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Über Science Fiction, Politik und Utopie

Ein Gespräch mit Christoph Spehr 

Zacharias 1985: SF und Utopie

Christoph Spehr, Historiker, geb. 1963 in Augsburg, lebt seit 1991 in Bremen. Mitarbeiter der <alaska-Zeitschrift für Internationalismus> und der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Organisierte 2003 zum dritten Mal den Kongress >Out of this world, Science-Fiction, Politik, Utopie< in Bremen. Veröffentlichungen (Auswahl): >Die Aliens sind unter uns! Herrschaft und Befreiung im demokratischen Zeitalter< (2003) und >Gleicher als andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation< (2002)  wikipedia  Christoph_Spehr  +  wikipedia  Alaska_(Zeitschrift) 

 

Chlada: Als der neue <Star Wars>-Streifen in die Kinos kam, haben Fernsehreporter die wartenden Fans vor den Kassen befragt. Sie wollten wissen, was ihnen an dem "Kult" um <Star Wars> gefällt und warum sie bereit sind, für das kurze Vergnügen ewig in der Schlange zu stehen. Eine Antwort hat mir besonders gefallen, die glatt von Baudelaire stammen könnte: "Hauptsache ich habe das Gefühl, für die nächsten zwei Stunden nicht auf dieser Welt zu sein."
Ist es um diese Welt so schlecht bestellt, dass die Utopie nicht mehr den Anspruch erhebt, "gut" zu sein, sondern einfach nur anders, egal wo und wie?

Spehr:  Na ja, Star Wars — ob eine romantische Liebesszene im Heidi-Stil, auf einer Art Almwiese mit Riesenzecken, einem wirklich reicht, um sich nicht von dieser Welt zu fühlen, sei dahingestellt. Ich glaube auch nicht, dass es darum geht, einfach "weg" zu sein. Es kommt schon darauf an, wo man ist. Im Animatrix-Film Kid’s Story fällt der Satz: "Warum erscheint es mir mehr real, wenn ich träume, als wenn ich wach bin?"   [en.wikipedia  The Animatrix]

Darum geht es. Wir suchen nach etwas, was sich realer anfühlt, wirklicher, als die so genannte Wirklichkeit — was heißt: unser alltägliches gesellschaftliches Leben drückt uns nicht aus. Wir sind so nicht. Wir, mit unseren Hoffnungen und Ängsten, Erfahrungen und Sehnsüchten, Wissen und Fähigkeiten, sind dort nicht zugelassen. Wir dürfen nur eine dünne Persona da durchschieben und möglichst nirgends anecken und alles prima finden. Und die Kämpfe und Katastrophen, die Siege und Niederlagen, die Wahnsinnstaten und Warmherzigkeiten, die da jeden Tag stattfinden, dürfen als solche nicht dargestellt, gar nicht als solche bemerkt werden — alles ist prima, alles ist okay, alles geht seinen Gang. Das macht den Menschen fertig. 

Und deshalb ist Popkultur generell natürlich auch Flucht, als blanke Selbsterhaltung, als Schutz vor dem völligen Zusammenbruch einer persönlichen Identität. Aber wenn sie gut ist, dann ist es auch mehr als Flucht. Dann ist es Erkennen, Lernen, sich Vorbereiten und Zurückgehen. Und es ist noch viel mehr: es ist Phantasie, es ist Ausprobieren, es ist Herumspielen mit der Wirklichkeit und ihren Zitaten, es ist ein lustvoller Vorgang. Das hatte auch die alte Star Wars-Trilogie, so reaktionär George Lucas auch immer schon war.

 

Chlada:  
Wie würdest Du den Begriff Utopie definieren? Und in welchem Zusammenhang steht er mit der Science Fiction?

Spehr: Die Utopie ist die Konstruktion einer Welt, die in sehr grundsätzlichen Regeln abweicht von der, die wir kennen. Dadurch erkennen wir, dass diese Regeln vielleicht nicht so sein müssen, wie wir glauben oder glauben gemacht werden. Die Utopie geht ans Eingemachte, es gibt nichts, was sie in der Konstruktion nicht ändern darf, solange es in sich einigermaßen aufgeht. Darin liegt ihre Sprengkraft. Und es geht immer um die Welt des Sozialen, um die sozialen Regeln; alles andere sind nur Bilder dafür. 

