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13. Signale: Die Grundlage des gruppentherapeutischen Prozesses

 

 

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Ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht, wir alle sind darauf konditioniert, die Reaktionen der Menschen um uns her aufzunehmen. Wir wissen beispiels­weise, wie ein zorniger Gesichtsausdruck aussieht. Wir erkennen das Mienenspiel der Furcht. Wir lernen erkennen, wann die Teilnahme eines anderen echt und wann sie vorgetäuscht ist. Wir wissen, wie Schmerz aussieht. Manche Ausdrucksweisen reichen über die Grenzen unserer Kultur hinaus; wir können sie bei fast allen Menschen wahrnehmen. Doch andere Reaktionen wiederum können wir nur in unserer eigenen, uns vertrauten Welt identifizieren.

Durch Beobachtung lernen wir, wann Signale die Wahrheit dessen bestätigen, was jemand sagt, und wann die Signale nicht mit den Worten übereinstimmen. Wenn ein kokettes Mädchen, das von ihrem Freund attackiert wird, sagt: »Hör auf, das macht mich wütend« und dabei grinst, wird der Junge kaum aufhören. (»Hör auf — das mag ich«, ist ein profunder Kommentar über die Rolle der Frau bei Verabredungen.) Man stelle sich dasselbe Mädchen vor, wenn es wütend ist, weil der Junge ein anderes Mädchen nach der Schule heimbegleitet hat. Wie würden die gleichen Worte dann klingen? Wahrscheinlich würde der Junge sofort aufhören. Ton und Benehmen des Mädchens würden ihm sagen, daß hier wirklich etwas nicht in Ordnung ist.

Und wir verstehen menschliche Laute, die starke Emotionen ausdrücken. Wenn in einer meiner Gruppen jemand intensiven Zorn hinausschreit, ist die Bedeutung nicht zu verkennen. Ein Schmerzensschrei ist völlig anders und teilt den Gruppenmitgliedern eine ganz andere Emotion mit.

Meiner Schätzung nach finden sechzig bis siebzig Prozent der unmittelbaren Kommunikation zwischen Menschen nicht durch Worte, sondern durch Gestik, Intonation, Manieriertheiten und andere »Signale« statt, die angeben, was wir fühlen. (Ray Birdwhistle, Fachmann für menschliche »Kinesik«, wie er es nennt, zitiert in seinen Werken vergleichbare Zahlen.)

Ein ängstliches Husten, ein nervöses Zucken des Knies, Fingerschnalzen, ein Nachdruck auf bestimmten Wörtern, gesenkte Lider, zusammengezogene Brauen, beschleunigter Atem, ein Gähnen, ein Schlucken — das alles sind Signale, die Einstellungen und innere Gefühle mitteilen. Solche Signale können so getarnt werden, daß sie kaum wahrzunehmen sind. Doch selbst ein ausgebildeter Schauspieler hat Schwierigkeiten, alle wahren Gefühle zu verbergen.

In der zivilisierten Gesellschaft sind die Erwachsenen gezwungen, sich immer mehr auf Worte zu konzentrieren. Eltern, ältere Geschwister, Lehrer, Chefs — alle kritisieren uns, wenn wir Ideen nicht begreifen und uns an Fakten nicht erinnern. Einem Kind wird aufgetragen, zu Mutters Nähmaschine zu gehen und eine Nähnadel und die Rolle mit dem schwarzen Garn zu bringen. Wenn das Kind die Nadel vergißt und das graue Garn bringt, gibt es Ärger. Ein Lehrer gibt der Klasse einen Aufsatz von zweihundert Worten auf. Wenn man nur hundert Wörter schreibt, bekommt man eine schlechte Zensur und wird möglicherweise auch noch ausgescholten.

Im Lauf der Zeit tun viele von uns gerade so, als ob die meisten zwischenmenschlichen Kontakte durch Symbolisieren stattfinden würden, durch die einzigartige menschliche Fähigkeit, ein Ding willkürlich für ein anderes zu setzen — d.h., Wörter stehen für Sachen. Aber selbst wenn wir den Inhalt von Wörtern verstehen, stellen wir uns doch auch auf die Begleitsignale ein — auf das, was Julius Fast die »Körpersprache« genannt hat. Als Produkte einer komplexen Gesellschaft neigen wir dazu, viele Signale in die unbewußten Bereiche der Psyche zu verdrängen. Wir arbeiten schwer daran, uns den Regeln der Zivilisation zu unterwerfen, selbst wenn viele von uns ständig für die Bedeutung menschlicher Signale aufnahmebereit sind. Wir spüren gesellschaftlich unpassende Signale bei anderen und versuchen dann, diese Signale zu ignorieren. Wir sehen und hören Signale, die Aggressivität zeigen, versuchen jedoch so zu tun, als ob diese Signale gar nicht existierten.

