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5. Arten von Verrücktheit 

 

 

 

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Verrückt sein bedeutet, daß man sich damit abfindet, aus Vorstellungen heraus zu leben.1)  Die ersten Anstreng­ungen, gesund zu werden, erfordern, daß auf die Vernünftigkeit und Sicherheit von Vorstellungen verzichtet wird. Ein gesunder Mensch lebt in jedem Augenblick aus seinen vollständigen Gefühlen heraus, nicht nach den Vorstellungen, wer er sei und was er tun sollte.

Wir gebrauchen den Begriff "Vorstellung" ("image"), wenn wir uns sowohl auf innerseelische Vorstellungs­bilder von der Welt und uns selbst als auch auf die psycho-sozialen Aktionsweisen in der Welt beziehen. Eine Vorstellung, ein Image, ist also eine Überzeugung und eine Rolle, ein Gedanke und ein Spiel.

In den letzten Jahren haben Psychotherapeuten viel Zeit darauf verwendet, die Spiele, die Menschen spielen, und die Struktur und den Inhalt dieser Spiele zu untersuchen; in der klassischen Psychoanalyse lag der Nachdruck auf dem Verständnis der inneren Symbole oder der Verzerrungen, die die Patienten immer wieder ausagieren. Der Begriff "Image" umfaßt in gleichem Umfang die sozialen und die persönlichen Ausdrucks­weisen von Verrücktheit.

Ein Image zu erwerben, kann dem Erwerb eines Haustieres sehr ähnlich sein. Zuerst sind wir vielleicht sehr zufrieden mit unseren neuen Vorstellungen. Was könnte schließlich lieber sein als ein neues Kätzchen oder ein junger Hund? Natürlich sind manche jungen Hunde ängstlich und passiv, andere sind aufdringlich und neugierig, manche ungewöhnlich, andere gewöhnlich. Aber alle brauchen jemanden, um sie heimisch werden zu lassen. 

Images können wie junge Hunde stubenrein oder im Hof gelassen werden. Sie können gut gepflegt und für Hunde­ausstellungen der besseren Gesellschaft dressiert werden, oder man läßt sie zwischen Mülltonnen herumstromern. Sie können Wachhunde oder Schoßhunde sein — die Beziehung ist im wesentlichen dieselbe: Herr und Hund. Die Bindung zwischen Vorstellung und Person läßt sich sehr schwer lösen. Gewöhnlich werden die Menschen mit ihren Vorstellungen alt.

Die Leute glauben, wenn sie wollten, könnten sie ihre Vorstellungen über Nacht zu Hause lassen oder an die Leine legen oder draußen lassen, aber das ist die Falle der vernünftigen Verrücktheit. Vorstellungen können nicht einfach abgelegt werden. Die Behauptung: "das ist ja bloß eine Vorstellung" ist eine Abwehr gegen das Gefühl: "so führe ich mein Leben". Die Leute wollen der Tatsache nicht ins Auge sehen, daß ihre Vorstellung ihr Leben ist. Sie leben, um ihre Vorstellungen aufrechtzuerhalten. Sie sind wie Hundebesitzer, die leben, um ihre Hunde zu ernähren. 


Für die meisten Menschen ist das Leben schon gelaufen, sie haben bereits ihre Vorstellungen und werden sie immer behalten. Nur die aus der Kindheit herübergerettete Hoffnung bleibt ihnen, daß das Leben noch vor ihnen liege, daß "etwas sich ändern werde".

In Abbildung 3 zeigen wir die Beziehung, die innerhalb der Persönlichkeit zwischen Vorstellungen und Gefühlen besteht. Beachten Sie, daß zwischen den beiden ein mittlerer Bereich liegt, den wir als "Unsinns"-Schicht bezeichnen.

 

Abbildung 3: Die Beziehungen zwischen Vorstellungen, Unsinn und Gefühlen

   Vorstellungen    

  Unsinn  

     Gefühle  

 

In der Unsinns-Schicht werden die Gefühlsimpulse verwirrt. Die Vorstellungen nehmen die fragmentierten Gefühle aus der Unsinns-Schicht auf und bauen aus ihnen ein kohärentes Raster, um mit seiner Hilfe auf die Welt und auf innere Impulse zu reagieren. Kurzum, Images haben die Funktion, Unsinn sinnvoll zu machen.

Der direkte Ausdruck von Gefühlen bedarf keiner Images, der ihn stabilisiert. Aber fragmentierte oder verwirrte Gefühle können nicht direkt gezeigt werden, weil sie absurd oder verrückt erscheinen würden. Jemand, der die Unsinnigkeit seiner verworrenen Gefühle zu zeigen beginnt, sieht wirklich verrückt aus. Er wirkt wie aus den Angeln gehoben und aus dem Gleichgewicht gebracht, die Verwirrung ist sichtbar.

Gelegentlich mag es scheinen, als verfalle er in Regression und benehme sich wie ein Kind, denn er bringt seine Vergangenheit und seine Gegenwart durcheinander. Vorstellungen lassen diese nicht im Einklang befindliche Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart vernünftig erscheinen. Sie tun das, indem sie viele Gefühlsfragmente in eine Vorstellung hineinpressen, so daß die Person nicht aus dem Bruchteil heraus reagieren muß, den sie fühlt, sondern vielmehr aus den abgerundeten Bedeutungen und stilisierten Ausdrucks­formen heraus, die sie dem Gefühl zuschreibt.

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Im Milieu der vernünftigen Verrücktheit nehmen die Vorstellungen viele Formen an. Eine junge Frau, die zu dem Schluß kommt, daß heiraten, Kinder bekommen und den Haushalt führen, ihre einzig reale Möglichkeit im Leben sei, hat eine vernünftig verrückte Vorstellung. Sie erscheint vernünftig, weil solche Vorstellungen an sich sozial nicht verrückt oder irre sind. Aber sie ist verrückt, wenn die Handlungen in ihrem Leben nicht direkter Ausdruck ihrer vollständigen Gefühle sind.

Der einzige Unterschied zwischen den Vorstellungen des klinischen Irreseins und den normalen Vorstell­ungen der vernünftigen Verrücktheit ist das mit den Vorstellungen verknüpfte Verhalten. Verrücktheit in Anstalten erscheint sozial absonderlich oder merkwürdig, während normale Verrücktheit die Fiktion erhärtet, das äußere Verhalten entspräche einem kohärenten inneren Gefühlszustand. In Wahrheit beherrscht jede Vorstellung das Leben der Person. Der Inhalt der Vorstellungen spielt keine Rolle — Hausfrau oder Emanze, Automechaniker oder Rock'n-Roll-Star, religiöser Schwärmer oder homosexuelle Tunte; alle sind ein und dasselbe — Vorstellungen.

Kleine Kinder machen keinen Gebrauch von Vorstellungen. Sie sind wütend und zeigen es, sie haben Angst und bringen es zum Ausdruck, sie haben Schmerzen und weinen, sie brauchen etwas und verlangen es, sie sind sinnlich und fassen an, sie sind liebevoll und lieben. Aber Kinder lernen bald, es den Erwachsenen gleichzutun — die Gefühle so lange zurückzuhalten, daß das, was herauskommt, nicht mehr das ist, was ursprünglich gefühlt wurde; dieser Vorgang, bei dem die natürlichen Ausdrucksformen kontrolliert werden, erzeugt das, was wir eine Unsinnsschicht nennen.

Zum Beispiel würde eine heranreifende junge Frau vielleicht sagen wollen: "Ich möchte über Sex Bescheid wissen". Aber dieser Ausdruck ihrer inneren Realität durchläuft ihre Unsinnsschicht und kommt heraus als: "Ich möchte heiraten", "Ich möchte, einen festen Freund haben", "Ich kann nicht", "Jungen sind so aggressiv" oder "Ich bin eine Hure". Was die Frau in ihrem Körper spürt, ist sinnlos geworden. Um sich dazu zu bringen, an ihren Unsinn zu glauben, zwängt sie ihren Körper in die Vorstellung eines braven Mädchens oder eines altmodischen Mädchens, eines Mädchens, das mit jedem ins Bett geht, oder eines frigiden Mädchens, aber vor allem wird sie ein vernünftig verrücktes Mädchen. Sie lernt, einfache und direkte Äußerungen, die eine reale Bedeutung für sie haben, symbolisch auszudrücken, bis sie ihre Nische der vernünftigen Verrücktheit findet.

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   Warum vernünftige Verrücktheit reizvoll ist   

 

Der Reiz der vernünftigen Verrücktheit besteht in der Sicherheit und Stabilität, die sie bietet. Jeder weiß, was jeder andere tun sollte oder nicht tun sollte. Damit jemand von der vernünftigen Verrücktheit zu vollständigen Gefühlen gelangt, muß er durch seine nicht fühlenden, verrückten Prozesse hindurchgehen und fühlen und die trügerische Sicherheit der vernünftigen Vorstellungen aufgeben. Das ist sehr qualvoll für einen Erwachsenen, denn er "weiß" dann nicht mehr, was geschieht.

