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13  Wie Menschen sich verändern 

 

 

 

309-339

Menschen, die Hilfe suchen — und diejenigen, die sie anbieten —, neigen sehr dazu Symptome zu schaffen, die mit den jeweiligen Theorien übereinstimmen. Jede psychologische Theorie geht von einem Grund­konzept des psycho-pathologischen Krankheitsgeschehens aus; zum Beispiel werden die Menschen im Begriffssystem von Reich als "gepanzert", in der Psychoanalyse als "fixiert" und in der Feeling Therapie als emotional "durch­einander" bezeichnet.

Aus diesen Konzeptionen werden "Symptome" abgeleitet, von denen man befreit werden möchte, und Patienten sagen: "Ich möchte meine Panzerung loswerden" oder "Ich möchte mein Kindheitstrauma fühlen". Viele unserer Therapiebewerber schreiben uns in einer "Therapiesprache"; sie geben an, daß sie Hilfe wollen, weil sie sich "emotional ordnen möchten" oder "imstande sein möchten, vollständige Gefühle auszudrücken". Solche Aussagen sind nichtssagend; wir antworten den Bewerbern mit der Aufforderung, uns in einer einfachen Sprache von sich zu berichten.

Wir akzeptieren kein schematisiertes "Problematisieren" oder "Symptomatisieren" und behandeln es auch nicht. Enuresis, Adipositas, Kettenrauchen, Homosexualität, Depression, Impotenz, Frigidität, Schüchternheit — all dies sind lediglich einzelne Punkte auf einem Kontinuum zwischen vollständigem und unvollständigem Fühlen. Die Etikettierungen erzeugen fiktive Leiden. Es gibt nur ein einziges Leiden, und zwar Verrücktheit — aus unvollständigen, verworrenen Gefühlen heraus zu leben.

Wir betonen diesen Punkt hier noch einmal, weil die Feeling Therapie wesentlich als ein Prozeß verstanden werden muß, aus integralen Gefühlen heraus zu leben; sie modifiziert weder Verhalten noch bringt sie Symptome zum Verschwinden oder verändert Lebensformen, und sie ist auch kein mystisches Erlebnis. Wenn jemand aus Gefühlen heraus lebt, treten sehr wohl Veränderungen auf, aber so wenig wir uns um solche Veränderungen bemühen, so sehr bemühen wir uns, dem Patienten zu helfen, die inneren Hindernisse gegenüber integralem Ausdruck von Gefühlen zu beseitigen.

In diesem Kapitel wollen wir Bereiche der Transformation diskutieren wie Sexualität, Intelligenz, Bezieh­ungen, Erholung, Arbeit, Freunde und Schönheit. Jede einzelne Erörterung könnte selbst wieder ein halbes Dutzend oder mehr Kapitel füllen. Wir wollen in künftigen Büchern ausführlich auf einzelne Trans­formations­bereiche eingehen, uns jedoch hier darauf beschränken, aufzuzeigen, welche allgemeinen Veränderungen in der Feeling Therapie auftreten können, wenn Menschen ihr Leben in einen vollständigen Ausdruck ihres inneren Gefühlszustandes transformieren. 


   Transformation der Intelligenz  

 

Verworrene Menschen schaffen Symptome in bezug auf ihre Intelligenz. Sie reden davon, durch Bildung "besser" zu werden. Sie beklagen ihre früheren Mißerfolge mit Äußerungen wie: "Wenn ich damals nur gewußt hätte, was ich heute weiß". Probleme anderer betrachten sie in Kategorien von Wissen und Nichtwissen, was sich in Aussagen widerspiegelt wie: "Er hätte es eigentlich besser wissen müssen" oder "Sie weiß es eben nicht besser". Ja sie glauben sogar, die Qualität ihres Lebens dadurch verbessern zu können, daß sie ihren Verstand zusammennehmen. Für durcheinandergeratene Menschen ist "Wissen" ein Ersatz für Fühlen. Fragt man sie: "Wie fühlst du dich dabei?", erhält man meist die stereotype Antwort: "Ich weiß nicht".

Wäre nur Intellekt notwendig, um diese Welt lebenswert zu machen, dann hätten die "Intellektuellen", "Aufgeklärten" und "Klugen" bereits eine reichhaltige Welt geschaffen. Leider hat all die "Aufgeklärtheit" in den ganzen Jahrhunderten nichts an dem weltweiten Zustand emotionaler Verworrenheit ändern können. Viele Denker wissen nicht, daß Ideen lediglich Repräsentationen von entweder vollständigem oder unvollständigem Ausdruck von Gefühlen sind. Wenn diese unvollständig sind, überwiegen verworrene Ideen; sind sie vollständig, sind die Ideen geordnet. Die Menschen glauben an verworrene Ideen, weil sie selbst unvollkommen und durcheinander sind.

Dies kann jeden Tag beobachtet werden. Ein Raucher mag über die Folgen des Kettenrauchens genauestens unterrichtet sein und es trotzdem beibehalten, weil er durcheinander ist; er kann nicht fühlen, welche Auswirkungen das Rauchen auf ihn hat. Eltern können Bücher über Kindererziehung lesen und sich Vorträge anhören, aber sie werden auch in Zukunft ihren Kindern auf verrückte Weise antworten, da sie ihre eigenen Gefühle nicht erleben können. Jemand mag noch so viele Sexratgeber lesen, sein Ausdruck wird gestört bleiben, wenn er nicht offen ist, seine eigene Sexualität zu fühlen.

Da nur wenige Menschen vollständige Gefühle vollständig erleben können, wissen sie wenig über sich und darüber, wie sie leben. Wir haben bereits an anderer Stelle von der Unsinnsschicht gesprochen, die nicht nur Erfahrungen blockiert, und entstellt, sondern auch das Bewußtwerden der vollen Bedeutung einer Erfahrung verhindert. Wenn Impulse nur zum Teil erlebt werden, sind ihre Bedeutungen nur partiell und sicherlich unvollständig. Partielle und nur teilweise zugelassene Gedanken ihrerseits werden zu unsinnigen Ideologien, Rationalisierungen und Philosophien.

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Wir haben in diesem Buch aufgezeigt, wie das Leben von Kindern durcheinandergebracht wird von Menschen, die die Bedeutungen ihrer Empfindungen verdrehen. Einem Kind, das den Schmerz des Ungeliebtseins spürt, sagt man vielleicht: "Dein Papa liebt dich — er weiß bloß nicht, wie er es zeigen soll." Damit wird die für das Kind stimmige Bedeutung dieser schmerzhaften Empfindung durch eine nicht stimmige ersetzt; dieses Durcheinander erweckt in dem Kind das Gefühl, daß irgendetwas nicht mit ihm stimmen muß, weil es die väterliche Zuneigung nicht fühlen kann. Wenn es erwachsen wird, könnte die Erinnerung an sein Familien­leben sehr gut von der Überzeugung getragen sein, daß "mein Vater seine Liebe zu mir nicht zeigen konnte, aber ich weiß, daß er mich geliebt hat". 

Eine Patientin schilderte ihre Erfahrungen folgendermaßen:

"Am Anfang meiner dritten Therapiewoche ließ mich Werner über das Leben mit meinen Eltern reden. Ich erzählte ihm, ich wisse, daß mein Vater mich sehr geliebt habe, auch wenn er es mir selten auf irgendeine direkte Weise habe zeigen können. Werner fragte mich: <Woher weißt du, daß er dich geliebt hat?> Nun, meine Mutter hat es mir jedesmal gesagt, wenn ich mich irgendwie unglücklich fühlte. <Aber hast du dich geliebt gefühlt — hast du dich wohl gefühlt?> Ich fühlte mich lahmgelegt — was hätte ich sagen können? 

Ich weiß nicht ... ich fühlte mich ... na ja, ich glaube, ich fühlte mich ganz gut. Werner quälte mich, er bohrte nach einer besseren Antwort — das ging vielleicht zwanzig Minuten so. Er sagte: "Gib mir ein paar Beispiele, wie er dich geliebt hat". Das war doch lächerlich — Beispiele! Ich fing an, mich mit ihm zu streiten. Doch er bestand darauf, ihm Beispiele zu nennen. Ich schrie ihn an, daß ich mich nicht erinnern könne. Ich geriet aus der Fassung. Dann meinte er: "Du könntest dich erinnern, wenn du es gefühlt hättest!'. — Ich erinnere mich, wie ich dort lag und eine Zeitlang leise weinte; ich wußte eigentlich nicht genau warum. 

Die Wahrheit ist, ich wußte nicht warum. Mir war einfach nach Weinen zumute. Das war am Anfang der Sitzung — eine Stunde später wußte ich eine Menge. Ich erinnere mich, wie ich mich gegen all das gesträubt hatte, was Werner sagte. Ich wollte es nicht hören, weil mir jede Frage nicht abzuleugnende Wahrheiten von mir vor Augen hielt, und das war schmerzhaft. In dieser Sitzung merkte ich, daß ich mich durch dicke Wände von Dummheit durchkämpfte, bis schließlich jede kleine Wahrheit ganz deutlich zum Vorschein kam."  

Für die Patienten der Feeling Therapie leitet sich echtes Wissen aus direktem Erleben und Ausdruck ab; Wissen ist Wissen aus der geordneten Bedeutung von Empfindungen. Jemand entwickelt sein "Wissen" im Verhältnis zum Grad seines vollständigen Gefühlsausdrucks. Aus diesem Grunde brauchen wir fühlenden Patienten nie zu sagen, was sie tun sollen. Ihr Wissen entnehmen sie ihren Gefühlen. Das folgende Beispiel wird dies verdeutlichen. 

Julie steht in der Therapieausbildung; sie schreibt:

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"In den ersten zwei Wochen des Programms hatte ich bei jeder Sitzung das Gefühl, ich sei blöd. Ich saß da und hörte, daß die anderen alle möglichen Fragen beantworten konnten, und sah, daß sie alles richtig machten. Ich dachte: "Ich kann das alles nicht — ich bin einfach zu blöd". Das quälte mich vor allem deshalb so, weil ich geglaubt hatte, daß ich nach den eineinhalb Jahren Therapie schon ziemlich viel wüßte. 

Mir war klar, daß ich lernen müßte, einem Patienten die richtigen Fragen zu stellen, und ich erklärte Jerry, daß ich mehr Training brauche als die anderen. Er sagte: "Du brauchst nicht mehr Training — du brauchst Nichttraining". Ich wurde wütend auf ihn und wehrte mich energisch gegen das, was er sagte. Er sagte mir, ich würde nicht versuchen, aus meinen spontanen Impulsen heraus zu antworten, und das wäre alles, was ich zu tun brauchte.. Mir kam das zu einfach vor, trotzdem dachte ich einige Tage darüber nach. 

In meiner Sitzung ein paar Tage später entdeckte ich, daß ich seit meiner Schulzeit bis zu diesem Trainingsprogramm immer versucht hatte, vorwegzunehmen, was ich tun oder sagen wollte. Immer, wenn ich bei meinen Eltern oder anderen Leuten etwas gesagt hatte, was sie für "blöd" hielten, bekam ich es wirklich zu spüren; sie schimpften mich aus und machten mir Vorwürfe. Ich versuchte, mich in kleinen Schritten darauf vorzubereiten, was ich sagte, oder vorwegzunehmen, was ich tun wollte. 

Auf diese Weise konnte ich anderen immer voraus sein, aber ich war auch mir selbst weit voraus. Ich konnte dies in meiner Sitzung fühlen, wie weh es mir tut, daß ich zu "wissen" versuche, statt bloß so zu sein, wie ich bin. Davor hatte ich mich jahrelang gefürchtet. Für mich heißt das, daß ich einfach meine Impulse ausdrücken muß; es ist entsetzlicher, so zu sein, als sich im voraus auf etwas vorzubereiten. Aber ich muß bloß versuchen, ich zu sein, statt aus mir eine "trainierte" Person zu machen."  

