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ERSTER TEIL     Die Wissenschaft als Sachverhalt

 

 

2  Die Geschichte läuft schneller

Closets-1970

 

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So unübersichtlich und ungeordnet die Veränderung sein mag, die der Fortschritt bringt, ist sie doch nicht gänzlich zufallsbedingt. Sie geht vorwiegend in eine bestimmte Richtung. Und zwar in Abhängigkeit von Wissenschaft und Technik, also gekennzeichnet durch die Mittel und nicht durch Ziele. So gesehen kommt eine Evolution dabei heraus, und in Erweiterung unserer Gleichung können wir schreiben:

Wissenschaft = Veränderung = Evolution

Die Menschheit hat stets ein gewisses Maß von Veränderung erlebt. Kulturen, Moden, Moralbegriffe, Religionen haben einander ständig abgelöst. Aber ihr Aufeinanderfolgen ergab keine Weiterentwicklung. Morgen war anderswo, nicht >weiter vorne<. Niemand konnte genau die Richtung solcher Entwicklungen angeben. Noch heute vermag ja niemand auf zwanzig Jahre im voraus zu sagen, wie die Sitten, Stile und Institutionen aussehen werden.

Dagegen kann man ganz unbedenklich die Prophezeiung wagen, daß die Maschinen einen höheren Automatisierungsgrad bzw. eine größere Rechenkapazität haben werden, daß der Mensch mit ihrer Hilfe schneller reisen, einfacher über weite Entfernungen in Kommunikation treten, mit einem höheren Wirkungsgrad arbeiten wird, daß Krankheiten, die heute noch tödlich sind, von neuen Medikamenten besiegt sein werden usw.

Warum lassen sich die auf der Wissenschaft beruhenden Veränderungen voraussagen, die übrigen dagegen nicht? Die Antwort ist einfach. Im ersten Falle ist die Arbeit kumulativ, im zweiten nicht. Rembrandt, Laotse, Victor Hugo haben Werke hinterlassen. Aber ihre Methoden konnten sie nicht zur Fortführung weitergeben. Also konnte auch niemand ihre Arbeit vervollkommnen; zu viele individuelle, nicht übertragbare Werte steckten darin. Von Newton, Fresnel oder Maxwell dagegen gab es nach ihrem Tode Arbeiten, auf die unmittelbar aufgebaut werden konnte, weil sie sich nach einer übernehmbaren Methode mit einem Gegenstand beschäftigt hatten, der auch ohne sie da war und blieb.

Wenn eine Generation das Werk der vorangegangenen fortsetzt, so verändert sich die Menschheit nicht mehr zufallsbedingt, sondern entwickelt sich. Und per definitionem ist diese Flucht nach vorne durch nichts aufhaltbar, weil das >Vorne< unendlich groß ist - wie die Welt des Dinglichen.

Die objektive Erkenntnis

Der Grund für diese Bewegung nach vorne liegt in einer für die moderne Welt bezeichnenden Denkweise: dem Streben nach objektiver Erkenntnis. Dieses Streben ist das eigentliche Merkmal der Zivilisation unserer Zeit und unterscheidet sie von allen, die vorher waren.

Der Begriff >Zivilisation< ist schwer zu umreißen. Der Larousse hält sich sehr zurück, wie es einem Lexikon gemäß ist: »Gesamtheit der für das geistige, künstlerische, sittliche und materielle Leben eines Landes oder einer Gesellschaft kennzeichnenden Kriterien.« Das ist recht unscharf.

Immerhin wird ein Aspekt deutlich: der Begriff >Zivilisation< beschreibt eine bestimmte Auffassung von der menschlichen Existenz, wie sie sich in einem komplexen System von Werten, Verhaltensweisen, Institutionen und Beziehungen ausdrückt. Der Mensch ist bemüht, sich in eine Umwelt einzufügen, die ihn ständig mit Fragen konfrontiert. Diese Situation wird unerträglich, wenn er mit seinen Antworten nicht folgen kann oder wenn ihm diese Antworten das Unbekannte, das Absurde oder die Vereinsamung erst bewußt machen. Die Zivilisation nun stellt dem einzelnen fertige Antworten zur Verfügung. Teilantworten sind es in der modernen, umfassende Antworten waren es in der traditionellen Gesellschaft. Die ersteren liefern Erklärungen, die letzteren boten Sinngebungen. Es ist immer gefährlich, mit der Sprache und Vorstellungswelt des 20. Jahrhunderts die Realität einer zurückliegenden Epoche erfassen zu wollen. Allzu leicht läßt man Menschen moderne Gedanken denken, auf die sie niemals gekommen wären. Wir wollen also nur die Unterschiede aufzeigen, ohne die alten Zivilisationen damit in ihrer Vielfalt zu erfassen. In jedem Falle boten sie zugleich eine Vorstellung von der sichtbaren Natur und ein Bild von der Bestimmung des Menschen.

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Die Chaldäer konnten das Schauspiel der Welt ohne Erstaunen betrachten: ihre Erde hatte einen eindeutigen Mittelpunkt, den >Großen Berg<, und war umgeben vom >Großen Fluß<, dem Ozean. Auf dem anderen Ufer standen dicke Mauern, die das erzene Himmelsgewölbe trugen. In dieses Weltbauwerk war die religiöse Vorstellungswelt integriert; der >Große Berg< zum Beispiel barg in seinen Hängen das Totenreich.

Die Ägypter stellten sich die Welt als eine Art riesiger, länglicher Kiste vor, was für ein Volk, das an den Ufern des Nils lebte, wohl nahelag. Die Erde war der Boden, der Himmel der Deckel. Vier Berge an den vier Ecken trugen den Himmel, an dem die Sterne wie Lampions hingen und am Abend aufleuchteten. Dies war schon weniger eine materiell vorstellbare als vielmehr eine geistige Konstruktion. Die Erde war umgeben vom Fluß Ozean, auf dem der Sonnengott in seiner Barke dahinglitt.
»Oh Fruchtbarkeit des Menschengeistes, Unendlichkeit des Universums!« heißt es bei Rimbaud ...