Wenn dabei ein erstrebenswerter Zustand dargestellt wird, ist es eine Utopie; wenn ein schlechter Zustand dargestellt wird, der sich aber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aus dem heutigen ergeben wird, ist es eine Dystopie; wenn nur ein anderer Zustand dargestellt wird, der weder unbedingt erstrebenswert noch unbedingt zu verhindern ist, ist es eine Heterotopie. Der Zusammenhang mit der Science Fiction liegt darin, dass Science Fiction eine kulturelle Sprache ist, die sehr bildmächtig ist und sehr konkret. 

Eine Utopie in der Sprache der Science Fiction ist keine dünne Blaupause, keine Konstruktionszeichnung, sondern eine vollständige Animation mit allem — mit echten Menschen, echten Konflikten, Widersprüchen und Auseinandersetzungen; und es ist eine, in der die emotionale Qualität der intellektuellen mindestens gleichgestellt ist und die individuelle der gesellschaftlichen Perspektive mindestens gleichrangig. Oder anders gesagt: eine Utopie in der Sprache der Science Fiction behandelt unsere Erfahrungen, Hoffnungen, Ängste, Sehnsüchte und Potentiale als die Einheit von Individuellem und Gesellschaftlichem, Bewusstem und Unbewusstem, Ermutigendem und Erschreckendem, wie sie eben auch wirklich existiert.

Bisschen weniger abstrakt lautet die Antwort: Utopie findet seit geraumer Zeit vorrangig in der Science Fiction statt und sonst kaum noch irgendwo. Das geht von der anarchisch-sozialistischen Gesellschaft auf Anarres in Ursula LeGuins Planet der Habenichtse bis zur Utopie des Aufwachens, Sich-Wehrens und Zusammenarbeitens in Matrix.

 

Chlada:  Seit 2000 gehörst Du zu den Organisatoren des Kongresses Out of this world!, der regelmäßig in Bremen stattfindet. Dort werden die Begriffe Utopie, Politik und Science Fiction erörtert und diskutiert. Wie läuft das ab, wer (welche "Szene" beispielsweise) kommt dahin und wie ist die (öffentliche) Resonanz auf eine solche Veranstaltung in Zeiten, wo vom "Ende des utopischen Zeitalters" die Rede ist?

Spehr:  Wir mieten ein paar Räume und ein Kino, laden ReferentInnen ein, von denen wir glauben oder wissen, dass sie zum Thema was zu sagen haben, und ermutigen sie ausdrücklich, sich auch anderer Formen zu bedienen — Vorträge mit Video-Ausschnitten, moderierte Workshops — was aber nicht zwingend ist. Wir sind zurückhaltend mit Leuten, die einen sehr akademischen Hintergrund haben, und versuchen den feministischen Anteil hoch zu halten. Wir machen ein Space-Quiz zum Einstieg, und seit Out of this world! 2 produzieren wir jeweils ein Video, das auf dem Kongress Premiere hat. Out of this world! ist das, was in der Fernsehwelt ein "Format" heißt, aber eines, was auch in stetiger Entwicklung ist, vor allem auch durch die Kritik und Mitwirkung der TeilnehmerInnen selbst. Die TeilnehmerInnen kommen eher aus der politischen Szene, Leute mit reinem Science Fiction-Hintergrund sind eher die Ausnahme; viele davon sind in Gruppen und Projekten aktiv, und viele machen selbst irgendwas auf dem Kongress und gestalten ihn aktiv mit.

Der Kongress ist nicht besonders groß, beim ersten und zweiten so um die hundert TeilnehmerInnen, und größer soll er auch bislang nicht werden, weil es zu diesem Format gehört, dass Out of this world! überschaubar bleibt und man mit einem großen Teil der Anwesenden selbst ins Gespräch kommt. Die öffentliche Resonanz — ich würde sagen, die ist interessiert, aber zurückhaltend. Vom Ende des utopischen Zeitalters wird ja eigentlich nicht mehr viel geredet, es wird praktiziert — und deshalb kuckt man so mit einem Auge heimlich hin, weil so ein Kongress, sein Anliegen und seine Form, doch etwas ungewöhnlich ist. Aber dann kuckt man auch ganz schnell wieder weg. Außerdem ist es vielen in Fleisch und Blut übergegangen, nur noch das ernst zu nehmen, was sich in die üblichen akademischen Formen kleidet. Aber ich glaube, dass die ganze Out of this world!-Sache eine relativ nachhaltige Wirkung hat, einen nicht zu unterschätzenden Verbreitungsgrad. Wir merken das z. B. an den Videos vom letzten Kongress, die unheimlich viel bestellt werden, weil man selbst vor Ort mit ihnen arbeiten möchte — so dass die ganz schnell ein paar tausend Leute gesehen haben. Und den meisten gefallen sie. Ich hoffe, dass wir die Zeit und die Möglichkeit haben, Out of this world! weiter wachsen zu lassen.