Es sind viele Ziele und Vergünstigungen damit verbunden, wenn man die Vorstellungen der vernünftigen Verrücktheit beibehält. Das macht die Feeling Therapie für viele Patienten sehr schwierig. Sie wollen wissen, "warum" sie ihren eigenen Unsinn fühlen sollen, oder was sie "bekommen", wenn sie es tun. Auf diese Fragen gibt es keine Antworten. Manche Patienten erfahren ihren eigenen Unsinn nie, außer für kurze Augenblicke, und das erscheint ihnen "unerträglich"; sie machen sich bald auf die Suche nach etwas "Realem und Sicherem": Sie suchen etwas oder jemanden, der ihnen hilft, sich von ihrem eigenen verrückten Unsinn fernzuhalten. Transformation ist unmöglich für jemanden, der etwas Sicheres sucht. Es gibt nichts zu suchen außer dem Fühlen von sich selbst. Will man zu sich selbst kommen, muß man die Unsinns-Schicht erfahren. 

Carl, ein Patient, der seit über zwei Jahren in der Therapie war, schreibt über eine dieser kritischen Perioden:

"Ich konnte nicht mehr zum Training gehen, denn was immer ich auch tat oder fühlte, ich konnte nicht aufhören, bizarre Gedanken über die Trainer zu haben. Nachdem ich ihnen alle meine verworrenen Gefühle gezeigt und gesehen hatte, daß sie auf mich und nicht auf meine Verrücktheit reagierten, wußte ich, daß es nicht an ihnen lag — mein Kopf war außer Kontrolle geraten. In dieser Zeit war alles absolut sinnlos. Ich dachte oft, daß ich wirklich ganz in Ordnung sei, und dann fand ich mich wieder völlig verkorkst. Ich hatte einen Gedanken, und gleich hinterher dachte ich das Gegenteil. Ich fiel auseinander. 

Ich begann, mir darüber klar zu werden, daß viele meiner bisherigen Therapiesitzungen mir nichts gebracht hatten — das waren reaktive Gefühle, Gefühle über dies oder jenes, aber nicht tief aus mir heraus. Ich erfand dauernd Probleme und Antworten auf sie. Ich hatte tausend Gründe, um meine Gefühle zu stoppen. Ich hätte Gefühle' haben können, aber ich änderte mich nicht so sehr wie ich wollte. Vorher hatte ich nie wirklich in mir bleiben und meinen Freunden nahe sein wollen: Ich begann zu erkennen, daß ich auf lange Zeit nahe sein wollte. Ich wollte durch dies alles hindurch. Als ich mich umschaute und so viele Menschen und so wenig Leben sah, erkannte ich allmählich, daß ich mein Leben haben und daß ich, als ich, für mich, leben wollte.

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Meine Erfahrung begann nun, alle die Warums meines Lebens sichtbar zu machen. Ich erkannte, daß ich selbst dafür sorgte, daß ich ein verrückter Patient blieb, damit ein Therapeut immer auf mich aufpassen könnte. Ich begann zu fühlen, wie krank ich in der Gegenwart war, ich hatte mein Leben nicht mehr in der Gewalt. Mein Therapeut half mir dadurch, daß er bloß mit mir redete. Beharrlich half er mir zurück in meinen Körper und mein Leben. Mein Bedürfnis war stäker als meine Ängste und meine Verrücktheit. Es gab keinen Ort, zu dem ich gehen konnte. Ich war hier. Meine Freunde in meiner Gruppe klatschten mich an die Wand, um zu mir durchzubrechen. Ich kämpfte gegen sie, und sie kamen immer wieder auf mich zu. Meine Verrücktheit bestand darin, daß ich nie ganz nachgeben und leben konnte — jetzt bin ich hier mit meinen Freunden und meinem Leben. Daß ich in der Ausbildung war, erschütterte mein Selbstbild als Patient und Verlierer. Ich mußte jetzt mit mehr Fühlen leben, ehe ich diesen abgenutzten Zufluchtsort aufgeben konnte. Immer, wenn etwas unerträglich für mich wurde, konnte ich verrückt werden. Jetzt lebe ich einfach so, wie ich bin."

 

Was dieser Patient erfahren hat, unterscheidet sich nicht von dem, was alle Therapeuten durchgemacht haben. Das "Außer-Kontrolle-Sein" zu erleben, ist tatsächlich der Beginn der inneren Stimmigkeit. Die meisten Menschen leben in ihrer Welt von Vorstellungen und Rollen, ohne sich jemals darüber klar zu werden, daß ihre Vorstellungen sie beherrschen. Sie reden über sich, als ob sie anders sein könnten. Keiner verändert sich jemals wirklich, weil das bedeuten würde, die Vorstellungen aufzugeben und die Unsinns-Schicht zu durchdringen. Eine Vorstellung ist eine Möglichkeit, um an die Verrücktheit zu glauben; Vorstellungen setzen Unsinn in funktionale und vernünftige Verrücktheit um.

 

   Vorstellungen und Sprache   

 

Gespräche übermitteln und verstärken gewöhnlich eher Vorstellungen als Gefühle. Die einzige Möglichkeit, aus der Vorstellungsrealität heraus und zurück zur Gefühlsrealität zu kommen, liegt im Ausdruck; es genügt nicht, die persönliche und soziale Verrücktheit zu verstehen. Verständnis selbst kann ein weiteres "Image", eine weitere Vorstellung, sein.

Vorstellungen, Rollen und Überzeugungen werden durch eine Sprache vermittelt, die linear und antithetisch ist. Wie immer sich jemand selbst definiert und sich selbst vorstellt, das Gegenteil seiner Definitionen bleibt unberücksichtigt; dieses Gegenteil sind die gefühlten Gedanken, die sein Unbewußtes ausmachen. Solange die Sprache im Dienste sozialer Verrücktheit steht, schränkt sie die Transformation ein.

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Damit Gefühle auftauchen können, muß die Sprache beginnen, den ganzen Prozeß widerzuspiegeln, der in einer Person abläuft. Es muß eine Verschiebung von statischer und linearer Sprache zu dynamischer und räumlicher Kommunikation stattfinden.

Die Sprache wird räumlich, wenn sie expressiv ist; sie bleibt linear und vors teilungsfixiert, solange sie nur über etwas berichtet. Lineare Sprache kann etwas über einen selbst aussagen, über andere Menschen, über Dinge und Geschehnisse, sogar über Gefühle, aber sie bleibt kontaktlos und in Vorstellungen gefangen. Eine Person kann sich nicht aus ihren festgelegten Vorstellungen heraus weiterentwickeln, solange- kein Ausdruck der Gefühle erfolgt. Der Ausdruck muß von einem Menschen zu einem anderen fließen; dann ist durch Worte ein räumlicher Kontakt hergestellt. Mit dem Ausdruck wagt die Person einen Schritt ins Unbestimmte. Sie hat keinen Einfluß darauf, was sie als Gegenleistung erhält. Damit läßt sich auf eine andere Weise beschreiben, was bei einem Augenblick des Fühlens geschieht — jemand entscheidet sich dafür, von der Vorstellungssprache zur Gefühlssprache überzugehen.

Die ersten Schritte eines Patienten in Richtung auf seine Gefühle erscheinen ihm wenig oder gar nicht sinnvoll, denn er bewegt sich von der Vernünftigkeit seiner Vorstellungsrealität zur Aufnahmefähigkeit für die Gefühlsrealität. Ein solches Fortschreiten erfordert, daß er zuerst die Unsinns-Schicht hindurchgeht, die sich unter seiner momentanen Vorstellung befindet. Wie schon erwähnt, haben Vorstellungen die Aufgabe, fragmentierte Gefühle zu kohärenten sozialen Rollen zusammenzufügen.

Jeder verspürt einen starken Drang, seine vernünftig verrückten Vorstellungen beizubehalten. Experimente haben gezeigt, daß Menschen versuchen, jeder Art von Situation eine gewisse Ordnung zu geben2). Werden Versuchspersonen zum Beispiel von einem Computer ausgedruckte zufällige Punktmuster vorgelegt, werden sie alle möglichen komplizierten Erklärungen ersinnen, um der Zufälligkeit eine erdachte Ordnung zu geben, überdies werden sie auch noch an ihre Theorien glauben und an ihren Pseudoerklärungen festhalten. Das zeigt, wie stark der Drang der Menschen ist, alles zu ordnen. Jemand, der auf seinen Erklärungen für zufällige Punktmuster beharrt, wird noch unnachgiebiger die vernünftigen Vorstellungen verteidigen, die seine fragmentierten Gefühle in eine Ordnung bringen. Es wird immer einen Grund geben, warum jemand nicht fühlen will.

