3 Der Traummacher bleibt
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Zum erstenmal seit vier Tagen erwachte Dominic mit einem großartigen Gefühl. Als erstes rief er Linda an und bat sie rüberzukommen. Beim Frühstück unterhielten sie sich angeregt und waren froh, sich wieder nahe zu sein.
Dominic fuhr früh zur Arbeit und fühlte sich zehn Jahre jünger. Im Aufenthaltsraum in der Klinik breitete er seine Arme aus und rief: "Wirklichkeit. Willkommen in der Wirklichkeit." Alle fingen an zu rufen und zu scherzen: "Wirklichkeit, willkommen in der Wirklichkeit." Es klang wie ein Lied. Wir alle lachten und redeten. Dominic erzählte uns, was er die letzten vier Nächte durchgemacht hatte. Je mehr er redete, um so ruhiger wurden wir.
Riggs hatte mitgeholfen, den Traum in die Wirklichkeit zu holen. Ihre letzte Therapiesitzung war lang und schmerzhaft gewesen, wie eine schwierige Geburt, aber jetzt war das Kind geboren. Riggs saß da und sah zu, wie Dominic seine neugefundene Freiheit genoß.
Das Gemeinsame von Riggs, Dominic, Tarachiwa und Baleh waren ihre Träume. Wenn ein Traum Konsequenzen im Wachen hat, bedeutet das, daß die Gefühle in dem Träum nicht länger hinter symbolischen Bildern versteckt bleiben; das Gefühl des Traums drängt sich in den Vordergrund, um im Wachen ausgelebt zu werden. Aber für jeden dieser Leute gab es eine Schwierigkeit, eine Verpflichtung.
Riggs hatte aus seinem Traum heraus gelebt. Er hatte Dominic durch die schwierigen Tage eines Erlebnisses, das Dominics Leben veränderte, geführt, so wie traumerfahrene Leute es seit Jahrhunderten getan hatten. Aber jetzt mußte die Traumtradition fortgeführt werden. Dominic mußte aus seinem Traum heraus leben. Er mußte jemand anderem beibringen, sein eigenes Traummacher-Bewußtsein zu finden.
Dominic hatte gelernt, daß Träume Gefühle sind. Er interpretierte seinen Traum nicht; er lebte ihn und hatte einen Traum neuer Qualität.
Wir entdeckten oder wiederentdeckten, daß es eine Qualität des Träumens gibt, die keiner Interpretation bedarf. Freund und Jung befaßten sich ausführlich mit der Interpretation von Träumen, aber sie gingen nie darüber hinaus, weil ihre persönlichen Gefühle in ihren Theorien stecken blieben.
Freud und Jung
Wien. Es ist Anfang Oktober. Zwischen zwei der besten Therapeuten der Welt, Sigmund Freud und Carl G. Jung, entwickelt sich gerade eine Freundschaft. Beide Männer werden auf ihre Art die Psychotherapie verändern und die medizinische Psychologie beeinflussen. Während sie im Cafe sitzen und ihren starken, aromatischen Kaffee trinken, umgibt sie ein Hauch von Geschichte.
Diese beiden Männer bemühen sich, die Psychotherapie zu verändern, aber was noch wichtiger ist, sie wollen etwas voneinander. Sie wollen, daß zwischen ihnen "etwas geschieht". Ohne es zu wissen, nähern sie sich einem Punkt — einer Krise. Monate vergehen, und sie reisen nach Amerika. Langsam finden sie die Anerkennung, die sie schon lange verdient haben.
Als sie von der Reise zurückkehren, die einen Wendepunkt für die Anerkennung ihrer Theorien bedeutete, geschieht etwas. Freud schläft. Er träumt und ist tief beunruhigt von seinem Traum. Gewöhnlich arbeitet er mit seinen Träumen, indem er sie selbst interpretiert, ein Verfahren der Selbstanalyse, das er später für seine Nachfolger wieder verwirft. Dieser Traum ist so beunruhigend, daß er nach dem Frühstück eine Zeitlang alleine bleibt und versucht, seine Wirkung auf ihn zu mildern. Jung beobachtet seinen Lehrer aus der Distanz. Er hat den Drang, etwas zu sagen — aus der Rolle des "Kleineren" der beiden Partner auszubrechen. Jung geht auf dem Deck umher. Er versucht, sich selbst zu verstehen. Er weiß, er ist nicht ehrlich zu sich. Schließlich, nachdem er sich einen Tag lang damit herumgequält hat, weiß er, was er tun muß.
