14. Der Prozeß: Übungen
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Alle unsere Übungen beschäftigen sich mit den fünf Grundgefühlen: Furcht, Zorn, Schmerz, Liebe und Freude. Wenn ich Übungen sage, meine ich nicht physische Rituale in der Art der Gymnastik. Manche Übungen erfordern allerdings bestimmte körperliche Bewegungen — sich auf dem Stuhl zurücklehnen, sich an ein anderes Gruppenmitglied klammern, auf der Matte liegen, auf ein Kissen schlagen, vielleicht die Faust schütteln. Doch diese Stellungen und Gesten sollen das emotionale Erlebnis erleichtern oder akzentuieren.
Das Wesentliche an der Übung ist der vokale Ausdruck durch Worte oder Schreie. Wir haben entdeckt, daß es Strukturen emotionaler Erlebnisse gibt, die durch die Wiederholung von Wörtern und Tönen reproduziert werden können. Nur in diesem Sinn führen wir Übungen aus. Um diese Übungen in der folgenden Diskussion leichter verständlich zu machen, habe ich sie nach den Grundgefühlen geordnet. Das soll nicht heißen, daß eine Zornübung nun immer eine Zornübung werden oder eine Äußerung der Furcht immer eine Äußerung der Furcht bleiben muß.
Erstens weiß ja ein Mensch zu Anfang oft gar nicht genau, was er wirklich fühlt. Er denkt vielleicht, er sei zornig, und muß dann feststellen, daß sich seine Behauptung: »Ich bin zornig« rasch in Schmerz oder Furcht verwandelt. Dieser Schmerz oder diese Furcht könnte seine programmierte Reaktion auf die Äußerung von Zorn sein. Oder diese Gefühle könnten das sein, was er tatsächlich schon immer gespürt hat. Es mag den Betreffenden — und die Gruppenmitglieder, die seine Signale lesen — einiges Sondieren und viel harte Arbeit kosten, ehe er entdeckt, was er wirklich fühlt. Wenn Zweifel bestehen, fordern wir den Betreffenden oft auf, keine Worte mehr zu benutzen, sondern das Gefühl einfach herauszuschreien. Häufig sagt der Schrei ihm und der Gruppe sehr viel mehr als Worte.
Zweitens verwandelt sich ein Gefühl oft in ein anderes, wenn der Betreffende tiefer in sein Inneres hinabsteigt. Immer wieder haben wir festgestellt, daß sich Eingeweidegefühle in »Schichten« enthüllen. Ein Mensch, der zum erstenmal seit seiner Kindheit intensive Furcht äußert, findet vielleicht eine »Schicht« von tiefem Zorn unter der Furcht, dann wieder Furcht unter dem Zorn, dem eine »Schicht« von furchtbarem Schmerz folgt, darunter ein noch intensiverer Zorn und schließlich ein frohes, liebevolles Gefühl. All diese Gefühle können durch eine einzige Übung ausgelöst werden. Das geschieht ganz spontan. Manchmal ändern sich die Worte, wenn der Betreffende intuitiv erkennt, daß er sich emotional an einem anderen Platz befindet als zu Beginn. »Ich fürchte mich« kann zu: »Ich bin zornig« werden und dann zu: »Es tut mir weh.« Gewöhnlich verwandeln sich die Worte, wenn das Erlebnis intensiver wird, in Laute — in das Kreischen der Furcht, in das wütende Knurren des Zorns, in das Wimmern oder Winseln des Schmerzes.
Ich habe oft Menschen festgehalten, die schreiend auf der Matte lagen, und habe in ihnen die fast völlige Regression der Gefühle gehört und gespürt — zurück zu den hilflosen, wimmernden Schreien der Säuglingszeit. Es ist ein wortloses Wiedererleben ihrer emotionalen Geschichte im Gefühl. Wenn es auch ein schmerzliches Erlebnis ist, macht es den Betreffenden doch fröhlich und offen. Ich erinnere mich daran, daß ich kürzlich einen jungen Mann hielt, der dieses Erlebnis gehabt hatte und, unmittelbar nachdem seine letzten Schreie verklungen waren, ruhig dalag. Ganz plötzlich stieg ein Lachen aus seinem Bauch herauf. Er fing an zu kichern und zu lachen wie ein Kind. Das Lachen war so ansteckend, daß ich auch lachen mußte, und so lagen wir beide mehrere Minuten lang in hysterischen Lachkrämpfen da. »Das ist das Geheimnis«, sagte er immer wieder und wand sich in einem neuen Lachanfall. »Das ist es!«
Was er entdeckt hatte, war eine ganze Vision von sich selbst als offenes, glückliches Kind, frei und voller spontaner Freude. Er wußte wirklich in diesem Augenblick, was es hieß, man selbst zu sein. Dieses Identitätsgefühl war das »Geheimnis«, das er den größten Teil seines Lebens hinter den verhärteten Bastionen eines charaktergestörten Ablehners vor der Welt verborgen hatte.
Nicht alle Übungen werden jedesmal zu einem solchen Erlebnis führen, doch bei jeder besteht diese Möglichkeit. Weil die tiefsten Erlebnisse in unseren Gruppen gewöhnlich bei den Lauten des Gefühls, nicht den Worten auftreten, bemühen wir uns, die Mitglieder so schnell wie möglich zu diesen Lauten zu bringen. Zu den meisten der hier beschriebenen Übungen gehören als Anfang einige Worte. Es kann ein einfacher Satz sein, der das Gefühl nennt, etwa: »Ich fühle Schmerz.«
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Oder es kann das Gefühl mit einem signifikanten Gedanken verknüpfen: »Ich bin zornig auf dich, Mummy« oder: »Du mußt mich lieb haben, Daddy.« Diesen Satz möglichst einfach zu formulieren minimalisiert die Möglichkeit einer Störung durch eine Wortflut. Außerdem erlaubt es dem Betreffenden, den Satz leicht zu wiederholen. Wir haben festgestellt, daß solche Wiederholungen ihm helfen, rascher zu dem Gefühl vorzudringen. Wenn die Übung so ausgeführt wird, daß der Betreffende das Gefühl in vollem Maß erlebt, werden die Worte jedoch gewöhnlich zu Lauten. Mit erfahrenen Gruppenmitgliedern und häufig auch mit Neuankömmlingen können wir Worte ganz umgehen und gleich von Anfang an mit Schreien beginnen.
Alle unsere Übungen zielen auf irgendeine Weise darauf hin, ein neues Ichgefühl zu entdecken — eine neue Identität, in der man frei wählen und die Freuden des Lebens mit emotionaler Offenheit und verantwortungsbewußt fühlen und genießen kann. Der Weg mag für jeden Menschen anders sein, je nach seiner persönlichen Geschichte, aber das Ziel ist stets das gleiche.
Einige der hier folgenden Übungen werden in unseren Gruppen häufig angewendet, andere weniger oft. Gelegentlich versuchen wir neue Projekte — Variationen regulärer Übungen oder vielleicht eine überraschend neue Sache, die dem Problem des Menschen, der gerade arbeitet, angemessen zu sein scheint. Kürzlich habe ich zum Beispiel vorgeschlagen, daß ein Buchhalter mittleren Alters, der sich auf ein ziemlich passives Image als »netter Bursche« verließ, im Raum umhergehen und jedes Gruppenmitglied mit einem Zischen oder Pfeifen als Zeichen seiner Verachtung begrüßen sollte. So töricht — und so einfach — diese Geräusche auch zu sein schienen, es fiel ihm schwer, sie zustande zu bringen. Er konnte den Leuten nicht in die Augen sehen und das Gefühl »zum Teufel mit dir!« nicht zeigen, das diese Begrüßung andeutet. Schließlich lernte er es jedoch und wurde ein Meister darin — zu seinem eigenen Vergnügen und dem der Gruppe. Dies war nur einer von vielen Wegen, wie er sein Image abbauen und erkennen lernte, daß er berechtigt ist, seine Identität zu behaupten, statt sich dauernd den Forderungen anderer zu fügen.
Diesen Mann mußte die Gruppe ganz erheblich anstacheln, ehe er die Übung mit jenem verächtlichen Gruß begann. Wir bemühen uns sonst, Gruppenmitglieder nicht zu bestimmten Übungen zu drängen, solange sie noch nicht bereit dazu sind. Es ist wichtig, daß sie Vertrauen zu dem Gruppenprozeß und den Gruppenmitgliedern haben; nur dann kann man die Chancen optimieren, daß sie ein signifikantes Erlebnis haben. Weicht jemand freilich aus eindeutig defensiven Gründen aus, üben wir einen gewissen Zwang aus. Gruppenleiter und andere Gruppenmitgliederhaben die schwierige Aufgabe, darauf zu achten, daß ein solcher Patient dazu angeleitet wird, eine Übung zu machen, und nicht noch weiter in seine Abwehrhaltung hineingedrängt wird.
Wenn der Betreffende ausweicht, so geschieht es häufig aus Furcht. Unterstützung durch die Gruppe — und vielleicht eine Furchtübung — wird ihn häufig die Sperre überwinden lassen.