 

Die Welt als Bedeutung

Zwischen solchen Systemen und den von der Wissenschaft angebotenen besteht in doppelter Hinsicht ein grundsätzlicher Unterschied. Die einen sind für den Menschen vorstellbar, die anderen sind reine mathematische Modelle. Die einen haben eine Bedeutung, die anderen sind vollkommen neutral. Zweierlei ist also für die alten Kulturen kennzeichnend:

Erstens: Der Mensch kann sich von den natürlichen Abläufen ein Bild machen. Die Erklärungen sind leicht zu begreifen, die Größenordnungen bleiben im Bereich des Vorstellbaren. Zweitens: Diese Welt hat etwas zu bedeuten. Einleuchtende Beziehungen, die sich mit sittlichen und religiösen Werten besetzen lassen, verbinden das Universum und seine Bewohner. Die Sonne, der Mond, die Erde, die Planeten haben eine göttliche Realität. Ihr Studium ist eng mit dem der Theologie verknüpft. Der Naturwissenschaftler dagegen bemerkt bei seinen Beobachtungen nur physikalische Gesetze, die keinen Bezug auf das Sein des Menschen haben. Alle diese traditionellen Vorstellungen sind außerordentlich beruhigend, selbst wenn sie, wie die präkolumbianischen Mythen, ein apokalyptisches Weltbild liefern. Sie können sich nicht >weiterentwickeln<, weil sie an unverrückbare Leitbilder und Werte gebunden sind. Sie prägen ein zutiefst konservatives Verhalten. Wer sie in Frage stellt, wird von der Gesellschaft als Feind behandelt.

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Entdeckungen können nur aus einer Eingebung herrühren, die ein einzelner hat, oder aus empirischem Vervollkommnen, nicht jedoch aus einer kollektiven, systematischen Bemühung.

Die Autorität, die man überall dem an Lebensjahren Überlegenen zugesteht, ist bezeichnend für diese konservative Einstellung. >Laßt uns die Alten befragen< - diese Reaktion ist allen Gesellschaften mit tradierter Ordnung gemeinsam, sobald es um schwerwiegende Entscheidungen geht. Für eine Welt mit stabilem Gleichgewicht ein durchaus normales Verhalten. Die moderne Welt dagegen verläßt sich immer mehr auf die Jugend, weil der ständige Wandel die Erfahrung in die Nähe greisenhafter Unbeweglichkeit gerückt hat. Die Zukunft hat mehr Gewicht als die Vergangenheit, seit das verstehbare Universum an die Stelle des bedeutungtragenden Universums getreten ist.

Mehr als zwanzig Jahrhunderte hat diese Mutation gedauert von den ersten Ahnungen der Griechen bis zum heutigen wissenschaftlichen Denken, und während dieser Zeit hat mehr als ein Galilei abschwören müssen. Um das zukünftige Los der Menschheit ging es bei diesem Kampf. Fünf Jahrhunderte v. Chr. verurteilte diese Menschheit Aristarchos von Samos, weil er zu behaupten wagte, die Erde, die Heimat des Zeus, kreise um die Sonne. Zwanzig Jahrhunderte später bemühte sie sich, die kopernikanische Vorstellung von einem Universum, das nicht den Menschen als Geschöpf Gottes in den Mittelpunkt stellte, nicht wahrhaben zu müssen. Heute ist sie bereit, dem Nobelpreisträger Jacques Monod zuzustimmen, wenn dieser erklärt:

»Die Wissenschaft weiß nichts von Werten; das Weltbild, das sie uns heute anbietet, ist frei von jeder Ethik. Aber die Forschung stellt selber eine Askese dar und impliziert notwendigerweise ein Wertsystem, eine >Ethik der Erkenntnis<, deren Gültigkeit sie aber nicht beweisen kann ... Das einzige Ziel, der höchste Wert, das >höchste Gut< für die Ethik der Erkenntis ist zugegebenermaßen nicht das Glück der Menschheit, geschweige denn ihre weltliche Macht oder ihr Lebensgenuß, ja, nicht einmal das sokratische >Erkenne dich selbst<, sondern die objektive Erkenntnis als solche.«

Die Realität, gleich welcher Art, bekommt jetzt vom menschlichen Geist das Heimatrecht zugesprochen. Der Beobachter kann nichts daran ändern, er kann nur sehen und aufzeichnen. Die Menschheit ist offensichtlich bereit, ihr Schicksal von einer außerhalb von ihr zu suchenden Wahrheit bestimmen zu lassen. Sie unterwirft sich der rationalen Ordnung der Welt und setzt sich ein neues Ziel: die logische Struktur des Unbekannten zu entdecken.

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»Die Wissenschaft basiert selber auf einer unbewiesenen Überzeugung: daß nämlich jedem Naturphänomen eine bestimmte Ordnung der Dinge zugrunde liege, und daß diese Ordnung durch den Einsatz der Logik adäquat darstellbar sei«, schreibt Dennis Gabor. Im Gegensatz zu den Zivilisationen, die Antworten anboten, um Fragen gar nicht erst aufkommen zu lassen, wertet die Moderne durchgehend die Fragen auf. Ein schwindelerregender Weg! Und ein gefährliches Wagnis: denn schon jetzt ist dem Menschen dabei unbemerkt sehr viel verlorengegangen. Er hat keine Heimat mehr.

Die Welt ist unabhängig von ihm da, sie nimmt ihn gar nicht zur Kenntnis. Sie existierte vor seiner Zeit und wird ihn überleben mit der ganzen Gefühllosigkeit der mathematischen Gesetze, denen sie gehorcht. Die Welt hat keine greifbare Evidenz mehr. Nichts, was der Mensch unmittelbar wahrnimmt, darf er deshalb auch für wahr halten. Die Wahrheit flüchtet in eine tieferliegende Ordnung. Die mit den Sinnen erfaßbaren Phänomene sind nur eine trügerische Maske vor dem Antlitz der Wahrheit. Der Mensch ist zu einem Gegenstand der Beobachtung neben anderen geworden. Einst hatte er ein Schicksal auszufüllen, mit seinem Pfunde zu wuchern. Jetzt ist er nur noch ein zu erforschendes Phänomen. Nackt und bloß, auf sich allein gestellt in einem Universum, dem er gleichgültig ist, kann er seine Evolution beginnen.

