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3. KAPITEL     Der Mensch in Schwierigkeiten

 

 

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Wie reagiert der Mensch auf seine neuen Lebensumstände? Ist er überhaupt imstande, sich ihnen anzupassen? Wird er sich in ihnen glücklich oder unglücklich fühlen? Werden sie ihn heiter und gelassen oder ängstlich machen?

Das amtliche französische Meinungsforschungsinstitut IFOP hat im Jahre 1968 die Bürger von acht großen Industriestaaten zu diesem Thema befragt. 49 Prozent der Amerikaner meinten, das Glück werde geringer, 26 Prozent, es werde mehr. 69 Prozent sagten, ihre Beunruhigung nehme zu, 15 Prozent, sie werde schwächer.

Vielleicht stehen die Amerikaner unter dem Eindruck des Vietnamkrieges und des Rassenkonflikts? Diese Erklärung ist unzulänglich. 79% Prozent der Holländer erklärten, sie seien weniger glücklich, nur 4 Prozent, sie fühlten sich ständig glücklicher. In allen von der Umfrage erfaßten Staaten verspüren die Bürger eine wachsende Beunruhigung.

Nur die Franzosen glaubten, das Glück nehme zu (32 Prozent waren dieser Meinung, 22 Prozent vertraten die gegenteilige Ansicht, 27 Prozent waren der Auffassung, es sei keine Veränderung eingetreten). In allen anderen Ländern war der Pessimismus stärker als der Optimismus.

Die Lehre, die sich daraus ziehen läßt, ist eindeutig: die wissenschaftsgeprägte Zivilisation hat dem Menschen nicht zum Glücklichsein verholfen. Die neue Welt ist nicht vertrauenerweckend. Sie wirkt belästigend und beunruhigend. Sie erregt Angstgefühle.

 

Die krankmachende Veränderung

Der Mensch braucht das Gewohnte und Gleichbleibende. Er kommt mit ständigen Veränderungen schlecht zurecht. Früher war die Entwicklung so langsam, daß der Mensch in der gleichen Welt starb, in die er hineingeboren worden war. Wenn Ludwig XI. in das Jahrhundert Ludwigs XIV. versetzt worden wäre, so wäre ihm nichts sonderlich Überraschendes aufgefallen. Bei allen Änderungen in Stil und Mode war die Art zu leben und zu denken gleich geblieben. Erst im 19. Jahrhundert kannten sich die alten Leute in der gegenüber ihren Kindertagen völlig anders gewordenen Welt nicht mehr aus.

Heute geht die Erneuerung der Stile, Lebensformen und Denkweisen rascher, als die Generationen wechseln. Die wissenschaftliche und technologische Umwelt verändert sich während eines Menschenlebens mehrmals von Grund auf. Das ist mehr, als der Mensch verkraften kann. Er braucht Unterstützung. Bleibt er sich selber überlassen, so gibt er es auf, Schritt zu halten. Er »hängt ab<, wie es die Jungen in grausamer Eindeutigkeit nennen. Voller Angst und Mißtrauen betrachtet der alte Mensch diese >aus den Fugen geratene< Welt. Und wer heute erwachsen ist, läuft Gefahr, sich morgen schon ebenso zu verhalten.

Die Wahrheit liegt in der Zukunft, und die Zukunft gehört den Jungen. Gestern noch wurde man mit zunehmendem Alter befördert, heute abgeschoben. Trotzdem neigt der einzelne nach wie vor dazu, dem Alter die Ehre zu geben und den Jungen nichts zuzutrauen. Wie sollte man auch zugeben, daß langjährige Erfahrung weniger wert sein könnte als jugendlicher Schwung?

Nichts ist schwerer zu ertragen als diese Ungewißheit angesichts der fortschrittsgeborenen Zukunft. Die Hälfte der Neugeborenen wird einen Beruf ausüben, den es noch nicht gibt, und sie werden ihn mehrmals wechseln müssen.

Zugleich wird aus der natürlichen eine künstliche Umwelt. Man geht nicht mehr über Land, sondern fährt durch die Stadt. Man setzt sich nicht mehr ins Theater, sondern vor das Fernsehgerät. Man trifft sich nicht mehr, sondern telefoniert miteinander. Man arbeitet nicht mehr am Gegenstand, sondern überwacht Maschinen. Das Riesenaufgebot an technischen Sklaven verstellt immer mehr den Zugang zur natürlichen Umwelt. Man hat es mit einem Haushaltsroboter, einem Auto, einem Fernsehgerät oder einer Maschine zu tun und immer seltener mit einem Baum, einem Hügel, einem Sommerhimmel oder einem Freund.

So wird die Welt in zweifacher Hinsicht unmenschlich. Dynamisch gesehen zwingt sie zur Veränderung, statisch gesehen bringt sie einen technisierten Lebensraum mit sich.