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Diese Tendenz, alles vernünftig erscheinen zu lassen, ist die Grundlage sozialer Verrücktheit. Die Stärke des Drangs, die eigenen Vorstellungen beizubehalten, auch wenn das innere Verrücktheit bedeutet, läßt sich erklären. Tatsächlich handelt es sich um eine pervertierte Form des natürlichen Dranges, aus integralen Gefühlen heraus tu leben. Wenn ein Kind nicht aus seinen vollständigen Gefühlen heraus leben kann, kommt es so weit, daß es den affektiven Antrieb zur Vollständigkeit durch den kognitiven Antrieb zur Vernünftigkeit ersetzt. Die vernünftige Verrücktheit wird dann durch zwei Antriebe aufrechterhalten: den Antrieb, einen Sinn zu finden, und den umgeleiteten Antrieb zu vollständigen Gefühlen. Der Antrieb zu vollständigen Gefühlen wird in einen Antrieb zu kognitiver Ordnung pervertiert. Anstelle von kognitiver und affektiver Ordnung behält die Person nur die kognitive Ordnung. Jedesmal, wenn sie zu fühlen beginnt, denkt sie.

Manche Menschen glauben irrtümlich, wenn sie zur Therapie kommen, sie müßten das Denken aufgeben. "Ich will bloß fühlen. Ich will nicht denken." Aber was sie aufgeben müssen, ist das Denken anstelle des Fühlens. Der Antrieb zur Kohärenz und der Antrieb zum Ausdruck sind beide natürliche menschliche Antriebe. Erst wenn ein Antrieb durch den anderen ersetzt wird, entsteht eine Perversion. Echtes Denken versucht nicht, Unsinn sinnvoll zu machen oder Aufgeschlossenheit durch Vernünftigkeit zu ersetzen.

Es spielt kaum eine Rolle, ob die Vernünftigkeit eines Menschen sozial akzeptabel oder nicht akzeptabel ist. Wenn seine Vernünftigkeit ein Ersatz für Aufgeschlossenheit ist, dann werden die Gefühle, wie immer sie auch sind, pervertiert, um sich dem Inhalt seiner Vorstellungen anzupassen. Unterhalb der akzeptablen wie der nicht akzeptablen Vorstellungen, befindet sich eine Unsinns-Schicht, und unter ihr wiederum grundlegende Gefühlsimpulse, die durch die Unsinnigkeit verzerrt und durch die Vorstellungen vernunftgemäß gemacht werden.

Gelegentlich glaubt jeder Mensch an seine eigene Verrücktheit. Sie erscheint ihm vernünftig. Die ersten therapeutischen Risiken, die er eingehen muß, bestehen darin, die Sicherheit seiner vernünftigen Vorstellungen aufzugeben und sich in den Unsinn zu begeben, der ihnen zugrunde liegt. Man kann jemanden nicht direkt von der Vorstellungsrealität zur Gefühlsrealität bringen; er muß die Unsinns-Schicht durchlaufen, in der seine vernünftigen Wörter und Handlungen und Überzeugungen sich zu zersetzen beginnen. Wir zeigen das schematisch in Abbildung 4.

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Abbildung 4: Sich von den Gefühlen entfernen (Gefühlsverwirrung) und den Gefühlen entgegengehen (Gefühlsordnung)

   Vorstellungen          Vorstellungen   

   Unsinn            Unsinn   

   Gefühle          Gefühle  

  Gefühlsverwirrung          Gefühlsordnung  

 

 

Arten der Verrücktheit  

 

Sehr wenige Patienten, die zur Therapie kommen, empfinden, was in ihrem Leben fehlt, oder wissen, daß sie einen Stil der vernünftigen Verrücktheit leben. Aus Gründen der Zweckmäßigkeit beschreiben wir in diesem Kapitel nur drei Vorstellungstypen.

Der normale Typus. Die normal Verrückten reichen mit ihrem Ausdruck nicht sehr weit in ihre Umgebung hinein. Auf einem sehr niedrigen Niveau geben sie Gefühle von sich und nehmen sie auf. Eine solche Patientin, Dolores, meinte über sich selbst:

"Ich sagte mir immer, daß in meinem Leben alles okay sei. Ich hatte viel - im Vergleich zu anderen Leuten, und im ganzen war ich glücklich. Ich stamme aus einer guten katholischen Familie, und wir hatten nicht viel Geld, aber 'eine Menge Liebe'. Das stimmte, denn wir aßen jeden Tag zusammen zu Abend, gingen am Sonntag in die Kirche, bekamen jedes Jahr zwei Paar neue Schuhe, tagtäglich Erdnußbutter- und Marmeladenbrote, und meine Mutter sagte es mir.

Später im Leben, als ich verheiratet war, machte ich es genauso wie zu Hause. Ich gab vor, eine gute Ehe mit Bill zu führen — er liebte mich und behandelte mich gut, und wir waren uns sehr nahe. Er arbeitete nicht, denn er war Künstler und brauchte Zeit, um sich zu finden und seine Kunst zu entwickeln. Ich arbeitete und unterhielt ihn, denn ich war keine Künstlerin. Ich war ein "Arbeiter", und Arbeiter sollten den wirklich begabten Leuten (Bill) helfen, ihren Ausdruck zu finden. Bill sagte mir das, und ich glaubte ihm.  

Ich gab nie zu, daß etwas nicht stimmte. Wenn irgend etwas in meinem Leben geschah, das 'schlechte' Gefühle hervorrief, verdrehte ich die Tatsachen im Geist, so .daß ich weiterhin glauben konnte, es sei alles in Ordnung, und nicht zu fühlen brauchte.

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Wenn ich irgendwann wirklich etwas fühlte, dann in bezug auf jemanden oder etwas außerhalb von mir. Schlager oder Filme konnten mich zum Weinen bringen — ich weinte dann darüber, wie traurig es für den Filmhelden sei, daß er so allein oder betrübt oder verletzt war. Ich konnte wütend werden über Vorurteile oder den Krieg in Vietnam oder andere sozialpolitische Fragen.

Auch war ich eine begeisterte Zuhörerin, wenn mir andere Leute ihre Schwierigkeiten schilderten — ich glaubte, ich könnte ihnen helfen, könnte wirklich Mitgefühl für sie empfinden. Die Wahrheit War, daß ich vor der Therapie kein Mitgefühl empfinden konnte."

 

Dolores war eine sehr "nette" Frau. Sie kam zur Therapie, weil sie ein "paar" Probleme hatte, zum Beispiel Frigidität, und ganz allgemein das Gefühl, ihr entgehe etwas im Leben. Die meisten Menschen würden sagen, sie war normal. Wir sagen, sie war normal verrückt. Nichts in ihrem Leben kam aus dem, was sie fühlte. Sie war keine Frau, sondern eine Rolle — ein Arbeiter und eine Ehefrau. Ihr Leben drehte sich um diese Vorstellung. 

Als sie mit der Therapie begann, konnte sie schon einige Gefühle ausdrücken. Ihre Gefühle von Traurigkeit über Filme und Schlager waren zu Beginn ein Vorteil bei ihrer Therapie und später eine Abwehr — ein Vorteil, weil sie zumindest Zugang zu Gefühlen hatte, und eine Abwehr, weil sie um andere weinte und nicht um v sich selbst. Als sie in der Therapie vorankam, begann sie, Mitgefühl für sich zu empfinden. Das machte sie offen für ihren eigenen Ausdruck der Gefühle und ermöglichte ihr, die Rolle der Arbeitenden aufzugeben. Sie war nicht Bills Ehefrau — sie war seine Ernährerin gewesen. Dolores verließ Bill, als er ihre Beziehung nicht ändern wollte. Er wollte der "sensible Künstler" bleiben und nicht ein Mann sein, der eine reale Beziehung zu einer Frau hat.

Dolores war seit mehr als zwei Jahren in der Therapie, als sie schrieb:

"Ich bin im Ausbildungsprogramm und denke manchmal, Auszubildende dürften keine Angst haben, oder ich denke, ich brauche keine Hilfe, ich könne selbst für mich sorgen. Manchmal, wenn ich ein Gefühl nicht gleich ausspreche, kämpfe ich mit mir, ob ich es sagen soll oder nicht — und immer fallen mir eine Menge Gründe ein, warum ich es nicht sagen sollte und warum es nicht wirklich wichtig sei. Aber jetzt beginnen meine Gefühle endlich aufzutauchen und sich gegen all diese Gedanken durchzusetzen. Wenn ich mich zur Cotherapie hinlege und versuche, mit mir in Kontakt zu kommen, dann vermag ich alles zu sagen, was ich denke, selbst wenn es verrückt klingen mag. Je mehr ich sage und mich durch meine Abwehr hindurcharbeite, um so aufgeschlossener werde ich, und meine Gefühle kommen zum Ausdruck."  

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Der normal Verrückte empfindet gewöhnlich die Verheerung seines vernünftigen Lebens nicht, bis er zur Therapie kommt. Und dann wird das bisher als normal Akzeptierte als inhaltslos empfunden.

 

Der passive Typus. Der zweite Patiententyp, der zu uns kommt, ist der passiv Verrückte. Für ihn scheint jeder Ausdruck unannehmbar zu sein. Er überprüft jeden Gedanken und jede Handlung, ob sie okay sind. Eine derart sorgfältige Überprüfung hat zur Folge, daß eine Reaktion sehr lange zurückgehalten wird. Die Äußerungen des abgestumpften Erwachsenen vermögen nicht tief in die Umgebung einzudringen. Seine Reaktionen hören auf, ehe sie gelebt werden. Er kann nicht leben, was er fühlt. Er ist eine verstärkte Verzerrung der normal verrückten Person, die partiell lebt, was sie fühlt.

