohnmächtig. Das nächste, was ich aufnahm, war, daß ich zum Badezimmer geschleppt und auf den Toilettensitz gepackt wurde. Ich sah, wie er das Blut abwusch, und glaubte, er sei ernstlich verletzt. Ich war wütend auf Mama, weil sie über ihn lachte, wo er doch verletzt war. Ich versuchte aufzustehen, aber ich blutete. Ich bat Mama, mir eine Binde zu holen - ich sagte: >Ich glaube, meine Periode hat angefangen. < Sie holte mir Gürtel und Binde. Ich machte sie um. Mama war in meinem Zimmer und zog die Bettwäsche ab. Sie war blutig. Das verstand ich nicht. Ich dachte, meine Periode habe begonnen, und ich hätte das Bettzeug schmutzig gemacht. Die Vagina brannte mir wie Feuer. Ich legte mich auf die unbezogene Matratze und weinte mich in den Schlaf. Etwa einen Monat später ging Daddy mit mir zum Arzt, einem alten und in Medizinerkreisen geachteten Mann. Wir gingen an einem Sonntag zu ihm. Dieser Arzt machte alle möglichen Untersuchungen, und in der folgenden Woche ging ich in das beste Krankenhaus der Stadt wegen einer Schwangerschaftsunterbrechung.

Während dieser Marathonsitzung erlebte ich all das Entsetzen der Vergewaltigung, ihre Nachwirkungen und die Abtreibung noch einmal. Ich schrie — und spürte Daddys Hand auf dem Mund und das Kissen, das mich fast erstickte. Ich roch seinen Alkoholatem und fühlte seinen Stoppelbart. Und ich spürte, wie mich sein Penis auseinanderriß. Ich erlebte die ganze Episode in diesem Marathonraum noch einmal. Ständig waren Menschen bei mir. Dorothy und Penny und Robert und die Katalysatoren. Robert sagte immer wieder, ich solle alles herausschreien. All das Entsetzen, all den Dreck. Es war, als würde ich meine Seele ausspeien. Auf einem Stuhl hatte ich begonnen. Ich endete auf dem Fußboden, wo ich schrie und mich erbärmlich fühlte.

Schließlich hatte ich es hinter mir. Ich fühlte mich häßlich, schmutzig, verächtlich, hassenswert. Ich konnte keinen im Raum ansehen. Aus weiter Ferne vernahm ich die Stimmen der Gruppenleiter. Sie sagten mir: >Du bist doch erst dreizehn gewesen, Sue ... noch ein Kind. Es war doch nichts Böses, daß du seine Liebe auf die einzige Weise haben wolltest, die du dir vorstellen konntest — die verführerische.< Das sagten sie immer wieder. Sie forderten mich auf, die Menschen im Raum anzusehen.

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Schließlich sah ich sie an. Ich sah Mitleid und Liebe. Sie redeten weiter. Ich wollte nichts anderes, als mich in einem Loch verkriechen und sterben. Doch sie redeten weiter und sagten, ich solle aufstehen und mich auf meinen Stuhl setzen. Schließlich sagte ich: >Das habe ich noch niemandem erzählt, nicht einmal mir selbst.< Dann sprach einer der Leiter mit seiner Baßstimme zu mir — sanft, zärtlich. Er sagte ständig, daß es ein Verbrechen gewesen sei, was sie mir angetan hätten, daß ich es zugeben müsse und dann bekämpfen müsse. Ich erwiderte: >Ich weiß, aber ich bin so müde.< Ich war wirklich erschöpft. Etwas von dem Schuldgefühl und der Erniedrigung war weg, doch ich fühlte mich ausgequetscht. Er beharrte jedoch darauf: >Sue, du mußt es jetzt tun. Jetzt, solange noch alles frisch in deiner Erinnerung ist.< Ich protestierte schwach. Dann kam der andere Leiter herein und sagte: >Sue, würdest du deinen Sohn ficken?< Da ging ich hoch >Nein! Niemals!< - >Aber fühlst du dich nicht sexuell von ihm angezogen?< >Doch, natürlich.< Dann: >Warum kannst du denn nicht zornig auf deinen Vater werden, weil er dir das angetan hat?<

Sie drängten mich und stachelten mich an, bis ich schließlich aufstand und mit jeder Faser meines Körpers und meiner Emotionen zornig wurde. Es war ein prächtiger vollkommener zorn.

