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4  Weitere Träume 

 

 

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Guter Adler verstand etwas von Träumen. Er kannte alle Heilgesänge der Dakotas. Und jetzt sang er. Er saß im Schwitzzelt. Der heiße Dampf und das Feuer brachten alle Krieger ins Schwitzen. Es herrschte Unruhe unter den Leuten, Tanzender Elch, der einzige Sohn des Häuptlings, war krank.

Seit drei Tagen war Guter Adler auf der Suche nach einem heilenden Traum. Jeden Tag reinigte er sich im Schwitzzelt und jede Nacht schlief er im Medizinzelt und wartete auf den Traum. Es kam keiner. Am frühen Morgen des vierten Tages kam der Traum endlich.

"Alle unsere Leute sangen die Lieder des Todes. Tanzender Elch war sogar vor seiner Zeit gestorben. Und als dann die tapfersten Krieger sich daran machten, sich für seinen Tod zu kasteien, gab es ein großes Geheule, alle Frauen des Dorfes jammerten laut. Ich auch. Weil ich mich schämte, meine Tränen zu zeigen, lief ich weg. Ein Adler umkreiste mich und sagte: 'Medizinmann, heul nicht wie ein altes Weib. Verwandle deine Tränen in' ein Lied.' Das folgende Lied singend erwachte ich:

Oh, ihr Leute, seid geheilt, 
neues Leben entfacht in euch.  

Mit diesem Lied begann die Heilung von Tanzender Elch. Guter Adler hatte die Traummacher-Tradition gefunden. In späteren Jahren träumte er weitere heilende Träume für sein Volk. Er wurde ein großer Heiler.  

 

Indianer lebten schon in Amerika, als es noch ganz anders war. Damals kamen die Menschen zusammen, um zu feiern, zu trauern oder sich gegenseitig von ihren Krankheiten zu heilen. Ihre Herzen waren offen für das Leben um sie herum. Die Dakotas sind verschwunden, aber ihre Traumtradition ist geblieben.

Der Traummacher wob einen historischen Stoff. Als Riggs las und nachdachte, entdeckte er, daß wir auf der Spur von etwas sehr Altem und gleichzeitig etwas sehr Neuem waren. Erst Dom, dann Werner — jeder lernte etwas Neues aus seinen Träumen und dann im Gegenzug etwas im Wachen.

Werner und Dom trafen sich mit Riggs, und oft unterhielten sie sich bis spät in die Nacht. Sie wußten alle, daß etwas im Gange war und daß es weitergehen würde, aber sie wußten nicht, was es war.

Es war schon Spätherbst und alles erschien "normal". Aber Riggs, Werner und Dom waren nicht untätig. Sie übten mehr und mehr Druck auf die übrigen Mitarbeiter aus. Aber nichts geschah; doch der Druck "verstärkte sich im Untergrund", und es war schon jemand ausersehen.

 

Lee — Ein Bild der Verrücktheit  

Lee ist Psychiater und der medizinische Direktor an unserem Institut. An diesem Tag, in dem großen Therapieraum, war Dr. Lee eher ein Patient. Während seine Freunde und Mitarbeiter eine Gruppensitzung durchführten, verkroch er sich in die dunkelste Ecke. Ihm war nicht nach Mitmachen zumute; er konnte die Symptome zwar nicht identifizieren, aber ihm war kalt und er fühlte sich krank. Es kam ihm vor, als würde er an einen Ort oder in ein Gefühl gezogen werden, von dem er sich nicht selbst befreien konnte. Die Gruppe verschwamm vor seinen Augen, war weit weg; er konnte nicht mehr klar sehen, er fühlte sich wie betäubt.

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LSD-Erlebnisse waren so ähnlich für ihn gewesen, aber noch vor seinem "Examen, als es "in" war, Drogen zu nehmen. Lee war reifer geworden. Nichts in seinen medizinischen Büchern hatte ihn auf das vorbereitet, was er jetzt erlebte.

Werner sah Dominic an. Es war offensichtlich, wer im Begriff war, aufzubrechen. Lee hatte es niemandem erzählt, aber seine Einführung in die Welt des Traummachers hatte bereits begonnen. Er hatte einen Traum gehabt, einen Alptraum, den er niemandem erzählt hatte, der ihn aber nicht losließ.

Dominic ging rüber zu Riggs, der schüttelte aber mit dem Kopf und sagte: "Werner soll ihm helfen. Er muß aus dem heraus leben, was er weiß." Dom gab Werner ein Zeichen.

