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Über den Personenkult und seine Folgen

Rede des Ersten Sekretärs des ZK der KPdSU, Gen. N. S. Chruschtschow, 
auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, 25. Februar 1956

Iswestija ZK KPSS, 1989, Nr. 3, S. 128-170

Anmerk 

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Genossen ! 

Im Rechenschaftsbericht des ZK der Partei an den XX. Parteitag, in einer Reihe von Ansprachen der Parteitagsdelegierten sowie zuvor auf Plenartagungen des Zentralkomitees ist nicht wenig über den Personenkult und seine schädlichen Folgen gesprochen worden.

Nach dem Tode Stalins begann das ZK der Partei, exakt und konsequent eine Politik durchzuführen, die darin bestand nachzuweisen, daß es unzulässig und dem Geist des Marxismus-Leninismus fremd ist, eine einzelne Person herauszuheben und sie in eine Art Übermensch mit übernatürlichen, gottähnlichen Eigenschaften zu verwandeln. Dieser Mensch weiß angeblich alles, sieht alles, denkt für alle, vermag alles zu tun, ist unfehlbar in seinem Handeln.

Eine solche Vorstellung über einen Menschen, konkret gesagt über Stalin, war bei uns viele Jahre lang verbreitet.

Das folgende Referat hat nicht eine allseitige Beurteilung des Lebens und der Tätigkeit Stalins zur Aufgabe. Über Stalins Verdienste wurde noch zu seinen Lebzeiten eine völlig ausreichende Anzahl von Büchern, Broschüren, Studien verfaßt. Allgemein bekannt ist die Rolle Stalins bei der Vorbereitung und der Durchführung der sozialistischen Revolution, während des Bürgerkrieges sowie im Kampf um die Errichtung des Sozialismus in unserem Lande. Darüber wissen alle gut Bescheid. 

Zur Zeit geht es uns um eine Frage, die für die Partei in Gegenwart und Zukunft gewaltige Bedeutung besitzt - darum, wie sich allmählich der Kult um die Person Stalins herausgebildet hat, der in einer bestimmten Phase zur Quelle einer ganzen Reihe äußerst ernster und schwerwiegender Entstellungen der Parteiprinzipien, der innerparteilichen Demokratie und der revolutionären Gesetzlichkeit wurde.

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Angesichts dessen, daß sich noch nicht alle bewußt sind, wohin in der Praxis der Personenkult geführt hat, welchen gewaltigen Schaden die Vergewaltigung des Prinzips der kollektiven Leitung in der Partei und die Konzentration einer unermeßlichen, unbeschränkten Macht in den Händen einer Person angerichtet hat, hält es das Zentralkomitee für erforderlich, dem XX. Parteitag der KPdSU Materialien zur Kenntnis zu geben, die diese Frage betreffen.

 

Es sei mir erlaubt, Sie vor allem daran zu erinnern, wie streng die Klassiker des Marxismus-Leninismus jegliche Erscheinung von Personenkult verurteilten. In einem Brief an den deutschen politischen Funktionär Wilhelm Blos stellte Marx fest: 

»... im Widerwillen gegen allen Personenkultus, habe ich während der Zeit der Internationalen die zahlreichen Anerkennungsmanöver, womit ich von verschiednen Ländern aus molestiert ward, nie in den Bereich der Publizität dringen lassen und habe auch nie darauf geantwortet, außer hie und da durch Rüffel. Der erste Eintritt von Engels und mir in die geheime Kommunistengesellschaft geschah nur unter der Bedingung, daß alles aus den Statuten entfernt würde, was dem Autoritätsaberglauben förderlich. (Lassalle wirkte später grade in der entgegengesetzten Richtung.)«2

Engels schrieb etwas später: »Sowohl Marx wie ich sind von jeher gegen alle öffentlichen Demonstrationen gewesen, die sich an einzelne Personen knüpfen, es sei denn, im Fall ein großer Zweck dadurch erreicht werden kann; und am allermeisten gegen solche Demonstrationen, die sich zu unsern Lebzeiten um unsre eignen Personen drehen würden.«3

Bekannt ist die enorme Bescheidenheit des Genius der Revolution, Wladimir Iljitsch Lenin. Lenin unterstrich stets die Rolle des Volkes als des Schöpfers der Geschichte, die leitende und organisierende Rolle der Partei als eines lebendigen und schöpferischen Organismus sowie die Rolle des Zentralkomitees.