Tatsächlich ist der zivilisierte Mensch in ein wohldurchdachtes, ausgeklügeltes Gesellschaftsspiel verwickelt. Die erste Regel ist, häßliche, unpassende oder verletzende Signale zu ignorieren. In solch einem Spiel gefangen, werden die zivilisierten Erwachsenen immer weniger empfänglich für Signale. Viele Menschen handeln so, als ob die Kommunikation mit anderen Erwachsenen ausschließlich durch Worte bewerkstelligt würde.

Das ist nicht der Fall. Trotz der sozialen Regeln, denen wir zu gehorchen suchen, verlassen wir uns alle sehr stark auf Signale, um das zu verstehen, was vor sich geht. Trotz der Bemühungen der Gesellschaft, Gefühle, die unangenehme oder unbehagliche Situationen schaffen, zu unterdrücken, ist sich jeder von uns der Bedeutsamkeit der Signale bewußt. 

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Wir wissen, daß niemand seine Gefühle mit der Leichtigkeit kontrollieren kann, mit denen er Worte manipuliert. Wenn wir reden, signalisieren die meisten von uns ihre Gefühle. (Häufig signalisieren wir Gefühle, von denen wir gar nicht wissen, daß wir sie haben.) Diese Tatsache ist die Arbeitsgrundlage meines Gruppenprozesses.

Unter anderen schien auch Frederick S. Perls über die Wichtigkeit von Signalen in seinen Gruppen der gleichen Meinung zu sein. Während einer Reihe von Vorträgen, die er von 1966 bis 1968 in Esalen hielt, gab er Gruppenmitgliedern folgenden Rat:

»Hören Sie also nicht auf die Worte, hören Sie nur auf das, was Ihnen die Stimme sagt, was Ihnen das Bild berichtet. Wenn Sie Ohren haben, dann wissen Sie alles über die andere Person. Sie brauchen nicht auf das zu hören, was die andere Person sagt: hören Sie auf den Ton: hören Sie auf die Töne. Per sona — >durch Ton<. Die Töne sagen Ihnen alles. Alles, was eine Person ausdrücken möchte, ist bereits da — nicht in Worten.«

Emotionale Signale können verschwommen oder klar sein. Signale von wichtigen Gefühlen sprudeln oft schwach hinter einem Schwall von Wörtern oder einer Reihe eingeübter Gesten. Abwehrmechanismen, die man im Lauf eines fünfunddreißigjährigen Lebens entwickelt hat, sind schließlich dazu bestimmt, die tiefsten Emotionen zuzudecken. Doch auch dann, wenn die Signale nicht mit den Wörtern übereinstimmen, trauen wir den Signalen — wenigstens meistens. Und warum auch nicht? 

Während der längsten Zeit, die die Hominiden auf der Erde leben, hing das Überleben von der raschen und präzisen Reaktion auf die Signale anderer ab. Ein bewaffneter Mann aus einem Nachbarstamm konnte friedliche Worte aussprechen, während es doch sein Ziel war, Nahrung oder Frauen zu stehlen. Ein Fremder, dem man auf der Straße begegnete, konnte um einen Trunk Wasser bitten, während er sich darauf vorbereitete, die Fische zu rauben, die man selbst trug. Als das eigene Wohl davon abhing, daß man den Unterschied erkannte, beobachtete man jede Geste und Bewegung mit äußerster Sorgfalt. Man schaute auf die Augen des Mannes und horchte auf den Ton seiner Stimme. Das Überleben des nichtzivilisierten Menschen hing buchstäblich davon ab, daß er Signale genau begriff. Signale sind das, was sich uns am stärksten und unmittelbarsten mitteilt. Wenn die Signale eines anderen nicht mit seinen Symbolen übereinstimmten, dann sagte das Adrenalinsystem dem nichtzivilisierten Menschen: »Hier stimmt etwas nicht!«

Der Erfolg meiner Gruppen hängt von der gleichen Art der Wahrnehmung ab. Das ist nichts, worüber die Gruppenmitglieder diskutieren. Es ist eher etwas, was selbst neue Mitglieder sehr rasch für ganz selbst­verständlich ansehen. 

