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Die Verbrechen des Kommunismus  

Einleitung von Stéphane Courtois  

Das Leben hat gegen den Tod verloren, aber die Erinnerung 
gewinnt in ihrem Kampf gegen das Nichts.  Tzvetan Todorov

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Die Geschichte ist die Wissenschaft vom Unglück des Menschen.1) Diesen Satz Raymond Queneaus scheint unser von Gewalt­tätigkeit bestimmtes Jahr­hundert eindrucksvoll zu bestätigen. Gewiß, auch in früheren Jahr­hunderten gab es kaum ein Volk, kaum einen Staat, in dem es nicht zu Gewalt­ausbrüchen gegen bestimmte Gruppen gekommen wäre. 

Alle großen europäischen Mächte waren in den Sklavenhandel verwickelt. Frankreich hat einen Kolonial­ismus praktiziert, der zwar auch Positives leistete, aber bis zu seinem Ende von vielen widerwärtigen Episoden gekenn­zeichnet war. Die Vereinigten Staaten durchdringt nach wie vor eine Kultur der Gewaltausübung, die in zwei großen Verbrechen wurzelt: der Versklavung der Schwarzen und der Ausrottung der Indianer.

Aber man kann es nicht anders sagen: Was Gewalttätigkeit angeht, scheint dieses Jahrhundert seine Vorgänger übertroffen zu ha­ben. Blickt man darauf zurück, drängt sich ein niederschmetterndes Resümee auf: Dies war das Jahrhundert der großen Mensch­heits­katastrophen — zwei Weltkriege und der National­sozialismus, einmal abgesehen von begrenzteren Tragödien in Armenien, Biafra, Ruanda und anderswo. Das Osmanische Reich hat sich zum Genozid an den Armeniern hinreißen lassen und Deutschland zu dem an Juden, Roma und Sinti. Das Italien Mussolinis massakrierte die Äthiopier. Den Tschechen fällt es schwer zuzugeben, daß ihr Verhalten gegenüber den Sudetendeutschen in den Jahren 1945/46 nicht über jeden Verdacht erhaben war. Und selbst die kleine Schweiz wird heute von ihrer Vergangenheit als Raubgoldverwalter eingeholt, auch wenn sich die Abscheu­lichkeit dieses Verhaltens nicht mit der des Völkermords vergleichen läßt.

In diese Epoche der Tragödien gehört der Kommunismus, ja, er ist eines ihrer stärksten und bedeutendsten Momente. Als we­sent­liches Phänomen dieses kurzen 20. Jahrhunderts, das 1914 beginnt und 1991 in Moskau endet, steht er im Zentrum des Geschehens. Der Kommunismus bestand vor dem Faschismus und vor dem Nationalsozialismus, er hat sie überlebt und sich auf den vier großen Kontinenten manifestiert.

   Was genau verstehen wir eigentlich unter "Kommunismus"?  

Schon an dieser Stelle muß man zwischen Theorie und Praxis unterscheiden. Als politische Philosophie existiert der Kommunismus seit Jahrhunderten, um nicht zu sagen Jahrtausenden. War es nicht Platon, der in seinem "Staat" die Idee eines idealen Gemeinwesens begründete, in dem die Menschen nicht von Geld und Macht korrumpiert werden, in dem Weisheit, Vernunft und Gerechtigkeit herrschen?

Und ein so bedeutender Denker und Staatsmann wie Thomas Morus, um 1530 Lordkanzler in England, der die berühmte Schrift <Utopia< verfaßte und auf Befehl Heinrichs VIII. enthauptet wurde — war er nicht ein weiterer Wegbereiter dieser Vorstellung vom idealen Gemein­wesen? 

Die Utopie scheint absolut legitim als Maßstab der Gesellschaftskritik. Sie gehört zur Diskussion der Ideen, dem Sauerstoff unserer Demokratien. Doch der Kommunismus, von dem hier zu reden ist, befindet sich nicht in der überirdischen Sphäre der Ideen. Es ist ein sehr realer Kommunismus, der in einer bestimmten Zeit in bestimmten Ländern bestand und von gefeierten Führern verkörpert wurde — Lenin, Stalin, Mao, Ho Chi Minh, Castro usw., sowie, der französischen Geschichte näher, Maurice Thorez, Jacques Duclos, Georges Marchais.

