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15.  Von nun an  

 

 

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Die Gruppentherapie ist heute weithin anerkannt. Das Amt für psychische Gesundheit in Manhattan hat Anfang 1970 geschätzt, daß allein in Manhattan über fünftausend Gruppen durchgeführt würden. Und wenn auch niemand die Zahl genau zu kennen scheint, schätzen doch mehrere Behörden, daß über sechs Millionen Amerikaner an Begegnungsgruppen teilnehmen.

Die Literatur über Gruppentherapie ist ungeheuer angewachsen, das gilt sowohl von wissenschaftlichen Texten als auch von journalistischen Darstellungen wie Jane Howards Please Touch (Bitte berühren). Begegnungs­gruppen sind tatsächlich zu einem Teil unserer »Pop-Kultur« geworden. Ein Werbespot für Hemden im Fernsehen findet in einer Begegnungsgruppe statt. Und das Drehbuch für einen Unterhaltungs­film, in dem mehr oder weniger die Gruppentherapie dargestellt wird, ist von einem Ehepaar geschrieben worden, das auch in dem Film auftritt. (Das Ehepaar hat an Gruppensitzungen im Casriel-Institut teilgenommen.)

Die Wichtigkeit der Gruppenaktivität in den Vereinigten Staaten ist nicht zu bezweifeln. In unserem Land herrschen massive Angst und Entfremdung bei vielen einzelnen und treiben immer mehr Leute dazu, andere Dinge zu suchen als nur ein hohes Einkommen und ein flottes Auto. Man strebt nach verbesserter Lebens­qualität, nach Gemeinschaft mit anderen, nach Berufen, die echte Erfüllung bieten, und nach intensiverem und sinnvollerem Kontakt mit dem Ehepartner, den Eltern, Kindern und anderen signifikanten Personen. Das Gruppen­erlebnis liegt nahe am Zentrum der meisten dieser Wünsche.

Heute ist das Gruppenerlebnis an Orten zugänglich wie Esalen, in Kommunen, bei Wochenendfreizeiten, in einigen Schulen, in den Sprechzimmern von Psychiatern und Psychologen, in Sportschulen, in Begegnungs­gruppen oder beim Sensitivitätstraining und in Sondergruppen für Homosexuelle, Süchtige, Ehepaare, Geistliche und viele andere. 

Die öffentlichen Schulen bieten überwiegend keine Gruppen an. Ebensowenig tun es meines Wissens der CVJM, die Pfadfinderbünde, Gewerkschaften, Kriegsteilnehmerorganisationen, die Kiwanisklubs, die Lions- und Rotarier-Vereinigungen und so fort.

Ich glaube, daß sich die Teilnahme an Gruppen von den jetzt geschätzten drei Prozent unserer Bevölkerung auf zehn, fünfzehn oder gar zwanzig Prozent erhöhen wird. Das Bedürfnis nach psychologischer Hilfe ist in unserer charaktergestörten Gesellschaft so allgemein geworden, daß die kostspielige individuelle Psycho­therapie die Aufgabe nicht mehr erfüllen kann. Gruppentherapie ist die wirksamste Behandlungs­methode, die zur Verfügung steht. Das Tempo ihrer Verbreitung hängt von vielen Faktoren ab, und ich sehe eine Anzahl Probleme voraus.

Zunächst einmal besteht da das Problem der Publicity. Den Gruppen wird bereits viel Aufmerksamkeit in Büchern, Magazinen, Zeitungen, Filmen und im Fernsehen geschenkt. Günstige Berichte werden die Verbreitung der Gruppen beschleunigen, ungünstige sie dagegen verzögern. Meine Befürchtung geht dahin, daß dilettantisch geführte, therapeutisch ungeeignete Gruppen den Journalisten sensationelleren Stoff liefern könnten als fachmännisch geleitete Gruppen. Von den vielen Begegnungsgruppen, die es vermutlich in Manhattan gibt, werden viele schlecht geführt, und manche sind geradezu schädlich. Das Problem ist nun, daß die Publicity, die sich auf eine schlechte Gruppe konzentriert, den gesamten Gruppen­therapie­prozeß in Verruf bringen könnte.

Überdies kann es leicht dazu kommen, daß ein Journalist, der nicht mit der Gruppentherapie vertraut ist, selbst das, was er in einer verantwortungsbewußt geführten Praxis sieht, entstellt wiedergibt. In meinen Gruppen finden beispielsweise täglich Begegnungen statt, die jeder Reporter einer Boulevardzeitung destruktiv beschreiben könnte. Er könnte die zornigen, furchterfüllten oder schmerzlichen Schreie und Schluchzer von Patienten dazu benutzen, ein schädigendes Bild von dem zu malen, was in den Gruppen vor sich geht. 

Jedes Gruppensystem ist für solche Fehlinterpretationen anfällig, vor allem, weil Bericht­erstatter, die einen solchen Auftrag übernehmen, möglicherweise gar nicht in der Lage sind, die emotionale Kommunikation, die jeweils gerade stattfindet, überhaupt wahrzunehmen. Vielleicht wollen sie lediglich den verbalen Inhalt oder umgekehrt nur die physische Aktivität zur Kenntnis nehmen — das Schreien, Hämmern mit den Fäusten, die häufigen Umarmungen und so fort. Ein solcher Bericht könnte bedauerlich irreführend sein. 

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Man stelle sich nur einmal vor, was ein geschickter Reporter mit Schreien wie: »Vögle ihn doch, Mutter!«, »Steck dir deine Erlaubnis in den Arsch!« oder: »Laß erst mich mal ran!« anfangen könnte. Dennoch bilden solche Schreie tatsächlich wertvolle Techniken für die Neuprogrammierung verbogener und schlecht angepaßter Gefühle und Einstellungen.

Zunehmende Publicity ist nicht zu vermeiden, wenn sich immer mehr Menschen an Gruppen beteiligen. Es ist wichtig, daß die Techniken der Gruppentherapie fair dargestellt werden, so verblüffend einige dieser Techniken vielen Leuten in unserer heutigen Kultur auch erscheinen mögen. Damit meine ich jedoch keineswegs, daß alle Gruppen kritiklos akzeptiert werden sollten. Es gibt viele schädliche Systeme darunter, und ich meine, alle Gruppen sollten sich genauer und verantwortlicher Prüfung unterwerfen.

Besonders wenn Begegnungstechniken angewendet werden, ist eine Überwachung wichtig. Das Leben einiger ahnungsloser Gruppenmitglieder könnte — buchstäblich — auf dem Spiel stehen. Meiner Überzeugung nach hat die übergroße Mehrzahl der Menschen mehr als genug Ichstärke, um den verbalen Angriffen der Begegnungsgruppen widerstehen zu können. Doch bei einigen wenigen ist das nicht der Fall, und diesen Menschen könnte der Prozeß psychischen Schaden zufügen. In einigen extremen Fällen könnte es zu Selbstmord- oder Tötungsversuchen kommen. Bevor es einem Neuankömmling gestattet wird, in eine Gruppe einzutreten, sollte ein Fachmann ein Gespräch mit ihm führen. Menschen mit potentiellen Selbstmord- oder Tötungs­tendenzen sollten identifiziert werden. Dann müßte ein voll qualifizierter Arzt oder Psychologe beurteilen, ob eine solche Persönlichkeit der Begegnungstherapie unterzogen werden darf oder nicht.

Das führt zu einer zweiten wichtigen Frage über die Verbreitung der Gruppen, die Zulassung der Therapeuten. Heute kann sich in den meisten Staaten der USA jeder als Gruppenleiter niederlassen und anfangen, »Gruppen« für emotional gestörte Menschen durchzuführen. (Im Staat New York darf ein Laie, der Gruppen ohne Beaufsichtigung durch einen Fachpsychologen leitet, das Wort »Therapie« für seine »Gruppenarbeit« nicht verwenden.)