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Nach dem Essen trinken Freud und Jung ihren Kaffee und rauchen. Jung unterbricht die oberflächliche Unterhaltung: "Sigmund, du siehst heute so besorgt aus." "Ich bin es auch, Carl, ich hatte einen Traum, der mir Kopfzerbrechen bereitet. Teile der Interpretation sind unvollständig."
Wie Jung sich später erinnerte, war dieser Vorfall ein Krisenpunkt, der nie direkt angegangen wurde.
"... unsere Beziehung war mir überaus wertvoll. Ich empfand Freud als die ältere, reifere und erfahrenere Persönlichkeit und mich wie einen Sohn. Doch damals geschah etwas, das der Beziehung einen schweren Stoß versetzte.
Freud hatte einen Traum, über dessen Problem zu berichten ich nicht befugt bin. Ich deutete ihn, so gut ich konnte, fügte aber hinzu, daß sich sehr viel mehr sagen ließe, wenn er mir noch einige Details aus seinem Privatleben mitteilen wollte. Auf diese Worte hin sah mich Freud merkwürdig an ... und sagte: <Ich kann doch meine Autorität nicht auf's Spiel setzen!> In diesem Augenblick hatte er sie verloren ... Das Ende unserer Beziehung warf bereits seine Schatten voraus. Freud stellte persönliche Autorität über Wahrheit."
Kurz vor dem Augenblick, als Jung einen Rückzieher machte und nicht mehr drängte und Freud sich in sich zurückzog, war der Traummacher bereit, zum Vorschein zu kommen. Die Traummacher-Tradition war potentiell da und bereit, von diesen beiden großen Männern wiederentdeckt zu werden. Aber stattdessen mußte sie auf andere Menschen an einem anderen Ort warten. Beide, Freud und Jung, übergingen den ersten Hinweis des Traummachers. Sie handelten nicht entsprechend ihrem ersten Impuls, ihre Traumgefühle vollständig zu spüren und auszuleben; stattdessen vertrauten sie weiterhin auf den Traumzensor anstatt auf den Traummacher. Leider bekamen sie nie wieder die Gelegenheit, in die Traummacher-Tradition einzutreten.
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Wären sie damals in der Lage gewesen, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, dann hätten sie die. großen Therapeuten zu sich geholt — genauso wie die Indianerstämme die großen Häuptlinge zusammenriefen. Sie hätten voneinander gelernt und die Traummacher-Tradition wiedergefunden.
Stellen Sie sich vor, wie das gewesen wäre, wenn Sigmund Freud, Carl G. Jung, Alfred Adler, Sandor Ferenczi, Medard Boss und andere prominente Therapeuten zusammengelebt, Träume miteinander geteilt und zusammen Therapie gemacht hätten. Zu Beginn der Woche hätte Freud Jung geholfen, und am Ende der Woche wäre Jung Freuds Therapeut gewesen. Sie hätten eine gemeinsame Therapie mit. einer Gemeinschaft der Gründer geschaffen. Stattdessen wurden sie einsame Gründer von einzelnen Therapien.
Diese Therapien haben ein ungeschriebenes Gesetz, welches besagt, daß ein Arzt ein Arzt und ein Patient ein Patient bleiben muß. Wir glauben nicht an dieses Gesetz. Wir glauben, daß Ärzte, wie edle Instrumente in einem guten Orchester, immer wieder "nachgestimmt" werden müssen. Gegen das "Nachstimmen" ist nichts zu sagen, ja es ist sogar von entscheidender Wichtigkeit — sonst glaubt der Arzt, nur weil er es versteht, sich um andere Leute zu kümmern, brauche er selber keine Hilfe.
Riggs und Dominic erlebten eine solche Beziehung. Riggs hatte mit Dominic gearbeitet, und Dominic hatte einen Durchbruchtraum gehabt. Jetzt hoffte Riggs, daß Dominic unseren Therapeuten mit neuen Möglichkeiten helfen konnte.