"Scheiße", dachte Werner, "ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich wünschte, Riggs oder Dom würden etwas tun." Er blickte zurück durch den Raum, sie sahen ihn an. Lee war offensichtlich dabei, aufzubrechen und brauchte Hilfe. - Werner holte tief Luft und ging rüber zu Lee. "Was ist? Du siehst aus, als könntest du Hilfe gebrauchen."

"Vielleicht - vielleicht auch nicht. Leck mich am Arsch, du bist so scheiß ängstlich." Werner war erstarrt, er wußte nicht, was er tun sollte. Hilfe war angesagt, aber Lee machte es ihm nicht leicht.

Der Traummacher war da. Genauso, wie er Traumbilder schafft, zeigte er Werner jetzt neue Möglichkeiten, zu handeln und zu leben. "Lee, sieh mich an. Ich möchte, daß du mir erzählst, was mit dir los ist." Lee konnte Werners Worte kaum hören, aber er merkte, daß der Klang von Werners Stimme sich verändert hatte. Er konnte nicht anders als antworten.

"Werner, vorgestern hatte ich einen Alptraum, und er läßt mich nicht los; er verfolgt mich."
"Erzähl mal."

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"Ich war in einem Wohnzimmer. Als das Telefon klingelte, erkannte ich, daß ich träumte, aber gleichzeitig hatte ich Angst, daß die Worte, die die Person am Telefon sagen würde, magische Kräfte hätten, daß sie mich töten könnten."

Lee verkroch sich weiter in die Ecke. Seine Augen waren hervorgequollen und stierten. Die Grenze zwischen Träumen und Wachen war nicht mehr deutlich.

"Lee, ich möchte, daß du weiterredest. Erzähl mir mehr von dem Traum." Werner versuchte, den Traummacher ans Licht zu ziehen.

"Ich.nahm den Hörer ab und dachte, es sei mein Vater. Er sagte nur ein paar Worte und murmelte dann etwas, was ich sofort als die Worte erkannte, die mich töten könnten."

Der Traum verblaßte, und Lee erinnerte sich an seinen letzten Besuch zu Hause. Sein Vater hatte Krebs und lag im Sterben. Manchmal, wenn er zu Hause war und kleine Spaziergänge mit seinem Vater machte, konnten sie sich Dinge sagen, die sie nie zuvor hatten sagen können. Sein Vater hatte ihm einen Traum erzählt, der sie beide tief berührt hatte.

"Ich träumte, meine letzten Stunden waren gekommen, und da waren viele Dinge, die 'ich noch sagen wollte oder nicht gesagt hatte, und jetzt war es zu spät."

Sie gingen und redeten und weinten Tränen, die sie nie zuvor gezeigt hatten. In den letzten Tagen gab es Augenblicke echter Vertrautheit.. Aber dann fiel Lees Vater zurück in seine alte Art, auf Distanz zu gehen, und Lee fühlte sich hin und her gezogen zwischen dem "Er-selbst-sein" und Warten, daß alles vorüberging.

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Während des Wartens kam der Alptraum. Werner holte Lee zurück aus seinen Gedanken und forderte ihn auf, sich noch mehr von dem Traum ins Gedächtnis zurückzurufen. Lee konnte kaum sprechen.

"Ich zog schnell den Hörer weg und dachte, daß die Worte mich nicht töten könnten, solange ich sie nicht alle gehört hatte, aber ich unterschätzte ihre Wirkung auf mich. Ich spürte eine furchtbare, kraftvolle Empfindung in meinem Körper, so, als würde ich kleiner und kompakter werden, als würde ich von irgend etwas zusammengedrückt und in das Telefon gesaugt werden. Alles wurde schwarz - dunkler, als ich es je gesehen hatte. Es war, als würde ich sterben."

Die unkontrollierten Gefühle aus Lees Unbewußtem bombardierten sein Bewußtsein. Da war kein Gleichgewicht mehr; der Traumzensor war besiegt, aber der Tfaummacher war nicht unter Kontrolle. Es war ein ungestümes Gleichgewicht, mit dem Werner arbeitete.

Lee war wach und schlief, träumte und war wach. Zum erstenmal in seinem Leben erlebte er total, wie sein Leben immer dann flacher und Oberfläche licher wurde, wenn er zuließ, daß er das, was er wußte, zurückhielt. Da war so viel mehr, 'was er seinem Vater hatte sagen wollen.