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Neue Patienten, die erst an zwei oder drei Sitzungen teilgenommen haben, sagen einem anderen Gruppenmitglied etwa: »Du bist wirklich zornig. Warum gibst du's nicht zu?« Die Grundlage der Herausforderung: zornige Signale gehen von dem Betreffenden aus, obwohl er sich bemüht, moduliert und vernünftig zu sprechen. Ständig hört man Äußerungen wie folgende: »Wenn du wütend bist, so werde doch wütend!« —  »Fürchtest du dich?« — »Was er eben gesagt hat, hat dich verletzt, nicht wahr?« — »Du fühlst starken Schmerz.« Jede Äußerung bedeutet: »Du signalisierst ein bestimmtes Gefühl, ganz gleich, was du sagst. Warum nimmst du auf das Gefühl keinen Bezug?«

Vokale Signale spielen in unseren Gruppen eine entscheidende Rolle. Viele Signale sind onomatopoetisch (klangnachahmend), ein Versuch, den Klang eines Gefühls im präverbalen Stadium nachzuahmen. Wir alle erkennen den Sinn von Schluchzen und Keuchen, von Schreien und Knurren, manchmal in feinen Variationen. (Wir verstehen sogar den Sinn der Laute bei Tieren. Ich werde niemals das Sterbewinseln eines Hundes vergessen, der von einem Wagen angefahren worden war!) Solche Laute hört man reichlich in den Übungen, die heute in meiner Praxis vor sich gehen. Wir haben nicht so angefangen; die präverbalen Schreie kamen, als sich unsere Gruppen entwickelten. Zuerst haben wir die Teilnehmer nicht dazu aufgefordert, »die Geräusche« ihrer Gefühle zu machen; wir baten sie vielmehr, uns mit Worten zu sagen, welches Gefühl sie haben. Doch Geräusche brachen trotzdem hervor, und die Gruppenmitglieder identifizierten die Geräusche sofort.

Viele unserer Übungen entwickelten sich folgendermaßen: Zuerst versuchten wir es mit der Beschreibung eines Gefühls in einfachen Worten, etwa: »Ich bin zornig auf meine Mutter, weil sie mich immer auslacht.« Später wurden die Worte einfacher: »Ich bin zornig.« Dann nichtverbale Gefühle. Wutschreie oder Angstrufe mit Echolauten aus den frühesten Tagen des Menschen und aus den ersten Kinderjahren unseres Lebens. Je nach der Gruppe und dem einzelnen hat jede dieser Methoden noch heute großen Wert in unseren Übungen.

Alle unsere Übungen haben es mit den fünf grundlegenden Emotionen zu tun - Liebe, Zorn, Furcht, Schmerz und Freude. Besondere Übungen beschäftigen sich mit besonderen Emotionen, doch häufig bringt das eine Gefühl ein anderes zutage und dann wieder ein anderes. Was also als Zornübung beginnt, kann Schichten von Furcht und Schmerz durchdringen, wieder Zorn werden und als freudiges, liebendes Gefühl enden.

Wenn die Emotionen wahrhaft widerhallen, sind Signale und Worte des Betreffenden in Harmonie miteinander. Er ist ein emotional offener Mensch, wenigstens während dieser Übung, und er lernt, zu diesem Widerhall Zugang zu gewinnen, der ihm sein Leben lang nach Belieben zur Verfügung steht.