Ist es da so erstaunlich, daß Alkoholmißbrauch oder Jugendkriminalität gerade in den Industrieländern zunehmen? In den Vereinigten Staaten ist ein Drittel der Krankenhausbetten mit Geisteskranken belegt.

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Die Experten des französischen Plankommissariats äußern sich in ihrem Bericht >Erwägungen für i985< durchaus nicht optimistisch: »In seinem psychologischen und gesellschaftlichen Verhalten könnte der Mensch des Jahres 1985 weniger an seine Umwelt angepaßt sein als heute: Furcht vor der Außenwelt, Besorgnis, die individuelle Unabhängigkeit einzubüßen, Reaktion auf die Aggressivität des Milieus. Eine psychische Auswirkung dieses Nichtadaptiertseins wird die stärkere Verbreitung von Depressionserscheinungen sein.« So kommen die Autoren dieser Untersuchung zu den gleichen Schlüssen wie Keynes fünfunddreißig Jahre zuvor: »Ich denke mit Schrek-ken an die Anpassung der Gewohnheiten und Triebe, die dem Menschen seit unzähligen Generationen eigen sind und die er vielleicht in wenigen Jahrzehnten abzulegen hat. Müssen wir uns auf Depressionen im Weltmaßstab gefaßt machen?«

Der Januskopf des Fortschritts

Dieses Unbehagen am Fortschritt entsteht ganz natürlich aus den spezifischen Eigenarten des Fortschritts, der auf Teilgebieten ohne endgültige Zweckbestimmung weltweite Veränderungen und somit Spannungen schafft. Wie äußern sich diese Spannungen? Professor Jean Fourastie hat sich intensiv mit diesem Thema beschäftigt und als grundlegenden Mechanismus den >Doppeleffekt< herausgearbeitet. Jeder Fortschritt impliziert zwei Arten von Fortschritt: den leicht vorhersehbaren und bewußt angestrebten sowie den nicht gewollten und unerwarteten. Unmittelbare und mittelbare Folgen. Darin liegt die Mehrdeutigkeit des Fortschritts. Jede Veränderung bringt Vor- und Nachteile, die unlösbar miteinander verbunden sind. Auf den Menschen muß dieser Sachverhalt frustrierend wirken. Er möchte die Vorteile haben und will von den Nachteilen nichts wissen. Also ist er hin- und hergerissen zwischen Begierde und Angst. Vergißt er, was in Kauf zu nehmen ist, und sieht er nur die gute Seite des Fortschritts, so ist er ein glücklicher Zeitgenosse. Er darf damit rechnen, weniger zu arbeiten, mehr zu besitzen, häufiger und weiter zu reisen, sich bequemer unterhalten zu lassen, besser medizinisch betreut zu werden und über tausend technische Sklaven zu gebieten.

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Aber die Großstadt schafft soziale Krankheiten, die Atomrüstung entspricht einer Sprengkraft von zehn Tonnen TNT je Erdbewohner, die Chemie verseucht Luft, Natur, Flüsse und Lebensmittel, das Auto verstopft die Städte, die Arbeit bringt immer weniger Befriedigung, in den Wohnblöcken stirbt die Geselligkeit aus, die Hygiene führt zur Bevölkerungsexplosion, die Medizin kann zwar einige Krankheiten heilen, ist aber bei anderen, ebenso unerträglichen, gänzlich machtlos... Fortschritt ist offenbar nur ein anderes Wort für eine immer menschenunwürdigere Existenz. So steht der Mensch mit seiner eigenen Zivilisation nicht im Einklang. Die Fernsehzuschauer drängen sich vor den Bildschirmen, um die Weltraumflüge zu verfolgen, aber 49 Prozent von ihnen sind mit dem Unternehmen nicht einverstanden.

 

Der Zauberlehrling und die gute alte Zeit

Mythen, die seit Urbeginn der Menschheit existieren, kommen wieder zur Geltung. Der Zauberlehrling. Die gute alte Zeit. Immer wieder hört man die Meinung: »Die Forscher wissen gar nicht, was sie tun. Sie vergraben sich in ihre Berechnungen und werden völlig weltfremd. Mit ihren Gleichungen, Reagenzgläsern und Geräten führen sie uns in die Katastrophe.« Eine solche Ansicht ist bei der Widersprüchlichkeit des wissenschaftlichen Fortschritts durchaus nicht verwunderlich. Die Forscher wissen sehr wohl, was sie tun, aber sie wissen nicht, was dabei herauskommt. Und noch ist niemand da, der es stellvertretend für sie wüßte.