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Furchtübungen
Die Furcht ist das Gefühl, das die meisten Menschen peinigt, wenn sie zum erstenmal in der Gruppe erscheinen. Sie fürchten sich ganz einfach davor, irgendwelche Gefühle, einschließlich ihrer Furcht, zu zeigen. Ich habe selten mit jemandem gesprochen, der keine Furcht hatte, als er zum erstenmal an einer Gruppensitzung teilnahm. Für die meisten Anfänger ist dies eine äußerst furchteinflößende Situation. Wenn wir auch nicht mehr soviel Begegnungstechnik anwenden wie früher, sagen die Leute doch gelegentlich grausame Dinge, unterbrechen unhöflich oder stellen schwer zu beantwortende Fragen.
Im Rahmen dessen, was in der westlichen Gesellschaft als annehmbares emotionales Verhalten betrachtet wird, sind Gruppen »unbeherrscht« und deshalb auf furchterregende Weise anders. Schlimmer noch, für den Neuling, der nicht vorbereitet ist auf das, was da vor sich geht, scheinen die Gruppen »unbeherrschtes« Verhalten zu belohnen. (Häufig überrascht mich die Vertrautheit der Wörter und Laute, die ich von den verlorenen Seelen höre, welche in schwerer geistiger Verwirrung gelegentlich durch die Straßen New Yorks irren. Man fragt sich, was geschehen wäre, wenn sie einen »sicheren Ort« — etwa wie unsere Gruppen — gehabt hätten, um dort ihre Aufschreie zu äußern. Vieles, was ich von ihnen höre, unterscheidet sich nicht von dem, was man dauernd in unseren Gruppen vernimmt.)
Während des »Rundgesprächs« bringen es die meisten Neuankömmlinge fertig, der Gruppe gegenüber ihre »Angst« oder »Nervosität« zuzugeben. Gruppenmitglieder erinnern sich des eigenen Unbehagens bei der ersten Gruppensitzung und haben durchaus Verständnis für sie. Gewöhnlich wird von einem Neuankömmling sehr wenig verlangt. Es wird kein Druck auf ihn ausgeübt, eine Übung zu machen. Wenn die Gruppe endet, fragt der Leiter vielleicht: »Wie fühlen Sie sich nach Ihrer ersten Gruppe?«
Die Reaktion der Gruppe wird davon abhängen, wie ehrlich der Neuankömmling ist, wie stark er Anteilnahme an den anderen bewiesen und welche Gefühle er gezeigt hat.
Betrachten wir die Antworten zweier Mädchen auf die Frage über ihre erste Gruppe. Beide Mädchen haben sehr intensive Gefühle gehabt. Die Signale, die sie ausstrahlen, zeigen es. Jeder in der Gruppe weiß es.
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Das erste Mädchen, Marge, sagt etwa:
»Ich habe mich während der ganzen Zeit zu Tode gefürchtet. Zorn flößt mir Schrecken ein. Jedesmal, wenn jemand geschrien hat, wollte ich aus der Tür laufen und verschwinden. Ich war schockiert von dem Fluchen, doch dann habe ich mich daran gewöhnt ... Dir habe ich mich nahe gefühlt, Nancy. Ich habe deine Gefühle verstanden. Aber ich hatte einfach zu große Furcht, als daß ich dir helfen konnte. Ich wollte hier sitzen wie eine kleine Maus, damit mich keiner bemerkte.«
Auf Marge wird die Gruppe unausweichlich verständnisvoll reagieren. Sie zeigt ihre Furcht, und die Mitglieder können diese Furcht sehen. Sie identifizieren sich mit dieser Furcht und verstehen das Mädchen. Wahrscheinlich werden sie ihr bei der nächsten Sitzung helfen, an ihrer Furcht zu »arbeiten«. Sandra hat während der ganzen Gruppe schweigend und verkrampft dagesessen. Ihre Antwort kommt im Singsang und lautet:
»Die Gruppe war anders, als ich erwartet hatte. Ich konnte den Sinn dieser Übungen auf dem Boden nicht erkennen. Ich habe all dieses Schreien nicht verstanden. Hier im Saal gibt es ein paar wirklich zornige Leute. Ich meine, so zornig sollten Menschen nicht werden. Ich habe das alles nicht nachfühlen können.«
Die Gruppe würde vermutlich nicht so freundlich auf Sandra reagieren wie vorher auf Marge. Sandra versucht (erfolglos) ihre Furcht hinter verbalisierten Einstellungen zu tarnen. Ihre Signale zeigen Furcht, während der Inhalt ihrer Worte die Furcht zu verhehlen und zu kontrollieren sucht. Die mangelnde Übereinstimmung zwischen Worten und Signalen ist verwirrend und störend — ganz und gar nicht vertrauenswürdig — für jeden innerhalb oder außerhalb der Gruppe, der versucht, mit Sandra in Beziehung zu treten.
Unsere fundamentalste Furchtübung in der Gruppe ist die, daß wir einen Menschen auffordern, seine Furcht offen auszusprechen. Der Betreffende erhält die Anweisung, mit jedem Mitglied der Gruppe Augenkontakt aufzunehmen und zu sagen: »Ich fürchte mich.« Während er in der Gruppe »die Runde macht« und diese Worte ausspricht, bestehen gute Aussichten dafür, daß er emotional zu der Furcht in seinem Innern vorstößt und mehr Furcht zeigt. Der Augenkontakt ist der Schlüsselfaktor in der Übung. Er erlaubt emotionalen Kontakt zwischen zwei Menschen, durch den die Übung wirksam wird. Der Betreffende beginnt, sich der Tatsache zu stellen, daß er Furcht hat; und er beginnt einzusehen, daß es in Ordnung ist, sich zu fürchten. Die anderen werden seine Gefühle verstehen und akzeptieren.
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Häufig fürchten sich die Menschen nicht so sehr vor der Furcht als vor dem babyhaften Gefühl der Hilflosigkeit, das die Furcht begleitet. Dieses falsch konditionierte Gefühl der Hilflosigkeit — nicht die Furcht selbst — lähmt viele. Schließlich ist ein Säugling hilflos, wenn er sich fürchtet. Sein Überleben hängt fast völlig davon ab, was andere tun. Doch ein Erwachsener befindet sich in einer anderen Lage. Er hat viele Möglichkeiten und Fähigkeiten, ob ihm andere nun Hilfe gewähren oder nicht. Vergessen wir nicht, daß die Furcht ein überlebensorientiertes Grundgefühl ist. Physiologisch betrachtet, bewegt sie einen zum Handeln — zum Fliehen — und dazu, daß man nicht in einem hilflosen Zustand der Unbeweglichkeit verbleibt. In unseren Gruppen versuchen wir immer zu zeigen, daß es in Ordnung ist, Furcht zu spüren — ja, daß die Furcht ein Mittel ist, sich selbst vor Gefahren zu schützen. Das ist eine besonders wichtige Lektion für Ablehner.
Häufig verbindet sich der Satz: »Ich fürchte mich« in unseren Gruppenübungen mit Wörtern, die sich auf bestimmte Handlungen oder andere Gefühle beziehen. So könnte jemand aufgefordert werden zu sagen: »Ich fürchte mich, zornig zu werden, aber ich fühle mich zornig.« Oder: »Ich fürchte mich, einen neuen Job zu suchen, aber ich tue es trotzdem.« Die Formulierung ergibt sich aus dem, was die Gruppenmitglieder und die betreffenden Patienten dem Gefühl nach als »die richtigen Worte« betrachten.
Im allgemeinen antworten die Gruppenmitglieder mit einem Nicken oder damit, daß sie sagen: »Es ist ganz in Ordnung, sich zu fürchten« oder: »Ich fürchte mich auch oft.« Diese Unterstützung ist wichtig. Ein Mensch, der gewöhnt ist, seine Furcht zu unterdrücken, muß so umerzogen werden, bis er begreift, daß andere seine Furcht verstehen und sie mit ihm teilen, wenn er sie zeigt. Dieser Gedanke ist für Männer in unserer Gesellschaft am schwersten einzusehen. Häufig sind sie darauf programmiert, daß sie es für unmännlich halten, Furcht zu zeigen, und diese Einstellung muß bekämpft werden. Furcht ist einfach ein Gefühl. Jeder erlebt es zu den verschiedensten Zeiten. Wahre Tapferkeit heißt, angesichts der Furcht zu handeln, und nicht etwa, sie zu leugnen.
Manchmal begegnen wir der »unmännlichen« Einstellung dadurch, daß wir den Mann auffordern zu sagen: »Ich bin ein Mann und fürchte mich.« Solche Worte können mit einer »Als-ob«-Übung beginnen und dann zu einem heftigen aufrichtigen Gefühl werden, das selbst einem kräftigen Kerl von einem Mann die Tränen in die Augen treibt. Wenn ein Mann in unseren Gruppen begreift, daß es nichts Schmähliches ist, seine Furcht zu zeigen, ist das zunächst ein sehr schmerzhaftes Erlebnis.