 

Der Bezugsrahmen für "wissende" Menschen ist die innere Realität ihrer geordneten Gefühle. Durcheinander­geratene Menschen dagegen versuchen, ihr Leben zu ordnen, indem sie ihren Verstand der Realität überstülpen. Sicherlich haben Sie oft Leute sagen hören: "Wenn ich nur herausbekommen könnte, was los ist...." oder "Ich muß meinen Verstand zusammennehmen...." Diese Leute wenden sich von ihren inneren Gefühlen ab und orientieren sich an verstehbaren Äußerlichkeiten: sie versuchen, in dem, was außerhalb von ihnen passiert, einen Sinn zu finden. Fühlende Menschen können das, was geschieht, aus ihrem Innern heraus wahrnehmen.

 

Unsere Patienten besitzen nicht nur ein Wissen, wie es in ihnen selbst aussieht, sondern spüren auch, was in anderen vorgeht. Wenn jemand aus Gefühlen heraus zu wissen beginnt, kann er Gefühle bei anderen erkennen und mit seinen Gefühlen auf sie eingehen. Fühlende Menschen sind in ihrem Wissen nicht eingeschränkt. Oft kann man Leute sagen hören: "Nun, ich weiß darüber nicht Bescheid — ich bin kein Politiker ..." oder "Wieso sollte gerade ich dazu etwas sagen können?" Fühlende Menschen dagegen haben keine Schwierigkeiten, all das, was um sie herum geschieht, zu verstehen, weil sie verstehen, was in ihnen geschieht. 

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Wenn die Patienten mehr fühlen, geraten frühere Gedanken und Einstellungen ins Wanken. Leere Philosophien, wirkungslose Ideologien und leblose Rollen werden aufgegeben. Solche Patienten haben die Freiheit, jeden beliebigen Aspekt ihres Lebens, den sie wählen, zu verändern.

 

   Transformation von Recht   

 

Denk- und Sichtweisen verworrener Menschen bewegen sich in Kategorien von Recht und Unrecht, richtig und falsch: Menschen haben recht oder unrecht, soziale Attitüden und Handlungen sind richtig oder falsch, Nationen sind im Recht oder Unrecht. Jemand könnte sagen: "Was ich bei diesem Land für falsch halte, ist'...", aber es gelingt ihm nicht, seine eigenen geordneten inneren Gefühle auszudrücken. Die Leute können mit dem, "was in unserer Beziehung falsch lief ..." fertig zu werden versuchen, wenn jedoch nicht jeder seine eigenen Gefühle zum Ausdruck bringt, bleiben "richtig" und "falsch" Einengungen von etwas Vielfältigem zu einem Symptom.

Ein Richtig und Falsch gibt, es nicht. Es gibt nur den Ausdruck vollständiger oder unvollständiger Gefühle, und diese sind weder richtig noch falsch. Die Gesellschaft definiert gewisse moralische, ethische und soziale Handlungen als richtig oder falsch. Der humanitäre Mensch, der Polizist, der brave Junge, der liebevolle Ehemann, der Luftverschmutzer, der Dieb, die keusche Frau, der Blutspender, der strenge Vater; — sie alle bringen sich von einem bestimmten Punkt auf dem Kontinuum zwischen vollständigen und unvollständigen Gefühlen zum Ausdruck.

Natürlich sind wir uns wirklicher sozialer Probleme und der Notwendigkeit zu sozialen Reformen bewußt, aber als Psychotherapeuten haben wir es mit Individuen zu tun. Wir wissen, daß die individuelle Verrücktheit mit der sozialen Verrücktheit verflochten ist. Die Menschen nehmen viele Positionen ein und entwickeln um diese herum entsprechende Lebensformen: Befürworter der Monogamie gegenüber Befürwortern freier Liebe, Feministen gegenüber Sexisten, Abtreibungsgegner gegenüber Abtreibungs­befürwortern. 

So wie Symptombezeichnungen fiktive Leiden sind, sind kontroverse Haltungen fiktive Lebensformen. Jemand, der innerlich verworren ist« kann seine Energien und unvollständigen Gefühle in eine Rolle oder Sache stecken, ohne sich jemals seinen wirklichen Gefühlen stellen zu müssen. Worauf es uns ankommt, ist, in welchem Maße jemand vollständige Gefühle zum Ausdruck bringt. Wir wissen, daß jemand, der integrale Gefühle erlebt, niemals etwas tun wird, was sein eigenes Leben, oder das Leben anderer bedroht. Fühlende Menschen leben aus dem Ausdruck heraus, der ihre Lebensqualität erhöht.

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Jack, ein dreißigjähriger verheirateter Patient, erzählte seinem Therapeuten in einer Sitzung von einem Ferienwochenende mit seiner Frau; er sagte, er habe sich bemüht, alles richtig zu machen, um ihre gemeinsame Zeit möglichst angenehm zu gestalten, doch jetzt am Montagabend fühle er sich "eingesperrt". Von dieser Sitzung schreibt er über sich:

"Ich erzählte Jerry, daß ich mir sehr viel Mühe gegeben hätte, alles an dem Wochenende richtig zu machen. Und trotzdem, obwohl ich ständig darauf bedacht war, alles richtig zu machen, hatte ich immer das Gefühl, daß es nichts brachte, weil ich es irgendwie falsch anpackte. Je mehr ich redete, umso mehr erkannte ich, wie sehr ich mich bemüht hatte,, jede Kleinigkeit richtig zu. machen — das richtige Hotel, das richtige Zimmer, das richtige Maß an Vorspiel, das Richtige zu sagen, als Mary nicht zu ihrem Höhepunkt kam, das richtige Restaurant, ja sogar zu richtigen Zeit abzufahren, um nicht in den Samstagsverkehr zu geraten. 

Jerry meinte dann: "Du machst alles außerhalb von dir richtig, aber wie sieht es in dir aus?" Ich sagte, ich fühle mich ganz schlecht und elend. Dafür, daß ich alles außerhalb von mir richtig machte, bezahlte ich mit Gespanntheit, Zurückhalten und Veränderung meiner Gedanken — es war ein schreckliches Gefühl. Ich konnte fühlen, wie ich zum Nichts würde. Ich wußte jetzt nur, daß ich weh tat. Ich begann zu weinen und weinte deshalb, wenn ich auf etwas stieß, was Ich tat, um während des Wochenendes alles richtig zu machen." 

An diesem Punkt der Sitzung beginnt Jacks Therapie. Sein Therapeut wird ihm helfen, mehr von sich, seinen Ängsten, seinen Wünschen, ja sogar mehr von seinen Erwartungen und Hoffnungen, die er mit diesem Wochenende verbunden hatte, zum Ausdruck zu bringen. Innerhalb dieser Matrix des Fühlens gibt es eine Einfachheit, einen Impuls zum Ausdruck zu bringen, die Jack ignorierte und in eine retrogressive Handlung umwandelte in eine Bewegung weg vom direkten Ausdruck. Der Therapeut wird ihm helfen, den Quellpunkt in ihm für das Durcheinanderbringen seiner Gefühle in der Gegenwart zu finden, und Jack wird danach in fühlender Weise mehr über sich wissen. Ausgangspunkt ist das "schreckliche" Gefühl, welches Jack, als Folge seines Sich-Selbst-Durcheinanderbringens zu schaffen machte. Ob er seine Gefühle in der Gegenwart vervollständigt oder in seiner Vergangenheit abreagiert, entscheidend ist, daß er Gefühle vervollständigen wird, die jetzt verworren sind. Er wird mehr über sich fühlen, so daß es für ihn nicht mehr notwendig sein wird, das "Richtige" herauszufinden.

Das folgende Beispiel verdeutlicht einen weiteren Aspekt des "richtig-falsch"-Problems. Hier beschimpften sich die Ehepartner gegenseitig, während ihr Therapeut, Lee, zuhörte. Jeder war überzeugt, daß er recht habe und der andere im Unrecht sei. Lee schreibt:

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"Ich ließ sie etwa eine halbe Stunde lang streiten. Sie warfen sich beide zutiefst verletzende Dinge an den Kopf, und wenn Patty abließ, provozierte sie Craig; wenn er abließ, kam sie mit etwas Neuem. Es war ein einziges Beschuldigen und Beschimpfen. Dann gab es eine Pause. Ich bat beide, die Augen zu schließen und fühlend in sich aufzunehmen, was ich sagte. Ich redete zunächst mit beiden, dann mit jedem einzelnen. Was ist es für ein Gefühl, hart zu werden? Erniedrigt zu werden? Zu lügen, wenn einem nicht mehr die richtigen Sachen einfallen? 

Was ist es für ein Gefühl, so weit aus sich herauszugehen, daß man seinen Körper und dessen Gefühle zurückläßt? Was ist es für ein Gefühl, sich die schlimmsten Dinge an den Kopf zu werfen? Ich zwang sie beide, ihren Körper zu erleben — die Härte, die Gespanntheit. Dann erklärte ich, keiner von euch hat recht. Und keiner hat unrecht. In diesem Zimmer gibt es nur zwei verletzte Menschen. Versucht, etwas von dieser Verletztheit zu zeigen. Es dauerte eine Zeitlang, doch gegen Ende der Sitzung hatten Patty und Craig angefangen, sich ihre Gefühle zu zeigen." 

Die meisten Menschen sind so sehr mit richtig und falsch, Recht und Unrecht beschäftigt, daß sie den gegen­seitigen Gefühlskontakt aufgeben und an ihren Positionen festhalten. In der Feeling Therapie führen wir die Patienten hinter ihre "Haltungen" und konfrontieren sie mit ihren Gefühlen.

 

   Transformation im Spiel   

 

Emotional durcheinandergeratene Menschen haben selten Spaß; sie verlieren die Fähigkeit, Spiele zu genießen. Paradoxerweise verwandeln verrückte Menschen ihr Leben in ein Spiel: sie spielen "Verstecken" (Komm', finde mich!), "Monopoli" (Ich will alles) und "Brennball" (geh mir aus dem Weg).

Sieht man Erwachsene beim "Spielen" zu, erkennt man allenthalben verbissene und von Mißgunst getragene Wettkämpfe. Ob Bridge, Schach, Golf, Squash oder Softball, das Gewinnen wird zum zentralen Moment des Wettkampfes zwischen Menschen. Sie verlieren den Kontakt — das menschliche Austauschen geordneter Gefühle als Nährboden gegenseitigen Vergnügens. Mehr noch, die Menschen verlieren sich selbst — das heißt, sie verlieren den Kontakt mit ihrem Körper; sie sind "gedanklich" so sehr damit beschäftigt, was sie gerade tun, daß sie beim Spiel keine Zeit haben, ihren Körper zu erleben.

Die Patienten der Feeling Therapie entdecken allmählich ihre Fähigkeit wieder, Spaß zu haben, da sie ihr wahres Selbst wiederentdecken.1) Unsere Patienten amüsieren sich am Strand, beim Schlittschuhlaufen, beim Kegeln, im Restaurant, beim Camping, im Kino, beim Radfahren, beim Wasserskilaufen, beim Abfahrtsski. Sie gewinnen das Gefühl des Teilens und Spaßhabens zurück. 

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Transformation in Schönheit 

An unserem Center gibt es Leute, die den sozial definierten Vorstellungen von "attraktiv" und "schön" entsprechen, und sie sind anfangs genauso unglücklich wie diejenigen, die sozial als hausbacken oder häßlich definiert werden. Für verworrene Menschen ist es leicht, sich umzusehen, und zu folgern, daß sie glücklicher und erfolgreicher sein würden, wenn sie hübscher oder attraktiver wären. Symptomäußerungen dieser Art haben eine schönheitsbewußte Industrie entstehen lassen, die angefangen von Gesichtscremes bis hin zu kosmetischen Operationen alles anzubieten hat. Auch wenn verworrene Menschen die Form ihrer Nase verändern oder eine "unansehliche Verunstaltung" beseitigen lassen, ändern solche äußerlichen technischen Eingriffe nichts an ihren inneren verworrenen Gefühlen.

Nur die innere Geordnetheit von Gefühlen kann einem die Kraft zurückgeben, sich selbst zu akzeptieren. Wir halten das, was den Menschen so sehr an ihnen mißfällt — ihr Körper, ihr Gesicht, ihre Figur — im Grunde für ein Produkt entfremdeter Gefühle. Wenn wir Menschen helfen, Empfindungen mit Bedeutungen in Einklang zu bringen, können sie sich mit sich selbst identifizieren. Häufig erfordert dies zahlreiche Sitzungen, denn die verzerrten Vorstellungen; die die Menschen von ihrem Körper haben, sind über viele Jahre geformt und verstärkt worden.