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Der Marxismus negiert nicht die Rolle von Führern der Arbeiterklasse bei der Lenkung der revolutionären und Befreiungsbewegung.

Lenin maß der Rolle von Führern und Organisatoren von Massen ein großes Gewicht bei. Gleichzeitig prangerte er unbarmherzig jegliche Erscheinung von Personenkult an, führte er einen unerbittlichen Kampf gegen die dem Marxismus fremden Ansichten der Sozialrevolutionäre über »Helden« und »Masse«, gegen Versuche der Gegenüberstellung von »Helden« auf der einen und von Massen und Volk auf der anderen Seite.

Lenin lehrte, daß die Kraft der Partei auf dem unverbrüchlichen Bund mit den Massen beruht und darauf, daß hinter der Partei das Volk - Arbeiter, Bauern, Intelligenz - geht. »Nur der wird siegen und die Macht behaupten«, sagte Lenin, »der an das Volk glaubt, der bis auf den Grund der lebendigen Schöpferkraft des Volkes tauchen wird.«4)

Lenin sprach mit Stolz von der bolschewistischen, kommunistischen Partei als einer Führerin und Lehrerin des Volkes, er rief dazu auf, alle entscheidenden Fragen zur Beurteilung den bewußten Arbeitern und ihrer Partei vorzulegen; er sagte: »... der Partei glauben wir, in ihr sehen wir die Vernunft, die Ehre und das Gewissen unserer Epoche ...«5)

Lenin trat entschieden gegen alle Versuche auf, die führende Rolle der Partei im System des Sowjetstaates zu vermindern oder zu schwächen. Er erarbeitete bolschewistische Prinzipien der Führung der Partei und der Normen des Parteilebens, wobei er unterstrich, daß das führende Prinzip der Leitung der Partei ihre Kollektivität ist. Noch in den Jahren vor der Revolution bezeichnete Lenin das Zentralkomitee der Partei als ein Kollektiv von Führern, als einen Wächter und Interpreten der Parteiprinzipien. »... über die Prinzipien der Partei«., bemerkte Lenin, »wacht von Parteitag zu Parteitag das Zentralkomitee und interpretiert sie.«6)

Als er die Rolle des Zentralkomitees der Partei und seiner Autorität unterstrich, bemerkte Wladimir Iljitsch: »Unser ZK hat sich zu einer streng zentralisierten Gruppe herausgebildet, die hohe Autorität genießt ...«7)

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Zu Lebzeiten Lenins war das Zentralkomitee ein echter Ausdruck der kollektiven Führung der Partei und des Landes. Als marxistisch-revolutionärer Kämpfer, der in prinzipiellen Fragen stets unbeugsam war, hat Lenin den Mitarbeitern niemals seine Ansichten gewaltsam aufgedrängt. Er überzeugte, geduldig erläuterte er anderen seine Meinung. Lenin wachte stets aufmerksam darüber, daß die Normen des Parteilebens verwirklicht, das Statut der Partei eingehalten, die Parteitage und die Plenartagungen des Zentralkomitees zum entsprechenden Termin einberufen wurden.

Neben allen großen Taten, die Lenin für den Sieg der Arbeiterklasse und der werktätigen Bauernschaft, für den Sieg unserer Partei und die Verwirklichung der Ideen des wissenschaftlichen Kommunismus vollbrachte, fand sein Scharfsinn auch einen Ausdruck darin, daß er rechtzeitig bei Stalin eben diese negativen Eigenschaften aufdeckte, die später zu schweren Folgen führten. In der Sorge um das weitere Schicksal der Partei und des Sowjetstaates gab W. I. Lenin eine vollkommen richtige Charakterisierung Stalins, wobei er darauf verwies, daß man die Frage der Ablösung Stalins von der Funktion des Generalsekretärs im Zusammenhang damit erwägen sollte, daß Stalin zu grob sei, nicht die richtige Haltung zu seinen Genossen habe, launisch sei und seine Macht mißbrauche.

Im Dezember 1922 schrieb Wladimir Iljitsch in einem Brief an den Parteitag: »Gen. Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermeßliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, daß er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen.«8

Dieser Brief - ein politisches Dokument von erheblichem Gewicht, das in der Parteigeschichte als »Testament Lenins« bekannt ist - wurde den Delegierten des XX. Parteitages ausgehändigt. Sie haben ihn gelesen und werden ihn gewiß noch wiederholt lesen. Überdenken Sie die einfachen Worte Lenins, in denen die Sorge Wladimir Iljitschs um die Partei, um das Volk, den Staat und die weitere Richtung der Parteipolitik Ausdruck findet.