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Er ist darauf konditioniert zu glauben, daß man, um ein richtiger Mann zu sein, anerkannt und geliebt werden muß. Daß er das »unmännliche« Gefühl der Furcht zugibt, ruft zunächst den Eindruck in ihm hervor, zurückgewiesen und nicht geliebt zu werden. Das Erlebnis ist auch deshalb schmerzhaft, weil er sofort spürt, wieviel Energie er daran verschwendet hat, ein Gefühl zu verhehlen, das zu äußern er als Mensch berechtigt ist.
Die Worte: »Helft mir!« bringen bei Menschen, die sich stark vereinsamt fühlen, sehr viel Furcht zutage. Das Bedürfnis nach Hilfe zu zeigen, macht einen sehr verletzlich — die Bitte könnte zurückgewiesen werden. Diese Verletzlichkeit weckt gewaltige Furcht. Auch hier ist Augenkontakt entscheidend wichtig, damit der Betreffende lernen kann, daß es in Ordnung ist, seine Verletzlichkeit zu zeigen. Häufig steigt Zorn auf, um die Furcht oder den ihr zugrunde liegenden Schmerz abzuschirmen. Dieses Gefühl kann so überwältigend sein, daß der Mensch gar nicht in wirkliche Verbindung mit seiner Furcht kommt. Er muß darum ringen, den Zorn beiseite zu schieben — »durch ihn hindurchzustoßen«, wie wir in den Gruppen sagen —, damit er in wirkliche Verbindung mit seiner Furcht gelangt.
Jeder von uns erhält irgendein Image von sich aufrecht, das die Welt und uns selbst daran hindern soll zu sehen, wer wir wirklich sind, was wir wirklich fühlen, wo wir wirklich verletzbar sind. Der »nette Kerl« im Büro ist vermutlich ungeheuer zornig im Innern, verbirgt diesen Zorn jedoch sogar vor sich selbst — er ist darauf programmiert worden, Zorn für etwas Schlechtes zu halten und zu glauben, daß er nicht geliebt wird, wenn er dem Zorn Ausdruck verleiht. Der aggressive Mann, der sich voll schärfster Verachtung über Homosexualität äußert, mag sie sehr wohl in sich selber fürchten. Die »Weltverbesserin« ist in Wirklichkeit voller selbstsüchtiger Bedürfnisse, die sie sich nicht einzugestehen wagt.
Diese Beispiele sind vielleicht allzusehr vereinfacht. Die Nuancen der Vorstellungen, die wir uns selber machen, können sehr vielfältig sein, je nach der Lebenserfahrung des betreffenden Menschen. Aber es bleibt doch als Tatsache bestehen, daß solche Selbstvorstellungen gewöhnlich Abwehrmechanismen sind, häufig destruktive und persönlich frustrierende Mauern, die ungeheure Energien für ihre Aufrechterhaltung absorbieren. Das Problem ist, wie man einem Menschen helfen kann, dieses Image zu zerbrechen, und wie man ihm einen neuen Weg zeigt, sein Ich ehrlich und spontan auszudrücken. Denn erst auf diese Weise kann er erfahren, wer er wirklich ist und wie viele Wahlmöglichkeiten ihm tatsächlich offenstehen.
Unsere Gruppendynamik stellt Selbstvorstellungen ständig in Frage. Ein Weg dabei ist das verbale »Feedback«; die Leute machen einem Gruppenmitglied klar, wie es ihnen vorkommt und was sie es tun sehen — ganz gleich, was es zu tun vorgibt.
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Ein weiterer Schlag gegen das Selbstimage erfolgt durch die emotionalen Reaktionen der Gruppenmitglieder. Wenn alle ständig zornig auf jemand werden oder ihn wegen seiner Hilflosigkeit verspotten, ohne ihn doch als Kind behandeln zu wollen, dann muß er sich schließlich damit abfinden, daß sein Selbstimage einfach nicht realistisch ist. Es gibt in unseren Gruppen eine Redewendung, die sagt: »Wenn dir alle sagen, daß du ein Elefant bist, wird es besser sein, wenn du gleich anfängst, Erdnüsse zu suchen.« Selbst ein Mensch, der starke Abwehrmechanismen hat, muß, wenn er lange genug an den Gruppen teilnimmt, zugeben, daß die anderen deshalb in einer bestimmten Weise auf ihn reagieren, weil der, der er wirklich ist, diese Reaktion hervorruft. Er sieht schließlich ein, daß die ehrliche Reaktion der anderen auf ihn gültig ist — und nicht sein Selbstimage. Und dieses Bild beginnt dann allmählich zu zerbröckeln, so daß die wirklichen Gefühle und Bedürfnisse des Betreffenden bloßgelegt werden.
Es kann ganz erhebliche Furcht hervorrufen, wenn man das Feed-back und die Reaktionen der Gruppe als Wahrheit akzeptiert. Man muß schon der ganzen Atmosphäre und vielen Mitgliedern der Gruppe Vertrauen schenken, ehe man das »aufnehmen« kann, was sie einem zeigen. Sobald man beginnt, sich darauf einzustellen, daß das eigene »Selbstimage« unrealistisch ist, wird der stärkste Abwehrmechanismus, der einen den größten Teil des Lebens geschützt hat — mag er auch noch so selbstzerstörerisch oder energieverschwendend gewesen sein —, außer Kraft gesetzt.
Die Gruppendynamik ist darauf angelegt, daß sie das Vertrauen auf zweierlei Weise fördert: Erstens tragen die Unterstützung durch die Gruppe, die unsere gemeinsamen Gefühle teilt, und der Eindruck, daß andere Menschen »da gewesen« sind, dazu bei, daß wir der Dynamik Vertrauen schenken. Zweitens erzeugt die Herausforderung durch die Gruppe Vertrauen, weil sie uns zeigt, daß andere glauben, wir hätten die Kraft und Fähigkeit, uns zu ändern — und daß sie das zu unserem Besten auch tatsächlich wünschen. Mit anderen Worten, sie machen sich etwas aus uns. Diese Anteilnahme zu spüren hilft vielen dabei, sich durch Furcht hindurchzuarbeiten.
Als eine Art Übung wird ein neues Gruppenmitglied, das unter einem »Image-Problem« leidet, häufig dazu aufgefordert, der Gruppe das Schlimmste zu erzählen, was es je getan hat. Die Reaktion ist faszinierend. Ausnahmslos herrscht zunächst Schweigen, wenn der Betreffende seine ersten Einfälle zensiert. Dann erzählt er eine nicht sehr interessante Geschichte, in der er tapfer und heldenhaft oder auch ein wenig töricht erscheint.
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Während er die Geschichte erzählt, deuten seine Signale an, daß es in Wirklichkeit etwas ganz anderes ist, was er als seine schwerste heimliche Sünde betrachtet. Sorgfältiges Anspornen und Herausfordern von selten der Gruppe bringt das neue Mitglied schließlich dazu, etwas zu enthüllen, was sein »Selbstimage« zerbricht.
Und sofort erscheint das gefürchtete Geheimnis gar nicht mehr so erschreckend. Andere Leute in der Gruppe haben ähnliche oder schlimmere Erfahrungen gemacht, und die meisten kennen und verstehen wenigstens die Furcht und die anderen Gefühle, die diese Beichte zur Folge hat. Das Geheimnis ist vielleicht nach den Maßstäben der Gesellschaft wirklich schockierend — vielleicht Inzest oder ein schweres Verbrechen. Es könnte auch etwas sein, was anderen Leuten als recht gelinde oder alltäglich vorkommt — vielleicht die Phantasievorstellung, Vater, Mutter oder ein Geschwisterteil zu ermorden. Was es auch sein mag, es einer Gruppe von Menschen zu enthüllen, überbrückt häufig die Kluft zwischen Signalen und Worten, so daß das ungeheuerliche Geheimnis niemals wieder so bedrohlich erscheint. Dies ist nicht nur die Erleichterung einer »Beichte«. Für die meisten Menschen ist es eine wahre Offenbarung, daß ihr »Geheimnis« etwas mit einem anderen Gefühl zu tun hat. Und sobald das Geheimnis ausgesprochen ist, hat der Betreffende die Chance, seine Gefühle darüber ungestört in der Gruppe zu üben. Es ist ein ungemein befreiendes Erlebnis. Und für uns ist es ein Zeichen dafür, daß das Gruppenmitglied begonnen hat, der Gruppe Vertrauen zu schenken.
In einigen Furchtübungen läßt sich der Betreffende schlaff auf seinem Stuhl nieder, legt den Kopf zurück, schließt die Augen (um die anfängliche Furcht zu verringern) und schreit seine Furcht heraus — dabei .beginnt er mit Worten, die ihm gerade geeignet erscheinen. Ganz gleich, mit welchen Worten er anfängt, gewöhnlich endet er damit, daß er einen animalischen Laut ausstößt, einen Entsetzensschrei. Der Schrei wird immer wieder wiederholt, bis der Betreffende das Gefühl durchstoßen hat und sich nicht mehr ganz so furchtsam fühlt.