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In meiner Gruppe bemühen wir uns, die Verbalisierung auf ein Minimum zu beschränken. Die meisten Gruppen beginnen mit einem »Rundgespräch« — einem verbalen Bericht über das, was seit der letzten Gruppensitzung geschehen ist und wie sich jeder einzelne im Augenblick fühlt. Doch schon bei diesem »Rundgespräch« läßt der Gruppenleiter nicht jeden endlos über Fakten berichten. Gezielte Fragen des Gruppenleiters oder anderer Gruppenmitglieder veranlassen den Betreffenden, emotionale Reaktionen zu enthüllen. »Wie hast du dich dabei gefühlt?« — »Was fühlst du über die Menschen hier im Raum?« »Wen magst du am wenigsten hier im Raum?« »Wie oft hat man dir schon gesagt, daß du ein Kriecher bist?« »Du langweilst mich.« »Ist jemand hier im Raum, dem du Vertrauen schenkst?« »Als er dir gesagt hat, daß du ihn langweilst, hat dich das nicht wütend gemacht?«

Die Gruppen im Casriel-Institut sind mehr an der unmittelbaren Dynamik als an der Geschichte eines Teilnehmers interessiert. Das folgende Beispiel ist typisch für mindestens hundert neue Patienten im Jahr. Eine Frau kommt zu mir, weil sie starkes emotionales Unbehagen fühlt. Ihre Ehe ist schlecht; die Streitereien, in denen sie und ihr Mann sich seit Jahren befinden, sind ermüdend und schmerzhaft und lösen anscheinend nie etwas. Sie fühlt sich von ihren Kindern zurückgewiesen. Das Leben ist »langweilig« und »ohne Sinn«. Nun ist etwas geschehen, was - für sie - darauf hinweist, daß das Ende von allem unmittelbar bevorsteht. Vielleicht hat sie entdeckt, daß ihr Mann eine Liebesaffäre hat. Ein Kind könnte schwerkrank sein. Vielleicht soll ihr Mann entlassen werden, und sie sieht schwere finanzielle Probleme vor sich. In anderen Fällen könnte ein Geschwister- oder ein Elternteil im Sterben liegen, oder die Frau könnte so zugenommen haben, daß ihr keins der Sommerkleider mehr paßt.

Wenn die Frau zum ersten Mal in die Gruppe kommt, wird sie versuchen, ihre Geschichte zu erzählen, wobei sie sich auf die Emotionen aus der Vergangenheit statt auf die Gefühle hier und jetzt konzentriert. Gruppen können dieser Frau dabei helfen, daß sie lernt, ihre Furcht und ihren Schmerz auszudrücken. Hinter der Furcht und dem Schmerz steht intensiver Zorn, den zu äußern die Gruppen ihr beibringen können, und außerdem ein warmherziges liebevolles Gefühl, das zu zeigen sie umprogrammiert werden kann.

Die Therapie für eine neue Identität kann dieser Frau dabei helfen, daß sie Kontrollen aufgibt, die sie von ihrer Familie und anderen isolieren. Die Gruppentherapie kann ihr helfen, ihr Verhalten anderen gegenüber zu ändern. 

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Der Prozeß funktioniert nicht, wenn ihr gestattet wird, historischen Zorn und Schmerz zu erörtern, denn wenn sie ihren Eltern die Schuld zuschiebt, bleibt sie emotional ein Kind. In meinen Gruppen wird man einer solchen Patientin im allgemeinen schon in einer der ersten Sitzungen entgegentreten. Man wird ihr nicht erlauben, sich darüber zu ergehen oder auch nur zu berichten, was die Eltern ihr angetan haben.

Ebensowenig wird man ihr gestatten, charmant oder angenehm zu sein. Und am allerwenigsten wird man sie zwingen, über ihre Gefühle zu sprechen. Und wenn dann Worte und Signale nicht übereinstimmen, wird man ihr entgegentreten. Ehrlich in bezug auf seine Gefühle zu sein und seine Signale mit den Emotionen in Einklang zu bringen ist schwierig. Es verwirrt viele Leute, wenn sie zum ersten Mal in eine Gruppensitzung kommen. Manche haben sich ihr Leben lang mit Worten verteidigt. Sie fühlen sich verhältnismäßig behaglich, solange man ihnen erlaubt, zu reden und ihre Gefühle hinter den Worten zu verstecken. Andere Leute bringen es fertig, bis zu einem gewissen Grad Gefühle zu zeigen, doch der Ausdruck ist übertrieben und defensiv. Diese Menschen sind bestürzt, wenn die Gruppe ihnen wegen der Signale entgegentritt, die sie verheimlicht haben, und sie beschuldigt, emotional unehrlich zu sein.

Tatsächlich sind die meisten von uns dazu konditioniert worden, nicht über tiefempfundene Emotionen zu sprechen. Wir haben gelernt, uns auf Worte und oberflächliche Signale zu beschränken. Wir haben den Eindruck, daß unsere stärksten und verletz­barsten Gefühle uns in Schwierigkeiten bringen. Deshalb versuchen wir, unsere wichtigsten Gefühle vor den anderen zu verstecken, während wir das Tarnspiel der Gesellschaft lernen.