Wie groß auch immer der Einfluß der kommunistischen Lehre vor 1917 auf die Praxis des realen Kommunis­mus gewesen sein mag — wir kommen darauf zurück — es war dieser real existierende Kommunis­mus, der eine systematische Unterdrückung einführte bis hin zum Terror als Regierungsform. Ist die Ideologie deshalb unschuldig? Nostalgiker oder Spitzfindige werden immer behaupten können, daß der reale nichts mit dem idealen Kommunismus zu tun hatte. Und natürlich wäre es absurd, Theorien, die vor Christi Geburt, in der Renaissance oder selbst noch im 19. Jahrhundert aufgestellt wurden, für Ereignisse verantwortlich zu machen, die im 20. Jahrhundert geschehen sind. Dennoch erkennt man, wie Ignazio Silone schreibt, in Wirklichkeit die Revolutionen wie die Bäume an ihren Früchten. Und nicht von ungefähr beschlossen die als "Bolschewiken" bekannten russischen Sozialdemokraten im November 1917, sich "Kommunisten" zu nennen. Auch war es kein Zufall, daß sie an der Kremlmauer ein Denkmal für die errichteten, die sie für ihre Vorläufer hielten: Morus und Campanella.

Über einzelne Verbrechen, punktuelle, situationsbedingte Massaker hinaus machten die kommunistischen Diktaturen zur Festigung ihrer Herrschaft das Massen­verbrechen regelrecht zum Regierungssystem. Zwar ließ der Terror nach einer bestimmten Zeit — von einigen Jahren in Osteuropa bis zu mehreren Jahrzehnten in der Sowjetunion oder in China — allmählich nach, und die Regierungen stabilisierten sich in der Verwaltung der alltäglichen Unterdrückung mittels Zensur aller Kommunikationsmedien, Grenzkontrollen und Ausweisung von Dissidenten. Doch garantierte die Erinnerung an den Terror weiterhin die Glaubwürdigkeit und damit die Effektivität der Repressionsdrohung. Keine Spielart des Kommunismus, die einmal im Westen populär war, ist dieser Gesetzmäßigkeit entgangen — weder das China des "Großen Vorsitzenden" noch das Korea Kim Il-Sungs, nicht einmal das Vietnam des freundlichen "Onkels Ho" oder das Kuba des charismatischen Fidel, dem der unbeirrbare Che Guevara zur Seite stand, nicht zu vergessen das Äthiopien Mengistus, das Angola Netos und das Afghanistan Najibullahs.


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Aber eine legitime und normale Bewertung der Verbrechen des Kommunismus fand nicht statt, weder aus historischer noch aus moralischer Sicht. Wahrscheinlich ist das vorliegende Buch einer der ersten Versuche, sich mit dem Kommunismus unter dem Gesichtspunkt der verbrecherischen Dimension als einer zugleich zentralen und globalen Fragestellung zu beschäftigen. 

Man wird diesem Ansatz entgegenhalten, daß die meisten Verbrechen einer "Legalität" entsprachen, die wiederum von Institutionen ausgeübt wurde, die zu etablierten, international anerkannten Regierungen gehörten, deren Chefs von unseren eigenen politischen Führern mit großem Pomp empfangen wurden. Doch verhielt es sich mit dem National­sozialismus nicht genauso? Die hier dargestellten Verbrechen werden nicht nach der Gesetzgebung kommunistischer Diktaturen definiert, sondern nach den nicht schriftlich niedergelegten, natürlichen Rechten des Menschen.