Die US-Zeitschrift Scientific American hat einen sehr aufschlußreichen Artikel über diese wissenschaftsfeindliche Einstellung veröffentlicht, die an einem ganz konkreten Beispiel, der Fluorierung des Trinkwassers, dargestellt wurde. Die amerikanischen Behörden hatten beschlossen, dem Wasser als Vorbeugungsmaßnahme gegen Karies Fluor zuzugeben. Bald wandten sich weite Kreise der Öffentlichkeit gegen dieses Vorhaben.

Wirksamkeit und Unschädlichkeit des Verfahrens waren unter Aufsicht der höchsten medizinischen Autoritäten nachgewiesen worden. Trotz der Veröffentlichung dieser Ergebnisse wollten etliche Bürger die Fluorierung nicht hinnehmen. Sie blieben dabei, das sei gefährlich, denn Fluor sei ein Gift. Außerdem erblickten sie in dieser Maßnahme eine von oben angeordnete kollektive Therapie: eine Beeinträchtigung der individuellen Freiheit.

Untersuchungen ergaben, daß die Gegner vor allem ältere Leute waren oder aus Berufen kamen, die nur wenig Berührung mit den Naturwissenschaften haben.

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Die zunächst angeführte Begründung ist symptomatisch. Fluor ist ein Gift, gewiß. Aber ein Gift kann unter bestimmten Bedingungen harmlos sein. Es ist Aufgabe der Wissenschaft, diese Bedingungen festzulegen. Doch gerade der Wissenschaft wollen die Betroffenen nicht vertrauen. Die Meinungsforscher stellten fest: »Es fällt den Leuten schwer, Ergebnisse zu akzeptieren, die aus statistischen Berechnungen und nicht aus konkreten, einleuchtenden Sachverhalten gewonnen worden sind.« Daß Kurpfuscher und Wahrsagerinnen nach wie vor Zulauf haben, hat genau diesen Grund. Man wünscht den greifbaren, überzeugenden Fall, nicht die statistische, abstrakte Gewißheit. Die Wissenschaft kann die Wahrheit neu und anders definieren, aber nicht den Menschen verändern.

Auch die zweite Begründung ist aufschlußreich. Beeinträchtigung der individuellen Freiheit - ein solches Argument läßt sich nicht einfach vom Tisch wischen. Es ist durchaus verständlich, daß sich der einzelne gegen den Kollektivcharakter des Fortschritts sträubt, und zwar allein schon deshalb, weil die Industrieländer seit hundertfünfzig Jahren 'mit der Vorstellung von der freiheitlichen Gesellschaft leben. Die Wissenschaft sollte dazu beitragen, daß jeder in völliger Unabhängigkeit leben kann. Davon war man überzeugt. Leider stimmt es nicht. Aber ein großer Teil der Bevölkerung glaubt immer noch daran und verhält sich ablehnend gegenüber Impfzwang, Großserienerzeugnissen, stark verdichteter Stadtbebauung, Bildung für alle usw. Nur: diese Erscheinungen wird man nolens volens akzeptieren müssen.

Das Mißtrauen gegenüber einer Wissenschaft, die keine unmittelbar evidenten Ergebnisse mehr liefert, deren Wirkungen jeden einzelnen treffen und offenbar gänzlich außer Kontrolle geraten sind, ist ganz natürlich. Deshalb ist es auch durchaus möglich, daß die wissenschaftsfeindliche Einstellung zur allgemein verbreiteten Erscheinung wird. Vor einigen Jahren gab es in den Vereinigten Staaten eine Strömung, die eine Einstellung aller wissenschaftlichen Forschungen für angezeigt hielt. Das war eine erste Warnung. Parallel zu dieser Furcht vor dem verantwortungslosen Zauberlehrling breitet sich der Mythos von der guten alten Zeit aus, auf den Alfred Sauvy nachdrücklich hingewiesen hat. Jeder kennt das Lied: »Früher, da war das Leben schöner. Die Welt war menschlicher. Anstatt dauernd nach etwas Neuem zu suchen, sollte man es lieber wieder so halten wie einst.« Im Extremfall führen beide.Vorstellungen zusammen zur völligen Ablehnung der Wissenschaft wie bei einem Gandhi oder einem Lanza del Vasto. Der Mensch sollte die moderne Technik verachten und von der Arbeit seiner Hände leben ...

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Die Flucht nach vorn

Solche Übertreibungen bleiben Einzelfälle, aber die Beunruhigung ist Gemeingut aller Menschen geworden. Der Fortschritt geht zu schnell. Also sollte man bremsen. Die Grundtatsachen sind richtig erkannt. Die Folgerungen aus dieser Erkenntnis dagegen sind völlig abwegig.