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Wladimir Iljitsch sagte:

»Stalin ist zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte, und jemand anderen an diese Stelle zu setzen, der sich in jeder Hinsicht von Gen. Stalin nur durch einen Vorzug unterscheidet, nämlich dadurch, daß er toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger launenhaft usw. ist.«9

Dieses Leninsche Dokument wurde den Delegationen zum XIII. Parteitag10 zur Kenntnis gegeben, die die Frage der Ablösung Stalins vom Posten des Generalsekretärs besprachen. Die Delegationen sprachen sich für das Verbleiben Stalins auf diesem Posten aus, wobei sie erwarteten, daß er die kritischen Bemerkungen Wladimir Iljitschs beherzigen würde und seine Fehler, die Lenins Bedenken ausgelöst hatten, zu überwinden vermochte.

Genossen ! 

Der Parteitag sollte sich mit zwei neuen Dokumenten vertraut machen, die die Einschätzung Stalins vervollständigen, die von Lenin in seinem politischen »Testament« vorgenommen wurde. Diese Dokumente - das sind ein Brief von Nadeshda Konstantinowna Krupskaja an Ka-menew, der damals Vorsitzender des Politbüros war, sowie ein persönlicher Brief Wladimir Iljitsch Lenins an Stalin.

Ich verlese diese Dokumente:

 

1. Der Brief von N. K. Krupskaja:

»Lew Borissowitsch, wegen des kurzen Briefes, den mir Wlad. Iljitsch mit Erlaubnis der Ärzte diktiert hat, erlaubte sich Stalin mir gegenüber gestern einen groben Ausfall. Ich bin nicht erst seit gestern in der Partei. In all den dreißig Jahren habe ich von keinem Genossen ein einziges grobes Wort gehört. Die Interessen der Partei und Iljitschs sind mir nicht weniger teuer, als sie es Stalin sind. 

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Ich brauche jetzt ein Maximum an Selbstbeherrschung. Worüber man mit Iljitsch sprechen kann und worüber nicht, weiß ich besser als jeder Arzt, denn ich weiß, was ihn aufregt und was nicht, auf alle Fälle weiß ich das besser als Stalin. Ich wende mich an Sie und an Grigori11) als nahe Genossen von W. I. und bitte darum, mich vor grober Einmischung in mein persönliches Leben zu schützen, vor unwürdigen Beschimpfungen und Drohungen. An dem einstimmigen Beschluß der Kontrollkommission, mit der Stalin zu drohen sich erlaubte, zweifle ich nicht. Ich habe aber weder Kraft noch Zeit, mich mit diesen dummen Intrigen zu beschäftigen. Ich bin ein lebendiger Mensch, und meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt.

N. Krupskaja«12 

 

Diesen Brief schrieb Nadeshda Konstantinowna am 23. Dezember 1922. Nach Ablauf von zweieinhalb Monaten, im März 1923, schickte Lenin an Stalin folgenden Brief:

 

2. Brief W. I. Lenins:

»An Genossen Stalin.

Streng vertraulich.

Persönlich

Kopie an die Genossen Kamenew und Sinowjew

Werter Gen. Stalin!

Sie besaßen die Grobheit, meine Frau ans Telefon zu rufen und sie zu beschimpfen. Obwohl sie sich Ihnen gegenüber bereit erklärt hat, das Gesagte zu vergessen, haben Sinowjew und Kamenew diese Tatsache durch1 sie selbst erfahren. Ich habe nicht die Absicht, so leicht zu vergessen, was man mir angetan hat, und selbstverständlich betrachte ich das, was man meiner Frau angetan hat, als etwas, das auch mir angetan wurde. Deshalb bitte ich Sie zu erwägen, ob Sie bereit sind, das Gesagte zurückzunehmen und sich zu entschuldigen, oder ob Sie es vorziehen, die Beziehungen zwischen uns abzubrechen.

Hochachtungsvoll Lenin

5. März 23«13

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Genossen ! 