Die Geschichte der kommunistischen Regime und Parteien, ihrer Politik, ihrer Beziehungen zur Gesellschaft in den jeweiligen Ländern und zur Völkergemeinschaft erschöpft sich nicht in dieser Dimension des Verbrechens, auch nicht in einer Dimension des Terrors und der Unterdrückung. In der Sowjetunion und den "Volksdemokratien" schwächte sich der Terror nach Stalins, in China nach Maos Tod ab, die Gesellschaft gewann wieder Farbe, die "friedliche Koexistenz" wurde — selbst als "Fortsetzung des Klassenkampfs in anderer Form" — zu einer Konstante der internationalen Beziehungen.

Dennoch belegen die Archive und unzählige Zeugenaussagen, daß der Terror von Anfang an ein Grundzug des modernen Kommunismus war. Verabschieden wir uns von der Vorstellung, diese oder jene Geiselerschießung, dieses Massaker an aufständischen Arbeitern oder jene Hungersnot, der man zahllose Bauern zum Opfer fallen ließ, sei lediglich dem zufälligen Zusammentreffen unglückseliger Umstände zuzu­rechnen, die sich nur in eben diesem Land oder zu jener Zeit ergeben konnten. Unser Ansatz geht über spezifische Themen­komplexe hinaus und untersucht die verbrecherische Dimension als eine, die für das gesamte kommunistische System charakteristisch war, solange es existierte.

Von welchen Verbrechen sprechen wir also? Der Kommunismus hat unzählige begangen: vor allem Verbrechen wider den Geist, aber auch Verbrechen gegen die universale Kultur und die nationalen Kulturen. Stalin ließ in Moskau Hunderte von Kirchen niederreißen. Ceaucescu zerstörte den historischen Stadtkern Bukarests, um Gebäude megalomanischen Ausmaßes zu errichten. Auf Geheiß Pol Pots wurden die Kathedrale von Phnom Penh Stein für Stein abgetragen und die Tempel von Angkor dem Dschungel überlassen. Während der maoistischen Kulturrevolution zerschlugen oder verbrannten die Roten Garden Kunstwerke von unschätzbarem Wert. Doch wie schwer diese Zerstörungen auf lange Sicht für die einzelnen Nationen und die ganze Mensch­heit auch wiegen, was sind sie gegen den Massenmord an Männern, Frauen, Kindern?


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Deshalb geht es hier nur um die Verbrechen gegen Personen, den Kern des terroristischen Phänomens. Sie haben eine gemeinsame Nomenklatur, auch wenn, je nach Regime, die eine oder andere Praxis stärker ausgeprägt ist: Hinrichtung mit verschiedenen Mitteln (Erschießen, Erhängen, Ertränken, Prügeln; in bestimmten Fällen Kampfgas, Gift, Verkehrsunfall), Vernichtung durch Hunger (Hungersnöte, die absichtlich hervorgerufen und /oder nicht gelindert wurden), Deportation (wobei der Tod auf Fußmärschen oder im Viehwaggon eintreten konnte oder auch am Wohnort und/oder bei Zwangsarbeit durch Erschöpfung, Krankheit, Hunger, Kälte). Die Zeiten sogenannten Bürgerkriegs sind komplizierter zu beurteilen: Hier ist nicht leicht zu unterscheiden, was zum Kampf zwischen Staatsmacht und Rebellen gehört und was ein Massaker an der Zivilbevölkerung ist.

Dennoch können wir eine erste Bilanz ziehen, deren Zahlen zwar nur eine Annäherung und noch zu präzisieren sind, die aber, gestützt auf persönliche Schätzungen, die Größenordnung aufzeigen und klarmachen, wie wichtig dieses Thema ist: — Sowjetunion: 20 Millionen Tote — China: 65 Millionen Tote — Vietnam: 1 Million Tote — Nordkorea: 2 Millionen Tote — Kambodscha: 2 Millionen Tote — Osteuropa: 1 Million Tote — Lateinamerika: 150.000 Tote — Afrika: 1,7 Millionen Tote — Afghanistan: 1,5 Millionen Tote — kommunistische Internationale und nicht an der Macht befindliche kommunistische Parteien: etwa 10.000 Tote.

Alles in allem kommt die Bilanz der Zahl von hundert Millionen Toten nahe.