Eine leere, kalte, >seelenlose< Welt kann nicht gemütlich sein. Die früheren Zivilisationen entsprachen einem tiefen Bedürfnis, das jetzt nicht mehr befriedigt wird. 68 Prozent aller Franzosen sind der Meinung, man brauche eine Religion, um glücklich zu sein. Nur 16 Prozent sind der Auffassung, der Fortschritt der Wissenschaft sei dem Glauben förderlich. Ein bezeichnendes Zahlenverhältnis. Aus dem Menschen ist ein Forscher geworden. Was wird er entdecken? Die Gewißheiten, die das Bewußtsein erhofft, oder neue Fragestellungen, an denen sich die Geister wiederum scheiden werden? Jedem einzelnen bleibt es überlassen, sich darauf einzustellen. Unsere fernen Vorfahren mußten sich damit abfinden, daß die Erde um die Sonne kreist. Unsere Urgroßeltern hatten den Schock der Abstammungslehre zu verdauen. Unsere Eltern entdeckten voller Schrecken die Psychoanalyse. Vielleicht werden unsere Kinder das Vorhandensein bewußten Lebens auf anderen Himmelskörpern zur Kenntnis nehmen müssen.

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Vielleicht aber auch ganz andere Sachverhalte, die wir uns nicht einmal ausmalen können - und trotzdem müssen die Gemüter darauf vorbereitet sein. Vom unbegreiflichen Phänomen der zwei Unendlichen bis zu den beunruhigenden Verheißungen der Neurochemie muß alles akzeptiert werden. Die Wahrheit der Wissenschaft rechtfertigt sich aus sich selber.

 

Von der Erkenntnis zur Macht

Wissen führt selbstverständlich zur Macht. Die Suche nach der objektiven Erkenntnis verändert unmittelbar die Geister und mittelbar die Umwelt. Wie funktioniert dieser Mechanismus? Am Anfang steht der Forschende, der begreifen will, der die Erkenntnis um der Erkenntnis willen sucht. Er entdeckt einen bis dahin unbekannten Zusammenhang. In einer zweiten Etappe (die es nicht immer geben muß!) werden diese Ergebnisse in andere Forschungen integriert und verändern die Welt.

In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts wollten die Physiker wissen, ob das Licht Welle oder Teilchen sei. Louis de Broglie lieferte mit seiner Wellenmechanik die Antwort: jedes Teilchen hat eine ihm zugehörige Welle. Es gibt also eine elektronische Welle und eine Lichtwelle. Der Mensch war in der Erkenntnis einen Schritt weitergekommen, und Knoll und Ruska konnten das Elektronenmikroskop entwickeln. Die Beobachtung drang tiefer in die belebte Welt und in die tote Materie ein. Vom Kinderlähmungsimpfstoff bis zur Elektronik reichten die Folgen und gaben der Menschheit völlig neue Möglichkeiten.

Zu Beginn des Jahrhunderts bemühte sich Einstein (wie zahlreiche andere Physiker), den geheimnisvollen Michelson-Versuch zu erklären. Das schien nur dann möglich, wenn man davon ausging, daß entweder die Erde stillstehe oder daß die Geschwindigkeiten sich nicht addieren, wenn zwei Gegenstände sich aufeinander zubewegen. Beide Möglichkeiten waren unannehmbar. Die Physik hatte sich festgefahren. Einstein brachte sie mit seiner Relativitätstheorie wieder in Bewegung. Er dachte dabei, wie er später erklärte, durchaus nicht daran, daß seine Gleichsetzung von Materie und Energie jemals praktische Auswirkungen haben könnte. Die Erkenntnis ist ein Zeitzünder ... In diesem Falle brachte sie die Menschheit in das Atomzeitalter.

Natürlich vereinfachen wir das Schema gröblich. Alle folgenden Seiten werden es jeweils ein wenig mehr differenzieren, und zwar bis zur Uninterpretierbarkeit. Aber die Grundtatsache bleibt. Die wissenschaftliche Forschung ist der Motor der Evolution, die das Menschengeschlecht erfaßt hat.

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Die Dampfmaschine

Aus einigem Abstand erscheint alles ganz einleuchtend. Aber die Geschichte zeigt uns, daß die Verkettung unbemerkt blieb. Die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts verdankt ja der reinen Wissenschaft sehr wenig. Sie hat sich aus einer einzigen Erfindung entwickelt: der Dampfmaschine.

Fertigung, Bau, Transport - zu jeder Arbeit ist eine bestimmte Energieaufwendung erforderlich. Der technische Fortschritt konnte sich mit der Muskelkraft nicht zufriedengeben. Auch die Kraft des Windes und des Wassers reichte nicht aus. Erst mit der Dampfmaschine konnte das Maschinenzeitalter beginnen, und zwar bedurfte es dazu auf längere Zeit keiner weiteren wissenschaftlichen Entdeckungen.

Die industrielle Entwicklung war das Werk von einzelnen, die meistens sogar Autodidakten waren, keine Wissenschaftler. Ort der Handlung war die Werkstatt oder die Fabrik, nicht das Forschungslaboratorium. Vergeblich würde man am Beginn der Eisenbahn-, der Dampfschiff- oder der Maschinenbauentwicklung einen echten Fortschritt der Erkenntnis suchen. Die Universität hielt sich fast ausnahmslos aus diesem Abenteuer heraus.

Bis zum Zweiten Weltkrieg blieb die Forschung eine rein intellektuelle Angelegenheit. Ein Luxus, den sich die Gesellschaft leistete. Der Wissenschaftler hatte manche Züge mit dem Künstler gemein. Er trieb Forschungen, die nicht auf einen Gewinn gerichtet waren, auf Kosten eines öffentlichen oder privaten Mäzens. Trotz einiger Ausnahmen von dieser Regel war eine Verbindung zwischen Wissenschaft und Technik nicht erkennbar.