 

Chlada: Die Utopie ist nun schon so alt wie die Menschheit selbst. Sie wurde immer schon kritisiert, sie hat sich immer schon, je nach Zeitalter, anders artikuliert. Gibt es eine postmoderne Utopie oder anders gefragt, ist die Heterotopie à la Foucault und Delany die Utopie von heute? Wenn ja, worin unterscheiden sich klassische Utopie und Heterotopie?

Spehr: Ich bin schon ein Anhänger der Utopie und eigentlich kein Freund der Heterotopie im strengen Sinn. Mich interessiert das Utopische: das, was besser ist und nicht bloß anders; das, was wirklich sein sollte. Ich würde deshalb eher vom Unterschied zwischen postmoderner und klassischer Utopie sprechen. Auch bei Delany geht es ja durchaus um das Utopische, um Alternativen zum Heute, nur dass dabei nicht gleich die beste aller möglichen Welten herauskommen muss, sondern etwas, was so chaotisch und widersprüchlich und konflikthaft ist wie die wirkliche Welt. 

Die klassische Utopie ist die Schilderung einer konfliktfreien Welt, einer Gesellschaft die von allem gereinigt ist, was dem Autor der Utopie nicht passt: dass die Leute ihr Bonbonpapier auf der Straße wegwerfen, dass es Verbrechen gibt, dass die Leute sich hässlich anziehen und dem Autor der Utopie zu wenig Respekt entgegenbringen. Deshalb hat sie meist zutiefst konservative Züge. Sie setzt voraus, dass alle dem Masterplan folgen müssen, dem gegenüber sie keine Abweichungen toleriert. Utopien aus dem Geist reaktionärer Zivilisationskritik gibt es von Platos Politeia bis hin zu Weißer Mars von Aldiss und Penrose, wo endlich, endlich die Wissenschaftler das Sagen haben und die Menschen entsprechend vernünftig werden. Na, danke!

Die postmoderne Utopie muss demgegenüber mindestens die vier folgenden Kriterien erfüllen: Sie ist nicht preskriptiv, das heißt, sie schreibt den Leuten nicht vor, was sie zu tun und wie sie zu sein haben. Sie ist nicht elitär, das bedeutet, sie geht nicht davon aus, dass irgend jemand den privilegierten Zugang zur Wahrheit hat — nicht die Philosophen, nicht die Wissenschaft, nicht die Sozialisten, nicht der Autor der Utopie selbst. Sie ist nicht hierarchisch, sie privilegiert nicht bestimmte Bereiche des Gesellschaftlichen über andere. 

Das finden wir in den typischen "Kranker-Zahn-Utopien": man muss der Gesellschaft nur den und den kranken Zahn ziehen, dann klappt es endlich auch mit dem Nachbarn. Das ist natürlich Blödsinn, denn auch in der Utopie geht es um die Umwälzung aller sozialen Verhältnisse, und die ist nicht über eine zentrale Maßnahme allein zu erreichen. Und viertens: Sie ist keine Form von politisch getarntem Eskapismus. Sie speist sich nicht vorrangig aus Ekel vor der Welt des Sozialen, wie wir sie kennen. Natürlich kann einem die Welt, wie sie ist, ganz schön auf die Nerven gehen; aber man darf nicht in die Form von Zivilisationskritik fallen, die nur die eigene soziale Unfähigkeit kaschiert oder die fehlende Bereitschaft, sich mit der Welt und anderen Menschen auseinander zu setzen. Also, ich sitze hier an meinem Text und kann mich nicht konzentrieren, weil aus dem Stockwerk unter mir lautstark der Hip-Hop aus der Stereoanlage meiner Kinder wummert, und schau einer an: in meiner Utopie hören alle nur schöne, leise Musik und achten wie selbstverständlich darauf, anderen nicht auf die Nerven zu fallen. So was darf man nicht machen. Man kann das alles auch in den einen Satz zusammenfassen: Die Utopie muss die Menschen mögen. Die wirklichen, echten Menschen, trotz und wegen allem. Dann ist es eine postmoderne Utopie. Und andere sollte es heute nicht mehr geben.