Hinter diesem groben Raster verbergen sich große Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. Relativ gesehen, gebührt der erste Platz zweifellos Kambodscha, wo es Pol Pot gelang, in dreieinhalb Jahren rund ein Viertel der Bevölkerung auf grausamste Weise umzubringen, mit allgemeinem Hunger und Folter. Beim Maoismus hingegen macht die immense Masse von Toten schaudern. Was das leninistische und stalinistische Rußland betrifft, so gefriert einem das Blut in den Adern, betrachtet man den einerseits experimentellen, andererseits jedoch absolut durchdachten, logischen und politischen Charakter der Maßnahmen.

 

Dieser rein zahlenmäßige Ansatz beantwortet unsere Frage nicht erschöpfend. Um ihn zu vertiefen, muß man den "qualitativen" Aspekt betrachten, ausgehend von einer Definition des Verbrechens, die sich auf "objektive" juristische Kriterien stützt. Die Frage des von einem Staat begangenen Verbrechens wurde unter juristischen Gesichtspunkten erstmals 1945 vom Internationalen Militärgerichtshof der Alliierten in Nürnberg behandelt, der über die Nazi-Verbrechen zu Gericht saß.


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Diese Verbrechen wurden im Artikel 6 des Statuts dieses Tribunals definiert, der drei Hauptverbrechen aufführt: Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Untersucht man sämtliche unter dem leninistisch-stalinistischen Regime und in der kommunistischen Welt allgemein begangenen Verbrechen, findet man jede der drei Kategorien wieder.

Verbrechen gegen den Frieden sind im Artikel 6a) definiert und betreffen: "Planen, Vorbereitung, Einleitung oder Durchführung eines Angriffskrieges oder eines Krieges unter Verletzung internationaler Verträge, Abkommen oder Zusicherungen oder Beteiligung an einem gemeinsamen Plan oder an einer Verschwörung zur Ausführung einer der vorgenannten Handlungen".

Stalin hat unbestreitbar Verbrechen dieser Art begangen, und seien es nur — in den beiden Verträgen vom 23. August und 28. September 1939 mit Hitler nach Geheimverhandlungen vereinbart — die Teilung Polens und die Annexion der baltischen Staaten, der nördlichen Bukowina sowie Bessarabiens durch die Sowjetunion. Der Vertrag vom 23. August, der Deutschland der Gefahr eines Zweifrontenkriegs enthob, löste den Zweiten Weltkrieg unmittelbar aus. Ein weiteres Verbrechen gegen den Frieden beging Stalin mit seinem Angriff auf Finnland am 30. November 1939. Der Überraschungsangriff Nordkoreas auf Südkorea am 25. Juni 1950 und die massive Intervention der Armee des kommunistischen China gehören in dieselbe Kategorie. Die Methoden der Subversion, in der sich die von Moskau finanzierten kommunistischen Parteien einst abwechselten, könnte man ebenso als Verbrechen gegen den Frieden ansehen, denn ihre Aktionen mündeten in Kriege. So führte ein kommunistischer Staatsstreich in Afghanistan am 27. Dezember 1979 zu einer massiven Militärintervention der Sowjetunion und löste einen Krieg aus, der immer noch nicht beendet ist.

Kriegsverbrechen werden im Artikel 6b) definiert als "Verletzungen der Kriegsgesetze oder -gebräuche. Solche Verletzungen umfassen, ohne jedoch darauf beschränkt zu sein, Mord, Mißhandlungen oder Deportation zur Sklavenarbeit oder für irgendeinen anderen Zweck, von Angehörigen der Zivilbevölkerung von oder in besetzten Gebieten, Mord oder Mißhandlungen von Kriegs­gefangenen oder Personen auf hoher See, Töten von Geiseln, Plünderung öffentlichen oder privaten Eigentums, die mutwillige Zerstörung von Städten, Märkten oder Dörfern oder jede durch militärische Notwendigkeit nicht gerechtfertigte Verwüstung." Die Gesetze und Gebräuche des Kriegs sind in Konventionen niedergelegt, von denen die bekannteste, das Haager Abkommen von 1907, bestimmt, daß in Kriegszeiten "die Bevölkerung und die Kriegführenden unter dem Schütze und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts bleiben, wie sie sich ergeben aus den unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des menschlichen Gewissens".