Es gab zwar seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Erfindungen, die auf der wissenschaftlichen Forschung aufbauten; Rundfunk und Chemie sind Kinder des Labors. Aber die geistige Vaterrolle des Gelehrten gegenüber dem Ingenieur blieb im Dunkeln. Erst zwischen den Weltkriegen wurde diese Beziehung deutlich. Die Überlegenheit der deutschen chemischen Industrie beruhte ganz offensichtlich auf einem wissenschaftlichen Vorsprung. Trotzdem unternahmen die Regierungen der 3. Republik in Frankreich nichts, um die Forschung anzukurbeln. Und die Wissenschaftler selber waren von einer solchen Nützlichkeitsperspektive für ihre Arbeit auch durchaus nicht angetan.

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Einer der Väter der Kernphysik, Lord Rutherford, entrüstete sich bis an sein Lebensende darüber, daß man sich nicht gescheut hatte, seine Forschungsergebnisse zu industriellen Zwecken zu verwenden. Denn die Staaten hielten sich Gelehrte, wie Millionäre Tänzerinnen aushalten. Fürs Prestige.

 

Das Projekt Manhattan: F & E

Diese Einstellung blieb bis zum Zweiten Weltkrieg unverändert. 1940 flogen Hermann Görings Geschwader gegen England und verloren die Luftschlacht. Die Öffentlichkeit meinte, das sei der Tapferkeit der britischen Piloten zu verdanken. Das war sicherlich nicht falsch. Die Fachleute waren sich jedoch darüber klar, daß der Einsatz des Radar für den Sieg ausschlaggebend gewesen war. Das Radar aber war das gemeinsame Werk von Wissenschaftlern und Ingenieuren. Die Wissenschaft hatte eine Schlacht gewonnen und gewann dann den ganzen Krieg.

Nationalsozialismus und Faschismus empfanden tiefe Verachtung für die Intellektuellen im allgemeinen und für die Gelehrten im besonderen. Trotz seiner für einen Halbgebildeten bezeichnenden Bewunderung für die Wissenschaft umgab sich Hitler mit einem ganzen Hofstaat von Scharlatanen. Lange schwankte er zwischen zwei Weltsystemen, eines so abwegig wie das andere: der Welteislehre des Hanns Hörbiger und der Hohlwelttheorie des Peter Bender. Es war deshalb durchaus folgerichtig, daß er die <wissenschaftliche> Waffe schlechthin, die Atombombe, nicht bekam.

Die bedeutendsten Physiker waren vor den Verfolgungen aus Europa geflohen. Von den wenigen in Deutschland zurückgebliebenen lehnten viele es ab, ihr Wissen in den Dienst des Führers zu stellen. Einstein, Fermi, Szilard und etliche ihrer Kollegen kamen mit leeren Händen in den Vereinigten Staaten an. Sie hatten aber Gleichungen im Kopf, ein Kapital an Informationen, und diese Kenntnisse waren stärker als Panzerdivisionen. Eine jeder anderen überlegene Macht steckte in den Gesetzen der Atomphysik.

Weil sie fürchteten, die Nationalsozialisten könnten diese Macht erkennen und einsetzen, beschlossen die Emigranten, ihr Wissen in den Kampf einzubringen. Einstein gelang es vermöge seines großen Ansehens, Roosevelt zu überzeugen, der die gewaltigen Möglichkeiten der amerikanischen Industrie in den Dienst der Kernphysik stellte.

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 Die konventionellen Waffen der vierziger Jahre, die Panzer, Flugzeuge, Geschütze und Kriegsschiffe verwendeten nach wie vor die Technik des 19. Jahrhunderts, also die Mechanik. Die Explosivkraft der Atombombe dagegen beruhte auf einem physikalischen Prozeß, der Kernspaltung. Die physikalische Waffe stand den mechanischen Waffen gegenüber, die moderne Wissenschaft der Technik des vorigen Jahrhunderts.

Aber es bedurfte eines gigantischen Einsatzes der Industrie, um von den Gleichungen zur Bombe zu gelangen. 200.000 Forscher, Ingenieure und Techniker arbeiteten am Projekt Manhattan mit. 1,5 Milliarden Dollar wurden dafür aufgewendet, Dupont de Nemours, Ford und andere Großunternehmen herangezogen. Zum erstenmal in der Geschichte arbeiteten Wissenschaft und Industrie in dieser Form und in solchen Größenordnungen zusammen. Mit dem Projekt Manhattan trat die Menschheit ins Atomzeitalter ein. So sehen es die Historiker. Aber auf längere Sicht dürfte eine andere Auswirkung mindestens ebenso bedeutend sein. Das Projekt Manhattan hat die Atombombenexplosion ermöglicht, weil zwei Massen zur kritischen Masse zusammengebracht, zwei Buchstaben aneinandergefügt wurden: F & E.

Diese Buchstaben begegnen einem heute in vielen Statistiken. Vergebens würde man sie in Dokumenten aus der Vorkriegszeit suchen. F & E (nach dem Vorbild des amerikanischen R & D: »Research and Development«): Forschung und Entwicklung. Der Ausdruck stammt aus dem Projekt Manhattan. Er bedeutet, daß der Prozeß von der wissenschaftlichen Entdeckung zur Erfindung und der weitere Vorgang bis zur Innovation zum ersten Male integriert worden ist. Der Wissenschaftler hat sich mit dem Ingenieur, die Wissenschaft mit der Technik, das Forschungslaboratorium mit der Fabrik zusammengetan. Das Wissen wird bewußt gefördert und gesucht um des größeren Könnens willen. Die Menschheit springt vom industriellen ins wissenschaftliche Zeitalter. Ob wir das begrüßen oder ablehnen: »Nicht der Frieden, sondern der Krieg ist der Vater der Wissenschaftspolitik«, schreibt J.-J. Salomon, Fachmann für Wissenschaftsfragen bei der OECD.

 

Die Mobilisierung der Wissenschaft

Es ist eher ein historischer Zufall, daß die deutsche Kapitulation vor der endgültigen Fertigstellung der Atombombe erfolgte. So bekam Japan ihre Wirkung zu spüren. Aber die Lehre von Hiroshima und Nagasaki war für jedermann eindeutig: die Wissenschaft hatte den Krieg gewonnen. Nicht die Mechanik, die entfernte Verwandte der Grundlagenforschung, sondern die Physik, das Kind der Laboratorien.