Der Durchbruchtraum bewirkt eine Veränderung im Bewußtsein des Träumers - der Träumer "erwacht". Jede Nacht, in der er sich an seine Träume erinnert, wird er wieder aufgefordert, eine weitere Veränderung in sich zu bewirken. Dominic wußte nichts von alledem. Er wußte nur, daß er Dinge und Menschen anders sehen und wahrnehmen konnte.
Von den Leuten um ihn herum sah er Werner am klarsten. Er nahm seine ganze neugefundene Energie und konzentrierte sie auf Werner. Dominic wußte es nicht, aber er versuchte, das zu tun, was die Traummacher-Tradition verlangt: "Gib es weiter." Bevor jemand viele neue Schritte machen kann, muß er die ersten Schritte voll und ganz lernen, indem er sie jemand anderem beibringt.
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Werner — "das Wunderkind"
Als Kind war Werner sehr mager. Seine schmalen Schultern sahen aus, als stecke ein Kleiderbügel in seiner Haut, und seine schmächtige Brust ließ ihn zerbrechlich erscheinen. Seine schlanken Beine aber wehrten sich dagegen, dünn und klein zu sein: sie waren stark und muskulös. Diese Beine gebrauchte er für sein Lieblingshobby — laufen. Er war in Deutschland aufgewachsen und war dort auf dem Lande viel gelaufen. Als sein Onkel den siebenjährigen Werner, seinen Bruder und seine Mutter nach Amerika brachte, halfen ihm seine Beine, sich vor Verletzungen zu schützen.
Sie zogen in das östliche Los Angeles. Es war ein rauher Ort zum Erwachsenwerden, für einen mageren Jungen mit deutschem Akzent vielleicht besonders rauh. Andere Jungen verprügelten ihn, aber er rannte, und mit jedem Tag schien er schneller und schneller zu werden, bis sie ihn nicht mehr kriegten. Aber er gab sich nicht damit zufrieden, nicht erwischt zu werden.
Ein Junge hat seinen Stolz, und so fiel es Werner immer schwerer, ängstlich nach Hause zu laufen. Bald lief er an geheime Orte; Orte, wo er sich ausruhen konnte und niemandem zu sagen brauchte, daß er davongerannt war.
Nur sehr wenige Menschen wußten, daß Werner auch als Erwachsener noch vor Angst einflößenden Leuten und Situationen davonlief. Aber anstatt seine Beine zu benutzen, lief er jetzt in seinem Kopf. Er zwang seine Beine, stillzustehen, aber innerlich rannte er davon vor dem, was die Leute seiner Meinung nach über ihn denken oder sagen könnten.
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Aber das Weglaufen in Werners Kopf brachte ihn weder schnell noch weit genug weg. Dominic hielt Schritt mit ihm und sagte ihm, es gäbe mehr als nur Forschung und harte Arbeit. Für Werner war Dominic nur ein weiterer Mensch; vor dem er davonlaufen mußte. Gewöhnlich war es so einfach, zu diesen fernen Orten zu laufen, wohin niemand folgen konnte. Aber jetzt war Dominic ihm auf den Fersen.
Es war leicht für Dominic, ihm zu folgen, denn Werner wollte Hilfe von Dominic — aber nur eine bestimmte Hilfe. Er wollte, daß Dominic ihm dabei half, weiterhin hart arbeiten und. sich gut fühlen zu können. Aber Dominic war damit nicht zufrieden, er wußte, es gab mehr für Werner als nur harte Arbeit.
"Laß es etwas langsamer angehen, Werner. Der Nobelpreis wird warten", sagte Dominic zu ihm.
Werner mochte nicht warten — er war es nicht gewohnt. Er hatte schon Schwierigkeiten, ausreichend Schlaf zu bekommen. Er glaubte, keine Zeit zum Abschalten zu haben. Der Traummacher übte Druck auf Werner aus. Sein Inneres war nicht mehr in Ordnung.
Irgendetwas geschah mit Werner, aber niemand wußte genau, was es war. Es herrschte eine allgemeine Unruhe unter den Mitarbeitern. Riggs und Dominic verbrachten viel Zeit miteinander, und jede Nacht las Riggs und suchte eine Erklärung für das, was geschah.