Stalin hat zahlreiche Kriegsverbrechen befohlen oder autorisiert. Die Liquidierung fast aller 1939 gefangen­genommenen polnischen Offiziere — von denen die 4500 Toten von Katyn nur ein Teil waren — ist das spektakulärste.


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Doch andere Verbrechen viel größeren Ausmaßes geschahen unbemerkt, wie die Ermordung oder der Tod im Gulag von Hunderttausenden zwischen 1943 und 1945 gefangengenommener deutscher Soldaten. Hinzu kommen die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch Soldaten der Roten Armee im besetzten Deutschland und die systematische Plünderung von Industrieanlagen in den von der Roten Armee besetzten Ländern. Ebenfalls unter den Artikel 6b) des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs fallen die die kommun­istischen Machthaber offen bekämpfenden organisierten Widerstandskämpfer, soweit sie gefangengenommen, erschossen oder deportiert wurden: so die Angehörigen der polnischen Widerstandsorganisationen gegen die Nazis (z.B. der "Heimatarmee" AK), Mitglieder der baltischen und ukrainischen bewaffneten Partisanenorganisationen, die afghanischen Wider­standskämpfer usw.

Der Ausdruck <Verbrechen gegen die Menschlichkeit> tauchte zum erstenmal am 18. Mai 1915 in einer Erklärung auf, in der Frankreich, England und Rußland das türkische Massaker an den Armeniern anprangern als "neuartiges Verbrechen der Türkei gegen die Menschlichkeit und die Zivilisation".

Die Ausschreitungen der Nazis veranlaßten den Nürnberger Gerichtshof, den Begriff im Artikel 6c) seines Statuts neu zu fassen: 

"Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, begangen in Ausführung eines Verbrechens oder in Verbindung mit einem Verbrechen, für das der Gerichtshof zuständig ist, und zwar unabhängig davon, ob die Handlung gegen das Recht des Landes verstieß, in dem sie begangen wurde, oder nicht".

Der französische Hauptankläger, Francois de Menthon, hob in seinem Plädoyer die ideologische Dimension dieser Verbrechen hervor:

"Heute möchte ich Ihnen zeigen, daß dieses gesamte organisierte und massive Verbrechertum einem, wie ich es nennen will, Verbrechen wider den Geist entsprungen ist, ich möchte sagen, einer Lehre, die alle geistigen, vernunftmäßigen und moralischen Werte verneint, auf denen die Völker seit Jahrtausenden den Fortschritt der Zivilisation aufzubauen versuchten. Dieses Verbrechertum machte es sich zur Aufgabe, die Menschheit in die Barbarei zurückzuwerfen, nicht in das natürliche und ursprüngliche Barbarentum der primitiven Völker, sondern in das dämonische Barbarentum, das sich seiner selbst wohl bewußt ist und für seine Zwecke alle materiellen Mittel verwendet, die die zeitgenössische Wissenschaft in den Dienst des Menschen stellt. Diese Sünde wider den Geist ist der ursprüngliche Fehler des Nationalsozialismus, aus dem alle Verbrechen entspringen. Diese ungeheuerliche Lehre ist die der Rassentheorie....


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Ob es sich um Verbrechen gegen den Frieden oder um Kriegsverbrechen handelt, wir finden uns nicht einem zufälligen, gelegentlichen Verbrechertum gegenüber, das die Ereignisse, wenn auch nicht rechtfertigen, so doch erklären könnte, wir finden uns vielmehr vor ein systematisches Verbrechertum gestellt, das die direkte und zwangsläufige Folge einer ungeheuerlichen Lehre ist, die von den Führern Nazi-Deutschlands wohlüberlegt gebraucht wurde."