Viele gutaussehende Frauen erklären uns, daß sie ihre Schönheit wegen der Art, wie sie behandelt worden seien und wegen der Erwartungen, die man an sie stelle, verwünschten; sie sind es leid, schön sein zu müssen, und sehnen sich danach, natürlich zu sein. Viele wunderbare und edle Menschen sind in diesen schönen Körpern gefangen. Und letzten Endes sprechen nicht Kosmetika, sondern nur vollständige Gefühle genau und beredt für einen Menschen.

 

Transformation in Jugend  

Die jüngsten Patienten, die wir gehabt haben, sind neunzehn Jahre alt. Viele unserer Patienten sind im Alter zwischen zwanzig und fünfundzwanzig und älter. Junge Menschen verändern sich in verschiedenster Hinsicht, hauptsächlich jedoch in dem Sinne, daß sie erwachsen zu werden beginnen. Sie hören auf, so zu tun, als gäbe es einen Ort, an dem sie bleiben könnten. Viele junge Leute in diesem Land sind in der Rolle des Jungseins gefangen. Dies heißt, Lehrer behandeln sie als Untergebene, Eltern empfinden sie als Belastung, und für die Gesellschaft sind sie lediglich von Nutzen, weil sie gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigen.

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Junge Leute werden hinters Licht geführt, indem man sie aufs College schickte oder Kaufmann erlernen ließ, bevor sie überhaupt erst einmal gelebt hatten. An unserem Center erkennen junge Leute, daß sie keine Schule besuchen oder ein Handwerk erlernen müssen, bevor sie nicht ihr Leben gelebt, einander geliebt und herausgefunden haben, wer sie sind. Danach sucht jeder sein eigenes erfülltes Leben; sie sind nicht wie andere junge Leute, die auf irgendein Glück hoffen. Fühlende junge Menschen wissen, daß das, was geschieht, von ihnen abhängt und davon, wie oft sie sich entscheiden, ihr Leben zu schaffen.

Ein entscheidender Unterschied bei unseren jungen und älteren Patienten ist der, daß sie zu erkennen beginnen, daß sie ihr Leben leben müssen; wir legen jungen Patienten nahe, die Therapie für gewisse Zeit zu unterbrechen, damit sie sich selbst draußen in der Welt kennenlernen können. Dagegen haben unsere älteren Patienten bereits eine Reihe von Jahren mit ihrem Leben gekämpft und vielfältige verworrene Erfahrungen gemacht, von denen sie sich befreien wollen. Es ist wichtig, zu verstehen, daß wir den jungen Patienten nicht forttreiben, damit er leidet oder noch verrückter wird; wir helfen ihm, von einer Ebene geordneten Fühlens heraus seinen Zielen und Wünschen aktiv nachzugehen. Auf diese Weise erhält ein junger Patient die einmalige Gelegenheit, sich mit größerer gefühlter Bewußtheit und größerem Wissen in eine Welt hinauswagen zu können; wenn er auf Schwierigkeiten stößt, kann er jederzeit zu uns zurückkehren.

Die Transformation von Jugend ist auch bei Patienten möglich, die gesellschaftlich nicht mehr als jugendlich definiert werden. Patienten im Alter von zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren geben an, daß sie sich "jünger" oder "älter" fühlen. Diejenigen Patienten, die sich nach der Transformation "jünger" fühlen, wurden gezwungen, zu schnell "erwachsen" zu werden; sie sind physisch und emotional älter als es ihrem tatsächlichen Alter entspricht. Diese Patienten gewinnen allmählich wieder Spaß an sportlicher Betätigung; sie erleben ein neues sexuelles Empfinden und verlieren die ständige physische Spannung, die sie früher müde und kraftlos machte. Diejenigen Patienten, die sich nachher "älter" fühlen, verhielten sich wie Säuglinge oder Kinder; ihnen ist geholfen worden, wieder fühlend wahrzunehmen, wer sie sind. Sie übernehmen die Verantwortung für ihr Leben und beginnen aktiv zu leben.

Eine solche Transformation spiegelt sich in einer veränderten Wahrnehmung von Vertrauen und Sich-Entscheiden wider. Ein verworrener Mensch ist abhängig von durcheinandergeratenen Gefühlen. Natürlich ist man am Center über Drogenabhängige geteilter Meinung, da sie häufig stehlen, um ihre Gewohnheiten aufrechtzuerhalten. Doch viele sind von etwas anderem abhängig — von Geld, Essen, ihren Müttern und Vätern, Ehefrauen, Ehemännern, sozialen Rollen, harter Arbeit, Therapie, Krieg und Lügen. 

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Und es stimmt nicht, daß nur Drogensucht zu physischer Abhängigkeit führt. Entzieht man einem Fernseh­süchtigen das Fernsehen, Bücher-, Zeitungs- oder Kinosüchtigen ihr Suchtmittel oder Soldaten und Politikern ihren "Stoff", haben sie physische Entzugserscheinungen, und wirkliche Gefühle steigen auf.

Solche Süchte werden von uns nicht behandelt. Wir nehmen indes Patienten auf, die es leid sind, abhängig zu sein. Und dies ist genau der Punkt, an dem sich Patienten in der Feeling Therapie verändern: sie gehen über von Vertrauen in etwas außerhalb von ihnen zu Vertrauen in die Gültigkeit ihrer eigenen Gefühle und ihres Ausdrucks.

Als Folge davon ist für den Patienten in der Feeling Therapie das Sich-Entscheiden ein Ausdruck vollständiger Gefühle. Vielleicht ist ein unvollständiger Gefühlsausdruck, den es nur für verworrene Menschen gibt. Das heißt nicht, daß aus einem Ja niemals ein Nein werden kann und umgekehrt — es heißt aber, daß die Menschen ein wirkliches Ja und ein wirkliches Nein mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen empfinden können. Wenn es für sie richtig ist, sich zu verändern, tun sie es. Menschen, die mit "vielleicht" leben, ändern ihre Antwort nie — sie passen sich an.

 

Transformation von Beziehungen  

Jede bedeutende transformative Veränderung bei einem fühlenden Menschen stellt eine Herausforderung an seine Beziehung zu anderen dar. Für Patienten, die mehr wissen und mehr fühlen, werden Zustände und Kompromisse, die sie früher tolerierten, zunehmend unattraktiver und unerträglicher.

Ein fühlender Patient entwickelt das, was wir "Verantwortlichkeit" für sich selbst nennen. Dies heißt wörtlich, er besitzt "Ver-Antwort-ung"; die Fähigkeit, aus Gefühlen heraus zu antworten. Diese Antwort-Fähigkeit und damit Verantwortung ermöglicht einem Patienten, sein tägliches Leben aus geordneten Gefühlen heraus zu leben, und, wenn er in Beziehungen verstrickt ist, die seine Antworten blockieren oder abschwächen, fühlt er deren paralysierende Wirkung. 

Wir haben festgestellt, daß bei Patienten der Feeling Therapie der Wunsch, sich auf der Grundlage von Gefühlen zu verändern, sehr ausgeprägt ist. Ein Hauptgrund ist der, daß Ver-Antwort-ung, die Fähigkeit zu antworten, eine Freiheit ist, die als angenehm empfunden wird, während Beziehungen, die dieser Freiheit im Wege stehen, als unangenehm empfunden werden. 

Ein Mann wird sich nicht mit seiner Ehe ohne Sex abfinden, sondern sie mit neuen gefühlten Antworten gegenüber seiner Frau in Frage, stellen; eine Ehefrau wird die übliche Neigung ihres Mannes, sie abzuwerten, nicht einstecken, sondern darauf antworten; jemand wird unaufrichtige Gespräche mit seinen Freunden nicht tolerieren, sondern aufrichtig antworten und selbst Aufrichtigkeit erwarten, jemand wird nicht mehr unterwürfig, grob oder angeberisch reagieren oder einen wie auch immer gearteten unvollständigen Ausdruck seiner Gefühle zeigen; stattdessen wird er es wagen, aus seinen neuentdeckten Gefühlen heraus auf andere zu antworten.

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Emotional verworrene Menschen genießen diese Freiheit nicht, denn sie sind ganz in ihren Rollen und Verkleidungen gefangen. Gestörte Beziehungen festigen solche gestörten Rollen- und Verhaltensmuster; sie geben darüber hinaus dem Leben eines Menschen eine falsche Bedeutung und wiederholen sich ständig.

Gloria schreibt hierzu über sich:

Als ich mit der Therapie anfing, war ich ein Wrack. Mein letzter Freund war Dealer in New York City; er wurde von ein paar Typen ziemlich kaputtgemacht. Er war der bisher letzte in meiner Sammlung von lauter Scheißkerlen. Ich konnte machen, was ich wollte, irgendwie landete ich immer bei irgendwelchen miesen Typen — echten Arschlöchern. Trotzdem reizten mich diese Kerle unheimlich. Ich wußte, daß sie mir schadeten, aber wenn ich dann diese kleinkarierten Spießer um mich herum sah, welche Alternative hatte ich da? Bei den anderen hatte ich wenigstens das Gefühl, einen MANN zu haben, keinen Waschlappen, und nur ein MANN konnte mir das Gefühl geben, eine Frau zu sein. 

Naja, und was ich dann hier erlebte, traf mich wie ein Schlag. Mein Therapeut war der erste Mann überhaupt, der es fertig gebracht hatte, meine rauhe Fassade mit Zärtlichkeit einzureißen. Es klingt verrückt, aber er war der am stärksten sanfteste Mensch, den ich je kennengelernt hatte, oder der am sanftesten stärkste, ich weiß nicht genau, was von beiden. In meiner Therapie hatte ich eine Menge Gefühle über mich, Gefühle aus der Kindheit, daß ich einen starken Vater wollte, aber mein Vater stand ständig unter dem Pantoffel meiner Mutter. Ich fühlte unter dieser rauhen Schale, daß ich sanft war und sanft behandelt werden wollte. Indem ich rauh wurde, habe ich dies zu leugnen versucht. Und ich habe sanfte Männer immer, für unmännlich gehalten.  

Wenn bei einem Patienten Gefühle seine Verrücktheit zu ersetzen beginnen, ist in seinen Beziehungen eine tiefergehende Realität möglich. Was real ist, sind vollständige Gefühle. Fühlende Menschen haben in ihren Beziehungen ein leidenschaftliches Verlangen nach Wahrhaftigkeit, weil Realsein diese Wahrhaftigkeit ihrer Bedürfnisse befriedigt. Wer Freundschaft, Liebe oder Aufrichtigkeit nachahmt, kann einem, der ebenfalls nachahmt, Gefühle vortäuschen, nicht aber jemandem, der fühlt, denn dieser spürt, ob sein Bedürfnisniveau durch das, was er erhält, vervollständigt wird. 

Je weniger Bedürfnisse jemand empfindet, umso oberflächlicher ist er zu befriedigen. Je leidenschaftlichere Bedürfnisse dagegen jemand fühlt, umso größer wird sein Verlangen. Für uns bedeutet ein stärkeres Bedürfnisniveau ein höheres Lebensniveau.

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"Ich verdiene ..." ist die Bedeutung meines gefühlten Empfindens: "Ich bin gut". Wenn jemand sein eigenes Gutsein empfinden kann, wird er sich alles geben, was dazu beiträgt, dieses Gefühl zu genießen. Dies heißt, daß seine Beziehungen den nährenden Kontakt liefern müssen, den er braucht, um offen  bleiben zu können. Wenn er sich retrogressiv von seinem Gefühl abkehrt, wird er sich nicht mehr sein "Ich verdiene...." geben und es auch nicht mehr fühlen. 