Die Unruhe verstärkte sich, und wir spürten, daß etwas in der Luft lag. Werner fing an, mehr und mehr mit Dominic zu streiten.
Mehr als zwei Monate waren seit dem ersten Durchbruchtraum vergangen, aber ein zweiter bahnte sich an. Werner begann unter dem ständigen Druck, den Dom auf ihn ausübte, aufzubrechen. "Dom, du sagst mir dauernd, ich solle dieses langsamer angehen lassen und jenes nochmal überdenken — wie, zum Teufel, glaubst du, soll die Forschungsarbeit erledigt werden?"
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"Es geht nicht um die Forschung, Werner. Es geht um dich - wie du redest und handelst - du bist immer ängstlich hinter deiner coolen. Fassade."
Werner starrte Dominic an. Es kam ihm vor, als würde er vor der verkehrten Seite durch ein Fernglas blicken und Dom war weit weg. Der Traummacher war im Begriff, durchzubrechen. Die Barriere zwischen Werners Bewußtem und seinem Unbewußten fing an, durchlässig zu werden. Werner kämpfte, um das nicht erleben zu müssen. Er erinnerte sich an einen Alptraum aus der Kindheit.
"Die Schule ist vorüber, und ich gehe nach Hause. Ich sehe diese brutalen Jungs vor mir. Einige von ihnen haben mich früher schon verprügelt. Ich habe große Angst. Ich renne los. Ich renne, so schnell ich kann. Sie jagen mich. Sie sind dicht hinter mir. Ich renne und renne. Ich bin ganz außer Atem."
Ängstlich davonrennen — genauso fühlte Werner sich. Die Stimme des Traummachers wurde lauter in Werners Kopf. Er konnte Dominic reden hören, aber er schien immer noch weit weg zu sein.
"Verdammt nochmal, Werner - sag was und hör auf, dich abzublocken." "Was soll ich sagen?" Werner versuchte, das Geschehen zu vertuschen. Dom wurde es langsam leid, und er ließ schließlich locker. "Vergiß es, Werner, aber denke daran, ich werde zu dir durchdringen. Du wirst mich brauchen, und dann wirst du verstehen, was ich dir sage."
Werner dachte: "Verdammt, droh mir nicht so, ich werde niemals weich werden."
In einer Hinsicht hatte Werner recht. Dominic würde ihn nicht "aufknacken" — aber der Traummacher. Der Traummacher hörte zu und wartete. Er wußte, Werner war aus der Fassung gebracht. Er nahm alles wahr, was gesagt und gedacht wurde.
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In der folgenden Nacht arbeitete Werner noch mehr als sonst. Es war schon nach drei Uhr morgens, als er endlich Schluß machte. Er war aufgedreht und brauchte zum Abschalten zwei volle Gläser Wein. Er sank nicht langsam in den Schlaf, er stürzte hinein. Es gab keine Mitte für Werner - nur oben oder unten. Als er schlief und träumte, wünschte er, es gäbe eine Mitte für ihn, oder einen Freund. Dominic hatte recht gehabt.
"Ich bin in einem großen Hotel. Mein Zimmer ist hoch über der Stadt. Ich genieße den Ausblick, als die Feuersirene ertönt. Ich renne hinaus, die Hotelhalle ^st voller Qualm. Ich renne zum Ausgang und laufe die Treppe hinunter. Ich renne und renne. Ich werde immer erschöpfter. Alles ist voller Qualm.
Ich ersticke fast und renne. Ich verliere die Orientierung. Ich weiß nicht genau, ob ich vom Feuer wegrenne oder hinein. Die Treppe erscheint mir abgeflacht und fast eben. Ich weiß nicht mehr, wo es zum Ausgang geht.
Erschöpft und niedergeschlagen wachte ich auf."
Werner stand gegen acht Uhr auf. Es war Sonntag und er wollte zum Motorradrennen. Er hatte einen schlechten Geschmack im Mund, und sein Gehirn fühlte sich wie ausgebrannt an. Der Traum hatte ein ängstliches Gefühl bei ihm hinterlassen. Er versuchte, es abzuschütteln, als er seine Yamaha auf den Anhänger lud. Er hatte das Gefühl, daß er heute nicht in Form sein würde, er fühlte sich überreizt und zu ängstlich.