Nun war mir völlig klar, daß mein ganzes pathologisches Verhalten nur ein Auswuchs des >Vertrages< war, der insgeheim zwischen mir und Daddy bestand.

Nach der Marathonsitzung wünschte ich mir Sex. Mein ganzer Körper prickelte vor Begierde und Erwartung. Robert schaffte es nicht. Er verstand meine Verjüngung, aber er war meiner offenen Begierde nach der Liebe eines Mannes einfach nicht gewachsen. Wir trennten uns. Es war schrecklich. Ich wollte mich an den schimmernden weißen Ritter klammern, aber ich brauchte mehr. Ich wollte, daß mich der Ritter als Frau begehrte. Doch das konnte er nicht. Und so blieb es dabei. Ich saß auf seinem Schoß und weinte wie eine Sechsjährige, die gerade entdeckt hat, daß es den Weihnachtsmann nicht gibt. Robert hielt mich umschlungen und begriff, aber er konnte kein anderer sein als er selbst.

Dann fing ich an, mich mit anderen Männern zu verabreden. Darunter mit Steven (ihrem entfremdeten Ehemann), der bereits drei Marathonsitzungen, viele Gruppen hinter sich hatte und ganz anders geworden war. Er war offen, warmherzig, liebevoll - bei unserer ersten Verabredung weinte er sogar in der Öffentlichkeit.

Nach mehreren Monaten waren wir wieder versöhnt. Jetzt bin ich fähig, Steven all meine Gefühle zu zeigen, und die Kinder sind auch in Gruppen. Wir sind dabei, eine Familie zu werden.«

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Nicht alle Durchbrüche sind so dramatisch. (Zum Glück sind die Geschichten der meisten Patienten nicht so tragisch, wenn auch die Häufigkeit des Inzests in unserer Kultur, wie ich bei meinen Gruppenmitgliedern gesehen habe, viele überraschen würde.) Für Sue waren drei Marathonsitzungen und viele Gruppenabende nötig, um dieses schreckliche Geheimnis, das ihr Leben so tief beeinträchtigt hatte, ans Tageslicht zu bringen. Und danach bedurfte es noch vieler Gruppen, dazu schwerer Arbeit mit ihrem Ehemann und den Kindern, um Sues gesunde Gefühle zu kräftigen, damit sie ein Leben mit etwas Freude und ein wenig Glück beginnen konnte.

Ich weiß nicht, ob Sue mit Hilfe unserer neuen Schreitechniken schneller zu dieser furchteinflößenden Erinnerung gelangt wäre. Ich habe jedoch entdeckt, daß diese Techniken im allgemeinen eine längere Marathonsitzung überflüssig machen. Ehe wir diese Techniken entwickelt hatten, lag der Hauptwert der dreißigstündigen Marathonsitzungen darin, daß wir viel Zeit hatten. Viele Emotionen schäumten hoch. Die Müdigkeit lahmte die Abwehrmechanismen. Der berauschende Geist der Liebe und Verbundenheit ermutigte die Menschen, nach neuen Einsichten zu suchen.

Mit den Schreitechniken brauchen wir nicht mehr so viel Zeit. Jetzt können bis zu fünfundzwanzig Menschen an einer Marathonsitzung teilnehmen. Obwohl sie nicht länger als sechzehn Stunden dauert, kommt jeder zum Arbeiten. Der Hauptgrund ist der, daß wir die Verantwortung für die Aktion von der Gruppe auf den einzelnen verlegt haben. In längeren Marathonsitzungen brachten wir manchmal zwei Stunden mit einer einzigen Person zu, deren Abwehrmechanismen verhärtet waren- wir spornten sie an, schmeichelten ihr, trieben sie zur Arbeit an. Heute sage ich den Menschen in den Marathon- (und in allen Gruppen-) Sitzungen, daß es ihre Verantwortung sei, für sich selbst zu arbeiten. Deshalb sind oft mehrere Teilnehmer gleichzeitig auf den Matten. Auf diese Weise hat jeder eine Chance, zu seinen tiefsten Gefühlen durchzustoßen, und den meisten gelingt es auch. Wenn ein Gruppenmitglied selbst die Verantwortung dafür übernimmt, die Schwelle zu neuen Gefühlen zu überschreiten, dann hat das Erlebnis mehr Wert für ihn. In den früheren Marathonsitzungen hatten allzu viele ihr Erlebnis später bestritten und erklärt, die »Gruppe habe sie hineingetrieben« oder sie seien »einfach müde« gewesen.