 

Chlada: In Deinem Buch Die Aliens sind unter uns ergreifst Du Partei für den Maquis, eine Widerstandsgruppe aus dem Star Trek-Universum. Was ist der Maquis und welches Modell von Utopie, Kritik und Widerstand stellt er dar?

Spehr: "Maquis" heißt auf französisch "Busch"; so nannte man in der Résistance die Zonen, die nicht von den Nazis kontrolliert wurden. Das wird dann bei Star Trek aufgegriffen — es ist ja unglaublich, was alles in Star Trek aufgegriffen wird; der Maquis kommt, glaube ich, schon in Deep Space Nine vor, aber mir ist er anhand der Pilotfolge von Voyager aufgefallen: "Der Fürsorger".

In <Die Aliens sind unter uns> ist der Maquis dann gekommen, weil ich einen Begriff suchte für die Gegengruppe zu den Aliens. Die Aliens sind ja die herrschende Klasse, aber sie sind eben auch keine Klasse im alten Sinn: sie sind ein Verbund, ein Netzwerk, das sich durch alle sozialen Gruppen zieht, durch alle sozialen Verhältnisse, zusammengehalten durch eine bestimmte Logik des Sozialen, die sie verfechten, und die ihnen die Macht zuspricht. Sie sind das, was ich eine "Zivilisation" nenne: keine geschlossene Gruppe, keine territoriale oder soziale Einheit, aber eben doch ein Gebilde, was in der Lage ist zusammen zu arbeiten, ein Gebilde, dem man nicht beitreten kann, aber dessen Angehörige sich quer durch alle sozialen Gruppen spontan erkennen, sozusagen am Geruch. 

Die Aliens sind die Exponenten von Herrschaft in einem Zeitalter, das sich nicht mehr zur Herrschaft bekennt, und deshalb tun die Aliens so, als wäre das nicht Herrschaft, was sie tun. Und das machen sie in den transnationalen Konzernen, bei IWF und Weltbank und in den Regierungen der mächtigen Nationen, genauso wie im Sportverein und zuhause in der Familie. Und natürlich auch in Organisationen und Zusammenhängen, die da scheinbar dagegen sind, in linken Zusammenhängen, revolutionären Organisationen, alternativen Projekten, sozialen Bewegungen — auch da bilden sich Aliens. Es bilden sich immer auch Aliens; die Frage ist nur, ob man darauf vorbereitet ist und ihrer Machtübernahme gegensteuern kann.

Nun gibt es, wie wir wissen, aber immer auch Feinde der Aliens. Nicht die Pseudo-Feinde, mit denen sie sich Schaukämpfe liefern, aber in der selben sozialen Logik verbunden sind — im Krieg profitieren ja auch die Militaristen beider Seiten —, sondern richtige Feinde, die die Macht der Aliens abschaffen wollen, die für eine andere Logik des Sozialen eintreten. Eine Logik der Kooperation, der freien und gleichen Kooperation, genau genommen. Und auch diese Feinde der Aliens stehen untereinander in einem Zusammenhang, sie tauschen Bilder und Gedanken, Erfahrungen und Ideen, die zwischen ihnen um die Welt gehen. 

Sie bilden ihrerseits eine Zivilisation, die durch eine andere soziale Logik zusammen gehalten wird. Sie bilden keine geschlossene Gruppe, keine territoriale Einheit, keine gemeinsame Organisation. Natürlich organisieren sie sich auch, aber in Bezug auf Organisationen tauchen ihrerseits Aliens-Maquis-Konflikte auf, da muss man drauf gefasst sein. Die Aliens sagen, der Maquis ist der Feind der Zivilisation, aber er ist nur der Feind der Alien-Zivilisation, weil der Maquis eben eine Zivilisation darstellt und befürwortet. Zwischen den Zivilisationen der Aliens und des Maquis gibt es dann noch die Zivilisten, das heißt die Leute, die sich für nichts interessieren und alles nur so dahinmachen — nicht aktiv Macht und Ausbeutung für sich erobern wollen, auch nicht aktiv was dagegen tun, sondern mit Anpassung durchkommen und möglichst wenig wahrnehmen, was sie bei dieser zentralen Strategie ihrer Zivilisation beeinträchtigen könnte. Und es gibt als vierte Zivilisation die Faschisten. Es gibt immer auch Faschisten. Der Witz ist, dass es keinen logischen Weg von der einen in die andere Zivilisation gibt — man kann die eine nicht aus der anderen ableiten, man kann den anderen nicht argumentativ zwingend überzeugen, dass er falsch liegt, denn innerhalb der Logik der Zivilisationen geht die Welt jeweils auf.