Das Wetter in jenem Spätsommer in Los Angeles war fast tropisch. Die Tage waren heiß und schwül, und wenn es so lange so heiß ist, ist das Ende des Sommers ähnlich befreiend wie anderswo das Ende des Winters. Werner spürte, daß das Wetter sich änderte.
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Am späten Nachmittag kam er zurück nach Hause und ging mit seiner Freundin Laurie essen. Er dachte über das Gespräch mit Dominic vom Freitag nach: "Ich möchte wissen, was er damit meint, daß ich aufhören soll, wegzulaufen."
Was Dominic Werner gesagt hatte, ergab einerseits einen Sinn, andererseits auch wieder nicht. Er wollte nicht mehr weglaufen, aber dieser Gedanke erschien ihm zu schwierig. Und er wußte nicht, wie er überhaupt aufhören könnte, wegzulaufen - besonders dann, wenn "etwas passierte" .
Als der Nachtisch serviert wurde, fühlte Werner sich recht gut. Er spazierte mit seiner Freundin über den Sunset Bouleyard und sah sich die Schaufenster an. Werner hatte ein Gefühl von Zufriedenheit und konnte die ganzen unangenehmen Gedanken verdrängen. "Es war ein wirklich guter Tag." Diese Feststellung war etwas voreilig.
Das Messingbett und die holzvertäfelten Wände waren gemütlich und vermittelten Sicherheit. Werner nahm ein langes Bad und plauderte mit Laurie. Sie lernten sich gerade erst kennen. Gegen halb eins war Werner erschöpft. Er knipste das Licht aus und schmiegte sich an ihren weichen Körper. Als er in die Welt des Schlafes sank, betrat jemand den Raum und wartete. Je mehr Werner sich entspannte, um so näher kam dieser vertraute Fremde. Wie ein Meister begann dieser Jemand, den Werner nie gesehen, dessen Anwesenheit er aber oft gespürt hatte, Werners Träume zu lenken:
"Wir saßen alle in einem großen Festsaal in einem Feriengasthof und lachten, redeten und aßen, als plötzlich draußen jemand rief, das Gebäude stehe in Flammen. Innerhalb von Sekunden waren überall um uns herum Flammen, und wir rannten alle zur Tür, um nach draußen zu kommen."
Werner rannte in seinem Traum, aber irgend etwas stimmte nicht — irgend etwas war anders. Er rannte, aber diesmal war er bewußt. Er wußte jetzt etwas mehr als damals, als er noch ein Kind war. Dieser Fremde war da und half ihm, bewußt zu sein in seinen Träumen.
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"Wir rannten hintereinander, um durch die Trümmer zu kommen. Riggs und Lee-waren hinter mir und von herabfallenden Trümmern eingeschlossen worden, oder hatten Angst bekommen und waren stehengeblieben, weil überall um uns herum irgendwelche Sachen runterfielen."
Der Traummacher änderte diesen Traum. Das sinnlose, ängstliche Weglaufen war verschwunden. Jetzt hatte Werner andere Gefühle — Gefühle, die stärker waren als seine Angst vor Feuer.
"Ich erinnere mich, daß ich in dem Traum weitergelaufen bin, wissend, daß, wenn ich umkehren würde, wir möglicherweise alle drei eingeschlossen werden würden.. Dieser Gedanke veranlaßte mich, weiterzulaufen. Aber plötzlich hatte ich ihre beiden Gesichter vor Augen. Ich hatte so ein starkes Gefühl in meiner Brust. Ich war verwirrt. Ich wollte rausrennen. Ich wußte, ich mußte was tun. Ich wußte, daß ich zurückgehen und sie finden mußte. Ich wußte, daß ich aufhören müßte, wegzulaufen.
Ich ging zurück und hatte große Angst. Das Gebäude stand total in Flammen. Aber dies Gefühl in meiner Brust war so stark, daß es mich zurück durch das Feuer drängte«. Ich kann mich nicht erinnern, was dann geschah, aber ich weiß, daß ich sie beide irgendwie rausgeholt habe und wir alle in Sicherheit waren."