Wir veranlassen Gruppenmitglieder auch dazu, ihre Furcht auf den Matten zum Ausdruck zu bringen. Gewöhnlich versammeln sich dann andere Mitglieder um die Person, die auf den Matten arbeitet. Sie beginnt vielleicht, sich herumzuwerfen und zu schlagen, mit Fäusten und Füßen auf die Matten zu hämmern und ihre Furcht herauszukreischen: »Ich fürchte mich« oder: »Schlag mich nicht!« Die Worte beziehen sich oft auf bestimmte Kindheitserlebnisse — auf eine Tracht Prügel vom Vater zum Beispiel; oder auf den Tod der Großmutter; oder auch nur auf das Entsetzen, allein in einem Bett zu liegen, während die Lampen im Zimmer gelöscht worden sind. Gewöhnlich werden alle Wörter rasch zu animalischen Schreien.
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Bei jeder dieser Übungen verliert der Betreffende oft an irgendeinem Punkt die Verbindung mit dem Gefühl — gewöhnlich dann, wenn dieses Gefühl zu einer tieferreichenden, noch mehr Furcht einflößenden Ebene des Bewußtseins hinabführt. Wenn das geschieht, ermutigt die Gruppe den Betreffenden, die Augen aufzumachen und das emotionale Feedback aufzunehmen, das sich in den Gesichtern der anderen zeigt. Das bringt ihn wieder in Verbindung mit anderen Menschen und vergewissert ihn der Teilnahme, die sie für ihn empfinden. Er wird ermutigt, intensiver zu üben und sich bis zu dem Gefühl vorzuarbeiten. Wenn er bis zur Tiefe des Gefühls vordringt, verwandeln sich seine Furchtschreie häufig in Äußerungen anderer Gefühle — Zorn, Schmerz und schließlich Freude.
Zornübungen
Unsere ersten Gruppen konzentrierten sich auf die zornige Konfrontation, wie ich sie in Synanon erlebt hatte. Wir lernten bald, daß zornige Interaktion andere Gefühle erzeugt. Manche Menschen werden erschreckt und können sich nicht gegen Angriffe verteidigen. Manche weinen sofort, weil sie verletzt sind oder sich fürchten. Manche ziehen sich hinter feindseliges Schweigen zurück. Und manche kommen nicht wieder.
Heute laden wir jeden, der meine Praxis verläßt, brieflich und telefonisch zu einem — kostenlosen — Gespräch ein, bei dem wir herauszubekommen versuchen, ob und wie wir versagt haben und wie wir ihm vielleicht helfen können.
In unseren ersten Gruppen diskutierten wir alle Reaktionen als Teilgruppendynamik. Doch es zeigte sich deutlich, daß diese Interaktionen häufig die Menschen nicht bis zu den Tiefen ihres Zorns führten. Also versuchten wir etwas Neues. Wir versuchten, die Patienten dazu zu veranlassen, daß sie das Gefühl für sich selbst zum Ausdruck brachten, statt es gegen Menschen in der Gruppe zu richten. Wir forderten sie auf, geltend zu machen, daß sie zu dem Zorn berechtigt seien, und zwar nicht etwa, weil sie sich hinter dem Zorn verteidigen mußten, sondern weil sie als Mensch verletzt worden waren.
(Die Vorstellung, daß man das Gefühl für sich selbst fühlen müsse, ist der Ausgangspunkt der meisten unserer heutigen Übungen.)
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Als wir Zornübungen entwickelten, die sich darauf konzentrierten, daß man die Emotion für sich selbst fühlt, wurde deutlich, daß das Gefühl verschiedene Intensitätsgrade hat. Wir erkennen jetzt, daß es vier sehr klar abgegrenzte Stadien des Zorns gibt. Jedes muß erkundet und geübt werden, doch nur das vierte ist therapeutisch wertvoll. Wir erkennen den Grad vor allem an den Signalen des Betreffenden, der die Übung macht.
Jeder Grad des Zorns kommt tatsächlich aus einem anderen Teil des Körpers:
1. Der erste Grad stammt aus dem Kopf — »intellektueller« Zorn, ruhig durchdacht und ausgedrückt. Er kann aggressive Erklärungen oder Signale der Verachtung enthalten. Es kann eine verbale Äußerung sein wie: »Du hast mich zornig gemacht«, ohne daß viel Affekt dahintersteht, der sie glaubhaft macht.
2. Der zweite Grad des Zorns äußert sich als lauter Schrei. Man hört, wie es den Patienten in der Kehle würgt. Immer ist dieser Schrei mit Angst gemischt. Ich nenne diesen Grad den »Wegräum«-Zorn, weil er den Beiklang hat: »Geht weg von mir!« oder: »Ich muß davon los!« oder: »Sie müssen jetzt hier verschwinden.« Es ist ein angsterfülltes Abwehrgefühl.
3. Der dritte Grad des Zorns liegt tiefer. Eine mörderische Wut steigt aus der Brust hoch. Es ist Zorn von der Art, die töten möchte. »Laßt mich ran an ihn! Ich hasse ihn.« Diesen dritten Grad müssen die Patienten fühlen, ehe sie zum vierten vorstoßen können. Sie müssen sich sicher genug in ihrer Wut fühlen, um zu zeigen, daß sie manchmal den Wunsch haben zu töten. Erst wenn sie diese Bloßstellung überlebt haben, sind sie imstande, ihren wahren Zorn im vierten Grad, den auf der tiefsten Ebene, zu äußern.
4. Der vierte Grad des Zorns poltert locker und rhythmisch aus den Tiefen der Eingeweide herauf. Ich nenne ihn den »Identitätszorn«. Die Menschen fühlen sich alle miteinander verbunden und entspannt, stark und lebendig. Es handelt sich um Selbstsicherheit, nicht um Prahlerei. Es ist Zorn von der Art, die sagt: »Ich bin zornig, weil ich verletzt worden bin. Was mir zugefügt worden ist, war nicht fair, und deshalb bin ich zornig. So etwas wird nie wieder jemand mit mir anstellen! Ich lasse nicht zu, daß mir das noch einmal jemand antut! Nie wieder! Niemals!« Es ist die Äußerung eines Menschen, der völlig mit seinen Gefühlen in Verbindung steht und sich dessen bewußt ist, was er als Mensch zu fühlen berechtigt ist. Da gibt es keine Unsicherheit, keine Bedrohung, keinen furchtsamen Schmerz und keine Angst mehr.
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Dieser vierte Grad des Zorns wird überall im Körper spürbar. Man ist sich seines totalen Ichs, seiner totalen Identität bewußt. Man begreift, daß man ein Recht darauf hat, ohne Schmerz geliebt zu werden. Man ist berechtigt, geliebt zu werden, ohne einen ungeheuren Preis dafür zahlen zu müssen. Das Gefühl kommt aus der Erkenntnis : »Ich bin liebenswert, weil ich ich bin. Ich bin von dem Augenblick an, wo ich geboren wurde, liebenswert gewesen, und wenn mich jetzt keiner liebt, dann werde ich jemanden finden, der mich lieben wird.« Das ist besonders für Annehmer ein wichtiges Gefühl.
Zu den Tiefen des Zorns vorzustoßen, beseitigt nicht nur aufgestaute Gefühle. Es hat vielmehr eine entschieden positive Wirkung. Wenn jemand tatsächlich das vierte Stadium seines Zorns erreicht, zeigt sich die selbstbewußte Empfindung: »Wagt ja nicht, mir das noch einmal anzutun!« deutlich in all seinen Signalen. Die Stimme hallt wider. Der Körper entspannt sich. Der Rhythmus der Worte fließt. Der Betreffende beginnt, das Gefühl zu genießen. Er fühlt sich stark und zu Ansprüchen berechtigt. Berechtigt, nicht verletzt zu werden. Berechtigt, geliebt zu werden. Wenn er diesen Grad erreicht hat, fühlt er vielleicht starken Schmerz über die verlorenen Jahre, als er sich diese Selbstsicherheit nicht gestattete. Doch dann ergreift ihn ein gutes Gefühl. Er fängt an zu grinsen, sein Stampfen wird zum Tänzeln oder Stolzieren, sein Schreien zum glücklichen Lachen über die Entdeckung des eigenen Ichs. Er fühlt sich offen und frei. Sein Körper prickelt überall — sogar die Genitalien kribbeln —, denn diese Ichbestätigung ist ein starkes, lustvolles, sinnliches (falls nicht sogar sexuelles) Gefühl. Auf dieser Ebene des Zorns ist der Mensch alles andere als hilflos. Er erlebt ein wahrhaft frohes Gefühl. Es ist übrigens ansteckend: Die meisten Mitglieder der Gruppe reagieren auf die Freude und teilen sie mit Umarmungen und Lachen.