Diese Art der Marathonsitzungen hat ein wenig von der schwindligen Freude verloren, die wir früher nach den dreißig Stunden langen Sitzungen empfanden. Viele Leute hatten vorher niemals diese Verbundenheit erlebt, und die Erinnerung daran bedeutete ihnen gewiß etwas, das sie gern wieder erleben wollten. 

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Unsere heutigen Marathonsitzungen haben tatsächlich dieses Gefühl der Verbundenheit verloren. Dafür haben sie auch den Rausch vermindert, der, wie ich fand, häufig irreführend war. Die Leute kamen nach einer Marathonsitzung hoffnungslos deprimiert in die folgende Gruppe, weil alle guten Gefühle verschwunden waren. Sie fühlten sich beraubt und standen dem ganzen Prozeß mißtrauisch gegenüber. Niemand kann eine solche Freude ständig beibehalten. Niemand sollte eine solche Hochstimmung dauernd in der realen Welt erwarten. Diese Leute hatten erwartet, daß die guten Gefühle durch Magie erhalten bleiben würden. In Wirklichkeit besteht das Leben jedoch aus einem ständigen Auf und Ab. Was man braucht, ist ein reifes Ichgefühl als Person, die fähig ist, sich ein Maximum an Wahlmöglichkeiten in bezug auf Gefühle, Einstellungen und Verhaltensweisen innerhalb des realistischen Rahmens der Alltagswelt zu sichern. Dieses Ichgefühl zu erwerben setzt eine harte Arbeit voraus, wie sie unsere heutigen Techniken erfordern.

Wir bestärken das Marathon-Erlebnis durch sogenannte »Post-Marathon-Gruppen«. Die Menschen, die eine Marathonsitzung beginnen, verpflichten sich, danach zwölf Wochen lang wöchentlich an einem Abend zusammenzukommen. Bei diesen zwölf Post-Marathon-Sitzungen kommen sich die Menschen, die einander bereits gut kennengelernt haben, gewöhnlich noch näher. Die Bindung wird gefestigt. Auch die Einsichten, die durch die Schreierlebnisse gewonnen wurden, werden untersucht und verstärkt. Manche Menschen kommen ihrer Verpflichtung, bei den Post-Marathon-Gruppen zu erscheinen, nicht nach. Das sind fast immer Leute, die wegen der Kritik und des Zorns anderer »ein schlechtes Marathon« gehabt haben. Einige Marathonteilnehmer können wegen früherer Verpflichtungen nicht an einem bestimmten Abend kommen. Nach wenigen Wochen ersetzen wir diese Leute durch andere von vergleichbarer emotionaler Reife. Der doppelte Zweck ist der, die Intensität der Gruppe aufrechtzuerhalten und besondere »Verträge«, die sich vielleicht zwischen Gruppenmitgliedern entwickelt haben, zu brechen.

 

Verantwortlich für die eigenen Gefühle

 

Wir haben in den neueren Marathonsitzungen erkannt, daß ein Erlebnis am besten aufgenommen und als Lernchance betrachtet wird, wenn der Betreffende von Anfang an die Verantwortung übernimmt, an seinen Gefühlen zu arbeiten. Eine solche Verantwortung tritt in der Dynamik der Gesamtgruppe in mehreren Grundformen auf.