Der Wecker klingelte, als Werners Traum zu Ende war. Er wußte, irgend etwas war geschehen. Es war fast, als ob jemand die ganze Nacht auf ihn eingeredet hätte. Er versuchte, sich an den Traum zu erinnern, konnte aber nur Bruchstücke davon zusammenbekommen.
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Jetzt wurde es Zeit. Werner stand auf, um sich zu waschen und zu rasieren. Als er sich vornüber beugte und sich das warme Wasser ins Gesicht klatschte, fiel ihm wieder etwas von dem Traum ein. "Ein Feuer in einem Hotel und Weglaufen." Werner fühlte sich gut an diesem Morgen — irgendwas in seinem Traum bewirkte, daß er sich gut fühlte. Das gefiel ihm.
Das Gefühl aus dem Traum ließ ihn nicht los, der Traummacher hatte gute Arbeit geleistet. In gewisser Hinsicht war Werner in großer Gefahr. Er würde bald wieder Taufen müssen, wenn er intakt bleiben wollte, wenn er der Werner bleiben wollte, der er so lange gewesen war, der Werner, der es verstand, wegzulaufen. Aber der Traummacher war da und wog schwer in seiner Brust, das Weglaufen war nicht mehr so leicht. Der Traummacher hatte Werner bei dem erwischt, was er immer tat — weglaufen. Der Traum verblaßte, aber das Gefühl blieb. Werner versuchte, zu vergessen, daß er vielleicht zum erstenmal in seinem Leben nicht davongelaufen war.
Als er zur Arbeit kam, rannte Werner wieder, stürmte los in seinem Kopf, stritt sich in seiner Vorstellung mit anderen und schleuderte ihnen allen Rechtfertigungen entgegen. Die Belegschaft beendete die Arbeit gegen halb eins. Dominic hatte uns alle gebeten, zusammen zu essen, ein bißchen zusammenzusein. Niemand wollte so recht, aber Dominic bestand darauf. Wir beschlossen, uns Essen von einem Restaurant in der Nähe bringen zu lassen. Als der Fahrer die Sachen brachte, war Werner wieder auf der Flucht.
Fast alles, was Werner tut, ist sinnvoll. Er ist der zuständige Leiter für Forschung an unserer Stiftung. Er denkt analytisch und vorausschauend und mißt und beurteilt die Dinge, aber hinter diesen verstandesmäßigen Dingen ist er zerbrechlich. Seine weichen Gesichtszüge lassen ihn zart und empfindlich erscheinen. In mancher Hinsicht ist er zerbrechlich; er ist Epileptiker. Werner hat nicht oft Anfälle, aber wenn sie auftreten, sieht er aus, als ob alle die Leute und Dinge, vor denen er davonläuft, ihn eingeholt hätten. Er sieht dann hilflos aus, als hätte man ihn verprügelt und grün und blau geschlagen.
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Während des Essens unterhielten wir uns, und dann wollte Werner gehen. Dominic bat ihn, noch einen Augenblick zu warten. "Warten? Worauf? Ich. möchte gehen."
Die übrigen von uns saßen da und redeten, aber niemand schien zu wissen, was zu tun war. Irgend etwas "war im Gange", aber niemand wußte genau, was. Wir konnten sehen, daß Werner auf der Flucht war, aber irgendwie ergab es keinen Sinn.
Nach dem Essen sagte Dominic zu Werner: "Du mußt nicht deinem Drang zum Wegläufen nachgeben. Du kannst es natürlich, wenn du willst, aber du mußt dich für das entscheiden, was du weißt."
Werner sagte nichts, sondern machte sich schnell davon. Zu Hause konnte er alleine sein. Er sah wissenschaftliche Unterlagen durch, und mit jeder Seite nahm seine Müdigkeit zu. Er versuchte, gegen den Schlaf anzukämpfen. Er hatte Arbeit zu erledigen, aber seine Augen und sein Körper waren schwer. Der Traummacher übte Druck auf Werner aus und ließ ihn einschlafen. Der Nachmittag ist eine gute Zeit zum Schlafen, besonders, wenn das Haus ruhig und leer ist und die Arbeit auf dem Schreibtisch zu viel erscheint.
Werner schlief tief und fest. Der Traummacher war bereit, mit mehr Feuer und mehr Weglaufen, als Werner je erlebt hatte.