Ein Zurück in die Vergangenheit ist zum Glück unmöglich. »Der Fortschritt läßt sich nicht aufhalten« - diese weit verbreitete Auffassung zeugt von Einsicht. Aber selbst eine Verlangsamung würde nicht ein einziges unserer heutigen Probleme lösen. Im Gegenteil, sie würde alles nur noch verschlimmern.

Nur ein moderner Städtebau kann unsere Städte retten. Nur die Brennstoffzelle wird der Luftverschmutzung Einhalt gebieten. Nur die Empfängnisverhütung wird das explosive Anwachsen der Weltbevölkerung verhindern, nur Agrarwissenschaft und Großchemie den Hunger besiegen. Nur die Informatik kann die Aufgaben der Kinder- und der Erwachsenenbildung lösen. Überall muß ständig intensiver geforscht werden, um rascher zu Ergebnissen zu kommen. Die Lösung liegt vorne, immer weiter vorne, niemals hinten. Im Stehenbleiben ist keine Hoffnung, weil die Menschheit von dynamischen Kräften weitergetrieben wird, über die sie keine Macht hat. Das Bevölkerungswachstum, die Verstädterung und die Änderung der individuellen Einstellungen werden weitergehen, ganz gleich, wie man sich dazu verhalten mag. Sie zwingen die Menschheit in eine atemlose Flucht nach vorn. »Wir können mit dem Erfinden nicht aufhören, denn wir sitzen nun einmal auf dem Tiger«, schreibt Dennis Gabor.

Aber die Forschung muß nicht nur verstärkt, sie muß auch unter Kontrolle gebracht werden. Das ist nicht leicht. Eine Situation unter Kontrolle zu halten ist einfach, wenn sie statisch ist, sehr schwierig dagegen, wenn sie dynamisch ist. Zum Organisieren gehört die Prognose. Und der Fortschritt läßt sich nicht ohne weiteres voraussehen.

 

Was nicht erfunden werden kann

Für den Grundlagenforscher ist der Fortschritt praktisch unvorhersehbar. Niemand kann sagen, was er wann entdecken wird. Der Zufall spielt nach wie vor eine erhebliche Rolle.

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Becquerel meinte, die Uransalze verströmten eine Art Fluoreszenz, wenn sie vom Sonnenlicht erregt würden. Aber als er eines Tages wegen schlechten Wetters seine Versuche nicht in der vorgesehenen Form durchführen konnte, erkannte er, daß sie aus sich selber strahlten. Durch einen Zufall hatte er die Radioaktivität entdeckt. Ein ähnlicher Glücksfall erlaubte Fleming die Feststellung, daß bestimmte Schimmelpilze die Bakterienvermehrung stoppen. Er hatte das Penicillin entdeckt, weil er eine Kultur im Regal vergessen hatte. Es scheint unmöglich, Entdeckungen in der Grundlagenforschung zu prognostizieren, geschweige denn im voraus ihre Folgen abzuschätzen. Sogar nach einer Entdeckung können sich die Wissenschaftler die Auswirkungen meistens nicht recht vorstellen. 1887 wollte Hertz nachprüfen, ob die Elektrizität wirklich ohne ein festes oder flüssiges Trägermedium fließen kann, wie es die Maxwellschen Gleichungen vorsahen. So entdeckte er die Hertzschen Wellen, die Grundlage der Funktechnik. Aber er wies nur darauf hin, daß sie wohl für Fernmeldeverbindungen geeignet sein müßten.

Sehr viel weniger lange ist es her, daß Professor Alfred Kastler bei Arbeiten über den elektrischen Aufbau des Moleküls das Prinzip des Elektrischen Pumpens entdeckte. Er kam gar nicht darauf, seine Erfindung schützen zu lassen, weil er sich keine praktische Anwendung vorstellen konnte. Heute wird sie bei Lasern, Masern, Magnetometern und Atomuhren benutzt.

Auch Einstein dachte nicht an die Atombombe, als er die Lichtquantenhypothese aufstellte. Und noch 1933 erklärte Lord Rutherford: »Wer aus der Kernumwandlung Energie zu gewinnen hofft, träumt vom Mond.«

Oft ist sogar die spätere Erfindung, also die Schaffung einer Vorrichtung und nicht die Entdeckung eines Prinzips, kaum aussagekräftiger. Branly baute den >Kohärer<, einen entfernten Vorfahren des Transistors, ohne an Fernmeldeverbindungen zu denken. Popow erfand die Antenne, weil er nach einer Möglichkeit zur Erforschung der Luftelektrizität suchte. Marconi brachte diese Arbeiten in eine Synthese und machte sie zum Ausgangspunkt der Funktechnik. Zehn Jahre nach der Geburt des Lasers zeichnet sich seine Zukunft noch kaum ab. Welche Anwendungsformen werden besonders bedeutend sein? Fernmeldeverbindungen, dreidimensionales Fernsehen, Kernverschmelzung...... ? Niemand weiß es. Denn der Laser ist aus einer Grundlagenforschung entstanden. Nicht aus einer Industrieforschung.