Ich werde diese Dokumente nicht kommentieren. Sie sprechen für sich selbst. Wenn Stalin sich zu Lebzeiten Lenins auf diese Art verhalten konnte, sich gegenüber Nadeshda Konstantinowna Krupskaja so benehmen konnte, die in der Partei bekannt ist und als treue Gefährtin Lenins und aktive Kämpferin um die Sache unserer Partei von Anfang an hochgeschätzt wird, so kann man sich vorstellen, wie Stalin andere Menschen behandelte. Diese seine negativen Eigenschaften entwickelten sich immer mehr und nahmen in den letzten Jahren einen absolut unerträglichen Charakter an.

Wie spätere Vorkommnisse bewiesen, war Lenins Besorgnis begründet: In der ersten Zeit nach Lenins Tod hielt sich Stalin noch an seine Weisungen, jedoch später begann er, die ernsten Warnungen von Wladimir Iljitsch auf die leichte Schulter zu nehmen.

Wenn wir die von Stalin bei der Leitung von Partei und Staat angewandte Praxis analysieren, wenn wir über alles nachdenken, was Stalin zugelassen und was er sich geleistet hat, dann überzeugen wir uns davon, daß Lenins Befürchtungen berechtigt waren. Stalins negative Eigenschaften, die zu den Zeiten Lenins erst im Keime vorhanden waren, entwik-kelten sich während der letzten Jahre zu einem schweren Mißbrauch der Macht, was unserer Partei unermeßlichen Schaden zufügte.

Wir müssen diese Frage ernsthaft durchdenken und richtig analysieren, um jede Möglichkeit einer Wiederholung, in welcher Form auch immer, dessen auszuschließen, was zu Lebzeiten Stalins geschah, der Kollektivität in der Führung und in der Arbeit absolut nicht ertrug, der sich brutale Gewalt gegenüber allem erlaubte, was sich nicht nur gegen ihn richtete, sondern was ihm, bei seiner launenhaften und despotischen Neigung, seinen Konzeptionen zu widersprechen schien. Stalin handelte nicht mit dem Mittel der Überzeugung, der Erklärung, der geduldigen Arbeit mit den Menschen, sondern durch das Aufzwingen seiner Konzeptionen, indem er die absolute Unterordnung unter seine Meinung forderte. Wer sich dem entgegenstellte oder versuchte, seinen eigenen Gesichtspunkt und die Richtigkeit seines

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Standpunktes zu begründen, war zum Ausschluß aus dem Leitungskollektiv und in der Folge zur moralischen und physischen Vernichtung verurteilt. So war es insbesondere im Zeitraum nach dem XVII. Parteitag, als dem Despotismus Stalins viele ehrliche, der Sache des Kommunismus ergebene, hervorragende Parteifunktionäre und einfache Parteiarbeiter zum Opfer fielen.14

Es gilt festzustellen, daß die Partei einen ernsthaften Kampf gegen die Trotzkisten, die Rechtsabweichler, die bürgerlichen Nationalisten führte, daß sie alle Feinde des Leninismus ideologisch zerschlug. Dieser ideologische Kampf wurde erfolgreich geführt, in seinem Verlauf kräftigte und stählte sich die Partei noch mehr. Hier spielte Stalin eine positive Rolle.

Die Partei führte einen großen ideologisch-politischen Kampf gegen diejenigen in ihren Reihen, die antileninistische Thesen aufstellten, die eine der Partei und der Sache des Sozialismus fremde politische Linie repräsentierten. Das war ein hartnäckiger und schwerer, aber notwendiger Kampf, da die politische Linie sowohl des trotzkistisch-sinowjewschen Blocks als auch der Bucharinleute im Grunde genommen zur Wiedererrichtung des Kapitalismus, zur Kapitulation vor der Weltbourgeoisie geführt hätte. Stellen wir uns vor, was geschehen wäre, wenn in den Jahren 1928/1929 bei uns die Linie der politischen Rechtsabweichung gesiegt hätte, die Orientierung auf die »Kattun-Industrialisierung«15, auf die Kulaken u. ä. Wir hätten keine mächtige Schwerindustrie, keine Kolchose, wir wären der kapitalistischen Einkreisung gegenüber ohne Verteidigung und machtlos gewesen.