Eine solche Situation verlockt natürlich den einen oder anderen Laien dazu, eine lukrative Gruppenpraxis aufzubauen. Obwohl ich überzeugt bin, daß viele Menschen, die in einem Gruppenprozeß Erfahrung haben, Gruppen verantwortlich leiten können — besser als manche emotional verschlossenen Ärzte und Psychologen —, glaube ich doch, daß jedes Gruppensystem mit einem Psychologen oder Psychiater Verbindung haben sollte. Das ist wichtig für die Auswahluntersuchung, damit Psychotiker und andere schwer gestörte Menschen nicht in die Gruppen aufgenommen werden. 

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Ebenso wichtig ist, daß der Fortschritt der Gruppenmitglieder fachlich überwacht wird. Ferner meine ich, daß Laien als Gruppenleiter in der Praxis eines Fachmanns ausgebildet werden sollten. Und es müßte irgendeine Form der Zulassung geben, damit Wissen und Befähigung des Gruppenleiters gesichert sind.

Viele Gruppen werden heute verantwortlich geleitet. Andere jedoch nicht. Wenn die Gruppenaktivität zunimmt, nehmen auch destruktive Gruppenmethoden, ungeeignete Gruppenleiter, Scharlatane, Profitmacher und emotional gestörte Leute zu, die versuchen, ihre eigenen Probleme zu überwinden, indem sie Gruppen einrichten. In New York braucht man eine behördliche Erlaubnis, um sich als Barbier zu betätigen, doch um Gruppen zu leiten, die mit Emotionen, Körpern und Psychen von Menschen herumpfuschen, bedarf es keiner Genehmigung. Die möglichen Folgen dieser Situation können bei jedem Bestürzung hervorrufen, der ernstlich daran denkt, an einer Gruppe teilzunehmen.

Das Fehlen von Zulassungsbestimmungen wird selbstverständlich weitere Gruppen entstehen lassen. Ein Fortdauern der jetzigen Situation wird gewiß Probleme schaffen, die das Vertrauen der Öffentlichkeit zur Gruppentherapie mindern. Niemand kann alle Formen vorhersagen, die die Gruppentherapie annehmen wird. Mit Sicherheit läßt sich jedoch sagen, daß sich die Methoden wandeln und daß die Techniken mancher Gruppen gesetzeswidrige oder asoziale Handlungen fördern werden. Öffentliche Nacktheit verstößt beispielsweise in den meisten Orten der Vereinigten Staaten gegen die Gesetze. Das gleiche gilt für den Gebrauch gewisser Drogen, für das Töten von Menschen, für Diebstahl und manches andere. Dennoch entstehen bereits »Gruppen«, die solche Akte fordern.

Die Probleme, die vom Anwachsen der Gruppentherapie nicht zu trennen sind, gehören zu den wesentlichen Schwierigkeiten bei der Verbesserung der menschlichen Beziehungen in unserer Gesellschaft. Die Gruppentherapie ist kein Allheilmittel. Bestenfalls bietet sie auf geordnete und disziplinierte Weise die Möglichkeit, Menschen an ihrer gegenseitigen Gefühlen in einer ehrlichen und sicheren Atmosphäre teilnehmen zu lassen, ein besseres Verständnis für die eigenen Emotionen und Einstellungen zu entwickeln und die Kommunikationsfähigkeit zu verbessern. Dadurch, daß die Gruppen bedeutsame Kommunikation zwischen einzelnen Menschen ermöglichen, können sie auch enge freundschaftliche Bindungen bewirken. Meiner Ansicht nach hängen die anderen Vorteile, die die Gruppentherapie mit sich bringen kann, davon ab, wie die einzelnen Sitzungen geleitet werden und wer sie leitet.

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Wirklich erfolgreiche Gruppen können signifikante Verhaltens- und Persönlichkeits­veränderungen hervorrufen, wenn sie die Teilnehmer dazu motivieren, emotional gesünder zu werden. Doch die Emotionalität für sich allein ist nicht genug. Positive Veränderungen der Außenwelt gegenüber sind nicht automatisch ein Ergebnis intensiver Emotionalität. Solche Veränderungen hervorzurufen, erfordert anhaltende Bemühung, Einsicht und Zielbewußtheit.

Die Gruppentherapie bringt viele Fragen und Schwierigkeiten mit sich. Wie unterscheidet sich eine »Gruppe« beispielsweise von einer »Gesellschaft«? Ist die »Begegnung« ein entscheidender Teil des Prozesses? Wie wäre es, wenn Sie sich überlegten, mit einigen guten Bekannten eine Gruppe zu bilden? Wäre es nicht klüger, mindestens ein oder zwei Außenseiter aufzunehmen? Wie verhindert man es, daß zornige Begegnungen langjährige Freundschaften zerbrechen? Welche Qualifikationen sollte man in einer Gruppe suchen? Was müssen Sie tun, um eine Gruppe zu finden, die Ihnen hilft? Wie finden Sie eine Gruppe in Ihrer Gegend? Wie können Sie es vermeiden, in eine Gruppe zu geraten, die sich als gefährlich erweist?

Das Wort »Gruppe« kann eine erstaunliche Vielfalt menschlicher Zusammenkünfte umfassen. Wenn vier Leute in einem Zimmer sitzen, sich an den Händen halten und über ihre Gefühle diskutieren, kann man dann bereits von einem therapeutischen Erlebnis sprechen? Welche Bescheinigungen und Zeugnisse sollte ein Gruppentherapeut haben? Muß der Gruppenleiter stets eine Hochschulausbildung haben? Welche Disziplin, was für Regeln sind erforderlich, um eine Versammlung zu einer »Gruppe« zu machen (oder sind keine nötig)? Kann Zorn nicht gefährlich sein? Die Zahl der Fragen ist ungeheuer groß.

Ich will mit dem Klatsch beginnen, da es sich dabei um eine Überlegung handelt, die man anstellen muß, ehe man sich zum Eintritt in ein Gruppensystem entschließt.

Es läßt sich nicht vermeiden, daß bei der Gruppentherapie dynamische, unbedachte Interaktionen auftreten. Es ist etwas völlig anderes, ob man intime Fakten einem Psychologen oder Psychiater in einem Einzelgespräch anvertraut oder ob man sie in einer Gruppe enthüllt. In den Gruppen erfahren sie viele Leute. Selbst wenn die »Grundregeln« die Geheimhaltung vertraulicher Mitteilungen anderer Gruppenmitglieder erfordern, sind doch die Menschen allzu menschlich, wenn es darum geht, die Geheimnisse anderer Leute auszuplaudern. Kann man das selbst mit der besten Kontrolle verhindern? Ein Gruppenmitglied erzählt es im Vertrauen seiner Frau, diese verplappert sich drei Monate später unabsichtlich ihrer besten Freundin gegenüber, und das Geheimnis ist allgemein bekannt.

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Ich weiß keine Lösung für dieses Problem. Meiner Ansicht nach sind im allgemeinen zu viele Menschen beteiligt, als daß ein Geheimnis gewahrt bleiben könnte. Selbst wenn sich eine Gruppe entschlösse, alle erhaltenen Informationen vertraulich zu behandeln, wäre es doch naiv zu erwarten, daß alles geheim bliebe. Besonders in Kleinstädten, wo die Moralmaßstäbe erheblich starrer sind als in Großstädten, glaube ich schon, daß Klatsch, der aus einer Gruppe kommt, ein ernstes Problem sein könnte. 

In meinen Gruppen (die in der größten Stadt der Vereinigten Staaten stattfinden) stelle ich absichtlich keine Regeln über vertrauliche Mitteilungen auf. Aber ich kann wahrheitsgemäß sagen, daß ich bei den Tausenden von Patienten, die ich behandelt, und den Zehntausenden von Gruppensitzungen, die ich beobachtet habe, persönlich von keiner schädigenden Situation weiß, die sich aus dem Weitertragen von Tatsachen, welche in der Gruppe mitgeteilt wurden, ergeben hätte. Damit meine ich eine verlorene Stellung, eine zerbrochene Ehe ...