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Nach Kriegsende sahen Politiker und Unternehmer die Wissenschaft mit anderen Augen an. Sie hatten in ihr eine Quelle der Macht und des Reichtums erkannt. Die Sieger machten sich auf die Jagd nach deutschen Ingenieuren. Überall entstanden öffentliche und privatwirtschaftliche Forschungsstätten. Sehr viel großzügiger wurden Mittel bereitgestellt. Die Militärs hatten aus dem Projekt Manhattan gelernt. Die Unternehmer machten sich die dort verwendeten Methoden zu eigen.

Die Vereinigten Staaten erhöhten ihre Aufwendungen immer stärker. Die Haushaltsansätze für Forschung und Entwicklung, die jetzt untrennbar miteinander verbunden waren, wuchsen drei- bis fünfmal schneller als das Bruttosozialprodukt. Innerhalb von zehn Jahren stieg die Zahl der Forscher auf das Doppelte. Und bald folgten die Entdeckungen immer rascher aufeinander.
Zehn Jahre nach den USA begab sich Europa auf diesen Weg. Der Anbruch des Weltraumzeitalters sorgte für eine weitere Beschleunigung. Die Wissenschaft zählte zu den großen, ja, zu den entscheidenden Aufgaben der Staaten.

Dabei handelte es sich nicht mehr um ein eher selbstloses Mäzenatentum. Die Suche nach der Erkenntnis war eine bewußte Suche nach Machtzuwachs. Der Wissenschaftler wurde in ein Industriesystem integriert, das die Entdeckungen übernimmt, um so rasch wie möglich eine verwertbare Neuerung daraus zu machen. Ein systematisch organisierter Prozeß wurde eingeführt, um Wissenschaft und Innovation miteinander zu verbinden. Die Anstrengung war also nicht nur quantitativ größer, sondern wurde auch anders angesetzt, um bessere Ergebnisse zu erzielen. Das ist gemeint, wenn wir vom Eintritt der Menschheit in das wissenschaftliche Zeitalter sprechen.

Im allgemeinen bekommt die Grundlagenforschung nicht mehr als 10 Prozent der für die Forschung aufgewendeten Mittel; der Rest geht in die angewandte Forschung und in die Entwicklung, also die Anwendung der Erkenntnis. 1940 betrugen die Ausgaben für F & E in den Vereinigten Staaten 300 Millionen Dollar. Heute sind es mehr als 25 Milliarden. Als Anteil vom Bruttosozialprodukt waren es 1,4 Prozent im Jahre 1954 gegenüber 3,5 Prozent im Jahre 1968. Die staatlichen Forschungsaufwendungen der USA sind heute höher als der gesamte amerikanische Bundeshaushalt im Jahre 1930. In Frankreich machten die F & E-Ausgaben 1959 nur 0,9 Prozent des Bruttosozialprodukts aus. Heute liegen sie bei 2,5 Prozent.

Die <Armee der Wissenschaft> auf der ganzen Welt ist 5 Millionen Menschen stark und verfügt über 40 bis 50 Milliarden Dollar.

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Mehr Geld — mehr Entdeckungen

Die Forschungsstätten sind zahlreicher, aber auch teurer geworden. Der Beobachtende und der Experimentierende benötigen immer leistungsfähigere, immer genauere und damit immer kostspieligere Geräte. Für den armen, aber genialen Einzelforscher ist kein Platz mehr in der modernen Wissenschaft.

Lord Bowden, der ehemalige britische Wissenschaftsminister, weist mit Vorliebe darauf hin, daß die Geburtsstätte der englischen Physik, das Cavendish-Laboratorium, 1895 ein Budget von ein paar Tausend Pfund Sterling hatte, und daß dieser Betrag bis zum Zweiten Weltkrieg nicht nennenswert größer wurde. Insgesamt zwölf Nobelpreisträger haben dort geforscht, Thomson entdeckte dort das Elektron, Crockfort und Walton bauten den ersten Beschleuniger, Rutherford entwickelte das erste Atommodell und Appleton fand die Erklärung für die Reflexion der Funkwellen an der Ionosphäre.

Im Jahre 1968 betrugen die Mittel für dieses Laboratorium 300.000 Pfund. Der 300-Milliarden-Elektronenvolt-Teilchenbeschleuniger, den mehrere europäische Länder gemeinsam bauen wollen, ist auf zwei Milliarden französische Francs veranschlagt. Große Entwicklungsprogramme können noch eindrucksvollere Beträge kosten. Die Entwicklung der Computer IBM 360 bis zur Betriebsreife hat 4,5 Milliarden Dollar verschlungen, der Bau des Großbombenflugzeugs B 70 erforderte 1,2 Milliarden Dollar, der Boeing 707 an die 700 Millionen Dollar, und für die Entwicklung der Concorde dürften 10 Milliarden Francs erforderlich sein.

Sämtliche Maßstäbe sprengt das Apollo-Programm: 24 Milliarden Dollar. Und vollends unfaßbar wären die Aufwendungen für ein komplettes Raketenabwehrsystem (50 Milliarden Dollar) und für eine Reise zum Mars: 64 Milliarden Dollar. Der Einsatz solcher Summen hat den Fortschritt der Wissenschaft gewaltig angeheizt: Entdeckungen werden am laufenden Band produziert. Witzige Köpfe haben ausgerechnet, daß das Journal of Fundamental Physical Sciences, wenn es an Umfang weiterhin so zunimmt wie bisher, im Jahre 2000 mehr wiegen wird als die ganze Erde. Wir werden noch darauf zu sprechen kommen, daß solche >Hochrechnungen< mit Vorsicht zu genießen sind.