Ich bin im Institut und diskutiere mit Dominic. Während wir uns streiten, bricht ein Feuer aus. Das ganze Gebäude steht in Flammen. Ich renne los und Dominic packt mich. Er will mich nicht loslassen. Ich schreie ihn an: <Dominic, Dominic, wir werden sterben!> Ich bin entsetzt. Dominic hält mich immer noch. Es ist, als ob er tausend Pfund wiegt. Ich kämpfe, um freizukommen. Je mehr ich es versuche, um so schlimmer fühl ich mich. Ich habe Angst, daß ich in den Flammen umkommen werde. Dann merke ich, daß ich nicht verbrenne.
Ich frage Dominic, was los ist; warum verbrennen wir nicht? Er sagt: <Da ist kein Feuer.> Ich bin verwirrt und sehr traurig. Schließlich wird mir klar, daß ich mir das Feuer nur eingebildet hatte, daß es nicht real war. Ich spüre, wie Dominic mich hält. Ich weine aus tiefstem Herzen.
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Werner erwachte weinend aus diesem Traum und erinnerte sich an all die Gelegenheiten, bei denen er weggerannt war. Er erinnerte sich, daß er als Kind gute Gründe zum Weglaufen gehabt hatte, und es machte ihn traurig, daß es keinen Menschen gegeben hatte, zu dem er hätte rennen können, um Trost zu finden. Er sah, wie er heutzutage sogar vor seinen Freunden davonrannte. Er erinnerte sich an den Traum aus der Nacht zuvor. Alles begann, sich zusammenzufügen. Er wußte, daß er nicht weg- . laufen mußte; er wußte, es gab einen Ort, an den er gehen konnte.; er wußte, es gab einen Grund, nicht wegzulaufen. Er konnte nicht aufhören, zu weinen und zu wünschen: "Hätte es damals doch nur einen Ort oder einen Menschen gegeben, zu dem ich hätte laufen können." Er erinnerte sich an den Traum — Dominic.
Werner rief Dominic an: "Dominic, hilf mir." Seine Worte wurden so von seinen Tränen erstickt, daß er kaum sprechen konnte. Werner erzählte Dom den Traum. Dominic wußte, wie Werner sich fühlte, wovor er weggerannt war und wohin er gelangt war.
"Du brauchst nicht mehr vor dir selbst davonzulaufen," sagte er ihm. Werner hörte zu und erkannte, daß er in Wirklichkeit Angst davor hatte, vor sich selber davonzulaufen, und mehr als alles andere auf der Welt wollte er bei sich bleiben.
Wir fürchten den Traummacher und die Bilder, die er bringt, denn wir haben Angst davor, seine Welt voll und ganz zu betreten. Werner hatte Angst davor, nicht wegzurennen. Wie würde es sein, wenn er bleiben und sich der Wirklichkeit stellen würde? Was würde er fühlen? Wie würde es sein, wenn er das Feuer für sich nutzen würde?
Glied für Glied, wie eine Kette, wurde die Traummacher-Tradition in unser Leben eingeschmiedet. Es gibt nur einen Weg, diese Tradition kennenzulernen — man muß sie erleben. Dieses Buch wird Ihnen etwas über Ihre eigene Traummacher-Welt beibringen, aber das ist wie eine Einladung zu einem Alptraum. Wenn Sie erst einmal zu weit gegangen sind, scheint es, als hätten Sie einen gravierenden Fehler gemacht und als gäbe es kein Zurück. In der Tat, es gibt keins.
VERSUCHEN SIE FOLGENDES: Denken Sie daran, daß das Erlangen von Durchbruchträumen ein bestimmtes "Zulassen" erfordert — ein Zulassen von Gefühlen. Beachten Sie auch, daß Werner die Unterschiede zwischen seinem früheren Leben als Kind und seinem gegenwärtigen Leben erkennen mußte. In Teil III werden wir Ihnen beibringen, Ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Ihren Träumen zu erkennen. Jetzt stellen Sie sich erst einmal vor, Sie seien Werner; stellen Sie sich vor, wie schwer es ist, einzusehen, daß man nicht mehr wegrennen muß. Stellen Sie sich vor, was Sie empfinden würden, wenn Sie stehenblieben und einfach mit jemandem zusammen wären.
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