Ein Patient, Bob, der sehr passiv war, ehe er zur Therapie kam, schreibt über sich selbst:

"Vor der Therapie hielt ich mich für sehr schlau — ich wußte besser als andere Leute, was wirklich vorging, weil ich mich nicht mit Kleinigkeiten oder unwichtigen Situationen aufhielt. Ich hörte dadurch auf, auch nur Kleinigkeiten zu wollen, indem ich dachte, ich sei über all das erhaben und sei schlau und besser dran, weil ich nicht an ihnen interessiert sei. Ich hörte dadurch auf, Furcht zu empfinden, indem ich mir ausmalte, was ein anderer tat — das Denken machte es okay für mich, dem anderen die Schuld zu geben oder ihn zu demütigen und das als Ausgangspunkt zu nehmen. Ich träumte davon, wie sehr ich wünschte, daß die Dinge so wären oder für mich auf bestimmte Weise liefen. Ich schien immer zu träumen."  

 

Während Bobs Therapie schien es zeitweise, als würde er nie durch seine Abwehr hindurchkommen. Aber er hatte den Willen, sich zu ändern, und sein Therapeut arbeitete sehr langsam mit ihm, im Gegensatz zu Dolores, die gedrängt wurde, sich mit gewissen Abwehrformen und Teilen ihrer Verrücktheit rasch auseinander­zusetzen. Bob wurde eine Zeitlang ein normal verrückter Erwachsener wie Dolores. Sonst wäre für ihn der Übergang von der Welt der Toten zur Welt der Lebenden zu gewaltig gewesen. 

Er begann über Filme zu weinen und mit anderen Menschen zu reden und ihnen zuzuhören. Schließlich arbeitete er sich durch mehr Abwehrformen hindurch und begann, Bob zu sein, ein einfacher Mann. Je besser sein Leben in der Gegenwart wurde, um so mehr Gefühle und Verrücktsein wurden wachgerufen. Faktisch erkennen die Menschen nie, wie verrückt sie sind, bis sie beginnen, in der Gegenwart anders zu sein. Die, Zunahme des Fühlens in der Gegenwart ist das, was die meisten abgestumpften und normal verrückten Personen erschreckt. Sie wollen ändern, wer sie sind, aber nicht, wie sie sind.

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Viele Patienten wollen, daß die Veränderung ein geheimer Ritus ist; sie haben Angst davor, zu wählen und aus ihren Gefühlen heraus zu leben. Sein Verrücktsein zu empfinden und dennoch Gefühle auszudrücken, ist mehr, als die Vorstellung des auf Sicherheit bedachten Patienten bewältigen kann.

 

Der auf irre weise verrückte Typus. Jedes Gefühl des auf irre Weise verrückten Erwachsenen ist gespalten und blockiert, wenn es den verwirrenden Unsinn durchläuft, bis der schließliche Ausdruck des ursprünglichen Impulses nur noch ein Bruchteil dessen ist, was ursprünglich gefühlt wurde. In dieser Situation hat der Erwachsene ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit. Da er nicht in der Lage ist, jemals zu sagen, was er fühlt, beginnt er zu denken und nur auf sich zu reagieren, weil der von ihm ausgehende Gefühlsstrom so unterbrochen und zerstückt ist. 

Seine Einsichten und sein Verständnis für Menschen und die Welt können außerordentlich scharfsinnig sein, aber sie haben nichts mit seinen direkten Gefühlsimpulsen zu tun. Er ersetzt sein Bedürfnis nach Ausdruck durch ein ausgeklügeltes Gedankensystem oder Weltanschauungen, die entweder funktional und verständlich oder nicht funktional und absonderlich sind. Seine komplizierten Theorien entsprechen dem komplizierten Irrgarten, den jedes seiner Gefühle durchlaufen muß, ehe es zum Ausdruck gelangt.

Der auf eine irre Weise verrückte Erwachsene sieht gelegentlich verrückt aus und erscheint auch so. Solche Menschen sind nicht hilflos, obwohl das einer ihrer Abwehrmechanismen ist. Weil sie sich periodisch verrückt verhalten, bringen sie die normal Verrückten wie Dolores dazu, sich ihre Schwierigkeiten anzuhören, ohne daß sie je vorhaben, sich zu ändern. Manche fühlen sich mit Schwierigkeiten wohler — Schwierigkeiten sind eine Erklärung und ermöglichen ihnen, ihrer verworrenen Welt eine Richtung zu geben.

Judy ist eine Patientin, die wir auf irre Weise verrückt nennen würden. Im folgenden beschreibt sie, wie ihr Verstand sie von ihren Gefühlen fernhielt:

"Eine sehr bedeutsame Weise, wie mein Verstand mich vor der Therapie am Fühlen hinderte, war, daß ich weder mir noch irgend jemand anderem vertraute. Mir traute ich nicht, weil ich fürchtete, ich würde die Selbstbeherrschung verlieren und verrückt werden. Ich glaubte, der Grund, warum ich so beherrscht war, sei vielleicht, daß ich es wirklich nötig hatte, so zu sein. Ich glaube, im Grunde war ich tatsächlich verrückt.

Ich dachte immer, ich wäre sicherlich in einer Nervenklinik gewesen, wenn meine Schwester es mit mir nicht aufgehalten hätte. Ich glaubte, wenn ich ein kleines Gefühl empfinden würde, dann könnte das den ganzen Schrecken und die Verrücktheit aus meiner Vergangenheit zum Ausdruck bringen.

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Ich bildete mir ein, ich wäre impulsiv und würde mich umbringen oder plötzlich hysterisch weinen oder nicht mehr imstande sein, mein tägliches Leben zu führen, weil ich von Gefühlen überwältigt würde. Tatsächlich war ich so beherrscht, daß ich niemals auch nur weinte. 

Ich sagte den Menschen nicht direkt, daß ich ihnen nicht traute, aber auf tausenderlei Weise brachte ich das Mißtrauen indirekt zum Ausdruck: <Du bist gar nicht wirklich interessiert ... Du wendest nur eine spezielle Technik bei mir an ... Du hast nicht genug Zeit für mich ... Ich fühle mich nicht geborgen ... Wie kannst du mir helfen, du bist ebenso verrückt wie ich.> 

Wenn ich etwas zu fühlen begann, dann war es gewöhnlich Nervosität. Ich versuchte dann, in meine Gefühle hineinzugelangen, indem ich in mein Zimmer ging und mich aufs Bett legte, und dann begann mein Verstand zu rotieren und dachte tausend Gedanken, und ich stellte mir Fragen und versuchte, mir auszumalen, was ich fühlte und warum — ich mußte einen Grund haben. Es endete gewöhnlich damit, daß ich übernervös und aufgedreht war und aufgab oder mir alles vorstellte, über das ich vorher geredet hatte. Ich war sehr gerecht und rational und sachlich in der Frage, ob es für mich 'in Ordnung' wäre, etwas zu fühlen, vor allem Ärger. Ich hörte mir genau an, welche Ansichten oder Gefühle andere Leute hatten, und ich war beliebt wegen meines 'objektiven Feedback'. Ich war so beschäftigt damit, nachzudenken und zu überlegen, was richtig und was falsch war und was die andere Person empfand, daß ich niemals mich und das, was ich wollte, fühlte.  

Ich war sehr scharfsichtig und geduldig. Ich hatte eine erstaunliche Fähigkeit», mir vorzustellen, was andere Leute fühlten und dachten. Ich knobelte aus, wie ich am besten bekommen könnte, was ich wollte, ohne sie zu beleidigen — lügen tat ich nie —, ich wußte einfach, wie man die Wahrheit so sagt, daß andere Leute sie hören konnten, ohne sich im mindesten bedroht zu fühlen oder eine Abwehrhaltung einzunehmen. Natürlich wurden dadurch viele meiner eigenen Gefühle umgangen oder ausgelöscht, aber die Lage wurde dadurch für mich ungefährlich. Ich wollte den Menschen gegenüber immer ehrlich und gerecht sein und sie niemals betrügen, und ich hoffte, sie würden mich genauso behandeln. Jetzt weiß ich, was ich wirklich will: daß die Menschen ehrlich zu mir sind; und ich will nichts tun, um es zu verdienen.

Ich war damals sehr analytisch und gab eine Menge Erklärungen ab. Wenn ich mit Leuten sprach, stellte ich ihnen viele Fragen über sie und ihre Gefühle. Ich sagte ihnen dann, was meiner Ansicht nach mit ihnen los sei, und gewöhnlich mochten sie mich Oder waren beeindruckt, weil ich gewöhnlich recht hatte.  