*

Und über die Deportationen aus den besetzten Ländern, die dem doppelten Zweck dienten, der deutschen Kriegsmaschine zusätzliche Arbeitskräfte zuzuführen und den größten Widerstand zu eliminieren, sagte Francois de Menthon, sie seien "nur eine natürliche Folge der nationalsozialistischen Lehre, nach welcher der Mensch wertlos ist, wenn er nicht der deutschen Rasse dient".

Alle Erklärungen in Nürnberg unterstrichen eines der wichtigsten Kennzeichen des Verbrechens gegen die Menschlichkeit: Es besteht darin, daß die Macht des Staats in den Dienst einer verbrecherischen Politik und Praxis gestellt wird. Die Zuständig­keit des Gerichtshofs beschränkte sich jedoch auf Verbrechen, die während des Zweiten Weltkriegs begangen worden waren. Daher war es unerläßlich, den juristischen Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit auf Situationen auszudehnen, die nicht zu diesem Krieg gehören. Das neue, am 23. Juli 1992 verabschiedete französische Strafgesetzbuch definiert das Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie folgt: 

"die Deportation, die Versklavung oder die massive und systematische Anwendung von Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren sowie von Entführungen von Personen, die danach verschwinden, gefoltert oder unmenschlich behandelt werden, aus politischen, weltanschaulichen, rassischen oder religiösen Gründen nach einem abgestimmten, gegen eine Gruppe der Zivilbevölkerung gerichteten Plan" (Hervorhebung vom Verf.).

All diese Definitionen, besonders die jüngste französische, treffen auf zahlreiche unter Lenin und vor allem unter Stalin begangene Verbrechen zu, und des weiteren auf Verbrechen, die in sämtlichen kommunistisch regierten Ländern verübt wurden, mit Ausnahme (die aber noch zu überprüfen wäre) Kubas und des sandinistischen Nicaraguas. Der Hauptvorwurf ist wohl unbestreitbar: Die kommunistischen Regime handelten im Namen eines Staats, der eine Politik der ideologischen Hegemonie verfolgte. Und es geschah gerade im Namen einer Doktrin, einer logischen und notwendigen Begründung des Systems, daß Millionen Unschuldige umgebracht wurden, denen nichts vorzuwerfen war — es sei denn, es wäre kriminell, Adliger, Bürger, Kulake, Ukrainer oder gar Arbeiter oder KP-Mitglied zu sein. Die aktive Intoleranz war Teil des Programms.

War es nicht Tomski, der mächtige Vorsitzende der sowjetischen Gewerkschaften, der am 13. November 1927 in der Zeitung "Trud" erklärte: 

"Auch bei uns können andere Parteien existieren. Aber das Grundprinzip, das uns vom Westen unterscheidet, ist folgendes. Man kann sich die Situation so vorstellen: Eine Partei regiert, alle anderen sind im Gefängnis."2)  


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Der Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit ist komplex und umfaßt Verbrechen, die ausdrücklich genannt werden. Eines der spezifischsten ist der Völkermord. Nach dem von den National­sozialisten verübten Genozid an den Juden und zur Präzisierung des Artikels 6c) des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg wurde der Begriff des Völkermords in einer Konvention der Vereinten Nationen vom 9. Dezember 1948 festgelegt: "Völkermord bedeutet eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:

a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe."

Das neue französische Strafgesetzbuch faßt die Genozid-Definition noch weiter: 

"... in Ausführung eines abgestimmten Plans, der auf die völlige oder teilweise Vernichtung einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe oder einer nach irgendeinem anderen willkürlichen Kriterium festgelegten Gruppe zielt" (Hervorhebungen vom Verf.). 

Diese juristische Definition widerspricht nicht dem eher philosophischen Ansatz André Frossards, für den ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegt, "wenn man jemanden unter dem Vorwand tötet, daß er geboren ist"3. Und in seiner großartigen Erzählung "Alles fließt ..." sagt Wassilij Grossman von dem aus den Lagern zurückgekehrten Iwan Grigorjewitsch: "Er blieb nur immer der, der er von Geburt an war — ein Mensch."4) Genau deshalb war er Opfer des Terrors geworden. 