Die Utopie des Maquis ist, das die Gegenspieler der Aliens, so unterschiedlich sie auch sind und so unterschiedlicher Theorien und Sprachen sie sich auch bedienen, etwas positiv gemeinsam haben. Und dass sie prinzipiell in der Lage sind, eine andere Welt durchzusetzen, in der die Aliens nicht mehr die Macht haben, und in der es auch generell weniger Aliens gibt. Aber der Maquis ist eben nicht umstandslos zu identifizieren mit einer bestimmten sozialen Gruppe oder einer bestimmten Bewegung, das wäre sonst sehr schnell wieder alienistisch.

 

Clada:  In welchem, Dir bekannten, utopischen Land bzw. auf welchem Planeten würdest Du leben wollen? 

Spehr Ich würde gern mal eine Weile auf Tomos leben — ein kleiner Planet in der Andromeda-Galaxie, den ich in der Geschichte <Die Säge der Benita Torres oder Die Wahrheit über den Vulkanier> beschrieben habe. Tomos ist eine Welt, die sich ideal für eine Gesellschaft der freien Kooperation eignet. 

Der Planet Tomos leidet, wenn man das so sagen kann, unter einer gewissen physikalischen Unordentlichkeit, vor allem in Bezug auf die Schwerkraft und die Molekularstruktur. Das führt dazu, dass man auf Tomos alles teilen kann, ohne dass es kaputtgeht. Man kann z.B. seine Wohnung aus dem Häuserblock rausziehen und woanders andocken, wenn einem die Nachbarschaft auf den Geist geht, ohne dass deswegen das Haus einfällt. Oder Leute können ihren Stadtteil woanders hinschieben, wo es ihnen besser gefällt. Wenn sie sich in einem Projekt oder einer Firma gar nicht mehr einigen können, wie es weitergehen soll, können sie den Laden in der Mitte teilen und jeweils ihre Hälfte mitnehmen.

Außerdem bewirkt die etwas gelockerte Molekularstruktur, dass man Leute nicht sinnvoll verprügeln oder erschießen kann — das geht einfach nur so durch. All das erleichtert eine soziale Struktur, in der gegenseitiger Druck ausschließlich darüber ausgeübt wird, dass man die eigene Kooperationsleistung aufkündigen, zurücknehmen, unter Bedingungen stellen kann; dass man Verhandlungsmacht besitzt, weil man auch gehen kann, und zwar unter Mitnahme seines Anteils und weil es Alternativen gibt, wohin man gehen kann. 

Und genau darum geht es ja in der Theorie der freien Kooperation, die ich in Gleicher als andere ein bisschen näher ausgeführt habe und die meines Erachtens eine Beschreibung der sozialen Logik ist, für die der Maquis eintritt und die er zu verwirklichen versucht. 

Freie Kooperation kann man natürlich auch auf Terra praktizieren. Aber den Kolonisten auf Tomos ist das ganz anders in Fleisch und Blut übergegangen. 

Ich weiß natürlich nicht, ob ich das auf Dauer aushalten würde — man ist ja selbst einigermaßen terran geprägt —, aber das würde ich mir rasend gern ansehen. Wir kennen ja alle nur diese Propaganda-Lügen über Tomos: die Leute dort würden ständig ihre Katzen und Hunde auseinandersägen, wenn sie sich trennen, und nichts würde funktionieren und die Kinder würden auf offener Straße pinkeln, und die Tassen hätten die Henkel innen, weil die ArbeiterInnen das grade cool fanden bei der Herstellung, usw. Aber ich denke schon, es müsste ziemlich großartig sein dort. Eine tiefe soziale, emotionale und intellektuelle Erfahrung, die einen für immer verändert. Sogar Terraner.

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