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Ich half ihnen sehr, und deshalb mochten mich viele Menschen. Aber für mich kamen ihre Gedanken und Gefühle immer an erster Stelle, und ich verlor mich selbst. Ich kannte mich nur in Form von Erklärungen. Ich konnte Gründe angeben, warum ich etwas tat oder dachte. Stundenlang konnte ich mein Leben und meine Gedanken erklären, und die Leute waren immer beeindruckt von meinem klaren Denken und wie gut ich mich kannte. Aber schließlich erkannte ich, daß ich mich selbst überhaupt nicht fühlte. Und da beschloß ich, zur Therapie zu gehen."  

*

Judy war nicht verrückter als Dolores oder Bob — nur war ihre Verrücktheit anders. Auf vielerlei Weise versuchte sie indirekt, mit den rasenden Gedanken ihrer Verrücktheit fertig zu werden. Mit ihr zu arbeiten war nicht schwieriger als mit irgendeinem anderen. Über ihre Therapie sagt sie:

"Eins wollte ich immer — jemand anderen dort im Raum mit mir fühlen, der fühlte und mich durchein­ander­bringen würde, jemand, der mich dazu bringen würde, alle meine rasenden Gedanken rauszulassen. Riggs hat das für mich. Zuerst wartete ich bloß ab, ob er den 'Therapeutendreh' bei mir anwenden würde, aber er wartete ebenso lange ab wie ich. Ich entspannte mich ein bißchen, und seit der Zeit wurde meine Therapie immer offener. Er bringt mich stets dazu, langsamer vorzugehen, wenn ich alles rauslassen und lösen will. Er bringt mich dazu, daß ich fühle. Ich bin jetzt neun Monate in der Therapie, und periodisch habe ich sich überstürzende Gedanken und verrückte Gedanken, aber jetzt spreche ich sie aus und fühle, was dahinter für mich ist. Eins weiß ich — daß ich fühle und liebe. Früher hatte ich das nie gewußt." 

Für Judy war die Therapie ein langer Prozeß, der ermöglichte, daß ihre verworrenen Gedanken und Gefühle herauskamen und sie dann langsam begann, sich durch vollständige Gefühle in Ordnung zu bringen. Ihre verrückten Gedanken sind nicht "schlecht" — sie sind ihre Art und Weise, sich gegen ihre Gefühle zu wehren.

 

Was in der Therapie geschieht. Ein Patient, der schon einige Zeit in der Therapie ist, hat immer noch Vorstellungs- und Unsinns-Schichten in seiner Persönlichkeit, aber er hat auch mehr Zugang zu seinen direkten und vollständigen Gefühlen. Wenn sich im Lauf der Therapie sein Gefühlsniveau erhöht, wird die Energie, die gebraucht wurde, um. den Unsinn aufrechtzuerhalten, zurückgezogen und in seinen Gefühlen ausgedrückt. Die Unsinns-Schicht beginnt langsam an Umfang und Stärke abzunehmen. Direkter Ausdruck ermöglicht dem Organismus, den Unterschied zwischen vernünftiger Verrücktheit und Gesundheit, zwischen partiellen und vollständigen Gefühlen zu erkennen und zu fühlen. Das bedeutet nicht, daß sich der Unsinn auflöst und nie wieder angetroffen wird. Jeder Organismus kehrt langsam zu seiner ursprünglichen Gefühls- und Entwicklungsdynamik zurück.

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Der vielleicht dramatischste Aspekt der Feeling Therapie ist nicht, daß die Patienten Blockierungen durch­machen und starke Gefühle erleben, sondern daß sich ihre ganze Art zu fühlen ändert. Sie erhöhen nicht nur ihr Gefühlsniveau, sondern kehren langsam zu der Aufgeschlossenheit des Fühlens zurück, das sie einst als Kinder hatten. Das bedeutet, sie müssen lange Perioden der Verwirrung und Bestürzung durchmachen, und in dieser Zeit sind die Patienten nicht mehr sichere Erwachsene und bestimmt keine Kinder. Dieses lange verschlossene Gefühlssystem zu öffnen, ist beängstigend, denn zuletzt hatten sie starke Gefühle in der Kindheit, aber keine Möglichkeit, ihre Offenheit aufrechtzuerhalten.

 

  Was hätte sein können   

 

In seinem natürlichen Zustand kann das Kind seinen Gefühlen direkt physischen und verbalen Ausdruck geben. Ein Gefühl wie "ich will dich" wird dann durch physisches Greifen und Kontakt mit den entsprechenden Worten ausgedrückt. Das natürliche Kind hat viele Bedürfnisse mit den ihnen entsprechenden Ausdrucksformen, so daß es natürlich aufwachsen kann, ohne seinem Körper Gewalt anzutun.

Würden Kinder natürlich aufwachsen, dann würde ihr Gefühlsniveau ebenso wie ihre Körper Jahr für Jahr größer werden, so daß sie als Erwachsene voller Leben und Gefühl wären. Sie würden ihre nach allen Seiten gerichtete Ausdrucksfähigkeit behalten.

Der Expansionsprozeß würde während des ganzen Lebens des Kindes andauern. Es würde keinen abrupten Übergang ins Erwachsensein geben, denn die Gefühlsfähigkeit der Kindheit wäre nie verloren gegangen, sondern würde das ganze Leben hindurch weiterbestehen. Das Lernen würde ein erfreuliches Geben und Nehmen zwischen fühlenden Organismen mit sich bringen. Die sexuelle Entwicklung würde das Leben lang an halten. Das natürliche Kind wäre sexuell, würde es genießen, berührt zu werden; wenn sein Körper zum Geschlechtsverkehr bereit wäre, würde das ganz natürlich vor sich gehen. Es gäbe kein Mißverhältnis zwischen seinen Gefühlen und deren Ausdruck.

 

Das heranwachsende Kind würde die Fähigkeit, seine Umwelt mit den Sinnen aufzunehmen, nicht verlieren. Es würde nicht bloß Etiketten sehen, jemanden oder etwas — es würde riechen, schmecken, hören und fühlen. Es würde aus einer Harmonie von Wahrnehmungen und Fühlen heraus empfinden. Es würde keine zeitliche Verzögerung und kein Zurückhalten der Gefühle geben, während der Verstand irgendeine fixe Vorstellung überstülpte. Säuglinge und Kinder drücken ihre Gefühle in den Grenzen ihrer Ausdrucks­möglichkeiten aus.

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Erwachsene würden auch imstande sein, ihren Ausdrucksbereich mit ihrem Gefühlsniveau in Überein­stimmung zu bringen. Mit dem körperlichen Wachstum und der Zunahme von Gefühlen Würde sich der Ausdrucksbereich erweitern. Die Menschen würden ihre Kindheit nicht verlieren; sie würden sich nicht weg von ihren Gefühlen entwickeln, sondern durch ihre Gefühle.

Dieses anscheinend ideale Dasein beginnen die Patienten allmählich, wenn sie zulassen, daß ihre Gefühle die Leitung ihres Lebens übernehmen3)

Mark, unser Patient seit zwölf Monaten, schreibt über seine Erfahrungen:

"Vor der Therapie hatte ich viele mystische Sekten und Meditationsarten studiert. Ich war dauernd auf der Suche nach kosmischer Einheit. Natürlich hatte ich meine eigenen Probleme, aber sie erschienen mir weniger wichtig als mein Streben nach kosmischem Bewußtsein. Ich suchte das, was ich mit Drogen erfahren hatte. Während ich die verschiedenen psychedelischen Drogen wie LSD und Mescalin nahm, erlebte ich immer wieder Augenblicke, in denen ich meine Umgebung mit all meinen Sinnen aufnahm. Ich hörte, schmeckte, roch und sah und kam mit jemandem oder etwas auf einmal in Berührung. Das einzige, was meiner Ansicht nach dem nahekam, was ich fühlte, war meine Lektüre über religiösen Mystizismus. 

Ich kam zur Therapie, nur um ein paar Probleme zu lösen, ehe ich eine 'Reise in den Osten' antrat. Ich wollte ein Initiand werden. Leider ändert sich die Therapie, wie ich mich änderte. Immer wieder versuchte ich, sie zu definieren, damit ich sie hinter mich bringen und dann gehen konnte. Und immer wieder nahm mir meine Therapeutin die Definitionen weg. Zu guter Letzt war das, weswegen ich gekommen war - meine Probleme - keine Probleme mehr, und dann schickte mich mein Therapeut auf "Urlaub", wie er es nannte. Ich ging in ein Kloster in Big Sur. Es dauerte nicht einmal eine Woche. Was ich für kosmisch gehalten hatte, schien mehr komisch zu sein. Ich weiß, daß ich nicht sehr lange dort blieb, aber mir wurde klar, daß ich kein Asiate bin, und diese Art, mich zu finden, war nichts für mich.  

Ich kam zum Center und meinen Freunden zurück und stellte fest, daß die Therapie 'verschwunden' war. Ich hatte nur noch meine Gefühle und half meinen Freunden mit ihren Gefühlen. Manchmal lasse ich mich in Gedanken noch willenlos treiben, ohne zu wissen, was ich eigentlich tue oder was rings um mich geschieht, und dann scheine ich aufzuwachen, und alles ist klar. Ich bin nicht mehr ziellos. Ich fühle mein Leben und seine Ausrichtung in mir.