Zum Lernprozeß gehört auch, daß man den Unterschied zwischen dem, was Menschen sagen, und dem, was sie tun, versteht. »Sei ehrlich!« sagt uns ein Vater, während er selbst betrügerische Angaben auf seiner Spesenabrechnung macht. »Nette Mädchen werden nicht zornig!« schilt eine Mutter voll beherrschter Wut. »Seid höflich!« sagt ein Lehrer, der seine Schüler ständig unterbricht. »Denk auch an andere!« »Biete die andere Wange dar!« »Liebe deinen kleinen Bruder« (wenn er dir gerade das neue Spielzeug zerschlagen hat)! »Eine Arbeit, die lohnt, ist es wert, daß man sie gut macht.«

Aber ein Kind sieht\ Da es noch nicht von Worten abhängig geworden ist, beobachtet und versteht es die Signale der Erwachsenen. Weil es sich der Diskrepanz zwischen Worten und Signalen bewußt ist, verläßt es sich überwiegend auf Signale. Und weil die Welt der Erwachsenen vor allem mit Symbolen in Gang gehalten wird, lernt das Kind, in allem eine »doppelte Moral« anzuwenden. 

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Auf diese Weise bewegt sich die eine Hälfte der Widersprüche nicht mehr in seinem Bewußtsein, und die Verwirrung wird ein wenig zerstreut. Durch den gleichen Prozeß lernt das Kind — Tag für Tag und Schritt für Schritt —, einen großen Teil seiner eigenen spontanen Signale zu unterdrücken.

Das Ergebnis? Eine Welt, in der ständig »kontersignalisiert« wird. Die Leute sagen etwas mit Worten — und zeigen es auf eine »gesittete« Art —, und wir wissen sofort (wenn auch nicht immer bewußt), daß etwas anderes gemeint ist. Kontersignalisieren durchdringt unser Leben auf tausendfältige Weise. Betrachten wir einiges davon, dann sehen wir gleich, wie störend es sein kann, Worte und Signale in Übereinstimmung zu halten. Wir beklagen uns zum Beispiel über die Heuchelei auf einer Cocktail-Party, und grüßen trotzdem Menschen, die wir aufs äußerste verabscheuen, mit herzlichem Lächeln. Oder wir regen uns über einen »Jasager« auf, obwohl wir selber unserem eigenen Chef in vielen Dingen allzu bereitwillig zustimmen. Häufig kontersignalisieren wir auch aus Gründen, die keineswegs mehr gesellschaftlicher Natur sind. Wir beeilen uns, einen Mann, der fast sicher mit dem Tod seiner an Krebs erkrankten Frau rechnen muß, zu beruhigen, und sagen: »Es besteht gute Aussicht, daß die Operation Erfolg hat«, dabei wissen wir jedoch, daß seine Frau todkrank ist. Unsere Signale verraten ihm auch, daß wir es wissen, doch wir wollen einfach nicht an dieses Gefühl erinnert werden.

Das Kontersignalisieren findet man offenbar auch auf weit breiterer Ebene, etwa wenn es darum geht, daß sich die Jugend gegen das Establishment auflehnt. Junge Menschen erkennen, daß Predigten über Demokratie und Gleichheit, über Stadtsanierung und Integration der Neger nicht die Ungerechtigkeit, Korruption, Bigotterie und Umweltverschmutzung zudecken können, die in unserer Gesellschaft allenthalben herrschen.

Dennoch ist das Kontersignalisieren keineswegs immer schlecht. Das macht seine weite Verbreitung um so verwirrender und bildet ein besonderes Problem für neue Gruppenmitglieder, die sich bemühen, die Disziplin emotionaler Unmittelbarkeit zu lernen. Kontersignalisieren bereichert häufig die Konversation, macht Wortspiele wirkungsvoll, betont Wahrnehmungen und Einsichten auf eine feine menschliche Weise. Der Humor ist voller Kontersignale: Eine Zweizentnerfrau als »wahre Schönheit« zu beschreiben bedeutet ganz offensichtlich nicht, daß sie einen Schönheitswettbewerb gewinnen würde. Zum Sarkasmus gehört ebenfalls eine Art Kontersignalisieren: Man behauptet etwas, während man durch Modulieren der Stimme oder vielleicht durch eine hochgezogene Augenbraue das Entgegengesetzte signalisiert. Selbst die Literatur beschäftigt sich häufig mit etwas, was dem Kontersignalisieren verwandt ist. 