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Aber immerhin bleibt festzustellen, daß die von den Vereinigten Staaten erarbeitete Weltbibliographie der wissenschaftlichen Arbeiten in Buchform bereits 52.000 Titel umfaßt. Die jährliche Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen aller Art beträgt 3,5 Millionen. In den USA gibt es 427 Dokumentationszentren zur Auswertung dieser Schätze, die ja gehoben sein wollen. Allein die Armed Services Technical Information Agency, eines dieser Zentren, arbeitet jährlich 650.000 von den Auftragnehmern des Staates eingereichte technische Meldungen und Berichte aus. Selbstverständlich bleibt bei einer solchen Menge von Informationen vieles unausgewertet. Die Amerikaner schätzen, daß 15 Prozent ihres Wissenschaftsbudgets für Experimente aufgewendet werden, deren Ergebnisse bereits irgendwo veröffentlicht sind. Solche Zweigleisigkeiten sind unvermeidlich. Nachdem die NASA den Auftrag über die Fertigentwicklung der Atlas-Vega-Rakete erteilt hatte, stellte sie fest, daß die Air Force den Bau einer Agena B finanzierte, die denselben Spezifikationen entsprach. Diese Informationslücke allein kostete sinnlos ausgegebene 18 Millionen Dollar. Nur über die Datenverarbeitung ist die rationelle Auswertung des intellektuellen Fundus der wissenschaftlichen Fachzeitschriften möglich.

 

Ein Wunderkind: der Laser

Sobald eine Forschungsrichtung Erfolg zu haben verspricht, stürzen sich Dutzende von Forscherteams darauf. Dann folgen die Entdek-kungen so schnell aufeinander, daß selbst der wissenschaftlich geschulte Beobachter nur noch mit Mühe folgen kann. Ein Beispiel unter vielen für diesen Beschleunigungseffekt ist der Laser. Er müßte eigentlich noch in den Kinderschuhen stecken: gut zehn Jahre ist er alt. Aber er ist ein Wunderkind. Seine Geschichte ist so erregend wie die der Funktechnik, die unsere ganze Welt verändert hat.

Der Laser wurde im Juni i960 in den Vereinigten Staaten im Forschungslaboratorium von Hughes Aircraft geboren. Th. C. Maiman ließ aus einem Rubin einen roten Blitz hervortreten. Der Mensch hatte das Licht gezähmt.
Ist es nicht erstaunlich, daß im Jahrhundert der Beleuchtung die Beherrschung des Lichtes als große Entdeckung gilt? Nein. Das Licht, °as da in einem kalifornischen Laboratorium aufblitzte, war etwas völlig Einzigartiges. Betrachtet man einen Laserstrahl, wird einem das sofort klar.

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Diese Strahlung hat eine so reine und intensive Färbung, wie es sie am Himmel und auf Erden noch nie gegeben hat. Denn alle Lichtquellen, von der Sonne über die Glühbirne und die Leuchtstoffröhre bis zum Johanniskäfer senden ein inkohärentes Licht aus. Das Licht des Lasers aber ist kohärent. Bisher war Licht immer eine Mischung aus vielen Frequenzen gewesen. Das Licht des Lasers hat jeweils nur eine Frequenz. Auf das menschliche Auge wirkt eine Frequenz - oder eine Wellenlänge - als Farbton. Weißes Licht, natürliches oder künstliches, besteht aus vielen Wellenlängen, die sich im Prisma zu den Farben des Regenbogens auseinanderziehen lassen. Der Strahl des Herrn Maiman aber ließ sich nicht im Prisma zerlegen, weil er nur aus einer Wellenlänge bestand: 6.943 Angström.

Der Mensch hatte sich durch die Beherrschung der Funkwellen seine Fernmeldemöglichkeiten und das Radar geschaffen. Aus der Beeinflussung der Elektronenbewegung waren Elektrotechnik und Elektronik entstanden. Was würde die Zähmung des Lichtes bringen? 1958 war der Anfang gemacht worden. Vier Jahre zuvor hatte der amerikanische Physiker Townes einen neuen funkelektrischen Verstärker entwickelt: den Maser. Obwohl von gleicher Beschaffenheit wie die Lichtwellen, lassen sich die Funkwellen leichter in kohärente Form bringen. Jeder Sender arbeitet auf einer bestimmten Frequenz, die man dann auf der Skala des Empfängers einstellen kann. Der Artikel, den Townes 1958 veröffentlichte, ließ die Physiker in der ganzen Welt aufhorchen. Da war nachgewiesen, daß sich das Maser-Prinzip grundsätzlich auch auf Lichtwellen anwenden lassen mußte. Daß Lichtstrahlen einer einzigen Frequenz emittierbar waren. Ein optischer Maser war möglich: der Laser. Zwei Jahre lang bemühten sich die Physiker, dieses Wundergerät zu schaffen. Vergeblich. Einige zweifelten schon daran, ob es überhaupt realisierbar war. Kurioserweise veröffentlichte ein Forscher ausgerechnet 1960 einen Aufsatz, in dem er auf Grund theoretischer Erwägungen zu dem Schluß kam, daß ein solches Gerät physikalisch unmöglich sei! Aber so wie die gegenteiligen Beweise des Mathematikers Newcomb das Fliegen nicht verhinderten, konnten die pessimistischen Darlegungen auch Maiman auf dem Weg zum Erfolg nicht aufhalten.

Außerdem blieb er nicht lange allein. Kaum war die Bresche geschlagen, stürzten sich die Forscher auf diese Chance. Schon Anfang 1961 liefen bei siebzig amerikanischen Firmen Laser-Arbeitsprogramme.

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1966 waren es 462 Unternehmen. Innerhalb von zehn Jahren waren mehr Forschungen auf dem Gebiet des Lasers durchgeführt als auf dem der Elektrizität während des ganzen 19. Jahrhunderts. So ist es nicht weiter erstaunlich, daß die Entdeckungen einander jagten. Der Rubinlaser, der Stammvater der Familie, sendet sehr starke, aber ganz kurze Impulse aus: Milliarden Watt während Milliardstel-sekunden. Der wenige Monate später erfundene Gaslaser liefert einen stetigen, extrem schwachen Strahl: in der Größenordnung von 1 Watt auf unbegrenzte Dauer.

Der Laser mit Halbleitern wurde zwei Jahre nach dem Rubinlaser von drei unabhängig voneinander arbeitenden Forscherteams vorgestellt, die gleichzeitig dasselbe Ergebnis erzielt hatten. Die erregte Substanz war nicht mehr ein Rubin oder ein Edelgas, sondern Galliumarsenid.