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Bei einer entwicklungsorientierten Forschung sind die Ziele natürlich sehr viel klarer definiert. Als sich die Physiker der Bell-Labora-torien bald nach dem Kriege mit Halbleitersubstanzen befaßten, wußen sie genau warum. Sie wollten elektronische Festkörperbauelemente schaffen, um die Vakuumröhren zu ersetzen. Als sie den Transistor entwickelt hatten, brauchten sie nicht erst zu überlegen, was man damit anfangen könnte. Sie wußten aber nicht, daß sie beitragen würden zum Zusammenwachsen der arabischen Welt, zur Ausbreitung des Aufruhrs im Pariser Universitätsviertel und zum Gelingen des bemannten Weltraumflugs.

 

Was nach der Wissenschaft kommt

Der Erfinder weiß, was er sucht. Er kennt die Anwendungsmöglichkeiten, kann sich aber nicht ausmalen, was später daraus wird. Als Lenoir den Verbrennungsmotor erfand, konnte er sich Städte mit verpesteter Luft nicht vorstellen. Als die deutschen Chemiker die modernen Detergentien erfanden, sahen sie durchaus nicht Schaumberge auf den Flüssen vor sich. Als Fleming den Anstoß zur Entwicklung der Antibiotika gab, dachte er nicht daran, daß er die Geflügelpreise senken würde. Und die Forscher, die das DDT entwickelten, kamen nicht auf den Gedanken, daß man diesen Stoff eines Tages im Körper aller Lebewesen antreffen würde.

Nur einmal, ein einziges Mal wußten die Wissenschaftler genau, was sie taten. Eine lehrreiche Geschichte. Die Väter der Atombombe malten sich die Schrecken einer nuklearen Explosion sehr gut aus. Die Vorstellung bedrückte sie. Kaum war die furchtbare Waffe fertig, schrieben etliche von ihnen an den Präsidenten der Vereinigten Staaten und beschworen ihn, sie nicht gegen dichtbesiedelte Gebiete einzusetzen. Der Brief blieb ungelesen und Hiroshima wurde vernichtet. Was nach der Wissenschaft kommt, ist dem Einfluß der Wissenschaftler entzogen.

Szilard schlug mehrfach großartige, utopische Verfahren vor, wie eine nukleare Weltkatastrophe verhindert werden könnte. Dann beschäftigte er sich mit der Erforschung des Verhaltens der Delphine. Fermi arbeitete über kosmische Strahlung. Einstein versuchte vergeblich, die Welt vom Weg in das atomare Wettrüsten zurückzuhalten. Oppenheimer weigerte sich, an der Wasserstoffbombe mitzuarbeiten. Die böse Frucht der Wissenschaft war den Wissenschaftlern entglitten.

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Die Atombewaffnung der Großmächte wurde immer mehr verstärkt. »Wenn ich mein Leben noch einmal anfangen dürfte, würde ich Klempner werden«, sagte Einstein kurz vor seinem Tode. Die Prognose ist schwierig, aber deshalb nicht weniger notwendig, es sei denn, man brauche nur die Kurven der bisherigen Entwicklung weiterzuziehen, um die Zukunft zu erkennen. Vollends unerläßlich wird sie, sobald man es nicht mehr mit dem Quantitativen, sondern mit dem Qualitativen zu tun hat.

Diese Notwendigkeit wird jetzt allgemein anerkannt. Zögernd. Eben weil die Prognose eine schwierige Kunst und noch keine Wissenschaft ist. Die Ergebnisse der bisherigen Bemühungen sind eher entmutigend. Denn die Prognostiker haben sich mit schöner Regelmäßigkeit geirrt.

 

Voraussagen ins Ungewisse

Meistens entstehen die falschen Prognosen aus übergroßer Vorsicht. Ein Auguste Comte wagte die Prophezeihung, man werde niemals etwas von der Beschaffenheit der Sterne wissen - wenige Jahre vor der Entdeckung der Spektroskopie. Newcombs Berechnungen, die bewiesen, daß ein Apparat, der schwerer ist als die Luft, niemals fliegen könne, wurden bald darauf durch die ersten Flüge der Brüder Wright entkräftet. 1936 kam ein Artikel in der höchst seriösen Zeitschrift Nature zu dem Ergebnis, Raumflüge seien unmöglich. Noch 1956 war Dr. Wooley, der Hofastronom von Königin Elisabeth IL, der gleichen Meinung. 1945 erklärte Vanneavar Bush, der zivile Leiter des Amtes für wissenschaftliche Waffen der Vereinigten Staaten, die Herstellung von Interkontinentalraketen sei in absehbarer Zukunft ausgeschlossen. Ungefähr zur gleichen Zeit erläuterte Lord Cherwell, Churchills wissenschaftlicher Berater, vor dem Unterhaus, warum eine Rakete für militärische Zwecke völlig uninteressant sei. An solchen Beispielen mangelt es nicht. Andererseits sieht es ganz so aus, als hätten viele häufig gemachte Voraussagen überhaupt keine Aussicht auf Verwirklichung: die Aufhebung der Schwerkraft, die Reise durch die Zeit, das Unsichtbarmachen, die Verbindung mit den Toten usw.