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Einem großen Teil des westlichen Denkens liegt Ironie zugrunde. Etwas scheint mit voraussagbaren Ergebnissen zu geschehen; doch tatsächlich geht etwas Verborgenes vor sich, und die Ergebnisse nehmen eine unvorhergesehene Wendung. Denken wir an die Verwendung der Ironie bei Sokrates, an die Alptraumwelt Kafkas, die Niederlage tragischer Helden, die man für unbesiegbar hielt.

Im täglichen Leben übt in unserer Kultur jeder bisweilen das Kontersignalisieren. Ein realistischer Selbsterhaltungstrieb führt uns dazu, das Angemessene zu sagen und zu tun, während wir das, was wir wirklich denken und fühlen, verheimlichen. Und diese zivilisierte Selbstkontrolle hat zweifellos ihre Vorteile. Man kann nicht die Straße entlanggehen und einfach irgend jemanden zusammenschlagen, nur weil man sich gerade zornig fühlt; oder seinen Chef zusammenstauchen, weil man sich über etwas ärgert, was er gesagt hat. In solchen Situationen fallen den meisten Leuten Entscheidungen und Beherrschung nicht schwer. Weit schwieriger ist es dagegen, im täglichen Leben richtig zu entscheiden, wann wir Gefühle zeigen, wann wir die Signale den Worten anpassen oder wann wir den offenen Ausdruck der Gefühle zurückhalten sollen.

In meinen Gruppen helfen wir den Menschen, daß sie die Fähigkeit zu wählen entwickeln. Durch die Gruppendynamik therapeutischer Übungen praktizieren wir die Disziplin, das, was man sagt, mit dem, was man fühlt, in Übereinstimmung zu bringen. Das bedeutet nicht, daß wir die Menschen lehren, höfliche Signale oder angemessene Worte hervorzubringen, um zu zeigen, was sie fühlen. Sie müssen vielmehr lernen, ihren wahren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Dann kommen Worte und Signale natürlich, unmittelbar und in klarer Übereinstimmung mit den Gefühlen heraus. Unsere Disziplin konditioniert die Gruppenmitglieder auch dazu, sich für ihre entscheidenden Beziehungen solche Menschen auszusuchen, die emotional ebenso ehrlich sein können.

Es ist kein einfacher Prozeß. Emotionale Ehrlichkeit zu lernen erfordert oft, daß man Dinge tut, die gesellschaftlich unangenehm sind, etwa, daß man einem in der Gruppe sagt, man habe ihn auf den ersten Blick verabscheut, obwohl kein Grund dafür bestand. Es bedeutet, das eigene »Selbst-Image« aufzugeben. Es kann bedeuten, gut einstudierten Charme oder eine angenehme Fassade aufgeben zu müssen. Es kann bedeuten, daß man eingestehen muß, wie sehr es einen ärgert, nette Dinge für andere zu tun. Emotional ehrlich zu sein kann bedeuten, daß man seine Furcht offen zeigt, selbst wenn man darauf konditioniert ist, daß Furcht unmännlich sei. Es kann bedeuten, nicht nach den gesellschaftlichen Regeln zu handeln.

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Die Therapie für eine neue Identität erfordert schmerzhafte Selbstprüfung, unbequeme Aufrichtigkeit, das Eingehen von Risiken und die ständige Selbstzucht, ehrlich zu sein. Unsere Übungen sind darauf angelegt, die Menschen für ihre eigenen Gefühle zu öffnen. Sie schaffen den Menschen auch eine Möglichkeit zu üben, wie sie ihre Gefühle äußern können, so daß Emotionen leichter erleb- und zeigbar sind.