Alle Zornübungen sind auf diesen vierten Grad gerichtet. Die meisten Übungen beginnen mit den Worten: »Ich bin zornig!« Das wird immer wieder ausgesprochen. Gewöhnlich steht der Betreffende auf, die Füße fest auf dem Boden, den Kopf zurückgeworfen, die Fäuste an den Seiten geballt. Er beginnt mit dem Versuch, bewußt »Verbindung« mit dem Gefühl zu bekommen, dabei wiederholt er die Worte, bis sie von selbst widerhallen. Vielleicht bemüht er sich, die Verbindung mit dem Gefühl zunächst dadurch zu erhalten, daß er sich auf einen bestimmten Grund seines Zorns konzentriert. Doch schließlich übernimmt das Gefühl selbst die Leitung. Der betreffende Mensch wird zu einer Masse zorniger Energie und stößt immer wieder die Worte aus: »Ich bin zornig, ich bin zornig!«
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Diese Worte schwingen immer tiefer in seinem Bauch. Man hört den Unterschied, wenn einem Patienten die Verbindung gelingt. Es ist nicht mehr ein ersticktes Schreien aus der Kehle oder ein hysterisches frustriertes Brüllen. Statt dessen rollen die Worte und schließlich die Laute des Gefühls selbst leicht und kraftvoll in tiefen selbstsicheren Tönen aus dem Bauch.
Besondere Gründe für das Zornigsein gehen dem Betreffenden in flüchtigen Bildern durch den Kopf, während er die Übung ausführt, doch es bleibt keine Zeit, daß sie zu Gedanken werden. Die Kraft des Gefühls ist zu groß, als daß es eine Pause für das Sortieren von Symbolen geben könnte. Wenn jemand dennoch eine Pause macht, verliert er unvermeidlich die Verbindung mit dem Gefühl. Später, wenn das volle Gefühl erreicht und zutage gefördert worden ist, kann der Betreffende der Gruppe vielleicht die Bilder beschreiben, die ihm durch den Kopf schossen, während er zornig wurde. Wenn er das tut, gelangt er häufig zu einer Verbindung mit Einstellungen, die einen therapeutischen Wert haben.
Diese Verbindungen hätten wenig Wert, wenn der Betreffende nicht zuerst oder gleichzeitig die Intensität des Gefühls erlebt hätte. Das bestätigte sich häufig in unseren ersten Gruppen, als sich die Zornübung entwickelte. Allzuoft können Menschen »verstehen«, worauf sich die Gefühle beziehen, doch das Verstehen hindert sie daran, das Gefühl zu erleben. Ehe sie es nicht in vollem Maß erleben, übt es eine Art Magie aus, die im Lauf der Jahre, in denen man Abwehrbarrieren aufgerichtet hat, noch verstärkt worden ist, so daß es über alle Proportionen gewaltig erscheint. Weil eine solche Verzerrung die Lebenstüchtigkeit des Betreffenden beeinträchtigt, ist es entscheidend wichtig, daß er das Gefühl in den richtigen Proportionen sieht: Er muß erkennen, daß es aus einer falschen Programmierung stammt, und sich darum bemühen, dies ständig im Auge zu behalten, damit er seinem verbogenen Gefühl nicht nachgibt oder es im Alltagsleben verzerrt »ausagiert«.
Mindy, Mitte Zwanzig, war sich ihrer unangemessenen Gefühle über ihre Mutter durchaus bewußt. Die Mutter war schön, und der Vater wies Mindy immer wieder darauf hin: »Ist deine Mutter nicht schön? Sie war das hübscheste Mädchen in der Schule, und heute sieht sie nicht einen Tag älter aus.« In Wirklichkeit fühlte sich Mindys Mutter selbst völlig unsicher und war auf ihre Tochter eifersüchtig. (Mindy und ihr Vater standen sich sehr nahe, solange Mindy eine Art Kameradschaftsverhältnis zu ihm aufrechterhielt, beispielsweise dadurch, daß sie gemeinsam Sportveranstaltungen besuchten.) Die Mutter steckte Mindy in jungenhafte Kleidung. Sie verspottete die Tochter, als die einen Büstenhalter haben wollte, weil ihre Freundinnen auch einen trugen.
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Doch im allgemeinen war Mindys Mutter sehr liebevoll und hilfsbereit der Tochter gegenüber. Bezeichnenderweise wurden die Menschen in diesem Haus nie zornig. Zorn bedeutete »Nicht-Liebe«.
Als Mindy heranwuchs, erkannte sie die Rivalität zwischen ihrer Mutter und sich selbst und akzeptierte die Überlegenheit der Mutter. Nach Mindys Ansicht (infolge ihrer Konditionierung) war die Mutter schöner, und Mindy war sogar stolz darauf, wie andere auf ihre Mutter reagierten. Außerdem liebte die Mutter sie. Doch als Mindy dreiundzwanzig war, hatte sich ihr Lebensstil zu einem krankhaften Verhalten entwickelt. Sie füllte ihre gute Stellung zwar verantwortungsbewußt aus, schlief aber mit nahezu jedem Mann, den sie kennenlernte, und hatte bereits vier Abtreibungen hinter sich. In unseren Gruppen konnte sie darüber sprechen, daß sie zwar ihre Mutter liebe, aber den Eindruck habe, ihre Mutter habe ihr mit ihren Eifersuchtsgefühlen geschadet. Mindy glaubte, darüber zornig zu sein. Wir begannen eine einfache Zornübung mit ihr, und der Zorn wurde stärker. Plötzlich sprang sie auf und schrie immer wieder: »Ich liebe sie! Ich hasse sie! Ich liebe sie! Ich hasse sie!« Ein paar Minuten lang waren die einander abwechselnden Wut- und Schmerzgefühle intensiv, dann brach Mindy vor Erleichterung weinend zusammen, wie sie die aufgestauten Gefühle herausgelassen hatte. Hinterher sagte sie mir: »Wissen Sie, ich wußte, daß ich diese widersprüchlichen Gefühle für meine Mutter hatte, aber ich habe sie nie richtig begriffen — oder ihnen geglaubt — bis zu diesem Augenblick.«
Von besonderem Wert ist es, daß unsere Gruppen einen sicheren Ort bieten, Gefühle zu zeigen, wie verbogen sie auch sein mögen. Es ist ein Ort, jahrelang aufgestaute Emotionen, die sonst nirgendwo freigesetzt werden konnten, herauszulassen. Ein großer Teil des Drucks entweicht für immer, wenn jemand zum erstenmal bis zu einem tiefen Gefühl vordringt. Doch dann muß er üben. Durch Gruppenübungen und die dabei entstehenden Einsichten wird das Gefühl erträglicher und leichter erreichbar, und seine Magie vergeht. Wir haben diese Tatsache zuerst durch die »Ich bin zornig«-Übungen gelernt, doch gilt sie auch für andere Grundgefühle.
Trotz der Sicherheit in der Gruppe lernen nur wenige Menschen, der Atmosphäre gleich von Anfang an so viel Vertrauen zu schenken, daß sie auf ihre Abwehrmechanismen verzichten und sofort zu den Tiefen des Zorns (oder sonst eines Gefühls) vorstoßen. Man muß darum ringen und braucht mehrere Anläufe. Wenn jemand Schwierigkeiten hat, hilft die Gruppe auf die vielfältigste Art. Die Mitglieder können ermutigend zurufen, mit Beleidigungen antreiben oder vorschlagen, wie man etwa eine Haltung oder Geste verändert. Das Hauptgefühl, das die Gruppe nie zuläßt, ist »Hilflosigkeit«.
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Die Mitglieder wissen, daß jeder fähig ist, selbstbestätigenden Zorn auszudrücken. Alles, was nicht dazu dient, dieses Ziel zu erreichen, wird als Ausflucht betrachtet und ruft die Ungeduld oder den Zorn der anderen Mitglieder hervor. Doch wenn sich ein Mitglied wirklich bemüht und dann doch versagt, wird es sanft behandelt. Viele Menschen verhindern ihren Erfolg mitten in einer Übung, weil sie den Eindruck haben, es dauere zu lange. Das könnte eine Flucht vor dem Gefühl sein, ist jedoch häufig eine echte Sorge und zeigt, daß der Betreffende Bestätigung braucht. Er möchte gern hören: »Es ist Zeit genug. Wenn du es diesmal nicht schaffst, dann versuchst du es das nächste Mal wieder.« Auf diese Weise kann die Gruppe sowohl ermutigen als auch zurückweisen. Beide Handlungen haben ihren Wert — je nach der Person und der Situation.
Es gibt mehrere Variationen der grundlegenden Zornübung. Die Worte »Ich hasse« rufen häufig besonders starke Furcht und Wut hervor. Ich habe Patienten gesehen, die mit Leichtigkeit zornig werden können, doch wenn sie die Äußerung: »Ich hasse« damit verbinden, zittern sie vor Entsetzen und Schuldbewußtsein. Sie sind nahe an einem Gefühl für eine signifikante geliebte Person. Manchmal hilft es ihnen, wenn man sie dazu bringt, in der Art von Rumpelstilzchen auf und ab zu springen und dabei »Ich hasse« zu rufen, die Furcht zu durchstoßen und zur zuversichtlichen Zornäußerung zu gelangen.