Arthur Clarke zählte eine ganze Liste von unvorhergesehenen Entdeckungen auf und nennt u. a.: die Röntgenstrahlen, die Atomenergie, den Rundfunk, die Fotografie, die Relativität, den Transistor und die Tonaufzeichnung. An eindeutig vorhergesagten Erfindun-

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gen nannte er nur das Auto, das Telefon, das Unterseeboot, das Flugzeug und die Roboter. Eine enttäuschende Bilanz. Manchmal wird eine Erfindung prophezeit, aber die technische Verwirklichung sieht dann ganz anders aus. So verwendete Jules Verne eine Kanone, um seine Weltraumreisenden zum Mond zu befördern. 1937 schilderte Gilfillan fünfundzwanzig verschiedene Möglichkeiten, um auch bei Nebel die Sicherheit des Flugverkehrs zu gewährleisten, und kam zu dem Schluß, das Problem werde bald gelöst sein. Aber unter seinen fünfundzwanzig verwendbaren Techniken fehlte das Radar, das man damals unter strengster Geheimhaltung gerade zu entwickeln begann.

Wenn allerdings die ersten Ergebnisse vorliegen, steigt die Chance für eine richtige Prognose. Dieser Augenblick, da eine neue Technik in Erscheinung tritt, heißt bei den Experten >Strassmannscher Punkt<. Der Ausdruck kommt bezeichnenderweise aus dem Bereich der Atomenergie. Mit dem Augenblick, da Hahn und Strassmann die Kernspaltung entdeckten, wurden die Anwendungsmöglichkeiten deutlich. Wenn eine Forschungsarbeit den Strassmannschen Punkt erreicht hat, müßte grundsätzlich mit Prospektivuntersuchungen begonnen werden.

Leider zeigt die Erfahrung, daß auch in diesem Stadium die Fehleinschätzungen noch sehr häufig sind. Der erste Computer wurde während des Krieges von dem Deutschen Friedrich Zuse gebaut. Erst um das Jahr 19 jj bekam man bei IBM eine Vorstellung von der Zukunft der elektronischen Datenverarbeitung. Als Furnas 1936 die allgemeine Einführung des Fernsehens erwog, stellte er die Frage, »ob die Käufer wohl bereit sein würden, dafür Geld auszugeben«. Die Verantwortlichen in den Vereinigten Staaten haben erst 1957 wirklich an die Raumfahrt geglaubt, obwohl die deutsche V2-Ra-kete ohne Zweifel den >Strassmannschen Punkt« darstellte. Solche Irrtümer sind ungleich schwerwiegender als Fehleinschätzungen bei langfristigen Perspektiven.

 

Die Wissenschaft von der Zukunft

Die Bemühungen um die Zukunftsvorhersage ist eine logische Folge des Fortschritts. Sie ist durchaus nicht auf ein bestimmtes politisches System beschränkt, sondern wird von allen Ländern mehr und mehr als notwendig erkannt. Nur: viel zu langsam! Die Sowjetunion, die als erste ihre Zukunft ganz systematisch, allzu systematisch mit Fünfjahresplänen im voraus organisiert hat, ist in der wissenschaft-

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lichen Prognose kaum weitergekommen. Die ersten Arbeiten auf der Grundlage des Operational Research, der geplanten Forschung, wurden in den Vereinigten Staaten von der Rand Corporation durchgeführt. In Frankreich waren Gaston Berger und Bertrand de Jouvenel die ersten Verfechter dieser Arbeitsweise. Seither wird sie überall unablässig verfeinert. Auch die Ostblockstaaten sind dazu übergegangen.

Es gibt bereits etliche Methoden des Operational Research: >Del-phi<, >Patterns<, Ablaufplanung, Systemanalyse, Elementaranalyse usw. Der Prognostiker braucht sich also nicht mehr auf sein bloßes Fingerspitzengefühl zu verlassen. Er verfügt über einen großen Bestand an Informationen, hält Kontakt mit seinen Kollegen im Ausland, verwendet mathematische Verfahren und bedient sich der Datenverarbeitung.