Susan sagt über sich und ihre Beziehung zu Marty, wenn sie sich von ihren Gefühlen abwendet:

Wenn ich müde bin und mich schmuddelig fühle, .habe ich zu nichts Lust. Ich kümmere mich nicht um Marty, das Haus, und mir ist es völlig egal, was wir zu essen haben. Ich war früher die ganze Zeit so, richtig lethargisch. Und je lethargischer ich war, umso weniger hatte ich zu irgendetwas- Lust. Aber wenn ich eine Sitzung habe, kann ich mich selbst hinterher fühlen. Ich spüre meinen Körper, wie lebendig er ist und wie sehr ich leben möchte. Dann kann ich gar nicht genug von Marty bekommen - ich mochte bei ihm sein und richtig Spaß haben. Jetzt weiß ich: daß es keinen Unterschied zwischen Leben und Fühlen gibt. 

Früher sagte ich häufig: "Mir ist heute abend nicht danach zumute, viel zu unternehmen", und wenn Marty mich fragte: "Fühlst du dich nicht gut?", antwortete ich: "Doch, ich fühle mich bestens, mir steht nur nicht der Kopf danach, heute abend etwas zu unternehmen". Das ist verrückt. Ich kann nicht auf der einen Seite viel fühlen und gleichzeitig sagen, daß mir nicht danach ist, viel zu leben; das geht nicht. Beides ist das gleiche. Je weniger ich fühle, umso weniger lebe ich, und je mehr ich fühle, umso mehr lebe ich. Ich möchte gern mehr leben.  

Eine tiefergehende Realität in einer Beziehung setzt auch ein gegenseitiges Wahrnehmen voraus. Wenn jemand blind für die Gefühle des anderen ist, ist kein Gefühlskontakt möglich: Dies bedeutet jedoch vor allem, daß die blinde Person nicht auf eigene Gefühle reagiert. 

Das Beispiel von Andy macht deutlich, wie dies geschehen kann; es zeigt ferner, wie sein Therapeut ihm hilft, ein geordnetes Gefühl zum Ausdruck zu bringen.

Vorgestern abend spürte ich, wieviel Angst ich habe, ich selbst zu sein und alle meine Gedanken und Gefühle auszusprechen. Gestern abend war ich allein zu Hause, und es gab einige Sachen, die ich Sandy erzählen mußte. Als sie von ihrer Gruppe zurückkam, war sie ganz offen und sanft, aber ich hatte nichts anderes im Kopf, als ihr zu erzählen — daß ich jeglichen Gefühlskontakt zu ihr und meine Empfindungen für sie verloren hätte. Sie sagte, sie wolle sich das nicht anhören, doch ich bestand darauf.

So warf ich ihr vor. daß sie" schlampig mit dem Geld umgehe und ihre Hälfte von der Miete noch nicht bezahlt habe; ich hielt ihr die Sache mit dem Abwasch vor, daß ich immer abwasche und sie nie.

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Sie sagte, ich solle den Mund halten und beschimpfte mich als Drecksack und Arschloch; daraufhin platzte mir erst recht der Kragen, und wir hatten uns total in den Haaren. Ich hielt meine Vorwürfe für vollkommen berechtigt, aber wir konnten anscheinend nicht zueinander zurückfinden.

Am nächsten Abend war ich in meiner Gruppe und erzählte Joe die ganze Geschichte. Er meinte, ich hätte nicht aus meinen Gefühlen heraus mit Sandy geredet. Ich war so besessen von dem Gedanken, ihr alles sagen zu müssen, was mir im Kopf herumschwebte, daß ich sie nicht sehen konnte, nicht sehen konnte, wie sanft sie war — ich dachte an nichts anderes als daran, was ich ihr zu sagen hatte. Ich hatte nicht einmal aus den realen Gefühlen heraus geredet, die ich hatte; ich machte mir nämlich wirklich Sorgen, daß wir das Haus verlieren könnten, denn es bedeutete mir viel, mit ihr in dem kleinen Haus zu wohnen. Vielmehr verhärtete ich mich und machte ihr Vorhaltungen. Joe sagte, daß es. viel schwieriger ,sei, aus meinen Gefühlen heraus zu reden — es ist viel entsetzlicher — und als dann Sandy ins Zimmer kam, erzählte ich ihr, was ich getan hatte, und ich redete zu ihr aus meinen wirklichen Gefühlen heraus und spürte wirklich meine Befürchtungen. Als ich ihr meine.Gefühle zeigen konnte, statt ihr lange Vorträge zu halten, merkte ich, daß ich offener war. Sie öffnete sich mir ebenfalls. Es war wirklich herrlich, sich zu sehen und zu fühlen." 

Ein weiteres Kennzeichen gestörter Beziehungen ist, daß sie Konzepte und keine Gefühle beinhalten. Ein schwarzer Patient, der vor der Therapie Weißen sehr mißtrauisch gegenüberstand, hatte zu drei oder vier anderen Patienten seiner Realitätsgruppe engere Beziehungen aufgenommen. Als er eines Abends mit seinen weißen Freunden aus einer Diskothek kam, näherten sich ihm drei schwarze "Brüder" und verhöhnten ihn, daß er sich mit Weißen abgebe. Er empfand zunächst eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl, denn er sah in ihrer schwarzen Hautfarbe eine Gemeinsamkeit von Erfahrungen und Gleichheit. Er erwartete einfach, daß man auch ihm freundschaftlich und herzlich gegenübertreten würde, stattdessen schlug ihm Feindseligkeit entgegen.

Ihn überkam ein lähmendes Gefühl von Untätigkeit und Angst; er verhärtete sich sofort gegenüber den Schwarzen und wurde danach wütend auf sich selbst. In seiner Therapiesitzung setzte er sich mit dieser unerwarteten Erfahrung auseinander. Er erklärte seinem Therapeuten, er habe immer geglaubt, daß alle Schwarzen Brüder seien. daß sie so etwas wie "Brüderlichkeit" und "Solidarität" verbinde. Dieses theoretische Konzept, das nur in seinem Kopf war, hatte ihn gegenüber seiner unmittelbaren körperlichen Reaktion, der Angst blind gemacht. Erst als er die Bedeutung seiner Empfindung fühlen konnte — ich habe Angst, tut mir nicht weh — konnte er die Realität seiner Gegenwart wahrnehmen. 

Er erkannte, daß ein bloß theoretisches Konzept kein Gefühl des Akzeptiertwerdens und der Zuneigung schafft, wenn ein solches Gefühl nicht existiert, und er fühlte, wie es ihm wehtat, sich seinen wahren Freunden gegenüber zu verschließen.

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In einem anderen Beispiel zog es ein jüdischer Patient vor, nur mit jüdischen Patienten Kontakt aufzunehmen. In seinen Therapiesitzungen war er mit vielen vergangenen Gefühlen über sein jüdisches Ghettoleben konfrontiert und fühlte seine Einsamkeit in Situationen, in denen er sich außerhalb seines "Elements" unter Nichtjuden befand; aus solchen Erfahrungen heraus hatte er Konzepte entwickelt, die ihn glauben machten, daß nur Juden seine Freunde sein könnten, während dem "Goyim" nie zu trauen sei und er immer der Feind bleibe. Sein einfaches Empfinden von Angst erhielt die nicht stimmige Bedeutung, daß Unterschiede Bedrohung und Gemeinsamkeit Sicherheit bedeuteten. 

Eines Tages, während er in einer örtlichen Turnhalle für Juden Sport trieb, wurde sein Spind ausgeraubt — unzweifelhaft von einem Mitglied, und die einzigen Mitglieder waren wie er — Juden. Wäre er nicht in der Therapie und für das Leben um ihn herum offen gewesen, hätte er leicht rationalisieren können, daß ein "Shaygit" seine Brieftasche gestohlen habe, so allerdings war er gezwungen, der offenkundigen Wahrheit ins Gesicht zu sehen. 

In seiner Therapiesitzung vollzog er fühlend seine Erfahrungen nach und fühlte schließlich die Wahrheit seines eigenen Lebens — daß es kein reales Gefühl gab, daß "Goyim" Bedrohungen darstellen, sondern daß familiäre Indoktrination, Glaubensvorurteile und seine eigenen Kindheitsängste bei ihm eine unerklärliche Empfindung zurückließen, die mit einer nicht stimmigen Bedeutung verbunden wurde. Als er weitere Therapie erhielt, und mehr aus seiner neuentdeckten Wahrheit heraus lebte, begann er, sich allen Menschen zu öffnen.

Die Feeling-Therapie gleicht die Menschen nicht einander an; fühlende Menschen sind so einzigartig wie ihre Fingerabdrücke. Die Feeling-Therapie enthüllt jedoch die blockierten Gefühle, die die Menschen in gegenseitiger Entfremdung leben lassen. Beziehungen entwickeln sich dann aus der Freiheit der Wahl, nicht aus der Knechtschaft von Vorurteilen.

 

Transformation des Therapeuten

Dieses Kapitel erschien uns ohne eine freimütige Stellungnahme zur Transformation von Therapeuten unvollständig und unaufrichtig. In einem früheren Kapitel haben wir darauf hingewiesen, daß Menschen niemals wirklich "erwachsen" werden, denn das ist ein Ausdruck, der ein Ende von Wachstum impliziert. Ein Leben aus vervollständigten Gefühlen heraus führt zu immer neuen Transformationen, so daß sich der Lebenszyklus nach außen hin erweitert und zu einer endlosen Spirale in Richtung mehr Erfahrungen und eines integrierten Lebens wird. 

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Wir stehen Therapien oder Systemen skeptisch gegenüber, die "endgültige Lösungen" in Aussicht stellen. Wir halten dies für fiktiv. Wir stehen auch Philosophien und Ideologien skeptisch gegenüber, die die Menschen veranlassen, "alles so hinzunehmen, wie es ist" oder die Maxime verkünden "Versucht nicht, alles zu verändern, lebt bloß Euer Leben" oder versprechen "Ihr werdet in einem anderen Leben belohnt werden". Dies sind Täuschungen.

 

Wir wollen die folgenden Aussagen eines Therapeuten unkommentiert lassen, denn wir vertrauen der Vollständigkeit seiner Gefühle. Wir spüren die Echtheit im Wechselspiel von Gefühlen und Reaktionen; wir erkennen die auf Gefühlen beruhende Realität seines Lebens. Was er beschreibt, sind einzig seine Erfahrungen, doch wir fühlen die Obereinstimmung mit unseren eigenen Gefühlserfahrungen:

Meinen ersten Patienten hatte ich an einer anderen Klinik, nachdem ich selbst vorher ein Jahr lang an einer Therapie und einem Trainingsprogramm teilgenommen hatte, das nicht annähernd so gut war wie das an unserem Center. Ich ging gerüstet mit einer Menge vorgefertigter Techniken an die Sache heran. Da ich nicht auf den Kopf gefallen war, lernte ich schnell, aber ich "lernte", und Lernen und Sein sind zwei verschiedene Dinge. Was ich tat, tat ich mit gespielter Abgeklärtheit und häufig unter Zurschaustellung von Stärke, mit der ich das Gefühl überspielte, dumm zu sein.

Das lief etwa ein halbes Jahr lang so. Ich wandte Techniken gegenüber den Patienten an, aber mir fehlte echte Kreativität. Obwohl unser Trainer uns oft Vorträge über den individuellen, Charakter der Therapie gehalten hatte, fällt mir im nachhinein auf, daß die Techniken nur allzu häufig engstirnig und rigide angewandt wurden und kein Spielraum für den Patienten war, der nicht ins Lehrbuch paßte. Statt daß wir das Buch in die Ecke warfen,, wurde ein solcher Patient auf das "Lehrbuch" zurechtgestutzt. Auf meine Weise arbeitete ich hart. Gleichzeitig war ich mir bewußt, daß ich es insgeheim vermied, meinen therapeutischen Lehrer meine Fehler sehen zu lassen, denn während dieses ersten Jahres war in meiner realen Arbeitssituation die Vorstellung, einen Fehler zu machen, gleichbedeutend mit der, ein Versager zu sein, ganz gleich, wie oft ich gefühlt hatte, daß es in Ordnung ist, Fehler zu machen.