Ich weiß von Fällen, in denen Klatsch gefürchtet wurde. Ein Homosexueller namens Sidney, der feststellte, daß er sich in derselben Gruppe befand wie eine Texterin, die für die gleiche Werbeagentur wie er arbeitete, ging sofort in eine andere Gruppe. Dann fing er an, die Frau (die ich Connie nennen will) mit Anrufen zu behelligen, um sie zu bitten, niemandem in der Agentur etwas von seinem Symptom zu sagen. Die Frau erwiderte, sie werde nicht darüber sprechen, und tat es auch nicht. Doch von ihrem Standpunkt aus war die Aufforderung lächerlich: »Sidney ist die reinste Tunte«, berichtete sie der Gruppe später. »In der Agentur halten ihn alle für schwul. Das einzig Komische daran ist, daß er das nicht weiß.«

Sidney ließ Connie weiterhin keine Ruhe, bis sie in seiner neuen Gruppe erschien, um ihm wegen seiner Anrufe entgegenzutreten. Die Begegnung erwies sich als schmerzlich für Sidney. Die Gruppe erklärte ihm massiv, er rede und gehe, ja, er weine und schreie sogar wie ein Homosexueller. Aus dieser schmerzlichen Konfrontation entwickelte Sidney neue Reife, die schließlich zum Ausgangspunkt für die Änderung seines Lebens werden sollte.

In einem anderen Fall hörte ein Ehemann durch Gruppenklatsch von der Treulosigkeit seiner Frau. Zum Glück waren er und seine Frau in meinem Prozeß (in verschiedenen Gruppen), und die Untreue lag mehrere Jahre zurück. Das Ehepaar ging nun in dieselbe Gruppe und arbeitete das Problem gemeinsam durch. Dadurch kamen sich die beiden näher. Er erkannte, daß ihre Untreue auf seine Kritik an ihr und auf seine Ablehnung ihr gegenüber zurückzuführen war. Sie fing an einzusehen, daß ihre Schlamperei im Haushalt und ihre hemmungslose Verschwendung einen berechtigten Grund für seine Kritik bildeten.

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Meinem Gruppensystem gehören im Augenblick über 500 Patienten an. Tausende haben im Lauf der verflossenen wenigen Jahre daran teilgenommen. Unter den jetzigen und früheren Patienten befinden sich Ärzte, Zahnarzte, Anwalte, Geschäftsführer großer Unternehmen, Chefredakteure von Zeitungen und Leiter von Fernsehanstalten, Persönlichkeiten aus dem Showbusiness. Eigentlich ist es erstaunlich, daß der Klatsch nicht zügellos um sich greift.

Es gibt mehrere Gründe, weshalb das nicht geschieht. Erstens begreifen die meisten Patienten, daß das Gruppensystem den Sinn hat, Menschen bei der Neuprogrammierung schlecht angepaßter Gefühle und Einstellungen zu helfen. Nachtragender oder müßiger Klatsch paßt einfach nicht in eine solche Neuprogrammierung, und die Teilnehmer müssen damit rechnen, daß sie wegen unverantwortlichen Geschwatzes attackiert werden. Zweitens verhindert die fundamentale Vertrauensebene, die für die Dynamik unverzichtbar ist, meistens das unverantwortliche Ausplaudern. Menschen, die sich in den Gruppen kennenlernen und sich Vertrauen entgegenbringen, wollen sich nicht gegenseitig Schaden zufugen. Und drittens verwenden die Mitglieder nur die Vornamen, nicht die Zunamen. Das bietet überraschend viel Sicherheit. Ein Mann, der in den gesamten Vereinigten Staaten bekannt ist, nahm an einer Marathonsitzung teil, ohne identifiziert zu werden.

Allerdings fordern wir Gruppenmitglieder auf, mit anderen Gruppenmitgliedern über ihre Aktivitäten außerhalb der Gruppe zu sprechen. Das ist keine Polizeimaßnahme, um herauszufinden, ob sich unsere Mitglieder gut benehmen. Wie ich bereits bemerkt habe, akzeptiere ich gesellschaftlichen Verkehr zwischen erwachsenen Gruppenmitgliedern. Wenn sie erwachsen sind, versuchen wir, sie wie Erwachsene zu behandeln. Wenn sich ein Mann und eine Frau außerhalb der Gruppen treffen und beispielsweise Geschlechtsverkehr miteinander haben, so ist das ihre Sache. Dagegen sind wir an den Emotionen interessiert, die solche Beziehungen hervorrufen, nicht an den eigentlichen Handlungen. Verhalten interessiert uns nur, wenn es unverantwortlich ist. Und wenn das der Fall ist, zeigt sich die Wahrheit bald, und wir können uns damit beschäftigen. Wenn ein Mitglied über andere Gruppenmitglieder schwatzt oder klatscht, so wird ihm die Gruppe sofort entgegentreten: »Was hilft dir das?« »Warum kümmerst du dich nicht lieber um deine Probleme?« Und so fort. Verantwortungsbewußte Gruppenmitglieder und -leiter werden dafür sorgen, daß solche Fragen gestellt werden.

Aber einen total sicheren Weg, Klatsch zu vermeiden, gibt es in der Gruppentherapie nicht. Wenn Sie den Eindruck haben. Sie durften das nicht riskieren, dann entscheiden Sie sich für die Einzeltherapie oder für eine besonders ausgewählte Gruppe, mit der Sie in Beziehung treten möchten.

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Nach dem Problem des Klatsches erhebt sich als nächstes die Frage: Wie findet man eine Gruppe, die einem hilft? (Die entsprechende umgekehrte Frage lautet natürlich: Wie vermeidet man schädliche Gruppen?)

Die Frage ist leichter gestellt als beantwortet — besonders deshalb, weil ich davon überzeugt bin, daß Gruppen, die sich auf die Gefühle konzentrieren, wirksamer sind als solche, die sich auf ausführliche Verbalisierung einlassen.

Am besten dürfte es sein, einen psychologisch orientierten Arzt, dessen Urteil Sie trauen — vielleicht Ihren Hausarzt oder einen Geistlichen, einen Eheberater, Schulleiter oder Sozialarbeiter — zu bitten, Ihnen bei der Suche nach einer verantwortungs­bewußten Gruppe zu helfen.

Es konnte schwierig sein, Gruppen zu finden, die sich auf die Äußerung verdrängter Emotionen konzentrieren. Ein allzu reales Problem dabei ist, daß viele der heutigen Psychologen und Psychiater ohne zusätzliche Ausbildung als Leiter solcher Gruppen eine Katastrophe wären. Das Erziehungssystem in den Vereinigten Staaten produziert seit langem schon überwiegend emotional »abgeschaltete« Menschen. Die Hochschulbildung konditioniert häufig die Emotionalität aus ihren Studenten heraus. Die Medizin ist ebensosehr ein Abschaltprozeß wie die Rechtswissenschaft. Psychologie ist vielleicht nicht ganz so schlecht, aber immer noch schlecht genug. Psychiater und Psychologen besitzen Disziplin und Wissen, doch auch ihre Einstellung zu Gruppen wird sich überwiegend auf verstandesmäßige Wahrnehmungen an anderen stützen. 

In meinen Gruppen wird keinem gestattet, lange Zeit Beobachter zu bleiben. Ein Arzt oder Psychologe, der es versucht, muß mit schweren Angriffen rechnen — vorausgesetzt, daß ihm überhaupt genug Zeit bleibt (wie es bei einer Marathonsitzung der Fall ist) zu zeigen, daß seine unbeteiligten Wahrnehmungen ohne jede Emotionalität sein können.