So kann man davon ausgehen, daß die ganz krassen Irrtümer der Vergangenheit nicht wieder vorkommen werden. Die Futurologen betrachten den Fortschritt mit angemessenem Optimismus. Nur in Extremfällen bezeichnen sie etwas als gänzlich unmöglich.

So haben die Experten der Rand Corporation mit ihrem Leiter, Olaf Helmer, 1964 folgende Aufstellung für die Zeit bis 1975 gegeben:

 

1970 (1968/1970) Einsatz von Satelliten für die Wettervorhersage.

            (1968/1970) Gezielte Landung von Menschen auf dem Mond und Rückkehr zur Erde.

            (1968/1970) Weltweites Fernmeldesystem über Satelliten.

            (1968/1970) Kampfunfähig machende biologische und chemische Wirkstoffe (incapacitants).

1971  (1964/1971) Wirtschaftlich tragbare Meerwasserentsalzung.

             (1968/1975) Verwendung von Lasern für Radar und Weltraumnachrichtenverbindungen.

              (1970/1975) Raumstationen für ca. 10 Menschen auf Erdumlaufbahnen.

1972   (1970/1983) Langwirkende orale Empfängnisverhütungsmittel.

              (1970/1974) Neue Kunststoffe für Ultraleichtbauweise.

              (1968/1986) Automatische Sprachenübersetzung.

              (1968/1982) Organersatz durch Transplantation oder Prothese.

               (1970/1980)   Perfektionierte Propagandatechniken, Kontrolle über das Denken, Massenmotivierung und Meinungsmanipulation.

1973    (1970/1977)  Automatische Flugsicherung.

              (1972/1980)   Begleichung der Einkäufe über Direktverbindungen zwischen Banken und Einzelhandel.

1974 (1971/1977)   Allgemeine Einführung von Lernmaschinen.

1975   (1972/1988)  Zuverlässige Wettervorhersage.

              (1970/I975)  Antrieb durch Atomreaktor und elektrischer Antrieb von Flugkörpern.

              (1972/1979) Flugzeuge mit großer Reichweite (evtl. mit Atomantrieb).

              (1974/1976)  Längerer Aufenthalt in Mondstationen.

               (1973/1980)  Verwendung automatisierten taktischen Geräts im militärischen Bereich (z. B. Wachtposten->Roboter<).

 

Für den Zeitraum zwischen 1975 und 2000 halten die Fachleute Entdeckungen für denkbar, die uns notwendigerweise sehr viel futuristischer anmuten:

1978   (1971/1988)   Automatische Gesetzes- und Rechtsprechungsdokumentation.

              (1975/1979)   Bemannter Flug in die Nähe von Mars und Venus.

1980   1971/1991  Datenbanken.

1981     1975/1992   Zusammenführung der physikalischen Theorien (Relativität und Quantenmechanik).

            1973/1995     Grundlegende physikalische Versuche im Weltraum (Lichtgeschwindigkeit, Schwerkraft . . .).

1982   1981/1983  Ständig bemannte, ortsfeste Mondstationen.

           1978/2002   Überwachung der atmosphärischen Wetterverhältnisse.

1983   1980/2000    Persönlichkeitsverändernde chemische Drogen.

1985     1978/1989    Gamma- und Röntgenstrahlen-Laser.

           1975/1990   Plastischer und elektronischer Organersatz (Radar für Blinde).

           1980/1990   Automatische Diagnose in der Medizin.

1986   1980/2000    Kontrollierte Kernverschmelzung.

               1979/1994   Weltraumsonden außerhalb des Sonnensystems.

1988 (1980/1996) Verwendung von Haushaltsrobotern.

          (1980/1996) Automatische Berechnung der Steuern.

1989 (1979/2000) Wirtschaftlicher Abbau der Bodenschätze auf dem Meeresgrund.

            (1979/2000) Schaffung einer primitiven Form künstlichen Lebens.

1990 (1987/2000) Beeinflussung des örtlichen Wettergeschehens zu tragbaren Kosten.

        (1985/2003) Wirtschaftliche Herstellung von synthetischen Eiweißstoffen - künstliche Lebensmittel.

           (1980/2020) Herstellung von Gegenständen auf dem Mond und Ausbeutung von Mondrohstoffen.

1994 (1983/2000) Immunisierung der Gesamtbevölkerung gegen Bakterien- und Viruskrankheiten.

1995 (1989/2000) Raketenabwehrwaffen unter Verwendung konzentrierter Energiestrahlung.

2000 (1990/2010) Gen Veränderung durch Eingriffe in die Molekülstruktur (Erbgutbeeinflussung).

       (2000/2017) Wirtschaftliche Ausnutzung der Weltmeere zur Nahrungsgewinnung.

      (1980/nie)   Entstehen einer Weltsprache.