Ich kann mich auch noch daran erinnern, daß ich ein starkes Bewußtsein hatte, zur Elite der Therapeuten zu gehören, das wurde sogar in meiner ersten Trainingsgruppe gefördert. Mir machte es Spaß, mit Therapeuten-Freunden alle Ideen über die Therapie zusammenzutragen und ihre Auswirkungen auf praktisch jeden Bereich menschlichen Verhaltens zu sehen.

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Eine Sache, weswegen ich mich während dieses ersten Jahres häufig schlecht fühlte, war, daß die Patienten ihren Mist auf mich abluden. Vor der Therapie war ich ziemlich streitsüchtig; die Therapie baute dies von der allerersten Sitzung an ab, und ich konnte verletzt sein, weil ich so offen war. Ich begann, mit Hilfe, aus meinen Gefühlen heraus auf meine Patienten einzugehen und nicht "über das Lehrbuch". Dadurch kam ich zu der Erkenntnis, daß es nicht der Patient war, der mir mißfiel, sondern seine Krankheit; diese Unterscheidung half mir sehr. 

Und je mehr Zärtlichkeit ich für mich selbst empfand, umso mehr erkannte ich, daß ich nicht dazu da war, um von den Patienten ausgenutzt zu werden, damit diese zu ihren Gefühlen gelangen konnten. Ich kann ehrlich behaupten, daß ich niemals gegenüber irgendeinem Patienten ein überdauerndes Gefühl der Abneigung hatte — Abneigung gegenüber der Verrücktheit ja, aber mit genügend Anteilnahme, ihm zu helfen, sie zu überwinden.

Eine andere Sache, die ich durchmachte, war sexuelle Anziehung zu einigen meiner Patientinnen. Manchmal war ich auf ein bestimmtes Mädchen scharf und hatte andererseits die lähmende Gewißheit, daß es keine Möglichkeit gab, etwas von ihr zu bekommen; sie war meine Patientin, und damit hatte es sich. Viele meiner Gefühle drehten sich, um diese Sache. Manchmal dachte ich daran, alles hinzuwerfen, weil mein Beruf es unmöglich machte, Mädchen zu treffen und mit ihnen auszugehen, wenn ich fühlte, was wirklich mit mir los war, war es meist das Gefühl, außerhalb meiner Arbeit nicht zu mir selbst zu kommen. 

Ich war so leer, daß ich irgendwelche Fantasien über meine Patientinnen hatte. Je näher ich meinen Freundinnen sein konnte, desto weniger flüchtete ich in Hoffnungen. Ich konnte auch besser meinen Patientinnen helfen, wenn sie erzählten, daß sie scharf auf mich seien, und ich konnte ihnen helfen, zu fühlen, daß sie echte Gefühle der Zuneigung hatten und diese erotisierten.

Bei mir vollzog sich noch eine weitere Veränderung; der Mann, für den ich arbeitete, betrieb die Therapie wie einen Kreuzzug, und ich war immer ein Teil dieser Elitegruppe von "Revolutionären". Ich stellte fest, daß ich nicht einmal den Leuten, mit denen ich zusammen­arbeitete, nahe war, und fühlte, wie sehr ich darunter litt. In den folgenden Monaten redete ich mehr mit den Leuten, die ich mochte, und kam ihnen näher. Schließlich wurde uns klar, daß das, was wir. wollten, unser eigenes Leben und unsere Gefühle waren, und so gründeten wir unser eigenes Genter. Ich wollte nicht irgendein Kreuzritter sein - ich wollte nur ich selbst sein.

Kurz nach der Eröffnung unseres Centers konnte ich fühlen, wie müde ich war und wie hart ich gearbeitet hatte. In^meiner Verrücktheit hatte es stets eine große Rolle gespielt, hart zu arbeiten und groß und stark zu sein; mein Vater hatte mir immer erzählt, ich müsse alles selbst machen. 

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Ich entdeckte, daß ich so auch die Therapie durchführte: Wenn ein Patient nicht selbst hart an sich arbeitete, wurde ich ihm gegenüber hart, nicht für ihn, sondern aus meiner eigenen subtilen Verrücktheit. Was mich veränderte war, meine eigenen Gefühle zu haben. Monatelang war ich ganz niedergeschlagen vor Kummer, und ich spürte eine Menge Schmerz aus meiner Kindheit; danach fühlte ich mich sanft und gut.  

Das führte dazu, daß ich nicht nur aus dem heraus lebte, was ich über mich selbst fühlte, sondern auch aus meiner Gefühlen heraus arbeitete. Genau das meinte ich vorhin, als ich sagte, es sei ein Unterschied - ein ganz gewaltiger Unterschied - zu lernen, ein Therapeut zu sein, oder einfach zu sein. Mir wurde schließlich bis in jede Fingerspitze hinein klar, daß ein Therapeut einfach ein fühlender Mensch ist. Ich verlangte nichts mehr von meinen Patienten, außer, daß sie in ihren Absichten aufrichtig sein müssen. Ich hörte auf, sie dorthin zu drängen, wohin sie meiner Meinung nach kommen sollten, und ließ sie nur das sein, was sie meinem Gefühl nach sein konnten. Und ungefähr zur gleichen Zeit begann ich, wirklich auf meine eigene Weise zu therapieren - kreativ und einfallsreich. Meine ganze Einstellung zu meiner Arbeit änderte sich. Ich sah sie deutlich als das, was sie wirklich ist, nämlich Arbeit. Zufällig ist es gute Arbeit, aber nichtsdestoweniger Arbeit. Sie ist nützlich und befriedigt mich - es macht mir Spaß, meine Zeit so zu verbringen. Es ist schön, zu sehen, wie jemand aus Verrücktheit und Elend herauskommt. Und ich kann mich aufrichtig mit meinen Patienten freuen, wenn sie sich freuen.

Ich vertraue meinen Gefühlen, und vor allem vertraue ich mir selbst — mehr als letzte Woche, mehr als vor sechs Wochen, mehr als letztes Jahr, mehr als die Jahre davor. Und ich vertraue der Qualität meiner Arbeit, weil ich aus der Qualität der Gefühle heraus lebe, die mein ganzes Ich ausmachen.  

 

Transformation von Sexualität

Wir wissen, daß es für emotional durcheinandergeratene Menschen schlechtweg keine sexuelle Befriedigung gibt. Es mag hart klingen, zu behaupten, daß der normal Verrückte sexuell zurückgeblieben sei, aber unsere klinischen Beobachtungen liefern unzählige Belege für diese Behauptung. Statt Menschen, die ihre Sexualität fühlen können, sehen wir matte Abbilder in Form sexueller Bindestrichkategorien: die Leute halten sich für hetero-, homo-, bi-, auto-, trans- oder meta-, manche bezeichnen sich sogar mit Vorliebe als a-sexuell. All diese Etiketts stellen Beschränkungen dar, die sich verworrene Menschen selbst auferlegen. Es sind sorgfältig ausgearbeitete Symptomtheorien.

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Eine Freundin eines unserer Patienten erklärte diesem zu Beginn ihrer Beziehung: "Ich möchte mit dir befreundet sein — sexuell reizt du mich nicht — mit Sex wird alles so kompliziert". Die Wahrheit von dem, was sie sagt, liegt nicht in den Grenzen, die ihre Vorstellungen geordnet halten, sondern darin, daß sie nie eine enge sexuelle Beziehung hatte. Sie hatte zahlreiche sexuelle Abenteuer und daneben Freundschaften gehabt, aber immer getrennt voneinander. Sexuelle Beziehung und Freundschaft vereinigten sich bei ihr nur im Bild vom "Ehemann". Gleichwohl war sie geschieden und weiß, daß Ehemänner nicht ihr Problem lösen. Aber sie klammert sich an die Hoffnung, daß ihr nächster Ehemann so sein wird, wie sie es sich vorstellt.

Eine .Beziehung zwischen dieser Frau und dem Mann wäre erst möglich, wenn sie gegenseitig vollständige Gefühle äußerten. Die Frau gab zu, daß sich der Mann nach dem Geschlechtsakt nicht von ihr entfremdete und einschlief, wie so viele ihrer Liebhaber, und daß er mit ihr zusammen war, nahe und intim. Es war für sie etwas Neues, daß ein Mann zugleich Freund und Liebhaber sein könnte. Dieser Gesichtspunkt wird in der Schilderung von Paul, einem Patienten mit dreizehnmonatiger Therapieerfahrung, verdeutlicht:

Wenn ich früher, als ich jünger war, sexuell erregt war, konnte ich nie ein Mädchen finden, das meine Erregung teilen wollte. Ich wollte etwas, doch ich war so ahnungslos, daß ich, wenn ich endlich ein Mädchen gefunden hatte, nicht wußte, was ich tun sollte. Als ich älter wurde, bekam ich mehr Erfahrung, indem ich Sexratgeber las, und wenn ich mit Mädchen zusammen war, tat ich so, als wüßte ich über alles Bescheid. Schließlich hatte ich die Sache mit dem Sex raus und bumste jede Frau, mit der ich ausging. Zum Zeitpunkt meines Therapiebeginns konnte mir im sexuellen Bereich keiner mehr etwas vormachen. Nach Beginn der Therapie schlief ich ungefähr sechs Monate lang mit keiner Frau. Ich onanierte häufig. Ich hatte Angst, wenn ich mit Frauen zusammen war. Ich fühlte, daß ich nicht einfach nur mit den Frauen zusammensein konnte, mit denen ich im Bett lag. Mit der Erektion und Ejakulation klappte es, aber ich hatte keine Gefühle. Ich fühlte mich innerlich verwirrt. Je länger ich in der Therapie war und je mehr ich fühlte, umso stärker spürte ich, daß ich nicht die ganze Zeit bumsen wollte, wenn ich mit einer Frau zusammen war. In Wirklichkeit wollte ich nahe sein. Nahe sein bedeutet, nicht so schnell wie möglich ins Bett zu steigen, sondern den Sex ganz natürlich auf uns zukommen zu lassen; etwas, das wir teilen und worüber wir reden können. Jetzt gehe ich häufiger mit Mädchen spazieren, unterhalte mich mehr und tue mehr einfache Dinge mit ihnen. Wir streicheln uns am ganzen Körper, weil Streicheln ein angenehmes Gefühl ist. Ich versuche nicht, sie scharf zu machen und ihr in die Hose zu greifen. Manchmal wollen wir nichts anderes als uns streicheln, dann schlafen wir ein und sind uns nahe. Ich will nichts tun, was ich nicht fühle. 

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Wenn wir bumsen, ist es herrlich. Ich habe mehr Gefühle in mir. Manchmal habe ich einen unheimlich schönen und tiefen Orgasmus, und ab und zu fühle ich weniger. Beides ist gut. Sex unterscheidet sich in nichts von irgendeinem anderen Teil meines Lebens. Ich genieße es, wenn wir uns eng anschmiegen und festhalten.

Wenn Empfindungen, Bedeutungen und Ausdruck verworren oder nicht stimmig sind, könnte zum Beispiel eine Frau sagen: "Wenn du mich streichelst, werde ich scharf. Was hast du mit mir vor?" Ein Mann könnte sagen: "Wenn ich dich streichle, möchte ich mit dir bumsen". Es spielt keine Rolle, wer was sagt: die sozialen Klischees sind so bekannt, daß es überflüssig ist, sie zu analysieren.

Es lohnt sich indes zu wissen, daß jedes Klischee und jede Reaktion ein gestörter Ausdruck ist. Die Frau hätte aus ihren vollständigen Gefühlen heraus vielleicht gesagt: "Ich spüre meinen Körper, und ich will dich fest umarmen", und der Mann: "Ich möchte streicheln, ich streichle sehr gern, ich kann mich fühlen". Was stattdessen passiert, ist, daß Küssen zum Streicheln und dieses zum Petting führt, bis es schließlich zum Geschlechtsakt kommt, gleichgültig, ob man wirklich miteinander schlafen will oder nicht. Bei durcheinandergeratenen Menschen ist das Gefühl verkümmert, sich nahe sein zu wollen und sich ständig zu antworten.