Augenkontakt ist fast immer (außer auf der Matte) bei einer Zornübung wichtig. Er bedeutet, daß der Betreffende volle Verantwortung für sein Gefühl übernimmt. Das ist beim Zorn besonders wichtig, weil unsere Gesellschaft uns so häufig lehrt, daß Zorn ein verbotenes Gefühl sei. Man darf nicht wagen, ihn zu zeigen, wenn man gesellschaftlich akzeptabel bleiben will. In unseren Gruppen wagt der Betreffende durch Augenkontakt Zorn zu zeigen. Er übernimmt volle Verantwortung dafür, indem er sich auf bestimmte Menschen konzentriert, statt sich in einer Art isolierter Wut zu schützen. Manchmal ist sogar eine noch spezifischere Bestätigung von Auge zu Auge wertvoll: »Ich hasse dich, Charlie. Ich bin zornig auf dich, Jean.« Mit jeder solchen Äußerung einzelnen gegenüber geht der Betreffende ein Risiko ein. Die Angesprochenen könnten von diesem Angriff verletzt werden. Es könnte zu zornigen Erwiderungen kommen. Sogar zu demütigendem Gelächter. Doch der Betreffende lernt, daß keine Äußerung seines Zorns so stark ist wie das, was ihn die Programmierung in seiner Kindheit fürchten lehrte. Sein Zorn führt weder die Vernichtung des Menschen herbei, auf den er sich konzentriert, noch die eigene Destruktion. Zorn ist keine Magie; er ist ein Gefühl.
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Ein richtiger Wutanfall auf dem Fußboden hilft den Menschen oft, in Verbindung mit Zorngefühlen zu kommen. Der Betreffende liegt rücklings auf einer Matte auf dem Boden, während Gruppenmitglieder um ihn herumhocken. Das ist eine sehr verletzliche Stellung, man fühlt sich hilflos und furchtsam wie ein Baby (es ist schwer, sich zu verteidigen, wenn man flach auf dem Rücken liegt). Der Wutanfall kann mit den Worten beginnen: »Ich bin zornig.« Doch wichtig an der Übung ist, den Körper dabei natürlich in die Signale des Anfalls hineinzubewegen. Das Ziel ist im Grunde, außer Beherrschung zu geraten wie ein wütendes Kleinkind. Wenn der Erwachsene den Kopf von einer Seite zur anderen rollt und dabei leicht schwindlig wird, läßt seine Beherrschung nach. Der Betreffende bewegt außerdem rhythmisch Arme und Beine, schlägt mit den Fäusten auf zwei Kissen zu seinen Seiten und beugt die Knie wie beim Radfahren. Wenn er mit dem Gefühl in Verbindung gelangt, wird dieser Körperrhythmus spontan. Er bewegt sich immer rascher, doch auch lockerer, und die Zornworte verwandeln sich in Schreie. Wenn das Gefühl die Herrschaft übernimmt, kann es geschehen, daß das Gruppenmitglied über den Fußboden rollt, sich windet und keucht und mit den Fäusten hämmert. (Andere Gruppenmitglieder sorgen dafür, daß es sich nicht verletzt.)
Wenn der Zorn verraucht ist, gibt es gewöhnlich Schmerz, einen sanften, wimmernden, verletzbaren Schmerz. Dann kann aus diesem Schmerz mehr Zorn hervorschießen. Und noch mehr Schmerz. Schließlich stiller Friede und das Verlangen nach Liebe, wenn der Betreffende die zärtlichen, teilnehmenden Blicke der anderen wahrnimmt.
Die Freisetzung von Zorn durch einen Wutanfall bringt oft tiefe sinnliche und sexuelle Gefühle mit sich. Ich habe Frauen, die niemals einen Orgasmus hatten, bei dieser Übung erlebt und gesehen, wie ihr ganzer Körper schlaff wurde und ihr Becken sich auf eine Weise öffnete, wie sie es nie zuvor kennengelernt hatten. Sie sind entzückt über diese neue Freiheit. Sie winden sich glücklich auf dem Fußboden, während sie sich der neuen Gefühle bewußt werden. Niemand wird durch diese Reaktion beleidigt - es ist eine vitale, frohe Angelegenheit. Die Wutanfall-Übung kann ungemein befreiend sein, vor allem für Menschen vom Annehmertyp, die Schwierigkeiten mit Zorn und Identitätsprobleme haben.
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Schmerzübungen
All unsere psychischen Abwehrmechanismen sind dazu bestimmt, emotionalen Schmerz irgendwie zu vermeiden. Je nach den Verletzungen unserer Kindheit hat jeder von uns besondere Abwehrmechanismen entwickelt, die uns davor schützen sollen, solchen Schmerz noch einmal zu erleben. Sobald eine Situation auch nur die Gefahr eines Schmerzes anzeigt, der uns unterbewußt an Verhältnisse unserer Kindheit erinnert, treten unsere Abwehrmechanismen in Aktion. Doch wir sind jetzt Erwachsene, keine hilflosen Kinder. Wir sind in der Lage, auf realistische Weise entschieden besser für uns zu sorgen.
Aber die Abwehrmechanismen der Kindheit bleiben erhalten und schirmen uns gegen die Möglichkeit emotionaler Gesundheit ab. Ein Süchtiger wird lieber fixen als fühlen, wie einsam er ist oder wie unzulänglich er sich angesichts der emotionalen Ablehnung durch den Vater gefühlt hat. Ein Zwangsneurotiker wird Fahrstühlen fernbleiben, die ihn mit Entsetzen erfüllen, statt das Risiko auf sich zu nehmen, daß er den Schmerz wieder fühlen muß, den er als kleiner Junge erlebte, als er in einer Kammer oder in der emotionalen Kontrolle seiner Eltern eingesperrt war. Ein erwachsener Mann wird es stoisch vermeiden, Tränen zu vergießen, statt seinen Schmerz zu zeigen, weil er gelehrt worden ist, daß Männer nicht weinen. Wie wir auch programmiert worden sind, wir hindern uns selbst daran, unseren tiefen Schmerz zu zeigen. Er macht uns zu verletzbar. Der Preis wäre, wie wir meinen, zu hoch.
Doch Schmerz ist eine gemeinsame menschliche Erfahrung, die von anderen verstanden und geteilt werden kann. Wir können wertvolle Unterstützung von ihnen erhalten, wenn wir unseren Schmerz ehrlich zeigen. Den Schmerz zu verdrängen, läßt ihn nur unerträglich anwachsen und zwingt uns dazu, daß wir uns vom lebenswichtigen emotionalen Kontakt mit anderen absondern. Der Schmerz muß freigelassen werden, sonst ersticken wir daran, verkümmern emotional oder verschwenden unser ganzes Leben mit irrwitzigen psychologischen Tricks, um den Schmerz nicht zu spüren.
Die Worte: »Es tut mir weh«, immer lauter gesprochen, können Menschen dabei helfen, den Schmerz freizulassen. Der Betreffende sitzt vielleicht auf seinem Stuhl und sagt zu jedem Gruppenmitglied: »Es tut mir weh.« Dabei sieht er jedem in die Augen, um selbst so verletzbar wie möglich zu sein. Wenn der Betreffende dann umhergeht, öffnet er sich allmählich. Die Tränen fließen, wenn die Worte Kraft gewinnen. Sobald der Schmerz wirklich kommt, wird sich der Patient vielleicht krümmen, sich den Bauch halten und schluchzen oder das Gesicht mit den Händen bedecken. Aber es ist wichtig, das Gefühl zu teilen, und die Gruppenmitglieder werden ihn, falls er zusammengekrümmt in seinem Stuhl hängt, sanft aufrichten, so daß er die Beine ausstreckt, den Kopf zurücklegt und die Augen schließt.
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In dieser Stellung — wobei der Patient gewöhnlich irgend jemandes Hand zu beiden Seiten ergreift — verwandelt sich das Schluchzen der meisten Menschen in Schmerzensschreie, in wortloses Heulen, das die Stille immer wieder zerreißt. Manche Leute winden sich dabei, wenden Kopf und Körper ab, während sie versuchen, dem Gefühl zu entkommen. Andere haben das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Brennende Schwärze zieht hinter ihren Augen herauf. Als ob sie sich in einen langen, einsamen Tunnel zurückzögen.
Für die meisten ist es schwer, am Ende dieses Gefühls die Augen zu öffnen. Sie sind fest überzeugt, daß niemand dasein wird oder daß sie nichts sehen als feindselige, mißbilligende Blicke oder den Ausdruck der Gleichgültigkeit bei den übrigen Gruppenmitgliedern. Doch wenn sie sich dann endlich umsehen, entdecken sie auf manchen Gesichtern offene Liebe, auf vielen Tränen, auf einigen wenigen Verlegenheit oder Furcht. Es ist wichtig für den Betreffenden, sich in diesem Augenblick auf andere Menschen zu konzentrieren — er muß sich selbst gleichsam in den Raum zurückversetzen und erkennen, daß sein Schmerzgefühl akzeptabel ist. Er ist nicht verschwunden. Und die anderen Menschen im Raum ebensowenig.