Wir wollen es zugeben: Verhältnismäßig wenige Fachleute sind fähig, emotional aufgeladene Begegnungs­gruppen zu leiten, ohne daß sie für den dazu notwendigen Prozeß eigens ausgebildet worden sind. Um meine Gruppen zu führen, muß der Leiter imstande sein, als emotional offener Mensch aktiv daran teilzunehmen. Sonst wurden ihm die Gruppenmitglieder nicht trauen. Leider richtet die ärztliche Ausbildung Schranken auf, die emotionale Offenheit verhindern.

In den meisten psychiatrischen Disziplinen werden die Studenten m erster Linie aufgrund ihrer intellektuellen Fähigkeiten für die Ausbildung ausgewählt. 

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Doch es kommt auf die Wahrnehmungsfähigkeit und auf die Sensitivität anderen gegenüber an. Und im letzten Ausbildungsstadium spielt auch die Einsicht des Psychotherapeuten in seine eigenen Störungen eine Rolle. Die Emotionalität dagegen ist niemals ein entscheidendes Kriterium. Ein Psychologe oder Psychiater kann die Gefühle und Einstellungen anderer vielleicht exakt wahrnehmen, und trotzdem vermag er möglicherweise nicht die eigenen Emotionen in vollem Maß auszudrücken. Bei aller Intelligenz, Wahrnehmungsfähigkeit, Sensitivität und bei allem Wissen kann ein Fachmann emotional äußerst verschlossen bleiben.

In meinem Prozeß sind die Kriterien für die Auswahl eines Gruppenleiters fast die entgegengesetzten. Emotionale Offenheit ist ein unbedingtes Muß. Wie kann ein verschlossener Mensch anderen beibringen, wie sie sich emotional öffnen sollen? Die Fähigkeit, für die Gefühle anderer Empathie zu haben, ist natürlich wesentlich, da sich der Prozeß darauf aufbaut. Und genaue Wahrnehmung (selbst wenn es ein paar Entstellungen dabei geben mag) ist entscheidend wichtig. Die intellektuellen Fähigkeiten spielen dagegen nicht die wesentliche Rolle. Der Gruppenprozeß ist schließlich eine von Person zu Person gehende Dynamik, die entscheidend von emotionaler Kommunikation abhängt und nicht von einem Verständnis, das sich auf Theorie und die Kenntnis von Fallgeschichten stützt. (Das soll nicht heißen, daß meine Gruppenleiter geringe Intelligenz besäßen. Das Gegenteil trifft zu. Sie haben alle einen hohen IQ.) 

Worauf es ankommt, ist, daß bei geeigneter Aufsicht ein emotional offener und wahrnehmungs­fähiger Mensch kein jahrelanges Spezialstudium braucht, um ein erfolgreicher Gruppenleiter zu werden. Die das ganze Leben währende Ausbildung als Mensch hat ihn auf diese Rolle vorbereitet. Das ist, wie ich meine, ein Glück, da wir allein wegen der raschen Ausbreitung der Gruppentherapie Nicht-Fachleute als Gruppenleiter heranziehen müssen. Die Zahl der beteiligten Patienten wird zu groß sein, als daß Psychologen und Psychiater den Bedarf erfüllen könnten. Es wird also gar keine andere Möglichkeit geben, als »Laien« zur Leitung von Gruppen heranzuziehen.

Trotz Kenntnis der Risiken befürworte ich die vorsichtige Verwendung von nichtärztlichen Gruppenleitern als Assistenten. Falls ein Gruppenleiter das Bedürfnis hat, andere zu beherrschen, werden sich die Probleme bald zeigen. Ich versuche, dieses Problem dadurch zu umgehen, daß wir die Patienten periodisch die Gruppen wechseln lassen. Außerdem führe ich regelmäßig Gruppen­sitzungen mit meinen Gruppenleitern durch. Und natürlich bekomme ich von den Gruppenleitern schriftliche Berichte über den Fortschritt eines jeden Patienten.

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Die größte Gefahr beim Einsatz von Gruppenleitern ohne umfassende Formalausbildung in Psychiatrie ist folgende: Sie mögen außerordentlich tüchtig darin werden, sich mit den Emotionen anderer zu beschäftigen und Gruppenmitglieder für ihre tiefsten Gefühle zu öffnen; dennoch können sie unfähig sein, sich mit den nächsten Stadien der Therapie zu befassen. Es ist etwas völlig anderes, ob man Menschen dabei hilft, zu ihren verdrängten Gefühlen vorzustoßen oder ob man neue, gesunde Gefühle bestärken und sich therapeutisch mit verbogenen Gefühlen beschäftigen kann.

Am wichtigsten für eine dauerhafte Veränderung ist, daß ein Gruppenleiter dem Patienten dabei helfen kann, Hunderte von Einstellungen, die identifiziert und geändert werden müssen, um wahre Gesundung zu sichern, sorgsam zu prüfen und durch­zuarbeiten. Um diese subtileren und komplizierteren Aspekte der Psychotherapie zu lernen, braucht ein Gruppenleiter eine extensive psychologische Ausbildung. Deshalb meine ich, daß Gruppen nur unter der Oberaufsicht eines Psychiaters oder Psychologen stattfinden sollten, der mit Gruppen Erfahrung hat und von dem auch die Leiter ausgebildet worden sind, für die er ebenso die Verantwortung übernimmt wie für die gesamte Behandlung.

 

Bei der Zunahme der Gruppen erwarte ich, daß viele Menschen überlegen werden, sich zu eigenen Gruppen zusammen­zuschließen — beispielsweise mehrere Ehepaare oder Freunde und Arbeitskollegen. Dabei sind wichtige Fragen zu bedenken:

 

1. Sollte ein Psychologe oder Psychiater aufgefordert werden, an den Sitzungen teilzunehmen?  
Das würde ich für eine sehr gute Idee halten - wenn ich auch meine Warnung wiederholen muß: Solche Fachleute können äußerst beherrschend, nichtemotional und hemmend sein. Der Hauptvorteil ist, daß ein Psychologe oder Psychiater mit jedem sprechen kann, bevor die Gruppen beginnen. Dabei kann er diejenigen »aussieben«, die am besten nicht teilnehmen sollten.

 

2. Wenn die Teilnehmer keinen Psychiater oder Psychologen finden können, wie wäre es dann mit einem christlichen Geistlichen, einem Rabbiner oder einem Sozialarbeiter oder sonst einer Persönlichkeit, die gewöhnt ist, mit Menschen zu arbeiten?  
Hier besteht das gleiche fundamentale Problem wie beim Psychiater. Überdies neigen diese Menschen dazu, zuviel zu reden und sich auf Wahrnehmungen statt auf ihre Emotionen zu verlassen. Dennoch rate ich zu, eine solche Persönlichkeit in die Gruppe aufzunehmen, wenn sich die Möglichkeit ergibt.

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3. Wie steht es mit den Gefahren des Zorns? 
Zorn ist ein Gefühl, das von neuen Gruppenmitgliedern äußerst schwer zu handhaben ist. Viele Menschen haben eine gewaltige Fracht »historischen Zorns« aufgeladen, wie wir Psychiater es nennen. Zorn dieser Art, der gewöhnlich verzerrt ist - zumindest im Hinblick auf das Individuum, auf das er sich konzentriert -, ist unausweichlich exzessiv. Wenn jemand, der keinen Zorn akzeptieren kann, mit Abwehrmechanismen, die Gruppenzorn hervorrufen, in eine Gruppe eintritt, kann es ihm geschehen, daß er sehr schmerzliche Erfahrungen macht.

Um Zorn akzeptieren zu können, bedarf es eines gewissen Trainings. Wenn jemand hier fehlprogrammiert worden ist, hat er Schwierigkeiten in den Gruppen. Gruppenzorn kann sich für den einzelnen, gegen den er gerichtet ist, schädigend auswirken. Ein Gruppenangriff kann ihn dazu bringen, daß er am liebsten mit der Gruppe brechen, die Stadt verlassen oder gar Selbstmord begehen möchte. Mindestens aber kann es ein überaus demütigendes Erlebnis sein.