Die Menschen — ob Ehemänner und Ehefrauen oder Liebende und Fremde — trennen sich, ohne sich jemals richtig kennengelernt zu haben, und gehen ihre eigenen Wege, bis sie irgendwann erneut ihre Fantasien ausagieren. Ein Leben aus Rollen und Fantasien heraus ist für diejenigen lebensvernichtend, die diese Rollen und Fantasien ausagieren, und für jene, die sie zurückhalten, da schließlich beide nicht mehr attraktiv sind und daher ihr sexuelles Empfinden nachläßt. Tatsächlich verkümmert ihr gesamtes Fühlen; das Leben verliert seinen Sinn, weil das Individuum seine Empfindungen, Bedeutungen und seinen Ausdruck verliert.

Die Therapeuten und sehr erfahrene Patienten der Feeling Therapie leben anders, denn wir wehren uns nicht dagegen, uns völlig kennenzulernen. Das heißt, indem wir unsere Gefühle teilen, lernen wir uns so kennen, wie wir sind, und nicht in Rollen und Vorstellungen.

Wir stellen fest, daß die Patienten der Feeling-Therapie eine anfängliche Phase der Selbstentdeckung in sexueller Transformation durchmachen. Die Patienten entdecken ihren Körper und ihre Sexualität, indem sie ihre Gefühle zu entdecken beginnen. Das heißt nicht, daß alle unsere Patienten Jungfrauen sind — tatsächlich aber spüren alle Patienten, welche sexuellen Erfahrungen sie gemacht haben mögen, selten ihre eigene Sexualität.

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Eine Patientin, Judith, war eine schöne Frau und hatte ein in ihren Augen normales Geschlechtsleben. Gelegentlich kam sie zum Orgasmus, oft hatte sie Angst, aber manchmal machte es ihr auch wirklich Spaß. Als sich ihre Vorstellung, sexuell ungebunden und frei zu sein, auflöste, entdeckte sie ihren eigenen Körper und ihre eigene Sexualität. Ihre Gefühle nahmen an Tiefe zu, als sie fühlte, daß sie ihren Körper als heranwachsendes junges Mädchen verlassen und schließlich eine Rolle gefunden hatte, mit der sie ihre verlorenen Gefühle ersetzen konnte. 

In Sexdingen war sie eine "Kellnerin", bedienend, ohne zu erhalten. Sie machte im Prozeß ihrer Selbst­findung eine Phase durch, in der sie weder streicheln noch mit jemandem schlafen, noch mit irgendjemandem zusammensein wollte. Sie lernte, sich selbst zu streicheln, zu onanieren, sich zu fühlen; dies war von enormer Bedeutung, denn sie könnte keine sexuellen Gefühle bei einem Mann erleben, wenn sie sich selbst nicht nahe fühlt, nicht frei ist, um sowohl ihre Ängste als auch ihre Lust empfinden zu können.

Die sexuelle Entdeckung, eine zweite unterscheidbare Transformationsphase, kann sehr entsetzlich sein. Frauen lernen Männer als fühlende Menschen kennen, und Männer lernen Frauen als fühlende Menschen kennen. Die Lust ist groß, das hervorgerufene Bedürfnis stark, und wenn Gefühle aufgedeckt werden, wird es möglich, den Menschen sehr tiefe und verletzbare Bereiche ihrer selbst zu öffnen. In dieser Phase bekommen die Patienten Kontakt mit Bereichen ihres Lebens, in denen sie ihre jugendliche sexuelle Energie verdrängen mußten. In gewisser Hinsicht werden unsere Patienten wieder zu Jungfrauen. Sie sind ihren Gefühlen gegenüber nicht mehr verhärtet, und indem sie sich einander als Menschen und sexuell öffnen, erleben sie die Gefühle, zu deren Aufgabe sie als Jugendliche gezwungen wurden.

Frauen entdecken ihre eigene sexuelle Aggressivität und beginnen, im Sex und im sexuellen Spiel initiativ zu wenden. Sie tun dies in der gleichen Weise, wie sie alle anderen Aktivitäten initiieren. Sie warten nicht mehr darauf, genommen zu werden. Sex wird zum Austausch von Gefühlen und Nähe. Männer stellen fest, daß sie zärtlich sein können. Da sie tiefen Gefühlen nachgeben, reagiert ihr Körper in natürlicher Weise auf das, was geschieht. Wenn verworrene Menschen Sex auf Schauspielerei gründen, werden sie nach vollzogenem Geschlechtsakt allenfalls Applaus oder Buhs ernten; sie bringen sich darum, Leben zu teilen.

In der Phase der sexuellen Entdeckung treffen die Patienten viele Verabredungen. In mancher Hinsicht zeigen sie jugendliche Abenteuerlust und Verträumtheit, um sich von dem unreifen Erwachsenensein zu lösen, in das sie hineingewachsen sind. Wenn die Patienten mehr und mehr von sich finden, gehen sie tiefere Beziehungen ein und konzentrieren ihre Kraft auf den Aufbau einer langfristigen Beziehung, die mit ihrem Gefühlsniveau übereinstimmt.

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Die Patienten bringen ihr sexuelles Verhalten mit ihren inneren Gefühlen erst in Einklang, wenn sie bereits durch viele Gefühlsebenen gelangt sind. Sie entdecken, daß sie nicht mehr bloß "bumsen" wollen. Sie ersetzen ihre Vorstellung von Sex durch einen stimmigen Ausdruck. Sie können ihr reales Bedürfnis fühlen, zu streicheln und gestreichelt zu werden, ohne damit die Bedeutung genitaler Sexualität zu verbinden. Die meisten Menschen sind so durcheinander, daß sie jedes sinnliche Empfinden mit einer nicht stimmigen Bedeutung von "Ich will Sex" auf ihre Genitalien übertragen.

In der Phase sexueller Intimität empfinden fühlende Patienten ihren Körper als sinnlich und lebendig und nicht als Sexmaschine. Eskaliertes sexuelles Verhalten nimmt ab, und die Patienten beginnen zu erkennen, daß Händehalten einfach Händehalten bedeutet und daß man es am ganzen Körper genießen kann. Sie blockieren beim Händehalten keine genitalen Empfindungen, sie sind indes nicht mehr auf genitale Empfindungen allein beschränkt. Wenn sich Menschen, die als Sexmaschinen leben, zu fühlenden Individuen verändern, stellen sie fest, daß sie ihre technische Sexualität aufgeben müssen, und sie lassen sich in einer Lebenssexualität aufleben. Das heißt, sie müssen zulassen, daß Gefühle am ganzen Körper ausgedrückt werden. Das Händehalten kann die Menschen dafür öffnen, ihre Beine, Arme oder Oberkörper zu fühlen.

Wenn die Patienten ihren Körper kennenlernen und spüren, können sie aus ihrem Innern heraus fühlen, welches äußere Verhalten ihrem Gefühlszustand entspricht. Sexualität ist meistens ein terminierender Akt — um aufgestaute Spannungen loszuwerden — eher als eine Bewegung durch die Zeit in gegenseitiger Nähe. Die vernünftigen Verrückten in dieser Welt einer Image-Sexualität begreifen nicht, daß jemand nahe sein will und nahe sein kann. Sie sagen: "Du willst mich nur hinhalten", Sex ohne Halten oder Reden oder gegenseitige Nähe ist bedeutungslos. Es ist sinnlich, gemeinsam ein gutes Abendessen einzunehmen oder für einen Nachmittag in einen Zoo zu gehen. Man hat Nähe und Kontakt, auch wenn es keine Sexspiele gibt. Bei Kontaktverlust wird jedes Sexspiel zu einem mechanischen Vorgang. Mit gefühltem Kontakt ist jede Handlung sinnlich und lebensfüllend.

Wenn zwei Menschen imstande sind, ein bestimmtes Gefühlsniveau aufrechtzuerhalten, dann kann ein einfaches Halten in sich vollkommen sein. Es ist kein gutes Gefühl, mit jemandem "mehr zu tun", der nicht mehr fühlen kann. Sich die Hände zu halten, gemeinsam zu spielen und zusammen zu reden sind in sich vollständig. Es liegt keine Übereinstimmung des äußeren Verhaltens mit dem inneren Fühlen vor, wenn man mit jemandem schläft, der nur sein Händehalten wirklich fühlen kann. Lassen sich hingegen zwei Menschen wissen, was sie fühlen, so daß ihr geteilter Ausdruck zu einem sanften Wechselspiel wird, können sie beide fühlen.

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In der sexuellen Umgangssprache wird von Männern gemeinhin als "Schwänzen" und Frauen als "Mösen" gesprochen. In der Welt von Schwänzen und Mösen werden gute oder schlechte Nummern gemacht. Aber kaum jemand spricht von einem angenehmen Händehalten oder einem tiefen Kuß; kaum jemand würde sagen: "Beim Bumsen fühle ich mich unwohl" oder "Ich empfinde sehr wenig beim Streicheln". Vielmehr müssen Vorstellungen befriedigt und Fantasien ausagiert werden. 

Für die meisten Menschen gibt es nur die Vorstellung von Sex und die Rolle des Bumsens. In den üblichen sexuellen Umgangsformen ist nur sehr wenig Platz für innere Gefühle, die mit dem äußeren Verhalten in Einklang stehen. Männer und Frauen wissen, wie man "Ich will nicht bumsen" oder "Ich will bumsen" sagt (obwohl es gewöhnlich nicht so direkt gesagt wird). Aber zwischen der Äußerung und der Handlung schimmert sehr wenig durch. Der Geschlechtsakt entspricht in den seltensten Fällen der Fantasie, und wenn er vollbracht ist, bleiben sowohl der Mann als auch die Frau mit ihren leeren inneren Gefühlen allein zurück.

Erwachsene, die ein sexuelles Abenteuer nach dem anderen haben, bilden sich ein, daß Sex erholsam sei. Natürlich ist das nur Einbildung.2) Wenn jemand seine sexuellen Bedeutungen, Empfindungen und seinen Ausdruck nicht in Einklang bringen kann, wird er oder sie eine vernünftige Verrücktheit aufbauen, um das Fehlende zu kompensieren. Jede Handlung im Leben ist gefühlvoll — es gibt Gefühls- und Verhaltensebenen, die miteinander in Einklang gebracht werden müssen, aber es gibt niemals Sex ohne Gefühle. 

Es gibt Verhaltensweisen, die über das hinausgehen, was verworrene Menschen fühlen können; ebenso gibt es Verhaltensweisen, die das unterschreiten, was Menschen fühlen können, aber nur selten gibt es eine Übereinstimmung zwischen Verhalten und Gefühlen. Wenn eine solche Übereinstimmung vorliegt, wird jede Handlung zu einer integralen und lebensfüllenden Handlung. 

Die Veränderungen, die wir bei unseren psycho-physiologischen Untersuchungen festgestellt haben, werden klinisch durch die Reaktionen der Patienten auf ihren Körper bestätigt. Wenn sie niedrige Spannungsebenen aufrechterhalten, verändern sich ihre Gefühle über ihren Körper und ihre Sexualität. 

 

Transformationsforschung  

 

Psychologen sind bekannt dafür, alles und jedes messen zu wollen. Kein Hund kann speicheln, keine Ratte mit den Augen blinken und kein Säugling bettnässen, ohne daß irgendein eifriger Psychologe danebensteht, um zu messen, zu markieren und Daten zu sammeln. Wir sind im Gegensatz zu den meisten Psychologen nicht der Ansicht, daß der Informationsgehalt quantifizierbarer und reproduzierbarer Phänomene größer ist als der von solchen, die nur einmal beobachtet werden. Die psychotherapeutische Arbeit besteht zu einem beträchtlichen Teil aus einmaligen Experimenten.

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Der Psychotherapeut verhilft einer bestimmten Person zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einem bestimmten Gefühl, das nie wieder in genau dieser Weise mit genau diesen Bedeutungen oder Konsequenzen auftreten wird.

Es ist eine unbegründete Hoffnung, zu glauben, daß die Psychotherapie jemals eine angewandte Wissenschaft sein werde. Dies heißt nicht, daß sich die Therapie mit nicht faßbaren und unpräzisen Ereignissen beschäftigt — das Gegenteil ist der Fall. Der Augenblick des Fühlens involviert ein ganzes Spektrum innerer und äußerer Ereignisse, die realer und präziser sind als es irgendeine objektivistische Sichtweise erfassen kann. Nur ein fühlender Mensch kann die einzigartige Realität des gefühlten Augenblicks mit jemand anderem leben.