Die Verbundenheit mit anderen Menschen, mit der Natur und mir selbst, die ich unter Drogeneinfluß empfand, ist auch möglich, wenn ich fühle. Meine Verrücktheit ist es, die mich davon abhält. Der Weg, den ich suchte, ist verschwunden, und ich habe meine äußere Suche durch mich selbst ersetzt.  

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Für mich war die Therapie ein Ort, um einen Anfang zu machen — aber sie existiert jetzt nur noch für neue Patienten und Patienten, die Hoffnungen außerhalb von sich hegen. Für mich ist die Therapie das Zusammensein mit Freunden, das gegenseitige Helfen, in der Therapie Hilfe zu bekommen und aus dem heraus zu leben, was ich fühle."  

 

Wie dieses Beispiel zeigt, hat Mark auf seine Weise getan, was die meisten Menschen ihr Leben lang tun wollen, aber nie schaffen — er ist erwachsen geworden. Sein Hang zur Mystik und die Symbole für seine Gefühle unterscheiden sich nicht von den Ambitionen von Menschen, die nach Hollywood kommen und Filmstars werden wollen. Die Menschen inszenieren Aufführungen in voller Kostümierung, damit sie glauben können, sie wären das, was sie sein wollen.

Patienten wie Mark können Stückchen ihres Gefühlslebens nur momentweise durch Drogen wiedererlangen. Aber sie können diese klaren, ungedämpften Momente nicht aufrechterhalten. Nur wenn sie die Diskrepanz zwischen dem, wie sie sind, und dem, wie sie sich unter Drogen fühlen, zu empfinden beginnen, kommen sie dem Aufwachen aus dem Schlag der Kindheit nahe. 

Mark drückt das so aus:

"In vielen Therapiesitzungen konnte ich mich an Zeiten in meinem Leben erinnern, zu denen ich im Hintergrund war. Was ich zu meinen Eltern sagte, schien sie nicht zu erreichen. Ich fand mich allmählich damit ab, nur etwas zu sagen, was für sie gar nichts bedeutete. Ich lernte, klug zu lügen und interessante Bemerkungen zu machen. In den Sitzungen fühlte ich, wie weit im Hintergrund ich war, ich wollte noch weiter weggehen. Ich wollte mich an einem sicheren Ort verstecken. Als mein Therapeut mich drängte, zu fühlen, wie weit weg ich war, kam es mir vor, als wäre er der einzige Mensch, den ich je gekannt hatte. Da war er und drängte mich noch stärker, wegzugehen, ließ mich fühlen, was ich als Kind durchgemacht hatte und was ich jetzt tat.

In anderen Sitzungen haßte ich oft all es und jeden. Ich wollte nichts, als einen sicheren Ort finden. Aber zu guter Letzt konnte der haßerfüllte Junge und Mann, der ich war, nicht länger hassen. Ich wollte hassen und mich weit weg in mich selbst zurückziehen, aber etwas in mir schmolz, etwas, das diese Tränen auslöste, die mir über das Gesicht rannen. In dieser Sitzung begann ich Dominic als einen Menschen zu sehen, der auf mich wartete und mich all diese verrückten Dinge sagen ließ. Ich konnte ihn riechen, ich konnte hören, wie er sich im Raum bewegte. Und dann rannen die Tränen schneller. Je mehr ich ihn im Raum mit mir spürte, um so trauriger war mir zumute. Er war hier mit mir, und ich konnte nicht weit weggehen. 

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Ich wollte wirklich dort sein, so wie ich auch als Kind in meinem Hause hatte sein wollen. Ich hatte damals nicht weggehen wollen — ich wollte nur ein Junge sein und mit meinen Eltern und Brüdern zu Hause sein. Es war mir immer zu schwierig erschienen, darum zu bitten: 'Laß mich zu Hause sein. Hilf mir, hier zu bleiben, Mammi. Mammi, ich ziehe mich weit weg in mich selbst zurück, hilf mir, hier zu bleiben.' 

Wenn Dominic nicht da im Raum gewesen wäre, hätte ich es nicht vermocht, meine Mutter zu bitten, es war so schwierig, sie zu bitten, nachdem ich in all diesen Jahren nichts gesagt hatte. Aber in Wirklichkeit wollte ich dableiben, und ich war verletzt. Je länger ich dort mit Dominic war, um so stärker fühlte ich meine Vergangenheit. Ich vergaß zu bitten. Ich glitt immer wieder in Gedanken und Träumereien, aber Dominic weckte mich dann und half mir wieder, mich meiner zu erinnern, und dann kamen die Tränen wieder. Ich wollte, daß meine Mutter mich dort haben wollte, aber sogar das trat zurück hinter meinem Wunsch, da zu sein — meinem Wunsch, zu bitten und da zu sein. Ich begann für mich zu fühlen, für mich zu bitten, für mich zu sehen und zu hören. Je mehr ich das tat, um so mehr weinte ich und wurde von Traurigkeit erfüllt.

Wenn ich darauf wartete, daß sie die Mutter wäre, die ich wollte, oder wenn ich darauf wartete, daß jemand anderes mich wollte, dann bat ich nie darum. Doch als Dom mir half, für mich zu bitten, da spürte ich, wie ich wach wurde, und fühlte die Traurigkeit und daß ein sicherer Ort, um sich zu verstecken, nur ein vorgetäuschter Ort war, um sich einige Augenblicke auszuruhen.

Jetzt gehe ich manchmal weg und versuche, mich von meinen Gefühlen auszuruhen, aber ich werde das bald leid und will herauskommen. Ich will nicht weggehen. Jetzt tut es weh, wegzugehen. Ich kann es fühlen, wie ich in diesen schläfrigwachen Zustand hineingleite, in dem alles an mir vorbeigeht, aber ich kann fühlen, daß ich weggehe, und muß es nicht tun. Ich will jetzt bloß leben — das ist alles, was ich habe."  

 

Viele Patienten wie Mark formen ihre erste Unsinns-Schicht zu einem schlafähnlichen Zustand. Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, die zeigen, daß sich manche Kinder unter Streß in einen traumähnlichen Zustand begeben, während sie noch wach sind4). Klinisch haben wir das bei vielen unserer Patienten beobachtet.

Die erste Unsinns-Schicht entfernt das Kind von den unmittelbaren Realitäten seines Lebens. Und in mancher Beziehung ist das gut, denn es gibt niemanden im Leben des Kindes, der ihm zu helfen versacht, seine Gefühle zu retten. Schlecht an der Unsinns-Schicht ist, daß sich das Kind nicht mehr mit derselben Intensität, die es innerlich fühlt, direkt ausdrücken und nichts mehr direkt von außen aufnehmen kann. Alles in seiner Welt ist abgestumpft.

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Oft haben Patienten, wenn sie sich in die Zeit zurückversetzten, in der sie diese Schicht aufbauten, fest­gestellt, daß Freunde, Tiere oder auch ein einzelner Lehrer versucht hatten, an sie heranzukommen, aber daß sie es nicht hatten fühlen können. Sie wußten nur, daß diese Person sie nicht verletzte und auch nicht veranlaßte, weiter wegzugehen.

Kinder können aus ihrer Unsinns-Schicht nur herausgebracht werden, wenn sie aus den Situationen heraus­genommen werden, die ihre Verworrenheit verursachen. Die Kinderpsychiatrie bringt das Kind meistens nur dazu, zu verstehen, was ihm widerfährt. Bestenfalls bietet sie einen erwachsenen Freund an, der dem Kind einen Zeitraum verschafft, in dem es ohne Furcht leben kann. Furcht ist für das Kind nicht immer Furcht vor physischer Gewalttätigkeit — oft ist sie eine generalisierte Furcht vor dem Unsinn der Verrücktheit, den Erwachsene von sich geben. Diese Furcht wird von Erwachsenen, die zu abgestumpft sind, um wirklich Furchterregendes überhaupt wahrzunehmen, als "Angst" bezeichnet.

 

Die vielleicht betrüblichste Auswirkung der ersten Unsinns-Schicht ist, daß niemand das Kind wirklich mehr kennt — man kennt nur noch eine Version von ihm. Man wird von ihm sagen: "Es ist launisch" oder "Er ist immer ein egoistischer Junge gewesen". Man wird sogar auf "Tatsachen" zurückgreifen, um solche von Unkenntnis zeugenden Bemerkungen zu untermauern, etwa: "Schon als sie noch klein war, konnte man sehen, daß sie dickköpfig war", oder "Na ja, kein Wunder, daß er so ist. Alle Männer in dem Zweig der Familie sind so". Und das Kind erkennt auch keinen anderen oder nichts anderes mehr direkt — es erkennt nur eine Version von allem, eine Version, die durch seine Unsinns-Schicht verdunkelt wird.

Das einer vollständigen Gefühlsrealität beraubte Kind baut eine Version der Realität auf, es beginnt, sich seine eigene vernünftige Verrücktheit zurechtzumachen. Es erfindet Gründe, warum die Lage so ist, wie sie ist. Den meisten Erwachsenen fällt es ungeheuer schwer, je einzusehen, daß das, was sie sich als Kind zurechtmachten, nicht mehr die Wahrheit ist. 