Zu Anfang fürchteten sich die meisten, in eine solche Disziplin einbezogen zu werden. Die meisten vermeiden es, emotional ehrlich zu sein, wenigstens im Hinblick auf manche Dinge. Und natürlich wissen viele, die neu zu uns kommen, wirklich nicht, wie man emotional ehrlich sein kann. Infolgedessen spielt die Fähigkeit, sich auf Signale einzustellen, eine wesentliche Rolle in unserer Gruppendynamik. Indern wir darauf achten, wieweit die Signale eines Menschen zu seinen Worten passen - oder nicht -, erkennen wir, ob Leute außerhalb der Gruppe verhaltensmäßig so handeln, wie sie handeln sollten. Signale machen es einem Gruppenmitglied schwer, lange zu lügen. Ganz gleich, wie vorsichtig und gescheit jemand auch sein mag, er kann seine Signale vor einer Anzahl aufmerksamer und interessierter Menschen nicht lange verbergen. Ein, zwei oder drei Menschen mögen so programmiert sein, daß sie diese besonderen Kontersignale nicht aufnehmen. Aber wenn zehn bis zwölf im Raum sind, müssen einfach einige von ihnen Signale auffangen, die nicht zu den Worten passen.

Manchmal ist die Diskrepanz offensichtlich. Beispielsweise ein nervöser Blick, wenn ein Alkoholiker behauptet, er habe nichts getrunken. Ein ängstliches Gewimmer: »Ich bin zornig« wird keinen überzeugen. Ebensowenig eine steife Umarmung, begleitet von den Worten: »Ich liebe dich.« Keins dieser Signale muß unbedingt auf eine Lüge hinweisen. Es mögen andere Gefühle sein als die Furcht, bei einer Lüge ertappt zu werden oder die volle Verantwortung für das übernehmen zu müssen, was man fühlt. Doch es ist Sache der Gruppe und des einzelnen, solche Signale aufzufangen und zu erforschen und herauszufinden, worauf sich die Signale beziehen.

Manchmal ist die Kluft zwischen Worten und Signalen äußerst schwer zu deuten. Ich habe Leute gesehen, die brüllten und wütend durch das Zimmer stampften oder laut schluchzten, ohne die Gruppenmitglieder von ihrer Aufrichtigkeit zu überzeugen. Irgend etwas vermittelt ein falsches Gefühl, obwohl dieselben Signale bei einem anderen Gruppenmitglied vollkommen echt gewirkt haben können. Bei der ersten Person war der Zorn oder der Schmerz nicht »eingeschaltet«, bei der zweiten war er es. Die Gruppe erkennt gewöhnlich den Unterschied. Manchmal ist das Gefühl einer Gruppe für die Wahrheit unglaublich. 

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Hin und wieder einmal ist eine Gruppe »dumm« — dann fallen alle aus den falschen Gründen über irgendein Gruppenmitglied her. Aber im allgemeinen habe ich Vertrauen, wenn die meisten Mitglieder der Gruppe dem entgegentreten, was einer sagt. Wenn ich diesem Betreffenden persönlich glaube und Mitgefühl mit ihm habe, während andere Zweifel äußern, dann respektiere ich als Arzt ihre Ansicht. Sie haben zu häufig recht gehabt — recht deshalb, weil sie gelernt haben, sich in ihre Eingeweidegefühle einzuschalten und für die feinsten Variationen menschlicher Zeichen offen zu sein. Außerdem weiß ich, daß meine eigene Programmierung in der Kindheit mich immer noch unempfänglich für gewisse Signale macht oder sie verzerrt.

Beispielsweise erlebte ich einmal, wie ein charmanter Mann, Ted mit Namen, dessen Symptom Homosexualität gewesen war, zwei Sitzungen lang die Gruppe erfolgreich belog. Nachdem er sein Symptom aufgegeben hatte, war er von der Gruppe angewiesen worden, sich mit Frauen zu verabreden. Mehrere Wochen lang hatte er die Anweisung der Gruppe nicht befolgt und dabei Ausreden gebraucht, »wie schwer es ist, eine Frau kennenzulernen«. Schließlich trat er eines Tages in den Gruppenraum und sagte: »Es ist geschehen.« - »Was ist geschehen?« fragten sofort drei oder vier Leute aus der Gruppe. »Sie ist zu mir gezogen. Nun kriege ich sie nicht dazu, wieder auszuziehen.« - »Wer ist es? Erzähl uns von ihr! Wo hast du sie kennengelernt?«

Ted erzählte nun seine Geschichte mit dem Geschick eines Berufskomikers. (Er war in den ersten Jahren nach dem College Schauspieler gewesen und benutzte Humor und Witz als gut geschliffene Abwehrwaffen.) Er habe eine dicke Frau kennengelernt. (»Zweihundertvierzig Pfund Elefant — und mein, alles mein!«) Er hatte sie mit in seine Wohnung genommen. Sie sei die sexuell Aktive gewesen. Sie hätten miteinander geschlafen und einen Orgasmus erlebt. Nun liebe sie ihn und sei in seine Junggesellen­wohnung gezogen (»mit zwei Koffern voll übergewichtiger Kleider und einer übergroßen Haartrockenhaube«).