Wir sind uns der Notwendigkeit bewußt, Messungen und Experimente durchzuführen, um die Beweiskraft und Generalisierbarkeit unserer Beobachtungen zu überprüfen. Unsere Patienten werden vor Therapiebeginn und in gewissen Zeitabständen innerhalb der Therapie getestet und gemessen. Wir messen alles, angefangen von Körpertemperatur und Blutdruck bis hin zu Träumen und Berichten aus dem Alltagsleben der Patienten. Wir werden einige dieser Messungen später in diesem Kapitel erörtern, doch wir wollen zunächst auf die. grundlegendste Transformation hinweisen, die die Patienten durchmachen: sie fühlen sich selber anders, und sie fühlen sich für andere anders an.

Diese grundlegende Transformation kann nur sehr schwer quantifiziert werden, aber sie ist das hervor­stechendste und bedeutendste Ergebnis der Therapie. Die allgemeine Veränderung ist am engsten mit den eigentlichen Augenblicken der Transformation vermacht, die auftreten, wenn sich jemand vom Nicht-fühlen dem Fühlen zuwendet. Ein Patient, der die Therapie mit verworrenem, nur teilweise empfundenem Fühlen beginnt, das nicht stimmig ist und nur unvollständig ausgedrückt wird, fühlt sich anders an, wenn ich mit ihm zusammen bin, nachdem er sich zu ordnen und er selbst zu sein beginnt. Er weiß, daß er sich verändert hat, und die fühlenden Menschen, mit denen er zusammenlebt, wissen es ebenfalls.

Es gibt so etwas wie eine Gefühlsebene und Gefühlsspannung. Mit einigen Leuten fühlt man sich wohl, mit anderen nicht. Manche haben von sich ein angenehmes Gefühl, andere ein unangenehmes oder fühlen sich überhaupt nicht. Jeder von uns kann auf einer bestimmten Ebene das Nichtübereinstimmen von Gefühl und seinem Ausdruck spüren. Wenn sich solche Diskrepanzen häufen, fühlen wir uns mit einem Menschen nicht wohl — er kommt uns irgendwie "neben der Spur" oder "wie in einer anderen Welt" vor. Diese Person kann alles richtig machen oder freundlich, nett oder gut erscheinen, aber wir spüren die Gestörtheit hinter ihrer unechten Fassade.

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Im Verlauf der Therapie wächst die Sensibilität der Patienten gegenüber ihrer eigenen Verworrenheit und der anderer, während ihre Bereitschaft abnimmt, sich mit dem abzufinden, was einem "neben der Spur" vorkommt. Das ist einer der Gründe für unsere Behauptung, daß Gefühle Konsequenzen haben. Jeder moderne Mensch in diesem psychologischen Zeitalter erkennt, daß nicht zum Ausdruck gebrachte Gefühle trotzdem einen gewissen Einfluß auf sein Leben ausüben. Zumindest spricht jeder über die "negativen Folgen" des Unbewußten. Weit weniger werden die "positiven Folgen" des Bewußtmachens unbewußter Dinge beachtet. Sobald man das Gespür eines Menschen für Verworrenheit und im Gegensatz dazu für geordnete Übereinstimmung schärft, hat das zur Folge, daß er nicht mehr so leicht über bestimmte Dinge hinwegsehen kann.

Unsere Patienten sind schließlich in ihrem Körper gefangen. Aufgrund der Verrücktheit oder inneren Verworrenheit kann man sich mit so ziemlich allem abfinden — das war die ursprüngliche Funktion jedes Durcheinanderbringens. Aber ein gesunder Mensch schätzt seine Gefühle und will keinen einzigen Augenblick der Verworrenheit von sich Besitz ergreifen lassen. Wenn dies doch einmal der Fall ist, tut ihm das körperlich weh. Schmerz ist ein grundlegendes körperliches Signal, daß "ich verletzt werde".

Dies bedeutet, daß man für alles, was man tut und mit anderen teilt, die Verantwortung übernehmen muß. Jemand, der keine Verantwortung übernimmt, antwortet nicht auf das, was ihm widerfährt, oder kann nicht darauf antworten. Verworrene Menschen können nicht antworten, weil sie sich, nicht entwirren können. Fühlende Menschen müssen antworten oder an den inneren Konsequenzen leiden. Wenn sich ein Patient verantwortlich zu fühlen beginnt, lassen sich seine Veränderungen psychophysiologisch erfassen.

 

Psycho-physiologische Veränderungen  

Vor der Eröffnung des Centers hatten einige unserer Mitarbeiter ausgedehnte Forschungsarbeiten im Bereich der klientenzentrierten Gesprächstherapie, Hypnose, Meditation, EEG-Biofeedback und Projektstudien im Bereich der Primärtherapie durchgeführt. Die Ergebnisse unserer Untersuchungen zur Primärtherapie stützten die Arbeitshypothese, daß Abreaktionen zu Spannungsverminderungen führen.

Solche Spannungsreduktionen ließen sich psychophysiologisch in Veränderungen der Pulsfrequenz, des Blutdrucks und der Körpertemperatur (oral und rektal) nachweisen. Unsere Befunde stimmen mit den Befunden überein, die in Untersuchungen zum Autogenen Training und in klinischen Fallbeschreibungen der Bioenergetischen Therapie erhoben wurden.3) 

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Nachdem wir in unseren früheren Untersuchungen zur Primärtherapie die Möglichkeit von Spannungs­reduktion unter Beweis stellen konnten, versuchten wir, die Resultate an Patienten der Feeling Therapie zu replizieren.4) Wir könnten unter Verwendung eines etwas komplizierteren Versuchsplans belegen, daß Patienten der Feeling Therapie tatsächlich in allen Parametern wie Körpertemperatur (oral und rektal), Blut­druck und Pulsfrequenz niedrigere Werte aufwiesen. 

 

Besonders interessant war jedoch, daß die Kontrollgruppe, die eine "Schein-Therapie" bekam, gewisse Veränderungen in einigen dieser Parameter aufwies. Die Schein-Therapie bestand darin, zu schreien und treten, Regression zu simulieren, Kindheitsszenen zu erinnern und zu versuchen, diese Szenen so zu spielen, als, ereigneten sie sich tatsächlich. Bei der Schein-Therapie fehlten lediglich das Durcharbeiten von Abwehr der Gegenwart und das Hervorrufen integraler Gefühle. Die Ergebnisse bei dieser Schein-Therapiegruppe machen deutlich, daß viele Menschen von den vorübergehenden Folgen getäuscht werden, die sidh aus zufälligem Schreien, Brüllen und Darstellen vergangener Szenen ergeben. Die Teilnehmer der Schein-Therapie zeigten in zwei der sechs gemessenen Parameter ähnliche Veränderungen, während sie in den übrigen vier unverändert blieben. Dies läßt vermuten, daß die anfänglichen Veränderungen in der ersten Therapiezeit nicht der wichtigste Indikator für reale Veränderungen sind.

 

Andere Forschungsarbeiten, z.B. diejenigen über transzendentale Meditation und Selbstkontrolle von Gehirn­wellen5), haben auf dem Hintergrund ihrer jeweiligen Techniken ebenfalls physiologische Veränderungen bei Spannungsreduktion nachgewiesen. Wir waren besonders an der Frage interessiert, wie gut jemand Spannungsveränderungen mit zunehmender Therapiedauer aufrechterhalten kann. Zur Oberprüfung unserer Überlegungen führten wir eine Untersuchung durch, in der die Unterschiede zwischen erfahrenen und unerfahrenen Patienten erfaßt wurden. Diese Untersuchung beinhaltete sowohl die Messung aller auch in unseren früheren Untersuchungen kontrollierten physiologischen Parameter, als auch die Berücksichtigung von Berichten der Patienten und Therapeuten, Traumdarstellungen und einigen Schlaf-EEG-Aufnahmen.

Erwartungsgemäß zeigten neuere Patienten vor Therapiesitzungen höhere Spannungsniveaus als erfahrene. Bei den weniger erfahrenen Patienten war darüber hinaus nach der Sitzung ein größerer Spannungsabfall feststellbar, allerdings konnten sie das niedrigere Spannungsniveau nicht aufrechterhalten. Demgegenüber zeigten die erfahrenen Patienten einen Spannungsabfall, den sie längere Zeit während des sechstägigen Experiments behaupten konnten. 

Diese Ergebnisse untermauern unsere theoretische Annahme, daß "Gefühle herauslassen" nicht die Haupt­komponente der Transformation ist. Transformation erfordert eine Integration der neuen Gefühlsebene in den täglichen Lebensablauf. Während des gesamten Experiments konnten die Patienten ihrem üblichen Tagesrhythmus gemäß leben. Die erfahreneren Patienten wußten offensichtlich, wie sie ihren Gefühlen näher sein konnten, und hielten daher einen weniger gespannten psychophysiologischen Zustand aufrecht.

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Wach-Berichte. Wir stellten fest, daß die erfahreneren Patienten mehr ausdrücken, mehr fühlen, klarer zwischen vergangenen und gegenwärtigen Abwehrmechanismen und Gefühlen unterscheiden können und im Wachzustand aktiver leben. Interessanterweise bestand eine augenfällige Übereinstimmung zwischen den Wachberichten und den physiologischen Veränderungen. Wenn die unerfahrenen Patienten regredierten, erhöhte sich ihre physiologische Spannung, während die Wachberichte verschwommener wurden.

Erfahrene Patienten konnten nicht nur niedrigere Spannungsniveaus aufrechterhalten, ihre Wachberichte waren auch klarer, aktiver und integrierter. Der vielleicht interessanteste Befund dieser Untersuchung war die enge Korrelation zwischen Wach- und Traumberichten. Die erfahrenen Patienten gaben an, sich an mehr Träume erinnern zu können, und ihre Träume waren klarer, ausdrucksvoller, gefühlsbetonter, aktiver und weniger verworren. Wir sind geneigt anzunehmen, daß Wachen und Träumen auf dem gleichen Bewußtseins­kontinuum liegen. Wird das Wachen verändert, ändert sich gleichzeitig das Traumgeschehen.

 

Traum-Veränderungen. Das Traumleben ist eine exakte Parallele zum Wachleben. Es ist zu erwarten, daß Veränderungen des einen mit Veränderungen des anderen einhergehen. Aber während die meisten Therapien den Anspruch haben, das Wachleben verändern zu wollen, wird ein solcher Anspruch bezüglich des Traumlebens nur selten gestellt. Möglicherweise liegt dies daran, daß die Behauptung, Träume könnten sich grundsätzlich verändern, schwer zu beweisen ist

Freud und die meisten seiner klinisch und wissenschaftlich tätigen Nachfolger haben wiederholt die Beobachtung gemacht, daß sich die Träume eines bestimmten Individuums über die Zeit hindurch nicht wesentlich verändern und daß die grundlegenden Traumvorgänge und Traumerlebnisse bei allen gleich sind: in Träumen, erleben wir Grundkonflikte aus unserer Vergangenheit, die unzureichend verarbeitet worden sind; normalerweise plagen uns irgendwelche Sorgen, wir sind verwirrt, eher passiv als aktiv, eher feindselig als freundlich, und die meiste Zeit erleben wir etwas Unangenehmes. Kurz, nachts sind wir Opfer dessen, was Freud als "Traumarbeit" bezeichnete.