Ich versuche, diese Gefahren auf viererlei Weise zu bekämpfen. Erstens spreche ich mit den Menschen, ehe sie in eine Gruppe eintreten. (Das sollte eigentlich eine Voraussetzung jeder Therapie sein, doch eine überraschend große Zahl von Gruppen führt kein diagnostisches Gespräch durch. Jeder, der daran interessiert ist, an einer Gruppe teilzunehmen, sollte sich ein Gruppensystem suchen, das ein solches vorbereitendes Gespräch anbietet.) In diesem diagnostischen Gespräch ermittle ich, ob der Betreffende schizophren ist. Ich beurteile ihn nach einer Reihe von Kriterien, die für meinen Prozeß wichtig sind. Besonders achte ich auf selbstzerstörerische Neigungen, und alle Gruppenleiter, die mit dem Betreffenden in Berührung kommen, werden vorher über alle etwaigen Probleme solcher Art unterrichtet. Wenn ich das diagnostische Gespräch nicht selbst führe, sorgt ein Psychiater oder Psychologe unter meinen Mitarbeitern oder gelegentlich ein besonders erfahrener Gruppenleiter für die Vorbereitung der Krankengeschichte. In diesem Fall kommt der Patient automatisch zunächst in meine Gruppe. Das gibt mir die Gelegenheit, während des Prozesses selbst noch eine Diagnose zu stellen. (Die Krankengeschichte habe ich dann bereits gelesen.)

Zweitens betone ich meinen Gruppenleitern gegenüber die Gefahren des Zorns. Wenn auch die zornige Konfrontation für viele wirksam sein kann, so ist mir doch klar, daß meine Gruppenleiter und ich Menschen sind und deshalb irren können. Wir müssen uns ständig bewußt sein, daß jeder einmal historischen Zorn aus seinem Innern heraufholen kann, der sich dann bisweilen hinter der Maske einer therapeutischen Konfrontation gegen irgendein unglückliches Gruppenmitglied entlädt. 

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Wenn sich noch mehrere andere daran beteiligen und jeder von ihnen den eigenen historischen Zorn in die Empörung des Augenblicks mischt, dann kann das Opfer des »Gruppenangriffs« tatsächlich eine harte Zeit erleben. Ich bemühe mich, solche exzessiven und unangemessenen Konfrontationen zu beenden.

Drittens sind meine Gruppen ihrem Wesen nach darauf ausgerichtet, die Gefahren des Zorns zu minimalisieren. Da wir die Liebe als therapeutisches Mittel anerkennen, können Gruppenmitglieder stets auf eine gewisse Unterstützung rechnen. Gleiche Erfahrungen und das Gefühl, daß andere in der gleichen Schwierigkeit gewesen sind, verleihen den Gruppenmitgliedern außerdem zusätzliche Stärke. Doch am wichtigsten von allem: die Art, wie wir Menschen herausfordern, sich zu ändern und zu entwickeln, stammt aus dem tiefen Glauben, daß sich jeder Mensch ändern kann, daß er ein wertvolles Lebewesen ist, voller Möglichkeiten und geachtet wegen seines Wunsches und seiner Fähigkeit, mit seinen Problemen zu kämpfen. Ein Teilnehmer, der sich gegen eine besondere Konfrontation verteidigen muß, wird seine Möglichkeiten nur schwer erkennen. Doch daß man an dieses Potential im Menschen glaubt, hat er während seines ganzen Gruppenerlebnisses erfahren. Er hat es bei anderen gesehen, es für andere gefühlt, und nur selten sind die Folgen für sein eigenes Leben nicht mindestens bis zu einem gewissen Grade durchgedrungen.

Viertens versuche ich, Neuankömmlinge in Gruppen aufzunehmen, die ich selbst leite. Wenn das nicht möglich ist, sorge ich dafür, daß sie mindestens zwei oder drei Gruppen mit verschiedenen Gruppenleitern zugewiesen werden. Wenn mindestens zwei Gruppenleiter über einen Neuankömmling diskutieren können, besteht eine gewisse Garantie gegen Entstellungen. Außerdem hat der Patient Gelegenheit, seine Gefühle und Einstellungen in verschiedenen Gruppen kritisch zu beurteilen. (Ich sage ihm, er solle, wenn ihn einer der Gruppenführer »Du Pferdearsch« nenne, fragen, weshalb - oder die Gruppe wechseln. Doch wenn ihn drei Gruppenleiter so nennen würden, solle er sich ändern oder einen Sattel kaufen.)

4. Gibt es physische Gefahren in der Gruppe?  
Dies ist ein weiterer Grund, weshalb ich meine, daß ein Fachmann - am besten ein Arzt - bei jedem Gruppen­therapie­system die Leitung haben sollte. Gewisse Gruppenübungen können körperlich sehr anstrengend sein. Der menschliche Körper wird durch heftige Emotionen in Mitleidenschaft gezogen. 

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Ich mache mir Sorgen um Menschen mit bestimmten physischen Schwächen, etwa Herzschäden oder Emphyseme. Solche physischen Schwächen sollte man nicht leichtnehmen. Ich versäume nie, die Krankengeschichte zu notieren, wenn ich mein Gespräch mit neuen Gruppenmitgliedern führe, und ich unterrichte die Gruppenleiter über die Risiken, so daß wir alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen können.

Ich beobachtete eine interessante Tatsache über körperlichen Streß, als wir intensivere Gefühlsäußerungen ermutigten. Es gibt zahllose Möglichkeiten, wie die Menschen ihren Körper benutzen, um Gefühle abzuwürgen oder zu beherrschen - den Atem anhalten, die Muskeln anspannen, die Kehle zupressen und so fort. Eines der Signale, denen zu trauen wir gelernt haben, ist beispielsweise folgendes: Wir wissen, daß jemand sehr tief in ein Gefühl gerät, wenn er zu husten oder zu würgen anfängt, während er vielleicht ruft: »Ich bin zornig«, oder was es nun gerade sei. Wenn das geschieht, ermutigt ihn die Gruppe, durch dieses Hindernis »durchzustoßen«. Wenn er diese zusätzliche Anstrengung auf sich nimmt, gelangt er zu den tieferen, echteren Gefühlen, dabei lockert sich sein ganzer Körper, so daß er überhaupt nicht mehr unter einer Anspannung steht.

Viele Psychologen — etwa Wilhelm Reich und Alexander Lowen — haben solche physischen Kontrollen natürlich bemerkt; ich will nicht etwa behaupten, ich hätte sie entdeckt. Aber ich kann bestätigen, daß, wenn ein Mensch wirklich offen ist, sein Körper nicht sein Feind ist. Seine Gefühle und sein Körper äußern sich im Einklang. Dieser Zustand der Menschlichkeit ist schön zu sehen. Und überdies verringert die Beobachtung dieses Zustands meine Sorgen um physische Gefahren bei der Gruppentherapie beträchtlich.

 

5. Wie verhindert man, daß potentiell gefährliche Menschen in die Gruppe gelangen?  
Erneut kommt es in diesem Zusammenhang darauf an, daß ein Fachmann mit einer Person spricht, bevor sie in einer Gruppe Aufnahme findet. Meine Furcht geht dahin, daß Psychotiker in die Gruppen gelangen könnten (allerdings habe ich aus experimentellen Zwecken einige aufgenommen). Ich meine, daß jeder, der Gruppen leitet, diese Befürchtung teilen und alle Vorsichtsmaßnahmen ergreifen müßte, um dem Problem zu entgehen. Es braucht nicht eigens betont zu werden, daß eine Gruppe, die drei oder vier Psychotiker enthält, sozial äußerst destruktiv sein könnte, besonders wenn einer der Psychotiker der Gruppenleiter wäre. (Erinnern Sie sich der Gruppe, die von einem Grenzfall-Schizophrenen gegründet und geleitet wurde? 