Auf dem Boden zu liegen, hilft dem Patienten ebenfalls, seinen Schmerz zu erreichen. Wiederum macht ihn die verwundbare Stellung hilflos wie ein Kleinkind. Wenn er das Risiko auf sich zu nehmen wagt, sich zu entspannen und jenes verwundbare Gefühl von seinem Körper Besitz ergreifen zu lassen, wird er bei den Worten: »Es tut mir weh« oft das Schmerzgefühl in Tränen und Schreien freilassen können.
In beiden Positionen werden die Gefühle manchmal zu Zorn: »Es tut mir weh!« Das wird dann mit zusammengebissenen Zähnen herausgewimmert und verrät, welche Ungerechtigkeit dem Betreffenden zugestoßen ist. Manchmal verhindert der Zorn die Verbindung mit dem Schmerz. Dann muß der Patient versuchen, den Schmerz wieder zu fühlen. Wenn es jedoch ein offener, verletzbarer Zorn ist, dienen die Signale nicht der Abwehr. Sie sind vielmehr eine Reaktion auf all das, was der Patient erlitten hat, und eine Bestätigung, daß es nicht fair war. Andere Gruppenmitglieder stimmen sich schnell auf die Signale ein und helfen ihm, bei seinen tiefsten Gefühlen zu bleiben.
Schmerz taucht häufig beim Üben anderer Gefühle auf, etwa beim Wutanfall. Menschen verspüren tatsächlich oft Schmerz, wenn sie irgendwelche tief vergrabenen Gefühle zutage fördern. Die Freisetzung vermittelt ihnen die Erkenntnis, wieviel sie durchgemacht haben, um ihre Gefühle nicht sichtbar werden zu lassen. Es ist, als ob das ganze Leben vor einem vorbeizieht, wenn die Katharsis eines wichtigen Gefühls stattfindet; auf einmal sieht man ganz deutlich, wie emotional entleert das Leben für einen gewesen ist. Es ist eine qualvolle Einsicht, für die jeder in der Gruppe Mitgefühl aufbringen kann.
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Viele Menschen weinen offen, wenn sie jemand an diesem Punkt der Selbstbewußtwerdung sehen. Manche berühren einander, halten einander an den Händen, weinen einer an der Schulter des anderen. Andere Gruppenmitglieder weinen in einsamer Isolierung (wie sie es ihr ganzes Leben lang getan haben), weil sie sich fürchten, jemand zu berühren oder sich berühren zu lassen.
Wenn ich von »Ungerechtigkeit« im Leben eines Menschen und von dem Schmerz spreche, den sie hervorruft, dann versuche ich nicht, einen Sündenbock aus Vater oder Mutter oder aus sonst jemandem zu machen, der Schmerz im Leben eines Patienten verursacht hat. Schmerz ist im Leben nicht zu vermeiden. Zweifellos kann jeder von uns irgendwelche schmerzlichen Erlebnisse nennen, die für den einen ungerechter gewesen sind als für andere — etwa den Verlust eines Elternteils in früher Kindheit, die Tyrannei eines trunksüchtigen Vaters oder das Unglück, arm geboren zu sein. Was wir in unseren Gruppen in Angriff nehmen wollen, ist vielmehr, wie man mit dem Schmerz fertig wird, und nicht, wie unglücklich man ist.
Ein Hauptziel unseres Prozesses ist es, Menschen zu der Einsicht zu bringen, daß sie nichts anderes gegen ihre Vergangenheit unternehmen können, als sich von ihr frei zu machen. Dann können sie ihre Zukunft leben, wie sie es für richtig halten. Doch um diese Freiheit zu gewinnen, muß man sich seines Anspruches als Mensch auf all seine Gefühle sicher sein. Zu diesem Zweck müssen die Fehlprogrammierungen und Ungerechtigkeiten der Kindheit erkannt und gefühlt werden, damit ihr Einfluß beseitigt wird. Unsere Übungen versuchen, eine vollkommene Verbindung zu solchen »historischen« Gefühlen zu schaffen, damit ihnen ihre Magie genommen wird und gesunde Gefühle an ihre Stelle treten können. Nur dann kann ein Mensch Herr seiner selbst und nicht mehr Sklave seiner Kindheitserlebnisse sein. Nur dann kann er sich ausreichend öffnen, um die Gefühle anderer in sich einzulassen und gesunde erwachsene Beziehungen anzubahnen, die bedeutungsvoll und fruchtbar für sein weiteres Leben und sein Glück sind.
Liebesübungen
Liebe in reifer Weise anzunehmen ist vermutlich das Gefühl, das man in unserer Kultur am schwersten aufzubringen vermag. Überraschenderweise ist die Schwierigkeit nicht etwa die, Liebe zu schenken, sondern die, Liebe hereinzulassen. Es ist gerade, als ob wir uns gegen das, was wir am meisten brauchen — nämlich geliebt zu werden —, am meisten wehren.
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Weil die Liebe so wichtig ist, haben wir, wie ich fürchte, unterbewußt das Gefühl, daß wir zu verletzbar würden, wenn wir unser Verlangen nach Liebe offen zugäben. Der Schmerz wäre zu groß, wenn dieses Bedürfnis abgewiesen würde. Und wenn die Liebe akzeptiert würde, dann wäre es, so geht die unterbewußte Argumentation weiter, zu schmerzlich, wenn sie einem wieder genommen würde. Das Bedürfnis ist zu groß, die Gefahr zu drohend, der Preis zu hoch.
Um Liebe zu akzeptieren, müssen wir fühlen, daß wir Anspruch darauf haben, um unser selbst willen geliebt zu werden und nicht wegen unserer Leistung, unseres Aussehens oder unseres Verhältnisses zu anderen. Wir müssen uns stark genug fühlen, um darauf zu vertrauen, daß andere uns nicht weh tun oder uns ausnutzen werden, wenn wir ihre Liebe annehmen. Wir müssen uns stark genug fühlen, um uns gesund weiterhelfen zu können, wenn dieses Vertrauen enttäuscht wird. Wir müssen genügend Zuversicht besitzen, um anderen die Hand zu reichen und dabei ständig Zurückweisung und Schmerz zu riskieren.
Uns »liebenswert« zu fühlen ist etwas, was uns allen in der Kindheit auf diese oder jene Weise verwehrt wurde. Sich »liebenswert« zu fühlen ist eine Art Selbstachtung, die sagt: Ich habe um meiner selbst willen Wert und kann anderen Freude geben. Es ist etwas, was wir alle gewinnen können, indem wir lernen, emotional offen zu sein, während wir sowohl uns selbst als auch die anderen realistisch sehen. Uns »liebenswert« zu fühlen erlaubt uns, die freudige Erregung zu erfahren, am Leben zu sein.
Heute haben die meisten Menschen Schwierigkeiten, offen um Liebe zu bitten. Sie fordern Liebe eher mit zornigen, drohenden Signalen; benutzen »erpresserische« Tränen, um aus dem anderen Liebe herauszupressen; geben vor, sie brauchten keine Liebe; vollbringen »gute Taten«, um sich die Liebe des anderen zu sichern. Viele würden tatsächlich alles tun, außer offen zugeben, daß sie ein Bedürfnis nach Liebe haben. »Ich brauche Liebe« ist ein wichtiges Geständnis für jeden. Es muß offen gemacht werden - verbunden mit einer Verwundbarkeit bis zu Schmerz und Tränen und begleitet vom Gefühl des eigenen Anspruchs darauf, das physisch durch Augenkontakt mit anderen Menschen ausgedrückt wird.
Eine häufige Übung in meinen Gruppen besteht darin, daß ein Gruppenmitglied einfach aufsteht, einem anderen in die Augen blickt und fragt: »Bin ich liebenswert?« Die Frage kann auch in Form einer Aussage kommen: »Ich brauche Liebe.«
Viele lehnen diese Übung als Zeichen der Schwäche ab. Das Verlangen nach Liebe ist ein persönliches »Geheimnis«, das viele Menschen seit ihrer frühesten Kindheit versteckt haben. In Wirklichkeit ist das Eingeständnis dieses Verlangens das Gegenteil von Schwäche, es ist eine für Ablehner besonders wichtige Übung.
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Wenn das Verlangen nach Liebe ehrlich geäußert wird, öffnet sich ein Tor in der Abwehr. Der Betreffende zeigt das allerschmerzlichste Geheimnis — daß er das Interesse, das Verständnis, die Annahme und die Liebe anderer Menschen braucht. Ohne dieses Verlangen offen zu zeigen, kann man keine ehrlichen, vertrauensvollen Beziehungen unterhalten. Als Menschen brauchen wir alle solche Verbundenheit.