      (1995/2026) Dank automatischer Abstimmungsverfahren Gesetzgebung durch Volksbefragung.

     (1985/nie) Wirtschaftlicher Transport mit Hilfe von ballistischen Raketen.

 

Für das erste Viertel des 21. Jahrhunderts denken die Experten an Autobahnen mit automatisierter Verkehrssteuerung, Druck von Zeitungen und Zeitschriften im Hause, chemische Wachstumsstimulierung für neue Organe, Medikamente zur dauerhaften Steigerung der geistigen Fähigkeiten, Symbiose von Mensch und Maschine im unmittelbaren Verkehr mit dem Computer, chemische Beeinflussung des Alterns und Verlängerung des Lebens. Dies alles wäre nach den Prognosen einiger besonders optimistischer Futurologen auch schon vor Ende unseres Jahrhunderts möglich.

Was an der Liste zunächst auffällt, ist die große Zahl von Neuerungen, die schon im nächsten Jahrzehnt realisiert werden könnten. Zehn Jahre sind eine sehr kurze Vorbereitungszeit.

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Viele dieser Innovationen dürften überdies ganz erhebliche sekundäre Auswirkungen haben. Man bedenke nur, was die automatische Begleichung der Einkäufe für den Handel bedeuten würde, welchen Einfluß langwirkende orale Empfängnisverhütungsmittel auf die Sitten haben könnten, wie das politische Leben aussähe, wenn die Möglichkeit zur Manipulation der öffentlichen Meinung gegeben wäre. Alle diese Neuerungen sind ja für die nächsten fünf Jahre angekündigt.

Die Schwierigkeiten durch die Einführung des Fortschritts werden nicht geringer werden, sondern eher zunehmen. In allen Ländern wird die Gesellschaft immer stärkeren Veränderungen unterworfen werden. Und es ist ja nicht etwa so, daß zehn Jahre zur Verfügung stünden, um die Organisation der Gesellschaft mit der Technologie gleichziehen zu lassen und dann in ausgewogenem Rhythmus weiterzugehen. Es muß im Gehen organisiert werden. Nicht im Stillstand.

 

Vorausschauen, um zu beeinflussen

Führt man sie einfach hintereinander auf, so vermitteln die Ergebnisse der Prospektive eine völlig falsche Vorstellung vom Wesen der Zukunftsforschung. Man könnte meinen, es handele sich um Weissagerei auf rationaler Grundlage. Davon kann nicht die Rede sein. Den mit höchster Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Gang des Fortschritts zu bestimmen ist nur der erste Schritt bei der Erkundung der Zukunft.

Bertrand de Jouvenel drückte das vor einiger Zeit so aus:

»Es geht darum, die verschiedenen möglichen >Zukünfte< zu ermitteln, zu denen die verschiedenen möglichen Entwicklungen der Gesellschaft führen würden ... Man denkt also über die Zukunft nach, damit >aufgeklärt< gehandelt werden kann. Diese Verbindung zur Aktion ist so stark, daß ich eine Einladung, eine Stunde im Jahre 2000 zu verbringen, ablehnen würde, weil mich nicht eine fix und fertige Zukunft interessiert, sondern die Bemühung, sie zu verbessern

So können Prognosen wie die der Rand Corporation von der Öffentlichkeit völlig mißverstanden werden, die darin etwas Vorbestimmtes, unausweichlich Bevorstehendes erblicken könnte: man muß eben den Fortschritt nehmen, wie er kommt, und sich möglichst geschickt darauf einstellen. Das wäre aber durchaus nicht das richtige Verhalten.

Zwar sind die meisten angekündigten Neuerungen unvermeidlich, gleichgültig unter welchem Regime und unabhängig von der Politik, für die sich die Verantwortlichen entscheiden. Der Mensch kann sie allenfalls ein wenig beschleunigen oder hinausschieben. Aber diese Neuerungen lassen Raum für zahlreiche <Zukünfte>. Man kann mit der Beeinflussung von Wetter oder Erbgut vieles anfangen. Der Prognostiker sagt nur, daß die Menschheit diese Möglichkeiten haben wird.

Weil die Zivilisation längst ein weltweites Phänomen ist, kann niemand dem Fortschritt ausweichen: er respektiert keine Grenzen. Es gilt die Zukunft vom Fortschritt her zu gestalten. Nach einem klugen Wort von Pierre Masse: müssen wir »die Fakten hinnehmen, aber die Fatalitäten ablehnen«. Die Kenntnisnahme der Voraussagen darf nicht das fatalistische >Also stehet geschrieben wieder zu Ehren bringen. Soll die Fatalität nicht die Oberhand bekommen, so muß man das Unvermeidliche kennen, um es dem Willen des Menschen zu unterwerfen.

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