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Er ließ lediglich Anzeigen in einer Lokalzeitung erscheinen, und Dutzende von Leuten meldeten sich an — sie wußten nicht das mindeste über den Leiter!) Vorausgesetzt, daß ein Leiter eine ausreichend starke Persönlichkeit hat und die Gruppe verlockend genug gestaltet, finden sich Leute, die selbst in eine kriminell destruktive Gruppe eintreten. Ein erschreckendes Beispiel sind die Mädchen, die Charles Manson zu Massenmorden folgten. Falls sich die Gruppen in den nächsten Jahren tatsächlich rasch vermehren, werden »Verbrechensgruppen« ein soziales Problem werden und zahlreiche Schlagzeilen in den Zeitungen machen.

6. Wie ist es mit den Berührungen und Umarmungen in der Gruppe? Kann die Leitung dabei nicht die Kontrolle verlieren? Kann das nicht die Promiskuität fördern?  
Emotional brauchen Menschen die Berührung. Dennoch ist es kein Zufall, daß unsere Kultur unsere Berührungswünsche verdrängt. Besonders wenn es sich um Männer und Frauen (und Jungen und Mädchen) handelt, sind Berührungen äußerst heikel. Das Zeigen von Liebe ist eine wunderbare, schöne und dennoch schwierige Sache. Wenn sich ein Mann und eine Frau umarmen, so kann das leicht zu sexueller Erregung führen — bei einem oder bei beiden. Sinnlichkeit kann zu sexuellen Empfindungen werden; und dann könnte, falls keine Beschränkungen vorhanden sind, der Weg zum Koitus gebahnt sein.

Ich gebe zu, daß dies durchaus möglich ist; dennoch habe ich den Eindruck, daß wir den entscheidenden Faktor verteidigen müssen, nämlich das Berührungsbedürfnis des Menschen. Ich befürworte mehr Berührungen in der Gruppe. Zugegeben, das macht Beschränkungen notwendig. Wir beachten die gesellschaftlichen Regeln. Wir sind gegen Zungenküsse oder andere Arten des Berührens, die erotisch sind oder Menschen verletzen könnten, die nicht auf den Trend der Zeit eingestellt sind. Bei halb­erwachsenen Gruppenmitgliedern scheinen gewisse Einschränkungen des Umarmens in und außerhalb der Gruppe ratsam zu sein. Und dann gibt es Erwachsene, deren Symptome in sexuellen Handlungen bestehen, die für die meisten Gruppenmitglieder verletzend sind. Da gibt es beispielsweise Frauen, die gewöhnt sind, die Ehemänner ihrer Freundinnen zu verführen, Väter, die es genießen, das gleiche bei den Freundinnen ihrer Töchter zu versuchen, und so fort. Trotz solcher Möglichkeiten glaube ich, daß das Bedürfnis, zu berühren und zu umarmen, ermutigt werden sollte. Es ist eine in unserer Kultur allzu lange verdrängte und verzerrte natürliche Betätigung des Menschen.

Tatsächlich ist es nicht nur eine befreiende, erfüllende therapeutische Tätigkeit, wenn man Menschen ermuntert, sich aus echter Teilnahme und mitfühlendem Interesse zu umarmen und zu berühren. 

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Oft werden auf diese Weise neue Möglichkeiten geschaffen, besondere sexuelle Abweichungen zu beseitigen. Beispielsweise wird ein Homosexueller häufig in tiefes, schmerzliches Schluchzen ausbrechen, wenn ihn ein männliches Gruppenmitglied voller Liebe und Teilnahme als Mensch umarmt. Das Bedürfnis eines männlichen Homosexuellen, sein Symptom mit anderen Männern »auszuagieren«, hängt oft damit zusammen, daß er als Kind keine offene Liebe von seinem Vater empfangen hat. Die Liebe und Teilnahme eines männlichen Gruppenmitglieds durch eine Umarmung zu akzeptieren, bildet häufig den Anfang, den Homo­sexuellen von der »Magie« zu befreien, die er den Beziehungen mit Männern zuschreibt.

Kann »die Gruppe« zu einer Lebensweise werden? Neigt sie nicht dazu, die Teilnehmer von sich abhängig zu machen? Wenn jemand nicht gesund werden will, bleibt er krank. Das gilt für jede Therapie; meine Gruppen sind von diesem Problem keineswegs frei. Wir stellen jedoch fest, daß die Kombination von Unterstützung und Herausforderung in unseren Gruppen die emotionale Gesundung der Menschen fördert. Niemand darf monatelang in unseren Gruppen bleiben, wenn keine Verhaltens­änderungen zu verzeichnen sind. Wenn es jemand deutlich darauf anlegt, Veränderungen zu vermeiden, fordern wir ihn manchmal auf, die Gruppen zu verlassen. Seine Anwesenheit tut weder ihm noch den anderen Gruppenmitgliedern gut. Gruppen sind keine geselligen Zusammenkünfte, Sitzungen für gegenseitige »Verträge« oder sonst irgendwelche gesellschaftlichen Rituale oder Routineveranstaltungen. Therapeutische Gruppen verlangen Ehrlichkeit und Emotionalität. Sie sind eine besondere, disziplinierte, anspruchsvolle Übung, die den Teilnehmern die emotionalen Muskeln strecken und ihnen helfen soll, neue Einsichten zu bekommen.

Eines kann gar nicht oft genug betont werden: Die Gruppe ist kein Allheilmittel. Sie bietet keine Zauberformel für emotionale Gesundheit. Sie erfordert äußerste Beteiligung und Hingabe von selten des einzelnen, wenn er irgend etwas von der Gruppe gewinnen soll. Er muß ständig im Kampf bleiben, und wenn die Gruppe selbst allzu bequem wird, wird er in der Außenwelt gewiß nicht kämpfen. Die Gruppe ist ganz einfach ein Erziehungsinstrument, das die Menschen zu der Erkenntnis bringen kann, daß das größte Potential die Führung eines verantwortlichen, erwachsenen, lohnenden Lebens ist. Aber die Gruppe kann die Probleme des Lebens in der Welt nicht lösen. Das Leben ist ein Kampf, und jede Therapie, die es ermöglicht, diesem Kampf zu entgehen, ist keine Therapie. 

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Unser Gruppensystem kann die Menschen nur wohlgerüstet bis an die Schwelle des Lebens bringen. Danach befinden sie sich im Kampf. Doch dieser Kampf als Erwachsener verheißt — im Gegensatz zu der Abwendung vor dem wirklichen Kampf, den die ehemaligen Symptome erlaubt haben — großen Lohn.

 

8. Wie steht es mit der Möglichkeit des Kultismus, der Kultbegeisterung?  
»Kultbegeisterung« ist eine Gefahr bei jeder gruppenorientierten Einstellung zum Leben. Viele Menschen befinden sich noch in einem jugendlichen oder kindlichen Stadium der Persönlichkeitsintegration. Wenn sie emotional noch Kinder sind, möchten sie ihren Kuchen essen und ihn gleichzeitig behalten. Wenn sie emotional Heranwachsende sind, möchten sie ihren Kuchen haben, ohne den Preis dafür zu zahlen. In beiden Fällen möchten sie Vater, Mutter und den Behörden die Schuld zuschieben und gegen sie rebellieren. Damit werden programmierte, fertig konfektionierte Anhänger für Führer geschaffen, die besonders geschickt im Manipulieren sind. Die Behandlung dient dem Besten des Patienten; Kultbegeisterung und Gehirnwäsche dienen dem Besten des Leiters. Gruppen sollten an Fragen wie den folgenden geprüft werden: Werden die Patienten gesund und verlassen sie die Gruppe mit dem Segen der Gruppe? Oder wird ein Schuldgefühl gefördert, wenn jemand sagt, er sei mit der Behandlung fertig? Pocht der Gruppenleiter auf seinen ärztlichen Rang und sagt: »Sie sind zu krank und hilflos, als daß Sie es ohne mich schaffen könnten«?