Dies ist der Grund dafür, daß die Partei einen unbarmherzigen ideologischen Kampf geführt hat, allen Parteimitgliedern und den parteilosen Massen erklärte, worin die Schädlichkeit und Gefährlichkeit der antileninistischen Auftritte der trotz-kistischen Opposition und der Rechtsopportunisten bestanden. Und diese gewaltige Arbeit zur Erläuterung der Parteilinie ist erfolgreich gewesen: Sowohl die Trotzkisten als auch die Rechtsopportunisten wurden politisch isoliert, die überwältigende Mehrheit der Partei unterstützte die Leninsche Linie, und der Partei gelang es, die arbeitenden Massen zur Verwirklichung der Leninschen Parteilinie, für den Aufbau des Sozialismus zu mobilisieren und zu organisieren.

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Beachtung verlangt der Umstand, daß sogar im Verlauf des erbitterten ideologischen Kampfes gegen die Trotzkisten, Sinowjewleute, Bucharinleute und andere keine extrem repressiven Mittel angewandt wurden. Der Kampf vollzog sich auf ideologischem Boden. Doch nach Ablauf einiger Jahre, als der Sozialismus in unserem Lande eigentlich schon errichtet war, als die Ausbeuterklassen im Prinzip liquidiert waren, als sich die soziale Struktur der sowjetischen Gesellschaft in radikaler Art verändert hatte, als sich die gesellschaftliche Basis für parteifeindliche politische Richtungen und Gruppierungen gewaltig verengt hatte, als die ideologischen Gegner der Partei schon seit langem politisch zerschlagen waren, da begannen gegen sie die Repressalien.

Und gerade in dieser Periode (der Jahre 1935 bis 1938) kam es zur Praxis der massenweisen Repressalien von Staats wegen, zuerst gegenüber den Gegnern des Leninismus: gegenüber den Trotzkisten, Sinowjew-Leuten und Bucharin-Leuten, die schon seit langem politisch von der Partei zerschlagen waren, später auch gegenüber vielen ehrlichen Kommunisten, gegenüber denjenigen Parteikadern, die die schwere Last des Bürgerkrieges sowie der ersten und schwierigsten Jahre der Industrialisierung und Kollektivierung auf ihren Schultern getragen hatten, die aktiv gegen die Trotzkisten und Rechtsabweichler um eine leninistische Parteilinie gekämpft hatten.

 

Stalin führte den Begriff »Volksfeind« ein. Dieser Terminus befreite umgehend von der Notwendigkeit, die ideologischen Fehler eines oder mehrerer Menschen, gegen die man polemisiert hatte, nachzuweisen; er erlaubte die Anwendung schrecklichster Repressionen, wider alle Normen der revolutionären Gesetzlichkeit, gegen jeden, der in irgend etwas mit Stalin nicht übereinstimmte, der nur gegnerischer Absichten verdächtigt, der einfach verleumdet wurde. 

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Dieser Begriff »Volksfeind« schloß im Grunde genommen schon von sich aus die Möglichkeit irgendeines ideologischen Kampfes oder der Darlegung der eigenen Ansichten zu dieser oder jener Frage auch praktischen Inhalts aus. Als hauptsächlicher und im Grunde genommen einziger Schuldbeweis wurde entgegen allen Normen der heutigen Rechtslehre das »Geständnis« der Verurteilten betrachtet, wobei dieses »Bekenntnis« - wie eine spätere Überprüfung ergab - durch physische Mittel der Beeinflussung des Angeklagten erreicht wurde.

Das führte zu einer krassen Vergewaltigung der revolutionären Gesetzlichkeit, dazu, daß viele total Unschuldige, die in der Vergangenheit die Parteilinie verteidigt hatten, zu Opfern wurden.

Man muß feststellen, daß es gegenüber denjenigen, die seinerzeit gegen die Parteilinie auftraten, oft keine ausreichend ernsthaften Grundlagen gab, um sie physisch zu vernichten. Um die physische Vernichtung solcher Personen zu begründen, wurde eben die Formel vom »Volksfeind« eingeführt.

Schließlich hatten viele Menschen, die später vernichtet wurden, weil sie als Feinde der Partei und des Volkes betrachtet wurden, zu Lebzeiten W. I. Lenins mit diesem zusammengearbeitet. Einige dieser Personen hatten auch zu Lenins Zeiten Fehler begangen, doch ungeachtet dessen zog Lenin aus ihrer Arbeit Nutzen, korrigierte sie, strebte danach, daß sie im Rahmen der Partei verblieben, weiter mit ihm zusammengingen.