Werner übertrug die Traummacher-Tradition auf Lee. Aber erst mußte Lee durch diese Erfahrung und aus ihr heraus leben.

Im Gegensatz zu Freud und Jung gab es keine Distanz zwischen Lee und Werner. Keine Interpretation hätte helfen können, diesen Traum von einer symbolischen Botschaft in ein nachhaltig wirkendes Erlebnis zu verwandeln. Lees Traum war kein Durchbruchtraum, aber er war ein Anfang. Er war ein weiterer Sehritt zum Traummacher-Bewußtsein. Lee erlebte nicht einen Traum, er erlebte ein Traummacher-Erwachen. Und Werner half ihm, aufzustehen.

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Dies war die Zeit und dies war der Ort. Der Traummacher war hier, im Wachen. Riggs, Dominic und Werner hatten angefangen, jeden zu erwischen. Sie waren nicht hinter den Leuten her, sie zeigten den Weg. Sie fühlten auf einer anderen Ebene als die übrigen Mitarbeiter. So entstand ein Strudel, der jeden hinabzog - wohin, das wußten wir nicht.

Es gab keinen Glanz und Hollywood-Zauber in dem Therapieraum in\Los Angeles, nur Menschen.

Jeder von ihnen war gut ausgebildet, und doch fragten sich alle, was es war, was sie hier miterlebten. Sie hatten alle davon gehört, was Riggs mit Dominic gemacht hatte, und Dominic hatte seine Träume erzählt. Aber jetzt sahen sie es. Der Traummacher erschien ihnen wie eine Persönlichkeit, wie ein Wesen. Der Raum war erfüllt von der Ahnung, daß sie erst einen Teil von dem gesehen hatten, was passieren sollte.

Lee fühlte sich zitterig. Was gerade geschah und noch geschehen sollte, hatte es schon früher gegeben. Es war nichts Neues für den Traummacher; es war nur neu für jene, die in dem Raum saßen und zum erstenmal daran teilhatten.

Bei den Indianern Nordamerikas, den alten Griechen mit ihrem Gott Asklepios und den Senoi von Malaysia - wo Gruppen von Menschen miteinander gearbeitet haben - war der Traummacher in Erscheinung getreten. Er kommt selten zu einem einzelnen Menschen. Denn oft, wenn er es tut, wird die Person von Gefühlen überwältigt.Der Traummacher braucht viele Träumer, die sich gegenseitig bei ihrem Wachstum helfen können.

Hier in dieser führerlosen Gruppe war der Traummacher der Führer. Er sollte in jedem den Traummacher wecken und ihn Verantwortung übernehmen lassen. Wie in einem Traum entwickelte sich das Geschehen in diesem Raum...

Werner flüsterte Lee, dessen Körper vom-Weinen geschüttelt wurde, etwas zu. Jedesmal, wenn Werner etwas flüsterte, krümmte sich Lees Körper im, Schluchzen. Die Belegschaft war erstarrt und wartete. Irgendetwas geschah. Sie waren alle gute Psychologen, aber sie waren keine Traummacher.

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Und dies war nicht die Zeit nur für Therapie.

Werner beugte sich über Lee und flüsterte: "Du mußt es aufgeben, Lee. Laß alle diese Gedanken und intellektuellen Spielchen fallen. Es ist Zeit für dich, aufzuwachen. Mach die klar, wie du dich fühlst; dein Leben geht an dir vorbei."

Werners Worte riefen eine Erinnerung in Lee wach. Er erinnerte sich an einen Traum, den.er nicht beachtet hatte. Einen Traum über sein Erwachen.

"Werner, ich hatte folgenden Traum. Ich weiß nicht genau - vielleicht vor zwei Wochen. Ich hatte ihn bis jetzt vergessen. Ich träumte, ich sah einen kleinen Jungen, der ein drittes Auge hatte. Er weinte, weil er dies dritte Auge hatte. Ich sagte ihm, er solle keine Angst haben, es sei okay. Ich hatte auch eins, aber es war verdeckt."

Als Lee den Traum erzählte, weinte er mehr und mehr; er hatte Angst vor seinem eigenen Erwachen. Der Traum hatte es deutlich gemacht: Lee verschloß sich vor dem, was er als Kind sah und wußte. Aber jetzt war die Zeit gekommen, damit aufzuhb'ren, alles zu sehen und zu fühlen, was er konnte. Werner wartete nicht bis zum nächsten Traum oder bis zum nächsten Mal; er drängte Lee, den Traum jetzt zu vervollständigen. "Lee, ich möchte, daß du alles siehst, was du nur sehen kannst."