Ich will keinesfalls behaupten, es gäbe keine sozialen Übel, die die Menschen dazu bringen, sich für eine »gute Sache« zusammenzuschließen. Es gibt viel soziales Unrecht, das wiedergutgemacht werden muß, und man darf von jugendlichen Gruppen erwarten, daß sie ihre Kräfte darauf konzentrieren, sie wiedergutzumachen. Solche Tätigkeiten können sehr konstruktiv sein. Doch in einem Kult können die Mitglieder den Kontakt mit der Wirklichkeit verlieren. Sie können die Gesetze, Institutionen, Ideen und Menschen mißachten, die ihre Aktivität beschränken. Ohne Rücksicht auf die Folgen können sie andere unterdrücken, um Ziele zu verfolgen, die sie für wünschenswert halten. Allzuoft sind die Ergebnisse unheilvoll — nicht nur für manche der Institutionen und Menschen, denen sie begegnen, sondern vor allem für Mitglieder des Kults selber.

Die Überprüfung an der Realität ist gesund. Es ist wünschenswert zu wissen, was im Gesetz steht, wie sich andere im Hinblick auf eine bestimmte Frage fühlen, welche Folgen die eigenen Handlungen wahrscheinlich haben werden. 

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Da die Kultbegeisterung Menschengruppen vom Hauptstrom des Denkens und Fühlens einer Kultur abschneidet, erreicht sie genau das Gegenteil. Sie isoliert ihre Mitglieder, reduziert die ihnen offenstehenden Möglichkeiten und veranlaßt sie, die Ergebnisse ihres Handelns falsch zu beurteilen.

Der Kultismus kann zu Gewalt und Revolution führen, zu Verhältnissen, die viele aufmerksame Bürger in den Vereinigten Staaten für unvermeidlich halten. Ich hoffe, daß Gewalt und Revolution verhindert werden können. Aber wie? Ein Anfang wäre es, die Beziehungen zwischen je zwei Menschen zu verbessern. Schließlich besteht die Gesellschaft ja aus Menschen. Und jede Gesellschaft beeinflußt das Wesen ihrer Menschen in einem unmeßbaren, aber unverkennbaren Ausmaß. Freuds viktorianische Welt brachte viele Neurotiker hervor. Unsere Welt hat Millionen und aber Millionen emotional gestörter Menschen produziert, von denen die große Mehrzahl charaktergestörte Persönlichkeiten sind, die sich immer weiter in die emotionale Isolation und ein unproduktives, oft destruktives Leben zurückziehen.

Die Psychiatrie, wie sie sich nach Freud entwickelt hat, wird mit den heutigen Problemen der emotionalen Gesundheit nicht mehr fertig. Die disziplinierte, verantwortungsbewußte Gruppentherapie ist die einzige Möglichkeit, die sich meiner Ansicht nach überhaupt mit den emotionalen Problemen in unserer Gesellschaft beschäftigen kann.

Selbst der brillanteste Plan zur Lösung sozialer Probleme — Großstädte, Studentenunruhen, steigende Scheidungsziffer, Generationskonflikt, Krieg, Entpersönlichung des Berufs, Konsum als Statussymbol, Rassenvorurteile, Verbrechen — muß fehlschlagen, wenn unsere Gesellschaft weiter emotional isolierte Menschen hervorbringt. Kurz, umfassende Lösungen für besondere Sozialprobleme können einfach nicht so angelegt werden, daß sie möglichst dauerhaft sind, wenn wir nicht zuletzt mit den Problemen der individuellen menschlichen Identität und Interaktion fertig werden.

Wir müssen Wege finden, um die Menschen wieder menschlich zu machen. Gruppen können eine Möglichkeit bieten, die Wiedervermenschlichung in unserer Gesellschaft zustande zu bringen. Ich sähe gern Postulate und Techniken wie die unseren in die Struktur gesellschaftlichen Lebens hineinverwoben. Wir müssen uns beeilen, um so viele qualifizierte Leute wie möglich auszubilden, damit andere und danach wieder andere — in geometrischer Progression — Nutzen aus dem Prozeß ziehen und ihn abermals weiterverbreiten können.

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Ich meine, daß eine Gruppentherapie-Praxis so eingerichtet werden sollte, daß die Patienten Zugang zu allen Möglichkeiten der Behandlung haben. Für die meisten Menschen könnte es reguläre Gruppen geben. Intensivgruppen für die erste Einarbeitung in den Prozeß und für die Ausbildung von Gruppenleitern. Oder ein Tag-und-Nacht-Zentrum, wie es kürzlich im Casriel-Institut eingerichtet wurde: wer tagsüber bei der Arbeit Schwierigkeiten hat, kann an einem strukturierten Programm während des Tages teilnehmen, wer mit seinem gesellschaftlichen Leben Probleme hat, weiß einen Ort, wo er abends hingehen kann. Es sollte eine therapeutische Gemeinschaft geben wie die AREBA, wo man sich an einem vierundzwanzig Stunden dauernden Tagesprogramm beteiligen kann. Und der Leiter des Zentrums sollte Zugang zu allen medizinischen Möglichkeiten haben — von den Laboratorien und Krankenhäusern bis zu den Gedanken und der Erfahrung seiner Kollegen.

Ferner muß die psychiatrische Ausbildung verbessert werden. Heute muß ein Psychiater mindestens so viel Allgemeinbildung besitzen, daß er die Anfangsgründe einer großen Zahl von Disziplinen versteht — Medizin, Ethnologie, Semantik, Primatologie, Soziologie, Psychologie, Pharmakologie. Er sollte sich bereits während des Studiums auf Psychiatrie spezialisiert haben. Wir können den Ärzten, die heute Psychiatrie praktizieren, keine Vorwürfe wegen ihrer Mängel machen. Sie haben getan, was sie konnten, gemessen an ihrer Ausbildung. Ebensowenig können wir den Patienten die Schuld geben, wenn sie auf gewisse Arten der Therapie nicht ansprechen. Statt dessen muß endlich der psychotherapeutische Prozeß selbst geändert werden. Wir haben jetzt das Wissen und die Erfahrung, um diese Prozesse zu entwickeln. Es wird Zeit, daß wir die Psychiater so ausbilden, daß sie die Alltagsarbeit erledigen können.

Wenn ich selbst mich auch weitgehend auf »halbausgebildete« Gruppenleiter verlasse, ist mir doch klar, daß dies keine Lösung ist. Wir brauchen mehr in den neuen Techniken ausgebildete Psychiater, die Gruppentherapiesysteme einrichten können. Diese Psychiater und Psychologen sollten wie die Schulräte in den Schulsystemen sein. Die berufliche Ausbildung erfordert zu viele Jahre, als daß die Psychiater auf die Anzahl von Patienten beschränkt bleiben dürften, die sie selbst von Angesicht zu Angesicht behandeln können.

Eins ist gewiß gültig für die Gruppentherapie: sie funktioniert. In ihren Anfangs-Stadien ist sie erstaunlich einfach, dramatisch und therapeutisch. Die Einleitungsstadien erfordern keinen gründlich ausgebildeten Arzt. Doch für die Schlußstadien der Psychotherapie sind die Fähigkeiten und das Verständnis eines Menschen erforderlich, der in »Einstellungen«, wie ich es nenne, ausgebildet ist (tatsächlich umfassen diese »Einstellungen« den gesamten analytischen Prozeß). 