Im Zusammenhang damit sollen die Parteitagsdelegierten mit einer bisher unveröffentlichten Bemerkung W. I. Lenins vertraut gemacht werden, die er im Oktober 1920 an das Politbüro des ZK richtete. Bei der Präzisierung der Aufgaben der Kontrollkommission schrieb Lenin, daß man diese Kommission »zu einem echten Organ des Gewissens von Partei und Proletariat« machen sollte. »Als besondere Aufgabe wird der Kontrollkommission empfohlen«, heißt es in dieser Notiz, »die Vertreter der sogenannten Opposition, die in Zusammenhang mit den Mißerfolgen in ihrer Partei- oder

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Staatskarriere eine seelische Krise durchmachen, aufmerksam und differenziert, bisweilen sogar direkt wie Kranke zu behandeln. Man muß sich bemühen, sie zu beruhigen, ihnen die Sache kameradschaftlich erklären, ihnen (nicht auf dem Wege von Anordnungen) eine Arbeit beschaffen, die ihren psychologischen Besonderheiten entspricht; dem Orgbüro des ZK sind zu diesem Punkt Ratschläge und Hinweise zu geben, usw.«16

Alle wissen gut, wie unversöhnlich Lenin gegenüber den ideologischen Gegnern des Marxismus war, gegenüber denen, die von der richtigen Parteilinie abwichen. Zugleich jedoch forderte Lenin, wie man aus dem verlesenen Dokument und aus der gesamten Praxis seiner Führung der Partei ersehen kann, ein äußerst einfühlsames, parteiliches Verhältnis . zu den Menschen, die Schwankungen an den Tag legten oder von der Parteilinie abwichen, die man aber auf den parteilichen Weg zurückführen korinte. Lenin gab den Rat, solche Menschen geduldig zu erziehen, ohne extreme Mittel anzuwenden.

Darin äußerte sich die Klugheit Lenins beim Herangehen an die Menschen, bei der Arbeit mit den Kadern.

Ein vollkommen anderes Verhältnis zu den Menschen war für Stalin charakteristisch. Stalin waren die Leninschen Eigenschaften völlig fremd; die geduldige Arbeit mit den Menschen, ihre beharrliche und mühselige Erziehung, die Fähigkeit, Menschen zu gewinnen nicht auf dem Wege des Zwangs, sondern auf dem Wege ihrer ideologischen Beeinflussung durch das gesamte Kollektiv. Er wies die Leninsche Methode der Überzeugung und Erziehung zurück, ging von der Position des ideologischen Kampfes über den Weg administrativer Gewalt auf den Weg massenhafter Repressalien, den Weg des Terrors. Er machte in zunehmendem Maße und immer hartnäckiger die Straforgane zu seinem Werkzeug, wobei er oft alle bestehenden Normen der Moral und die sowjetischen Gesetze mit Füßen trat.

Die Willkür einer einzelnen Person regte auch andere zur Willkür an und ermöglichte sie. Massenverhaftungen und Deportationen vieler tausend Menschen, Vollstreckungen ohne Gerichtsurteil und ohne normale Untersuchung riefen einen Zustand der Unsicherheit und der Furcht, sogar der Verzweiflung hervor.

Das diente natürlich nicht dem Zusammenschluß der Reihen der Partei und aller Schichten des werktätigen Volkes, sondern zog im Gegenteil die Liquidierung, den Parteiausschluß ehrlicher Mitarbeiter, die aber Stalin unbequem waren, nach sich.

Unsere Partei kämpfte um die Verwirklichung der Leninschen Pläne zur Errichtung des Sozialismus. Das war ein ideologischer Kampf. Wenn im Verlauf dieses Kampfes die Leninschen Grundsätze eingehalten, wenn parteiliche Prinzipienfestigkeit geschickt mit einem einfühlsamen und sorgsamen Verhältnis zu den Menschen verbunden worden wäre, wenn versucht worden wäre, sie auf unsere Seite zu ziehen, anstatt sie zu verstoßen und zu verlieren - dann wäre es gewiß bei uns nicht zu einer so brutalen Verletzung der revolutionären Gesetzlichkeit, zur Anwendung von Terrormethoden gegenüber vielen Tausenden Menschen gekommen. Außerordentliche Mittel wären dann nur gegenüber denjenigen angewandt worden, die tatsächlich Verbrechen gegen die Sowjetordnung begangen hätten.

Erinnern wir uns an einige historische Tatsachen.

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