Es spielt keine Rolle, ob die erfundene Realität richtig und vernünftig oder absonderlich und dumm ist — sie ist in jedem Fall unsinnig, wenn sie nicht gefühlt werden kann. Nur wenn der Unsinn eingesehen und gefühlt wird, kann der Erwachsene beginnen, die Welt und sich direkt zu erkennen. Die Vernünftige Verrücktheit, die in dieser ersten Unsinns-Schicht aufgebaut wird, schreibt Empfindungen Ersatz­bedeutungen zu.

 

Diese Zuschreibung findet statt, wenn ein Kind feststellt, daß gewisse Bedeutungen, Empfindungen und Ausdrucks­arten nicht mehr annehmbar sind. Um seinen unangenehmen Gefühlen Einhalt zu bieten, benutzt es Spannungen, um Blockierungen für diese Ausdrucks- und Gefühlsformen zu schaffen, die ihm Unbehagen bereiten.

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Für ein junges Mädchen kann das bedeuten daß sie jedesmal ihr Becken und die Beinmuskeln anspannt, wenn sie das Bedürfnis empfindet, von ihren Eltern in den Arm genommen zu werden. Diese Gefühls­blockierung mag immer dann auftreten, wenn ihre Eltern sie anspornen, sie solle sich wie eine Große benehmen, Sie weiß, um erwachsen zu sein, darf sie keine wackligen Beine haben, das würde sie jedem völlig ausliefern, der sie in den Arm nimmt, wenn sie das Bedürfnis hat, in den Arm genommen zu werden. Das ist so bei kleinen Mädchen, aber sie soll kein kleines Mädchen sein. 

Wird dieser Entwicklung nicht Einhalt geboten, macht sie sich auch bemerkbar, wenn das Mädchen erwachsen ist, so daß sie sich dann ihren Gefühlen nicht vollständig überlassen kann, selbst wenn sie es will, sei es beim Sex oder einer innigen Beziehung zu einem anderen Menschen. Ihre Blockierung wird niemals eingestanden, sofern sie nicht mit Menschen zusammen ist, die im Gegensatz zu ihren Eltern eine volle Reaktion von ihr erwarten, und erst wenn sie mehr will als nur einen Teil ihrer eigenen Gefühlsäußerungen.

Einige Kinder behalten ihr sportliches Können, andere ihre Sexualität, manche ihre Intelligenz, manche ihre Fähigkeit, zu reden und zu berühren. Aber keines behält alles von dem, was in ihm ist. Es ist die vernünftige Verrücktheit, die sagt: "Er ist zu sensibel für Baseball", oder "Er ist zu sportlich für Musik und Poesie", oder "Sie ist zu schüchtern fürs Theater und zum Schauspielern". 

Oft hört man Leute sagen: "Er ist der geborene Sportler" oder "zum Schriftsteller geboren" oder "zum Künstler geboren", aber sie machen sich nie klar, daß jedes Kind zu allem geboren ist, was menschlich ist. Doch Unsinns-Schichten blockieren, verhindern den Ausdruck und nur Bruchstücke des Kindes erreichen das Erwachsenenalter.

In der Therapie finden die Patienten diese Teile von sich, die im Laufe der Jahre verstreut wurden, und sie beginnen, sich wieder zusammenzufügen. Diesmal nehmen Patienten und Therapeuten sich die Zeit, die nötig ist, um ein vollständiges Leben wieder aufzubauen und zu erschließen. Um die Reste zu finden, müssen sich die Patienten mit der vernünftigen Verrücktheit auseinandersetzen und ihre Stichhaltigkeit in Frage stellen. Als Patienten können sie all die blockierten und in. Schichten übereinanderliegenden Teile ihres seelischen Durcheinanders bloßlegen und die Hilfe bekommen, die sie brauchen, wenn sie beginnen, das zurück­zufordern, was ihnen gehört.

 

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   Regeln der vernünftigen Verrücktheit   

 

Wir sind der Meinung, daß jeder, der sich selbst nicht vollständig fühlt und diesen Mangel an Gefühl seiner Umgebung mitteilt, vernünftig verrückt ist. Es gibt keinen Grund, Gefühle zurückzuhalten; es gibt nur eine allgemeine soziale Einstellung, die besagt, Erwachsene und Kinder konnten nicht genauso leben, wie sie sind. Die Regeln der vernünftigen Verrücktheit sind sehr einfach:

1 ) Sage nicht, was du fühlst;
2) Sage nicht, was du meinst, und
3) Folge nicht deinen Körperempfindungen und -impulsen.

Die Menschen schreiben sich die Regeln der Verrücktheit gegenseitig vor. Könnten sie damit aufhören, wäre das Leben sehr einfach. Die Menschen würden sich wohl fühlen. Ihr hektisches Tempo würde sich verlangsamen; ihr lahmes Tempo würde schneller werden.

Das Leben würde sich um das drehen, was erfreulich ist. Die Menschen würden mehr spielen, sie würden schwerer arbeiten, aber dafür weniger. Sie würden einander sagen, was sie fühlen. Es würde keins von diesen lächerlichen sozialen und sexuellen Spielchen mehr geben, die getrieben werden. Die Lehrer würden die Schüler nicht bloß in Schach halten; sie würden ihr Wissen denjenigen zugute kommen lassen, die bestimmte Kenntnisse erwerben wollen — sei es Klempnern, Tanzen, Mathe oder Elektronik. 

Es gäbe keine künstlichen Klassen-, Alters-, Geschlechts- oder Rassenunterschiede. Kein Teil der Gesellschaft wäre begünstigter als ein anderer. Die Alten wären nicht von den Jungen getrennt; sie würden mit allen anderen spielen und arbeiten. Und die Jungen wären nicht Gefangene ihrer Altersgruppe; sie würden ebenso mit den Erwachsenen spielen und arbeiten. Gruppen von Menschen würden sich aus gegenseitigem Interesse zusammenschließen. Das Leben würde nicht zum wirtschaftlichen Wohl der Gesellschaft geführt, sondern um des guten Lebens des Volkes willen. Das Leben würde da sein, um gelebt zu werden.

Welche sozialen oder logischen Gründe auch dagegen angeführt werden mögen, daß man voll lebt, es ist vernünftige Verrücktheit, wenn das Leben mit weniger als vollständigen Gefühlen gelebt wird. Um verrückt zu leben, muß das Individuum seine einzige Verbindung mit dem Leben zerrütten — seinem Körper. In der verrückten Gesellschaft werden Körper herumgeschleppt und als Lasttiere, sexuelle Maschinen und Koffer für Verrücktheit benutzt. Wenn die Menschen ihre Körper nicht mehr haben, können sie nur versuchen, Gefühle durch Gründe zu ersetzen. 

Alan, in unserem nächsten Beispiel, führte ein vernünftig verrücktes Leben, bis er in die Therapie kam.

"Ich kam in die Therapie, weil ich das Gefühl hatte, daß mir das Leben entglitt — nicht dramatisch wie ein Felssturz, sondern eher wie Sand in einer Sanduhr. Ich war dreiunddreißig, als ich herkam. Ich hatte eine sehr gute Stellung als Englischlehrer an einer Oberschule. Ich lebte mit einer Frau zusammen und hatte ein paar gute Freunde.

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Ich war vierundzwanzig, als ich mit dem College fertig war, und fühlte mich bereit, es mit dem Leben aufzunehmen. Meine erste Stellung hatte ich in einer Schule in einer mexikanisch-amerikanischen Gegend. Die Kinder waren faszinierend, aber die Schulleitung war nur daran interessiert, sie in Schach zu halten. Wir hatten viel Spaß in meiner Klasse, und ich kämpfte mit der Schulleitung wegen ihrer Methoden. Nach drei Monaten stellte ich fest, daß ich jeden Abend ein wenig müder nach Hause kam und morgens nicht mehr ganz so eifrig aufstand. Am Ende des Schuljahrs kündigte ich. Mir war klar, daß mich die Schulleitung zermürbt hatte. Ich fühlte mich nicht frisch und lebendig. Ich war ausgelaugt. Die Schüler bedeuteten weniger für mich als vorher. Aber hauptsächlich bedeutete ich weniger. Um die Tage durchzuhalten, trank ich immer mehr Kaffee und rauchte mehr Zigaretten.  

Ich reiste für ein Jahr nach Europa und lernte Rauschgift zu rauchen. Das gefiel mir. Dann hatte ich genug von Europa und kehrte in die Staaten zurück, um mir eine neue Stellung zu suchen. Ich glaubte, ich könnte mein Leben führen, wenn ich, ehe ich zur Arbeit ging, eine rauchte. Vier Jahre lang klappte das. Ich unterrichtete in einer vorwiegend von Schwarzen besuchten Schule, und die Schüler und ich waren uns bei vielen Projekten und Forderungen für Schülerrechte einig. In dieser Zeit lernte ich meine Freundin kennen und kaufte ein kleines Haus in der Nähe der Schule. Meine Kollegen und ich gingen zusammen zum Camping und Segeln, rauchten Rauschgift und tranken Bier. Mein Leben war besser denn je zuvor. Aber ich begann viel nachzudenken über meine Freunde und meine Freundin. Ich wollte mehr mit ihnen haben - ich wollte Offenheit, ein wirkliches Leben zwischen uns. So war es, als ich in die Therapie kam."  