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In ihren Schlußstadien erfordert die Technik einer wirksamen Psychotherapie auch erhebliche, möglichst positive Lebenserfahrung. Wie kann ein Psychiater oder Psychologe, der seine Berufsjahre in einer Universität, einem Krankenhaus und einem abgeschlossenen Privatsprechzimmer verbracht hat, die Probleme verstehen, denen sich ein höchst verantwortlicher Manager in einem auf Wettbewerb beruhenden Unternehmen gegenübersieht? Wie kann ein kinderloser Psychologe die Probleme verstehen, Kinder in unserer komplizierten, vielschichtigen Kultur aufzuziehen? Die Psychiater und Psychologen müssen ihren Elfenbeinturm verlassen und herausfinden, was in der Gesellschaft, in der sie leben, wirklich vor sich geht.

Zwei Ärzte, die ich kenne, haben die wissenschaftliche Einstellung zu ihren Arbeitsgebieten erweitert. Der eine, Allgemein­praktiker in Flint, Michigan, brachte ein Jahr in meinen Gruppen zu und lernte den Gruppenprozeß kennen, so daß er ihn in seiner Praxis anwenden konnte. Ein zweiter, Psychiater aus Paris, informiert sich jetzt in meinen Gruppen über den Prozeß. Er war durch die geringen Erfolge der klassischen Methoden der Psychotherapie so sehr entmutigt worden, daß er seinen Beruf für ein Jahr aufgab. Diese Männer tun das gleiche, was ich im Jahr 1963 begann, als ich Synanon zum erstenmal besuchte. Der Franzose wird die Methode bald nach Paris mitnehmen, um dort ein Gruppensystem aufzubauen.

Ich würde es den Kindern wünschen, daß sie von Lehrern unterrichtet werden, die in Sensitivität und Gruppenmethoden ausgebildet sind und bei ihnen lernen, wie man emotional ehrlich ist. Ich sähe gern, daß sich Jugendliche in Spezialgruppen begegnen — nicht weil Gruppen gerade Mode sind und jungen Leuten eine Methode versprechen, wie sie ihren Eltern Widerstand leisten und den Verantwortungen des Lebens als Erwachsene ausweichen können, sondern weil junge Menschen in Gruppen lernen würden, wie sie sich als Menschen vervollkommnen können. Der Gruppenprozeß ist imstande, jungen Menschen beizubringen, wer sie sind, die eigenen Möglichkeiten zu erkennen, ihre Gefühle mit anderen zu teilen und sich für eine Weile mit anderen jungen Menschen zu verbinden, die es ebenso wagen, ihre wahren Gefühle preiszugeben.

Ich würde mich freuen, wenn der CVJM, die Pfadfinderbünde und die Jugendämter Programme aufstellen würden, geleitet von Menschen, die für die Arbeit in therapeutischen Gruppen ausgebildet sind, und beaufsichtigt von Psychiatern oder Psychologen, die ebenfalls eine Spezialausbildung in Gruppenmethoden genossen haben. Ich sähe die Einrichtungen für Gruppen­zusammenkünfte gern häufig benutzt von Geschäften, Beratungsdiensten, Klubs und anderen Organisationen.

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Mir gefällt auch der Gedanke, daß Handel und Gewerbe die Vermenschlichung als rentable Tätigkeit entdecken könnten. Generaldirektoren, die in einer emotional offenen Atmosphäre aufeinander einwirken, sind signifikant produktiver — und das läßt sich durchaus messen. Ich sehe solche Vorteile für die Unternehmen in der erhöhten Leistungsfähigkeit, in der Verminderung der unrentablen Arbeit, in verbesserter Moral, geringerem Arbeitsplatzwechsel, besserem Verständnis für Unternehmens­probleme und -ziele und in mehr Zeit für jeden einzelnen Arbeitnehmer, kreativ tätig sein zu können.

Am liebsten sähe ich, daß die Prinzipien der Vermenschlichung Wurzeln in der Familie schlügen, so daß ein Kind sein natürliches Recht bekommt, sich liebenswert zu fühlen, und daß es sich für berechtigt hält, seine Emotionen ehrlich zu äußern, ohne Strafe fürchten zu müssen. Ich sähe gern, daß das Wesen der Emotionen und die Begrenztheit der Einstellungen von denen besser verstanden würden, die die Verantwortung, Eltern zu sein, auf sich nehmen.

Im weitesten Sinn sähe ich gern »Beziehung« und »Verantwortung« in den Unterrichtsstoff der Schule aufgenommen. Der erste Begriff würde zusammenfassen, wie man andere Menschen versteht, mit ihnen kommuniziert und mit ihnen gut auskommt. Der zweite müßte lehren, wie man sich verantwortlich verhält — nicht nur anderen Menschen und Institutionen, sondern auch sich selbst gegenüber.

Das sind die Dinge, die wir alle während unseres Erwachsenenlebens praktizieren, ganz gleich, welchen Beruf wir ausüben und welche sozioökonomische Stellung wir einnehmen. Wenn wir unseren Kindern ein schlechtes Beispiel geben, übertragen wir der nächsten Generation schlechte emotionale Gesundheit. »Verantwortung« und »Beziehung« sind entscheidend für die menschliche Interaktion. Wir wenden viel Zeit daran, weit weniger wichtige Fähigkeiten zu erwerben und zu verbessern, während diese fundamentalen Fähigkeiten von den Berufserziehern ignoriert und von den Eltern fehlkonditioniert werden.

Menschen brauchen emotionalen Kontakt mit anderen. Wir müssen Beziehung zu den verletzbaren Gefühlen anderer haben, nicht zu der stolzen Fassade oder dem verklemmten Verhalten, das uns nur allzuoft begegnet. Wirklich befriedigender emotionaler Kontakt fordert, daß jedes Individuum nicht nur ehrliche Emotionen fühlt und zeigt, sondern daß es auch empfänglich für die Emotionen anderer Menschen ist. Bedeutsamer emotionaler Kontakt beruht auf verantwortungs­bewußtem Interesse an sich selbst und an anderen, ein Interesse, das sich darauf stützt, daß man weiß, wieviel man in eine Situation investiert.

Ein entscheidender Grund für die Verbreitung der Begegnungs- und Sensitivitätsgruppen ist der, daß sie das Milieu für unmittelbare ehrliche Interaktion zwischen Menschen bilden. Bedauerlicherweise ist es eine Interaktion, die unsere Kultur in vielen Fällen ablehnt.

In meiner Praxis höre ich immer wieder, wie kultivierte und intelligente Menschen — erfolgreiche Geschäfts­leute, College­studenten mit verheißungsvoller Zukunft, bürgerliche Hausfrauen, Professoren — mir sagen, daß der Gruppenprozeß ihnen etwas gebe, was sonst in ihrem Leben fehlt. Ein Jurist erklärte mir, daß er manche Mitglieder seiner Gruppen besser kenne und verstehe als lebenslange Freunde und Berufskollegen. Ein Vorstandsmitglied eines bedeutenden Unternehmens kehrt jedes Jahr für einige Sitzungen zu seiner Gruppe zurück, um »etwas Liebe aufzunehmen« und »von dem Elfenbeinturm wegzukommen«. (Die anderen Mitglieder dieser Gruppen wissen nicht, wer er ist.) Ein Ehepaar (das ich als emotional äußerst gesund bezeichnen würde) kommt zwei- bis dreimal jährlich zu Gruppensitzungen — jedes Mal, wenn es »das Bedürfnis nach ein paar Atemzügen frischer Luft verspürt«.

Die Worte, die beschreiben, was emotionsorientierte Gruppen geben können, unterscheiden sich von einem Menschen zum anderen. Aber sie alle haben einen gemeinsamen Nenner: den emotionalen Kontakt. — Emotionaler Kontakt bildet das Gegengift gegen Entfremdung und Einsamkeit. Dazu gehört die Fähigkeit, Vertrauen zu schenken und seine Verteidigungs­waffen gegen »Nichtmenschen« wegzuwerfen. Und er stützt sich auf eine Hominiden­vergangenheit, die nahezu zwei Millionen Jahre währt.

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Ende

 

 

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