Als Ted die Geschichte erzählte, rollte ein Mann auf dem Fußboden und hielt sich den Bauch vor Lachen. Alle brüllten, ohne sich beherrschen zu können. Manchen liefen Tränen über die Wangen.

In der folgenden Woche setzte Ted die Geschichte fort, berichtete Einzelheiten aus ihrem Geschlechtsleben und betonte nachdrücklich seine Verlegenheit wegen des Aussehens der Frau. Die Gruppe ließ sich abermals täuschen.

Als Ted in der dritten Woche wieder davon anfing, sagte ein Mann ruhig: »Hör auf mit dem Unsinn, Ted! Es gibt keine Frau in deiner Wohnung.« Tränenden Auges gab Ted die Täuschung zu. Er hatte die dicke Frau erfunden, um, wie er sagte, eine weitere Konfrontation mit den Gruppen­mitgliedern zu vermeiden.

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Darauf schrien mehrere Gruppenteilnehmer Ted wegen seiner Manipulation an, doch die meisten sagten ihm, sie seien verletzt. Abermals trugen sie ihm auf: »Verabrede dich mit einem Mädchen!« Etwa eine Woche nach der Entdeckung seiner Fopperei verabredete sich Ted tatsächlich mit einem Mädchen und hatte auch eine Liebschaft mit ihr. Die Sache dauerte ein paar Wochen, doch als die Beziehung dann auseinanderging, verließ Ted die Gruppe. Er beklagte sich, daß der Druck der Gruppe, ihre Regeln und Forderungen einzuhalten, »entmenschlichend« sei. Ich höre, daß er wieder als Homosexueller lebt, jedoch kaum glücklicher ist als damals, wo er mich zum ersten Mal konsultierte. Aber es steht zweifellos fest, daß es uns nicht gelungen ist, Ted durch unsere Gruppentherapie zu erreichen.

Daß die Gruppe Signale versteht, ist nicht nur ein Hindernis für das Lügen. Oft helfen Einsichten der Gruppe den betreffenden Teilnehmern dabei, Wege zu finden, wie sie in eine tiefergreifende Verbindung mit ihren Gefühlen kommen können. Wenn die Gruppenmitglieder bei einem anderen ein Mißverhältnis zwischen Signalen und Worten entdecken, machen sie Vorschläge, wie sich die Kluft überbrücken läßt: »Versuch es mit einer anderen Betonung der Worte!« — »Verkrampf den Bauch nicht so!« — »Oder versuch es mit anderen Worten — vielleicht ist das Gefühl gar kein Zorn; vielleicht ist es Schmerz oder Furcht.«

In unseren Gruppen habe ich immer wieder gesehen, daß eine bewußte Anstrengung, ein Signal zu verändern — selbst ein so vorbedachtes Signal wie die Hände auf die Hüften zu stützen, um Entschlossenheit zu zeigen, während man sich bemüht, zornig zu werden —, einen Menschen unmittelbar zu einem Gefühl führen kann. Signale und Gefühle sind eng miteinander verbunden! Manchmal machen Gruppenmitglieder überaus kreative Vorschläge, wie man diesen Zusammenhang enthüllen kann.

In entscheidendem Sinn sind Signale die Grundlage, auf der sich der Erfolg meines Gruppenprozesses aufbaut. Gäbe es keine Signale, hätten die Gruppenmitglieder kein zuverlässiges Mittel, die Worte anderer zu »lesen«.

Mein Prozeß vermenschlicht — er konditioniert überzivilisierte Menschen neu dazu, daß sie sich weniger auf den Wortinhalt verlassen und sich der Emotionen und Einstellungen, die hinter den Worten stehen, stärker bewußt werden. All unsere Gruppenübungen sind auf dieses Ziel gerichtet.

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