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Selbst Freud, der das Wach- und Traumleben über ein spezifisches interpretatives Bindeglied eng mitein­ander in Beziehung setzte, glaubte nicht, daß man in das Traumgeschehen therapeutisch eingreifen könne; vielmehr unterstellte er, daß das Traumleben grundsätzlich der Kontrolle entzogen und als Ergebnis der vereinigten, antagonistischen Aktivitäten des Unbewußten und des "Zensors" dazu verurteilt sei, symbolisch und konfus zu sein. Er war der Meinung, wir könnten nach dem Aufwachen nicht mehr tun, als den Traum zu entschlüsseln und zu interpretieren; wir könnten bestenfalls hoffen, daß die Verwirrung auf Träume beschränkt bleibe,

Wir sind dagegen der Ansicht, daß für die meisten von uns die eigentliche "Arbeit" darin besteht, hinter die Traum- und Wach-Verrücktheit zu gelangen. Von all diesen tröstlichen Interpretationen, Klassifikationen und Komplikationen bleibt die Tatsache unberührt, daß sich die Träume der meisten Menschen verrückt anfühlen, So etwa wies Charlotte Bobcock darauf hin, daß man in Wirklichkeit keinen Unterschied zwischen Träumen von Schizophrenen und Normalen angeben könne. Die Träume Schizophrener werden nur deshalb als verrückt bezeichnet, weil Schizophrene als verrückt bezeichnet werden; Träumen Normaler wird das Etikett "normal" angehängt, weil Normale diese Etikettierung vornehmen. 

Tatsächlich aber sind alle durch Traumarbeit verzerrten Träume verworrene und unvollständige Gefühle. Schizophrene wehren im Wachleben ihre Gefühle in Form von Verrücktsein ab; bei Normalen geschieht dies in Form von Vernünftigsein. Aus klinischer Erfahrung wissen wir, daß die Beschränkung von Gefühlen, die im Traum auftreten, auf das Traumleben, ein Teil der vernünftigen Verrücktheit ist. Die Gefühle beeinflussen und sind ein Bestandteil unseres Lebens, gleichgültig, ob sie erkannt oder nicht erkannt werden.

Das Traumgeschehen spiegelt daher mit seiner ganzen Verrücktheit, Verwirrung, Unbehaglichkeit und gelegent­lichen Klarheit den inneren Gefühlszustand der Menschen wider. Ein Traumdrama hat als Schauspieler nur die eigene Person, als treibende Kraft nur die eigenen Gefühle, als Geschehen nur die eigene Ausdruckskraft, als Rollen nur die eigene Aktivität, als Verstrickung nur die eigenen verrückten Gedanken und als Handlungsablauf nur das eigene Leben. Die Transformation von Träumen scheint in der Tat ein seltenes Phänomen zu sein; denn es ist die Neuschreibung eines Lebens von Grund auf. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß nur wenige Forscher und Traumtheoretiker diese Möglichkeit überhaupt in Betracht gezogen haben. Es ist noch weniger verwunderlich, daß kaum jemand von ihnen Vorstellungen davon hatte, wie diese Transformation aussehen kann.

 

Am Center für Feeling-Therapie konnten wir Veränderungen im Traumleben von Therapeuten und auch Patienten nachweisen. In einer Pilotstudie gelang es uns, den Lebenslauf eines unserer Therapeuten anhand seiner Träume nachzuzeichnen7)

Das von uns analysierte Traummaterial aus vier Jahren stammte aus der Zeit, als sein Interesse an Träumen erstmals so groß wurde, daß er sie schriftlich festhielt, den Zeitraum, als er Bioenergetik und Gestalttherapie mitmachte und ausübte, die eineinhalb Jahre, die er am Primärinstitut verbrachte, und schließlich das erste Jahr am Center. 

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Das Traummaterial während des einen Jahres Feeling-Therapie zeigte eine in jeder Hinsicht eindrucksvolle Transformation seines Traumlebens. Nirgends sonst war diese Veränderung evident. Neuere Unter­suchungen stützen unsere Behauptung, daß es in der Feeling Therapie wirklich zu Traumtrans­formationen kommt. Unserer Meinung nach kann eine Therapie nur dann den Anspruch erheben, wirksam zu sein, wenn sie solche Transformationen unter Beweis stellen kann.

Hier ist ein Beispiel solcher vollständigen Gefühle in Träumen, die bei tiefer persönlicher Transformation möglich sind:

"Ich bin mit meiner Freundin zusammen. Sie redet mit mir, sagt mir aber nicht die Wahrheit über das, was auf der Party passierte. Ich werde sehr wütend auf sie und fange zu schreien an. Ich schreie und brülle immer noch. Dann beginne ich zu weinen und erzähle ihr, wie sehr ich wirklich will, daß sie mir nahe ist und nicht weit weg."  

Wir haben festgestellt, daß die Träume unserer Patienten, die völlig ihren Gefühlen nachgeben, emotional ausdrucksvoll, klar in der Vergangenheit und getrennt von der Gegenwart sind. Aus ihren verworrenen Träumen sind Gefühlsaussagen geworden. Es wird nicht ständig in dieser Weise geträumt. Träumen ist ebenso wie die Therapie ein lebendiger Prozeß. Wir sind jetzt überzeugt davon, daß, je fühlender und aktiver das Wachleben eines Patienten ist, umso aktiver, fühlender und klarer sein Traumleben sein wird.

 

    Heilung oder Transformation?   

 

Einer transformativen Therapie geht es erst in zweiter Linie um "Heilung". Menschen verändern ständig ihr Lehen, ob mit oder ohne Therapie, aber nur wenige transformieren ihr Leben. 

Psychotherapeuten lassen sich durch "Erfolgs-" und "Heilungs-" Statistiken irreführen; bei hohen Ziffern glauben sie, etwas erreicht zu haben, bei niedrigen betrachten sie oder ihre Kritiker die Therapie als gescheitert. Wir sind dagegen der Meinung, daß hohe Aussteigerquoten manchmal gute Erfolgsmaße sind und Wiederherstellungsquoten manchmal gute Mißerfolgsmaße. Wir haben die Erfahrung gemacht, daß normal Verrückte ihre Verrücktheit fühlen, die ihr Leben zu erschüttern begonnen hat, und dann wieder in ihren sicheren und gewohnten Vorstellungen von Normalität Zuflucht nehmen — auf diese Weise lassen sie ihre Gefühle hinter sich.

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Jake zum Beispiel, ein erfolgreicher Ingenieur, kam in die Therapie, kurz nachdem ihn seine Frau wegen eines anderen Mannes verlassen hatte. Zum erstenmal in seinem Leben sah er sich mit etwas konfrontiert, womit er nicht "fertig" wurde, und er suchte Hilfe. 

Am Anfang machte Jake ganz gut mit — er versuchte, bei der Therapie genauso erfolgreich zu sein wie bei allen anderen Sachen, die er bisher getan hatte. Natürlich blieb er bei einer solchen Art, Therapie zu "machen", weit entfernt von seinen Gefühlen. Er fühlte sich besonders schlecht, wenn ihm "unbedeutende Sekretärinnen" und "dahergelaufene junge Schnösel" in seiner Realitätsgruppe vorhielten, daß er durch seine Art, überall gut aussehen zu wollen, seinen Gefühlen aus dem Wege gehe. 

Trotz aller Bemühungen seines Therapeuten und seiner Gruppe gestand sich Jake niemals das einfache Gefühl zu: "Ich weiß nicht, was ich machen soll" oder "Ich fühle mich schlecht, und ihr sollt es nicht sehen" oder "Ich fürchte mich vor euch allen". Stattdessen floh er aus der Therapie, um sich nach einer Frau umzusehen, die "an ihn glaubte". Einige Monate nach seinem Weggang schrieb er seinem Therapeuten, daß alles "bestens" sei, daß er eine "wunderbare Frau" gefunden habe, mit der er zusammenlebe, und daß er "sein Leben mehr denn je genieße". Er dankte dem Therapeuten für "all das, was du für mich getan hast".

Sollte dies etwa als ein Erfolg gewertet werden? Wir meinen nicht. Jake ging es besser, doch seine Form der Verrücktheit bestand darin, "gut auszusehen" und "sich besser zu fühlen". Tatsächlich transformierte er sein Leben, als er sich mitunter schlechter fühlte und verrückt verhielt.

 

Tom, ein fünfundzwanzigjähriger Patient, litt, als er mit der Therapie begann, unter immer wiederkehrenden Flashbacks, die von einer starken LSD-Dosis herrührten, die er vor über zwei Jahren genommen hatte. Bevor er sich in die Feeling Therapie begab, hatte er viele Formen von Hypno- und Entspannungstherapien ausprobiert, die diese Flashbacks verhindern und ihm helfen sollten, ruhig zu bleiben. Die Therapien waren, wie er sagte, "bis zu einem gewissen Punkt wirksam, doch ich hatte immer das Gefühl, als ob das alte Zeug im Hintergrund jederzeit auf mich stürzen könne". 

Tom hatte seit seiner LSD-Geschichte zwei Jahre lang nicht gearbeitet. Er hatte zu Hause bei seinen Eltern gewohnt und "alles am Haus in Ordnung gehalten, um für mich zu bezahlen". Tom machte in der Therapie zunächst gute Fortschritte, da er Heilungshoffnungen hatte, an die er sich klammerte. Aber nach sechs Monaten Therapie war er immer noch nicht bereit, aus seinen Gefühlen heraus zu leben. Er konnte in der Vergangenheit und Gegenwart fühlen, doch er kehrte immer wieder zu der Abwehr zurück, daß "alles zu viel für mich ist, ich schaffe es nicht". 

Häufig drohte er damit, daß er aus der Therapie aussteigen und in ein Krankenhaus gehen wolle. In seiner letzten Feeling-Gruppen-Sitzung wurde ihm eine Übung gegeben, um mehr zu fühlen, bei der er seine Abwehr in der Rolle eines sterbenden Mannes übertreiben sollte, der nicht mehr imstande ist, irgendetwas zu tun. Als er durch den Therapieraum kroch und jammerte: "Weh mir.... ich bin für immer verloren.... nichts kann mich retten... niemand versteht meinen Zustand....", begann er über sich selbst zu lachen. Am nächsten Tag begab er sich in ein Krankenhaus und rief seinen Therapeuten an, um ihm zu sagen: "Es ist zu viel für mich."

Im Gegensatz zu Jake kam Tom, ehe er wieder dazu überging, sich verrückt zu verhalten, besser zurecht. Er agierte seine Gefühle im Krankenhaus aus, wo er sich seinen Fantasien von helfenden Eltern hingeben und immer wieder versuchen konnte, sie zu bewahrheiten.

*

Patienten, die sich gegen Transformation sträuben, verbleiben in der symbolischen Vergangenheit. Sie kehren in eine Welt zurück, in der sie mit dem Zauber von Lügen, Meinungen und Rollen aus der Gegen­wart das zu machen versuchen, was sie in der Vergangenheit wollten. Es ist leicht, zu früheren Formen der Verrücktheit zurückzukehren. Fühlende Menschen erkennen, daß sie immer wieder die schwere Entscheidung treffen müssen, ihr Leben zu erneuern. Für einen neuen Patienten ist Transformation Wiedergeburt — Wiedergeburt in eine fast vergessene Gefühlswelt. 

Für einen fühlenden Menschen ist Transformation Erneuerung — eine Erneuerung, die kein Abgleiten in Unbe­wußt­heit erlaubt, um das Leben, von dem er weiß, daß es möglich ist, wegzuschieben. Carole, eine unserer Therapeutinnen, drückt in dem nachfolgenden Gedicht ihre Gefühle über diese Entscheid­ung aus8).

 

Ich will nicht fortgehen,
fortgehen in meine Scheinwelt;
dort draußen (und hier drinnen) ist es so beklemmend,
nichts, worüber ich lachen und lächeln kann;
jeder Tag einer Wiederholung des letzten,
nur ein Warten auf die wenigen Momente der Freiheit,
in denen ich in meinem Innern sein und den
Frieden der Ruhe spüren kann.

Ich rede mit Menschen, und vielleicht
mit einem Insel Lächeln auf meinem traurigen Mund;
aber die Strecke zu meinem Magen
ist trocken und durstig;
ich will immer mehr,
irgendwo anders sein.

Ich räume Geschirr weg und  
bringe das Schlafzimmer in Ordnung und packe aus;  
ich warte darauf, irgendwo anders hinzugehen,
ein anderes Leben zu führen, weg
von allem, was an mir nagt und mich zerfrißt.

 

Ich brauche soviel Mut, um mich zu finden  
und in meinem Innern zu sein;  
alles draußen verschwimmt  
und bedeutet schließlich nichts,  
wenn ich nicht wirklich da bin.  

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