Aufgrund der französischen Definition kann man sagen, daß der Genozid nicht immer von derselben Art ist — rassisch, wie im Fall der Juden — sondern daß er auch gesellschaftliche Gruppen betreffen kann. 

In einem 1924 in Berlin veröffentlichten Buch zitierte der russische Historiker und Sozialist Sergej Melgunow einen der ersten Chefs der Tscheka (der sowjetischen politischen Polizei), Lazis, der seinen Untergebenen am 1. November 1918 folgende Anweisung gab: 

"Wir führen nicht Krieg gegen bestimmte Personen. Wir löschen die Bourgeoisie als Klasse aus. Suchen Sie bei den Ermittlungen nicht nach Dokumenten oder Beweisen für das, was der Angeklagte in Worten oder Taten gegen die Sowjetmacht getan hat. Die erste Frage, die Sie ihm stellen müssen, lautet, welcher Klasse er angehört, was seine Herkunft, sein Bildungsstand, seine Schulbildung, sein Beruf ist."5)


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Von vornherein verstanden sich Lenin und seine Genossen als Führer eines gnadenlosen Klassenkampfs, in dem der politische oder ideologische Gegner, ja sogar widerspenstige Bevölkerungsteile als auszumerzende Feinde betrachtet und auch so behandelt wurden. Die Bolschewiken beschlossen, jegliche — auch passive — Opposition gegen ihre Vormachtstellung rechtlich, aber auch physisch zu eliminieren. Das richtete sich nicht nur gegen Gruppen politischer Oppositioneller, sondern auch gegen ganze gesellschaftliche Gruppierungen (Adel, Bürgertum, Intelligenz, Kirche usw.) sowie gegen Berufsstände (Offiziere, Polizisten usw.) und nahm zum Teil Züge eines Genozids an. 

Von 1920 an entspricht die Entkosakisierung im wesentlichen der Definition des Genozids: Die Gesamtheit einer auf streng umrissenem Raum angesiedelten Bevölkerung, die Kosaken, wurde als solche ausgelöscht. Die Männer wurden erschossen, Frauen, Kinder und Alte deportiert, die Dörfer dem Erdboden gleichgemacht oder neuen, nichtkosakischen Bewohnern übergeben. Lenin verglich die Kosaken mit den Bewohnern der Vendée während der Französischen Revolution und wollte ihnen die Behandlung zukommen lassen, die Gracchus Babeuf, der "Erfinder" des modernen Kommunismus, 1795 als "populicide"6) bezeichnet hatte.

Die Entkulakisierung von 1930 bis 1932 war nichts als eine Wiederholung der Entkosakisierung in großem Stil, wobei die Operation von Stalin selbst gefordert wurde, unter der offiziellen, von der Regierungs­propaganda verbreiteten Losung: "Die Kulaken als Klasse auslöschen." Kulaken, die sich der Kollektivierung widersetzten, wurden erschossen, andere zusammen mit Frauen, Kindern und Alten deportiert. Sicher sind nicht alle regelrecht ausgelöscht worden, aber die Zwangsarbeit in Sibirien und dem hohen Norden ließ ihnen kaum eine Überlebenschance. Hunderttausende kamen dort um, doch bleibt die genaue Zahl der Opfer unbekannt. Die große Hungersnot von 1932/33 in der Ukraine, die mit dem Widerstand der Landbevölkerung gegen die Zwangs­kollektivierung zusammenhing, forderte binnen weniger Monate sechs Millionen Todesopfer.

Hier sind sich <Rassen-Genozid> und <Klassen-Genozid> sehr ähnlich: Der Tod eines ukrainischen Kulakenkindes, das das stalinistische Regime gezielt der Hungersnot auslieferte, wiegt genauso schwer wie der Tod eines jüdischen Kindes im Warschauer Ghetto, das dem vom NS-Regime herbeigeführten Hunger zum Opfer fiel. Dieser Vergleich stellt die Einzigartigkeit von Auschwitz nicht in Frage — die Aufbietung modernster technischer Ressourcen, das Ingangsetzen eines regelrechten industriellen Prozesses, die Vernichtungsmaschinerie der Vergasung und Leichenverbrennung. Die Feststellung unterstreicht aber eine Besonderheit vieler kommunistischer Diktaturen: den systematischen Einsatz des Hungers als Waffe. Das Regime kontrolliert in der Regel alle verfügbaren Nahrungsmittelvorräte, teilt sie aber, manchmal nach einem ausgeklügelten Rationierungssystem, nur nach "Verdienst" beziehungsweise "Verschulden" der jeweiligen Menschen aus. Dieses Verfahren kann so weit gehen, daß gigantische Hungersnöte entstehen.