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Erstens übernimmt jemand die Verantwortung für seine Gefühle, indem er daran arbeitet zu zeigen, was er ehrlich und intensiv fühlt, ganz gleich, wie »böse« das Gefühl auch zu sein scheint. Auf diese Weise kann er anfangen, die verborgenen Gefühle zu verstehen, die sein Leben beeinflußt haben. Wenn er es völlig akzeptieren kann, daß er diese Gefühle hat, ist er in der Lage zu erkennen, wie sie sein Verhalten beeinflussen. Wenn ein Zwangsneurotiker, der nicht in der U-Bahn fahren kann, den Zorn erlebt und akzeptiert, den er auf seinen Vater gefühlt hat, begreift er vielleicht, wie sich dieser Zorn in seine besondere Phobie umgesetzt hat. Die Einsicht wird ihm helfen, jedesmal, wenn er sich einer U-Bahn-Station nähert, seine Furcht zu überwinden.

Zweitens gewinnt ein Mensch dadurch, daß er die Verantwortung für seine tiefen Gefühle übernimmt, auch die Stärke seiner Identität. Er ist ein Mensch, der Anspruch auf seine Gefühle hat, ganz gleich, wie sie beschaffen sind. So mancher kann nicht kontrollieren, was er fühlt; er sollte auch nicht für das, was er fühlt, bestraft werden. Was zählt, ist, wie er mit diesen Gefühlen fertig wird - wie er als verantwortlicher Erwachsener in einer Welt handelt, die gewisse Regeln braucht, und wie er mit anderen Menschen zusammen lebt, die ebenfalls Bedürfnisse haben.

Drittens muß ein Mensch für seine Gefühle über andere Gruppenmitglieder verantwortlich sein. Er darf sich nicht abseits halten, um zu vermeiden, daß die Leute erfahren, was er über sie empfindet oder was er in ihnen sieht. Er muß Teil der Dynamik werden, die durch das Wechselspiel von Konfrontation und liebevollem Interesse entsteht, wenn man den anderen hilft, zu ihren Gefühlen durchzustoßen. Wenn ein neues Gruppenmitglied Schwierigkeiten beim Äußern seiner Gefühle hat, raten wir ihm, sich mit anderen Menschen zu beschäftigen. In dem Prozeß werden dann unvermeidlich die eigenen Gefühle zutage kommen.

Und eine vierte Verantwortung muß ein Gruppenmitglied übernehmen: die harte Arbeit an seinen Gefühlen. Es gibt in unseren Gruppen viele Gelegenheiten zu dramatischen Durchbrüchen; etwa, wenn jemand plötzlich einen Durchblick erlebt, weil er ein Gefühl oder mehrere Gefühle geübt hat. Dennoch muß er ständig an seinen Gefühlen weiterarbeiten. Häufig wird er die gleiche Übung immer wieder machen müssen, viele Wochen oder Monate lang, bevor er von einem verklemmten Gefühl befreit ist. Außerdem muß er seine neuentdeckten, gesunden Gefühle üben. Beispielsweise muß er seinen Zorn oder sein Bedürfnis nach Liebe sehr oft bekräftigen, ehe er leichten Zugang zu diesen Gefühlen findet. Erst dann wird er frei wählen können, wann und wo er das Gefühl mit der Einsicht und Verantwortung eines Erwachsenen ausdrücken will, statt sich hinter verbogenen Einstellungen zu verschanzen.

Für ein neues Gruppenmitglied ist es nicht leicht zu verstehen, worum es sich bei diesen Verantwortlichkeiten handelt. (Selbst viele erfahrene Gruppenteilnehmer denken nicht mehr daran, wenn es lebhaft zugeht.) Doch wenn jemand den Prozeß miterlebt und lernt, sich selbst und andere auf neue Weise zu sehen, wird die Verantwortung deutlicher und läßt sich leichter aufrecht­erhalten. Eine wichtige Hilfe dabei ist die zunehmende Erkenntnis, daß die Signale über das, was einer fühlt, im Widerspruch zu dem stehen können, was er zu fühlen behauptet oder glaubt. Die Signale mit den Symbolen (Worten) in Einklang zu bringen ist eine entscheidende Komponente unserer Gruppendynamik.

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