Diese in knapp vier Jahren entwickelten Geräte sind völlig verschieden. Angesichts ihrer abweichenden Abmessungen, Techniken und Leistungen kommt man zunächst gar nicht auf den Gedanken, daß sie zur gleichen Familie gehören. Aber jeder Typ hat wiederum zahlreiche Varianten, und schon kommen neue Produktfamilien auf den Markt: Flüssigkeitslaser, Kohlendioxydlaser, Wasserdampflaser, chemische Laser ... Heute gibt es Hunderte von verschiedenen Geräten zur Herstellung kohärenten Lichts. Parallel dazu entwickelt sich die Holographie, also die Fotografie mit Laserstrahlen, die bereits in eine Vielzahl von Einzeldisziplinen zerfällt.

 

Die Elektronik: jedes Jahr eine Innovation

Der Laser ist durchaus kein Sonderfall. Die gleiche rapide Entwicklung ist auf anderen Gebieten anzutreffen. In der Biologie war der genetische Code, also die Sprache, die das Leben benutzt, um die Erbinformationen von Generation zu Generation weiterzugeben, vor zehn Jahren noch unbekannt. Heute ist er restlos entschlüsselt. Für die Biologen ist die Sache praktisch erledigt - sie wenden sich anderen Aufgaben zu. Ähnlich sieht es in der Astronomie und in der Physik aus. Nach Schätzungen der Fachleute verdoppelt sich der Bestand an Kenntnissen in den Naturwissenschaften alle zehn Jahre. Die enge Verbindung von Forschung und Entwicklung hat ähnlich rasche Fortschritte auch in der Technik gebracht. Bald nach dem Zweiten Weltkrieg entstand der erste Computer. Die erste Generation, bei der Röhren verwendet wurden, kam 1951 heraus. 1958 folgte die zweite Generation auf der Grundlage einer anderen Technologie: Transistoren und gedruckte Schaltungen. Die dritte Generation, seit 1964, verwendet integrierte Schaltungen. Eine vierte Generation ist in Vorbereitung.

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Jedes Jahr bringt die Elektronik etwas grundsätzlich Neues. Zwanzig Jahre nach dem Transistor gibt es Tausende von Verwendungsarten der Halbleitertechnik. Und die jährlich fällige Neuheit bleibt nie aus: integrierte Schaltungen, Hyperfrequenzdioden, Elektrolumineszenzdioden, Dünnschichtschaltungen, superintegrierte Schaltungen (LSI)... Binnen zehn Jahren haben die Amerikaner die Leistung ihrer Raketen und die Präzision der Steuerung um das Tausendfache verstärkt. In der elektronischen Datenverarbeitung ist die Ansprechzeit von der Tausendstel- auf die Millionstel- und schließlich auf die Milliardstelsekunde gesenkt worden. Und es gibt inzwischen ungefähr dreißig verschiedene Speichersysteme.

Die Industrieunternehmen werden von dem Angebot der jedes Jahr sich vervollkommnenden Neuentwicklungen geradezu überrollt. Vor zehn Jahren gab es ein paar hundert Computer auf der ganzen Welt. 1968 waren es schon 80.000. Innerhalb weniger Jahre sind die Propellerflugzeuge von den Düsenmaschinen verdrängt worden, und der Fortschritt geht unaufhaltsam weiter. Überschall- und Großraumverkehrsflugzeuge kommen auf den Markt. Innerhalb von zehn Jahren hat das Fernsehen in allen Wohnungen Einzug gehalten. In zehn Jahren wird das Farbfernsehen ebenso verbreitet sein. Im folgenden Jahrzehnt kommt dann der Wandbildschirm oder das Stereobild oder noch etwas anderes - auf jeden Fall aber etwas, von dem das Alte wiederum verdrängt wird.

Während eine neue Maschine eingeführt wird, arbeitet man mit Hochdruck an der nächsten Generation. Die ersten kommerziellen Kernkraftwerke liefern jetzt Strom. Aber schon sind in den Forschungszentren Prototypen der folgenden Generation, <schnelle Brüter>, in Betrieb. Und längst beschäftigen sich die Wissenschaftler mit der letzten großen Etappe in der Entwicklung der Atomenergie: der kontrollierten Kernverschmelzung. Luftkissenzüge, die unter Umständen mit Linearmotoren ausgerüstet werden sollen, laufen auf ersten Versuchsstrecken, aber schon denken die Ingenieure an Zukunftszüge mit 800 Stundenkilometer. Eben erst fliegen die Prototypen der Überschallverkehrsmaschinen, aber gleichzeitig macht man Modellversuche im Windkanal für viel schnellere Flugzeuge, die den Atlantik in einer halben Stunde überqueren sollen.

Es muß um jeden Preis etwas Neues, Besseres gefunden werden.

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Offenbar läuft der Prozeß von der Grundlagenforschung bis zum fertigen Erzeugnis immer schneller ab. Er dauerte vierzig Jahre beim Elektromotor, fünfunddreißig Jahre beim Rundfunk, achtzehn Jahre bei den Röntgen­strahlen, zehn Jahre bei den Atomreaktoren, acht Jahre bei der Atombombe, fünf Jahre beim Radar, drei Jahre beim Transistor, bei den Sonnenbatterien und bei den neuen Polymeren. Das ist natürlich eine rein statistische Betrachtungs­weise. Die Schaffung der Innovation kann jahrzehntelang an einem technischen Hindernis stocken. Aber sind die Schwierigkeiten einmal überwunden, geht die industrielle Fertigentwicklung und Produkt­fabrikation sehr schnell. Überall und unablässig treibt der technische Fortschritt den Menschen zu immer größerer und rascherer Leistung.

Der Film der Geschichte läuft in Zeitraffergeschwindigkeit. Bis 1985 wird es in Frankreich doppelt so viele Fabriken wie heute geben. Der Lebensstandard wird innerhalb einer Generation um dasselbe steigen wie während des ganzen 19. Jahrhunderts. Die überbaute Fläche wird sich in zwanzig Jahren verdoppeln. Der Stromverbrauch verdoppelt sich sogar alle zehn Jahre.

Auf welchem Gebiet man die Kurve auch zeichnet: sie steigt überall ähnlich steil an. Oft zeigt sie eine echte Exponentialfunktion.