Die Menschen müssen es lernen, um Liebe zu bitten. Wenn die Aufforderung nicht offen geäußert wird, finden es die anderen schwer, darauf zu reagieren. Sie spüren eine geballte Faust oder eine Manipulation hinter der Äußerung des Verlangens. Es ist für jedes Gruppenmitglied eine schwere Verantwortung, einem Menschen, der darum bittet, Liebe zu verweigern, wenn er sich nicht danach fühlt. Doch wenn der um Liebe bittende Mensch wirklich offen ist und seine menschlichen Bedürfnisse zeigt, springen die anderen instinktiv auf, verspüren Liebe für ihn und schenken sie ihm offen. Sie umarmen ihn, halten ihn und streichen ihm übers Haar, wenn er sein schmerzhaftes Gefühl zeigt. Endlich kann er wieder so verwundbar sein wie das verletzte einsame Kind, das er einmal war. Er kann offen in den Armen eines anderen weinen und seinem Verlangen völlig nachgeben, während er von der liebenden Reaktion der anderen in der Gruppe gestützt wird.
Das Umarmen kam spontan in meinen Gruppen auf. Viele scheuten jedoch vor solchen Umarmungen zurück. Mich störten sie anfänglich ganz bestimmt; die offene Äußerung von liebevollen Gefühlen widersprach völlig meiner Ausbildung- und ebenso meinem Gefühl für persönliche emotionale Sicherheit. Die Furcht vor Berührungen ist in unserer Gesellschaft groß, doch wenn man erlebt, wie sich Menschen in Gruppen umarmen, sieht man deutlich, daß dieser Kontakt zu unserer Natur gehört. Es ist ein fundamentales Bedürfnis aller Primaten, ein Bedürfnis, das uns die Zivilisation immer mehr verweigert hat. Das Kind braucht es dringend, umarmt und gehätschelt zu werden. Der Erwachsene ebenso.
Viele Leute fürchten, es handle sich bei solchen Umarmungen um Sexualität. Gewiß, manchmal haben die Betreffenden sexuelle Reaktionen. Aber sie wissen, daß sie nicht den Reaktionen entsprechend handeln müssen. Gewöhnlich ist das Erlebnis eher sinnlich — die emotional-taktile Freude von Körpern, die in Berührung miteinander kommen —, als daß es sich um die Erwartung sexueller Beziehungen mit all den Assoziationen handelt, die in unserer Gesellschaft damit verbunden sind. Dies ist eine wichtige Unterscheidung, die jeder während seiner Erziehung in der Gruppe macht, denn es ist ein schönes Erlebnis, andere ungescheut zu umarmen.
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Freude
Wenn Menschen die Furcht vor dem Umarmen überwinden und Liebe frei annehmen und schenken können, ist ihre Freude berauschend. Sie veranlaßt andere dazu, sich spontan zu umarmen und die Lust, sich lebendig, liebenswert und liebevoll zu fühlen, miteinander zu teilen. Gruppenerlebnisse dieser Art ereignen sich auf dem Höhepunkt von Marathonsitzungen, wenn die meisten Teilnehmer besonders verwundbar sind, weil sie an den Gefühlen anderer Anteil genommen und ihre eigenen Gefühle, die der Aufnahme von Liebe im Wege standen, durchgearbeitet haben. Die Verbundenheit zwischen den Menschen ist zu diesen Zeiten ungeheuer. Liebe füllt den Raum in einer Art, wie es nur wenige von uns je zuvor erlebt haben. Die Menschen lächeln, lachen und springen mit fröhlichen Rufen auf und ab. Sie springen von einem zum anderen. Mehrere umarmen sich auf einmal. Sie stehen in Kreisen eingehakt da, schwingen sich von einer Seite zur anderen, die Augen heiter geschlossen, während sich die Köpfe berühren und ein zufriedenes Summen in gemeinsamen Rhythmen ertönt, das tief aus dem Inneren aufsteigt und sich instinktiv den Lauten der anderen anpaßt.
In der ersten Zeit erlebten wir solche Gruppenliebe nur in Marathonsitzungen. Jetzt entstehen diese gemeinschaftlichen Gefühle sogar in kurzen Gruppenstunden. Unsere Übungen stoßen immer stärker unmittelbar zum Kern der menschlichen Gefühle hindurch, so daß alle sie leicht und natürlich miteinander teilen können.
Die meisten unserer Übungen bringen, wenn sie bis zum Ende durchgearbeitet werden, ein Gefühl der Freude mit sich. Der Betreffende fühlt die Lust, er selbst zu sein, er spürt seine wirklichen Gefühle und ist imstande, sich mit seinen fehlprogrammierten Gefühlen auseinanderzusetzen und mit ihnen fertig zu werden. Er spürt, daß er weit mehr Wahlmöglichkeiten in seinem Leben hat. Er fühlt die Freude, mit anderen Menschen verbunden zu sein. Das ist seine neue Identität, das Ziel unseres Gruppenprozesses. Auch wenn diese Freude zunächst vielleicht nur durch schmerzliche, furchteinflößende Übungen zu erreichen ist, streben wir doch danach, die guten Gefühle zu verstärken, damit der einzelne lernt, zu ihnen zu gelangen, ohne sich erst durch schlechte Gefühle hindurchkämpfen zu müssen. Eine solche Verstärkung ergibt sich daraus, daß man die Liebe der Gruppe aufnimmt. Sie kommt auch von der offenen Erklärung, die ständig wiederholt wird: »Ich bin ich.«
Wenn diese Erkenntnis Wurzel faßt, wird der Betreffende wirklich lebendig — offen, kraftvoll, stark, froh. Häufig ruft die frühere Deprivation dieses Ichgefühls noch Schmerz hervor, wenn der Betreffende seine neue Identität spürt. Doch das lustbetonte Ichgefühl findet sich wieder.
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Die meisten der oben beschriebenen Übungen entwickelten sich durch Versuch und Irrtum, während unser Gruppenprozeß Fortschritte machte. Bei einigen werden Techniken angewandt, die wir anderen Gruppendisziplinen entlehnt haben. Mehrere Übungen entstanden aus der Phantasie und einfühlsamen Einsicht der Katalysatoren, die — auf gleicher Stufe wie die Gruppenmitglieder — der Leitung der Gruppen geholfen haben. Auch Gruppenmitglieder haben wichtige Beiträge geleistet.
Kürzlich haben wir es mit völlig nichtverbalen Gruppen - vor allem für erfahrene Gruppenmitglieder — versucht. Jemand beginnt damit, alles was er fühlt, in Lauten zu äußern. Durch Signale und Berührungen werden andere Gruppenmitglieder beteiligt. Das erzeugt intensive Gefühle. Es ist in unserer Kultur sehr bedrohlich, wenn einem nicht erlaubt wird, Worte zu benutzen. Diese Bedrohung kann Menschen tief in Gefühle hineinführen, die sie niemals ausdrücken würden, wenn ihnen Worte zur Verfügung ständen, sich gegen die Gefühle zu wehren. Die nichtverbalen Gruppen haben sich als Mittel erwiesen, bei einer Reihe von Menschen zu den Gefühlen durchzustoßen, die sie sonst keinesfalls gezeigt hätten.
Außerdem haben wir einige faszinierende Entdeckungen in diesen Gruppen gemacht. Wenn man beispielsweise einem Teilnehmer mit dem Finger leicht über die Lippen strich, löste man spontane Reaktionen aus, die deutlich zu vorverbalen Erlebnissen in Beziehung stehen. Ein Mann, an den ich mich erinnere, ein Alkoholiker, verzog vor Ekel die Lippen und begann zu würgen, als ob ihm jemand etwas zwangsweise in den Mund einführen würde. Dann fing er an, unbeherrscht zu weinen. Später erfuhr ich, daß er als Kind künstlich ernährt worden war — er selbst erinnerte sich an diese Tatsache bis zu unserer nichtverbalen Gruppe nicht.
Bei einer anderen Gelegenheit begann in einer nichtverbalen Gruppe ein reizendes Mädchen in den Zwanzigern, die bereits sechsmal in Krankenhäusern gewesen und als schizophren diagnostiziert worden war, zum erstenmal in ihrem Leben als Erwachsene leidenschaftlich zu weinen. Als ich schweigend mit geöffneten Armen zu ihr ging, um sie zu umarmen, wandte sie sich in heftiger Panik von mir ab. Ich konnte sie dennoch umfangen, und schließlich entspannte sie sich.
Nachher erzählte sie mir, sie sei überzeugt gewesen, daß ich sie ins Krankenhaus bringen lassen wollte. Ihr war von ihren gebildeten, stark verbalen Eltern nie erlaubt worden, ihre Gefühle zu zeigen, und das Erlebnis, diese Gefühle in unserer Gruppe frei zu äußern, wirkte auf sie, als ob sie wahnsinnig sein müsse. Nach diesem Durchbruch machte sie in unseren Gruppen große Fortschritte.
Ich weiß, daß solche Erlebnisse ein Vorspiel zu anderen Entdeckungen sind. Unsere Übungen und Techniken werden ständig verfeinert und neue erprobt. Wir haben erkannt, daß der Prozeß eine wachsende, lebensfähige Dynamik bleiben muß. Die Hauptgrundsätze der Gruppen für neue Identität liegen fest. Doch unsere Übungen und Techniken werden sich immer bis zu einem gewissen Grad ändern, genau wie sich die Art der menschlichen Interaktion ständig wandelt und neuen spontanen Erlebnissen öffnet.
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