Alan ist ein gutes Beispiel für jemanden, dessen Leben vernünftig zu sein schien. Er hat getan, was die Gesellschaft für richtig und gut befindet. Aber dennoch empfindet er das Bedürfnis nach mehr — das Bedürfnis, von innen heraus erfüllt zu werden. Viele junge Erwachsene verlassen den Rahmen der Gesellschaft nie und fragen sich nicht, was ihnen widerfährt. Sie lassen ihr Leben von der vernünftigen Verrücktheit beherrschen, bis sie kaum noch einen realen Zusammenhang mit dem Lebendigsein erinnern können, wie sie ihn früher empfanden.

Nachdem Alan die Therapie begonnen hatte, unterrichtete er weiter und besuchte seine Freunde, aber er paßte sich nicht mehr der sozialisierten Verrücktheit am. Vielmehr nahm er sich die Freiheit, seine Freunde um eine Änderung zu bitten, und seinen Schülern vermittelte er weniger Wissen und mehr von sich selbst. Seine Transformation war keine ideologische, sondern beruhte auf seinen Gefühlen.

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Alan erscheint sehr normal, aber während er in der Therapie weiter fortschritt, stellte er fest, daß er nicht einfach normal war — manchmal begann er zu fühlen, daß er in Wirklichkeit tot war. An einem Punkt der Therapie war er für etwa zwei Monate tot. Er fühlte überhaupt nichts. Alles, was er tat, war nur, seine Gefühle zurückzuhalten und über sich nachzudenken und sich zu überlegen, was mit ihm los sei. Schließlich taute er auf, aber dann begann eine Periode, in der er auf irre Weise verrückt war. 

Dieser Schritt war vielleicht der schwerste für einen normalen Menschen wie Alan:

"Viele Monate lang, nachdem ich die Therapie begonnen hatte, ging alles sehr glatt. Ich empfand viele Gefühle aus meiner Vergangenheit und Gegenwart. Ich konnte fühlen, wie durcheinander ich war — eine Prise Gegenwart mit einem Schuß Vergangenheit, und ich konnte einen Eintopf-Mischmasch zusammenbrauen. Ich war nicht auf das vorbereitet, was mir im 6. und 7. Monat der Therapie widerfuhr. Mir war, als würde ich verrückt — ich hatte Gefühle, die ich nicht kontrollieren wollte. Ich war immer noch derselbe bei der Arbeit, aber in mir hatten mehr Gefühle Platz, und ich hatte mehr Einblick in das, was andere mir antaten und was ich ihnen antat, um mein Lehrer-Ich in Gang zu halten. In den Therapiesitzungen raste und tobte ich und wütete gegen jeden Gedanken und jede Idee, die mir je beigebracht worden waren. Was geschehen war? Ich war mir klar geworden, daß ich überhaupt nichts wußte. Ich wußte nur, was mir beigebracht worden war. Ich wollte nicht mehr der normale Alan sein, aber dann blieb mir nichts, als meine Gefühle zurückzuhalten oder verworrene Gefühle rauszulassen. Ich konnte jemanden gleichzeitig lieben und hassen.

Nur dadurch, daß ich das ganze Gerumpel meiner Gefühle aus meinem Inneren hinaustrieb, begann ich endlich den Unterschied zwischen meiner Vergangenheit — dem, wozu ich gemacht wurde — und meiner Gegenwart — dem, der ich jetzt bin — zu empfinden. In dieser Zeit war ich realer, als ich es in meinem ganzen Leben gewesen war. Ich fragte die Leute, was los sei, wenn ich auch nur die mindeste Distanz oder Zurückhaltung zwischen uns empfand. 

Ich wußte nicht, ob das, was ich sagte, richtig oder falsch war — ich wußte nur, daß ich, wenn ich im Kopf Vermutungen anstellte oder Urteile fällte, meine Gefühle verlor. Und nur wenn ich fühlte, kam ich mir lebendig vor und erkannte mich. Meine verrückten Gedanken, etwa, daß ich mich umbringen oder in Restaurants schreien wollte, machten schließlich realen Gefühlen für mich aus meiner Kindheit Platz. Bedeutungsvoll für mich waren nicht die Szenen, sondern wie die Abwehr funktionierte, die ich damals und heute noch anwandte. Indem ich meine Abwehr fühlte, begann ich, mich zu ändern. Jetzt beherrschen meine Gefühle mein Leben. Ich fühle ganz und gar mich."  

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Wir können Alans Veränderung im Laufe der Zeit verfolgen und zeigen, wie seine Rolle zuerst geschwächt wurde, indem er zu Augenblicken der Wahl, gezwungen wurde. Wenn dies geschieht, muß er entweder das Nichtfühlen fortsetzen oder es zulassen, daß der Unsinn und das Fühlen Vorrang gewinnen. Während das geschah, flüchtete Alan in sein totes, verrücktes System. Er lief vom Normalsein zum Leblossein. So blieb es, bis seine Gefühle stärker wurden als sein Unsinn. Das bedeutet, daß seine verworrenen und symbolischen Gefühle ersetzt wurden durch klare und vollständige Gefühle. Damit es dazu kommen konnte, machte er das auf irre Weise verrückte System durch, das eine letzte Abwehr dagegen war, der zu werden, der er war.

 

  Andere Arten, Typen mit Vorstellungsweisen zu beschreiben  

 

Die drei Arten von Verrücktheit, die wir beschrieben haben, sind nicht die einzige Möglichkeit, verschied­ene Persönlichkeits­strukturen zu erfassen. Es ist für Therapeuten und Patienten nützlich, über diese drei Arten Bescheid zu wissen. Aber da sie alle lediglich Beschreibungen der obersten oder Vorstellungs­schicht der Persönlichkeitsorganisation sind, könnten wir noch andere Merkmale der Persönlichkeitsstruktur analysieren, und in manchen Fällen tun wir es auch. 

Zum Beispiel haben wir immer wieder beobachtet, daß bei einigen Patienten hauptsächlich das "Groß Sein" die Struktur bestimmt, anderen das "Klein Sein", die Erwachsenen-Rolle oder die Kinder-Rolle. Die erwachsene Persönlichkeit unterdrückt Gefühle, indem sie die Kontrolle übernimmt und groß agiert, die Kind-Persönlichkeit unterdrückt Gefühle, indem sie auf Hilfe wartet und klein agiert

Unter jedem dieser beiden dominierenden Stile liegen Unsinns-Schichten und Gefühle. Wir beobachten, daß Patienten, die groß agieren, meistens ältere Kinder oder einzige Kinder waren, während Patienten, die klein agieren, ältere Geschwister hatten. In der Therapie üben wir Druck auf die "großen" Patienten aus, daß sie sich klein sein lassen, denn das kommt ihnen unsinnig vor, und auf "kleine" Patienten, daß sie sich groß sein lassen, denn das scheint ihnen unmöglich. Wenn ein Patient schließlich einfach aus seinen Gefühlen heraus reagiert, ist er weder in der Rolle der Großen noch in der Rolle der Kleinen — er ist bloß er selbst.

Eine andere nützliche Weise, Persönlichkeitsstile zu klassifizieren, ist die Zuordnung zu Gegensatzpaaren: Leute, die recht haben, und Leute, die unrecht haben. Manche Menschen organisieren ihre Persönlichkeit, um das "Immer-recht-Haben", andere um das "Immer-unrecht-Haben". Die "Rechthaber" ersetzen das Fühlen durch recht haben; die "Unrechthaber" ersetzen das Fühlen durch unrecht haben.

Der Zugang zum Fühlen liegt für "Rechthaber" in Richtung unrecht haben und für "Unrechthaber" in Richtung recht haben. Auf der Ebene wirklichen Fühlens entdecken dann beide, daß es weder Richtigkeit noch Un­richtig­keit gibt, sondern nur Aufgeschlossenheit.

Natürlich weist niemand nur den einen oder den anderen Stil auf; normale Menschen haben einige irre und einige passive Vorstellungen, große Menschen haben kleine Vorstellungen, und Rechthaber haben Funktions­bereiche, in denen sie um das Unrecht-Haben organisiert sind. Nützlich ist das Erkennen der verschiedenen Arten von Verrücktheit bloß, um vom Verrücktsein weg zum Fühlen zu gelangen. Jeder Patient, welchen Persönlich­keitsstil er auch haben und welcher Art seine ihn einseitig festlegende Gefühlsverwirrung sein mag, hat auf seinem Gefühlsniveau eine Grundgemeinsamkeit an geistiger Gesundheit mit allen Menschen. Diese Gefühls-Gemeinsamkeit ist die Grundlage der therapeutischen Erfahrung5).

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