Wissenschaften, die zurückbleiben

Leider machen nicht alle Wissenschaften gleich rasche Fortschritte. »Die verschiedenen Wissenschaften haben sich nacheinander entwickelt«, schreibt Sir Julian Huxley,

»die einfacheren und abstrakteren setzten damit früher ein und kamen rascher voran als die komplexeren und konkreteren. Die Physik reifte schneller als die Chemie, die Chemie schneller als die Physiologie. Die Geologie schneller als die Biologie, die Biologie schneller als die Psychologie. Die Vielfalt der ethnischen, gesellschaftlichen, kulturellen und sonstigen menschlichen Phänomene ist so groß, daß unsere Vorstellungs­kraft nicht ausreicht, sie alle in einer wissenschaftlichen Disziplin gemeinsam behandelt zu sehen.«

Darin liegt die entscheidende Schwäche des Fortschritts. In den Wissenschaften, die es mit der Materie zu tun haben, kommt er schneller voran, aber in allem, was das Leben betrifft, nur sehr langsam. Der moderne Mensch hat die Relativität alles Bestehenden zu erkennen gelernt, aber er weiß nach wie vor nicht, was er gegen die Zunahme der Jugendkriminalität tun soll.

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Das ist eine weitere Konstante des Fortschritts. Wenn nicht erhebliche Anstrengungen in den biologischen und den Humanwissenschaften unternommen werden, bleiben sie unvermeidlich immer weiter zurück. Das Schlimme aber ist, daß diese Arbeiten im Gegenteil weniger stark gefördert werden und die Kluft sich ständig vergrößert.

 

Ad absurdum

Angesichts dieser ungestümen Beschleunigung des Fortschritts in den >konkreten< Wissenschaften, angesichts dieser Kurven, die immer wieder nach oben über den Rand des Papiers hinausgehen, läßt sich eine gewisse Beunruhigung nicht unterdrücken. Soll und wird es denn wirklich in diesem Tempo weitergehen?

Reine Extrapolationen führen stets ins Absurde. In seinem Buch Designing the Future weist Robert Prehoda darauf hin, daß bei dem bloßen Weiterziehen der heutigen Kurven erstaunliche Ergebnisse herauskommen:

»Die Raumschiffe werden 1998 mit Lichtgeschwindigkeit fliegen, die auf der Erde erzeugte Energie wird 1994 größer sein als die Sonneneinstrahlung, die Lebenserwartung nähert sich um das Jahr 2000 der Unsterblichkeit, die Weltbevölkerung wird 3900 so stark angewachsen sein, daß sie fast mit Lichtgeschwindigkeit zunimmt...«

Da es aber kaum mehr Forscher als Menschen geben wird, da die Aufwendungen für die Wissenschaft niemals größer als das Bruttosozialprodukt sein werden, da es nicht recht denkbar ist, daß man Städte zerstören kann, bevor sie gebaut sind, darf man unterstellen, daß sich die Kurven abflachen werden. Der Fortschritt beschreibt Sinuskurven. Jetzt sind wir gerade in der Beschleunigungsphase. Aber man kann nicht ewig darin bleiben. Was wiederum nicht bedeutet, daß es nicht weitergeht: auch ein Flugzeug steigt ja mit vollem Schub der Triebwerke auf und geht dann in den Reiseflug über. Die Extrapolation der heutigen Tendenzen jedenfalls führt mit absoluter Sicherheit zu falschen Prognosen. Nur neigen die Prognostiker dazu, die Beschleunigungsphase zu kurz zu bemessen. Meistens ist sie länger, als man zunächst gemeint hat.

Andererseits ist die relative Zuwachsrate um so größer, je tiefer der Ausgangspunkt gelegen hat. Mit der zweiten Geburt steigt die Kinderzahl um 100 Prozent, mit der elften nur noch um 10 Prozent. Es ist also durchaus normal, daß die japanische Wirtschaft prozentual schneller wächst als die amerikanische, weil sie sich in einer früheren Phase der Expansion befindet.

Die derzeitige Beschleunigung ist ein Hinweis darauf, daß die hochentwickelten Länder im Übergang von der Industriegesellschaft zur Wissenschaftsgesellschaft stehen. In den Vereinigten Staaten ist das schon erkennbar. Die öffentlichen Mittel für F & E sind im Jahre 1967 nur um 4 Prozent erhöht worden, also praktisch gleichgeblieben. In den Jahren davor lag die Zuwachsrate zwei- bis dreimal höher. Natürlich stellt der Vietnamkrieg eine Belastung dar. Aber die Tendenz zeichnet sich deutlich ab und wird auch von den Vorhersagen der National Science Foundation eindeutig bestätigt.

Frankreich ist wie alle europäischen Länder gegenüber den Vereinigten Staaten erheblich im Rückstand, so sehr es sich auch in den Jahren 1958 bis 1968 bemüht hat, ihn zu verringern. Seither haben die Enttäuschungen wegen des schlechten Einsatzes der Mittel sowie die konjunkturbedingten Restriktionen dieses Aufholen gestoppt. Keiner wagt mehr zu erklären, das Ziel einer Verfünffachung der F&E-Ausgaben werde bis 1985 erreicht werden. Aber das Engagement in der Wissenschaft wird bleiben. Eine Wachstumsverlang-samung war wohl früher oder später unvermeidlich, aber man kann unbedenklich voraussagen, daß sich die Forschungskapazität hinsichtlich der Zahl der Mitarbeiter und der Höhe der Aufwendungen bis zum Jahre 2000 ganz erheblich vergrößern wird.

Nach Olaf Helmer, einem Experten der Rand Corporation, wird sich die Zahl der Forscher in der ganzen Welt bis zum Jahrhundertende verdoppeln. Und durch die neuen Möglichkeiten, über die sie verfügen werden, wird sich die Gesamtleistungsfähigkeit verzehnfachen.

So wird sich die Welt auch in Zukunft weiter verändern. Es ist zu spät, sich darüber zu freuen oder es zu beklagen: es ist höchste Zeit, sich darauf einzustellen.

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2. KAPITEL Die Geschichte läuft schneller