Lees Augen waren voller Traurigkeit; er hatte Angst, wirklich zu sehen. Werner berührte seine Augen, Lee zitterte. Er schien so ängstlich, so zerbrechlich. Werner ließ ihn andere bitten, seine Augen zu berühren und ihn anzusehen. Es war ein gemeinsamer Traum, mit Lee, der redete und jedem erzählte, was er sah.

Er sprach mit einer verletzbaren Autorität. Er war wie eine Traumfigur für die anderen. Er sprach nicht darüber, was Leuterichtig oder falsch machten; er sprach zu ihnen über sie und sich selbst. Er konnte sehen, seine Augen waren voller Tränen.

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Er erzählte ihnen von sich selbst. "Ich fühle mich wie ein riesiges Feuer. Wenn ich nicht so viel lebe, wie ich nur kann, fühle ich mich nicht wirklich lebendig. Ich möchte, daß ihr alle wißt, daß ich sterben werde. Ich. werde nicht ewig leben. Ich will alles, was ich haben kann! Ich will jedes meiner Gefühle."

Als wir dort zusammensaßen, kannten wir uns alle. Wir waren uns seit Jahren vertraut, aber jetzt kannten wir uns wirklich. Riggs, Dominic und Werner waren nicht länger vertraute Fremde; sie waren unsere Freunde. Wir saßen'zusammen und weinten und redeten. Jedem von uns war etwas Neues bewußt geworden. Wir hatten alle angefangen, uns zu verändern, und waren auf dem Wege, Traummacher zu werden. Wir wußten nicht, wie wir das, was geschah, nennen sollten, aber wir fühlten es.

Der Traummacher blickte aus all diesen weinenden Augen und sah in die Augen eines jeden Einzelnen, um ein Zeichen zu suchen. Dominic, Werner, Riggs und Lee - ihre Träume waren phantastisch und verrückt. Alle saßen da und sahen sich an - manche hatten Angst vor dem, was sie gesehen hatten. Manche hatten Angst vor der Verrücktheit, andere fürchteten sich vor der Gesundheit. Der Traummacher in jedem Einzelnen fürchtete nichts, er wollte alles.

Am nächsten Tag unternahmen Joe und Riggs mit ihren Familien eine lange Fahrt zum Strand. Sie konnten nicht ganz begreifen, was am Tag zuvor geschehen war. Riggs verglich es mit den Erfahrungen der Indianer und mit östlichen Satori-Erlebnissen.

Aber Joe hörte nicht richtig zu. Er hatte keinen Traum. Er fühlte sich ängstlich. Er dachte: "Es wird mir nicht gelingen." Riggs und Joe redeten, aber Joe ließ seine Gedanken und Gefühle nicht wirklich ganz heraus. Er ließ Riggs nicht wissen, wie ängstlich er wirklich war.

Riggs sprach davon, wie jemand, der nicht bei uns in Therapie war, . Träume genauso nutzen könnte. "Joe, siehst du nicht? Man braucht nicht in der Therapie zu sein, um mehr aus seinen Träumen herauszuholen. Die Therapie macht die Träume nur intensiver. Therapie und Träume setzen eine Dynamik in Gang, die für die Lebensweise der meisten Menschen zu kraftvoll ist. Aber wenn jemand intelligent genug ist, um zu wissen, daß er sich verändern will, braucht er nur seine Träume anzuzapfen."

Riggs redete immer weiter darüber, was jemand ohne Therapie erreichen kann. Aber Joe hörte nicht wirklich zu; er war mit dem beschäftigt, was mit ihm selbst geschah.

 

ÜBERPRÜFEN SIE SICH NOCH EINMAL: Offensichtlich wollen Sie etwas, wenn Sie dieses Buch lesen, aber was? Ist Ihnen wirklich klar, was Sie erwarten? Versuchen Sie, sich jetzt darüber klar zu werden — stellen Sie sich die folgenden Fragen; wenn Sie eine davon mit ja beantworten können, sind Sie für das Traummacher-Bewußtsein bereit:  

1.) Will ich wirklich mein Leben ändern?  
2.) Will ich einen ehrlicheren Kontakt zu den Menschen, die ich kenne?  
3.) Bin ich bereit, mehr zu fühlen, auch wenn die Gefühle nicht alle angenehm und leicht sein werden?  

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