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Es ist daran zu erinnern, daß es in der Zeit nach 1918 nur kommunistische Länder waren, in denen Hungersnöte auftraten, die Hunderttausende, ja Millionen Todesopfer forderten. Noch im vergangenen Jahrzehnt haben zwei afrikanische Länder, die sich marxistisch-leninistisch nannten — Äthiopien und Mocambique —, solche verheerenden Hungersnöte durchgemacht.

Als eine erste weltweite Bilanz dieser Verbrechen kann folgende Aufstellung gelten:

Die Zahl der Verbrechen des Leninismus und Stalinismus ist schier unendlich. Häufig werden sie von den Diktaturen Mao Tse-Tungs, Kim Il-sungs, Pol Pots in fast der gleichen Weise reproduziert.

Ein erkenntnistheoretisches Problem bleibt bestehen: Darf ein Historiker in seiner Darstellung und Interpretation von Fakten die Begriffe "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" und "Genozid" gebrauchen, die, wie erläutert, aus dem juristischen Bereich stammen? Ist das Verständnis dieser Begriffe nicht allzu zeitgebunden — im Zusammenhang mit der Ächtung des National­sozialismus in Nürnberg —, als daß man sie in historischen Überlegungen für eine mittelfristige Analyse benutzen könnte?

Sind außerdem diese Begriffe nicht überfrachtet mit Wertungen, die die Objektivität der historischen Analyse beeinträchtigen könnten? Zur ersten Frage: Die Geschichte dieses Jahrhunderts hat gezeigt, daß sich die Praxis der Massenvernichtung durch Staaten oder Staatsparteien nicht auf den Nationalsozialismus beschränkte.


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Was in Bosnien und Ruanda geschah, beweist, daß diese Praktiken fortgesetzt werden. Sie sind wahrscheinlich eines der wichtigsten Kennzeichen dieses Jahrhunderts.

Zur zweiten Frage: Es geht nicht darum, in ein Geschichtsverständnis des 19. Jahrhunderts zurückzufallen, dem zufolge der Historiker eher zu "urteilen" denn zu "verstehen" suchte. Dennoch: Kann ein Historiker angesichts der ungeheuren Tragödien, die von bestimmten ideologischen und politischen Konzeptionen ausgelöst wurden, von jeglicher Bezugnahme auf den Humanismus absehen, der doch eng mit unserer jüdisch-christlichen Zivilisation und demokratischen Kultur verbunden ist — etwa dem Bezug auf die Würde des Menschen? Viele renommierte Historiker zögern nicht, die NS-Verbrechen mit dem Ausdruck "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" (französisch: "crime contre l'humanite") zu qualifizieren, so zum Beispiel Jean-Pierre Azema in einem Artikel über Auschwitz7) oder Pierre Vidal-Na-quet anläßlich des Touvier-Prozesses.8) Daher kann es nicht unzulässig sein, diese Begriffe zur Charakterisierung bestimmter unter den kommunistischen Regimen begangener Verbrechen zu benutzen.

Über die Frage der unmittelbaren Verantwortung der an der Macht befindlichen Kommunisten hinaus stellt sich die nach der Mitschuld. Nach Artikel 7 (3.77) des 1987 geänderten kanadischen Strafgesetzbuchs schließen Verbrechen gegen die Menschlichkeit den Versuch, die Mittäterschaft, die Beratung, die Hilfe, die Ermutigung oder die faktische Mitschuld ein9.

Ebenso werden im Artikel 7 (3.76) "der Versuch, der Plan, die Komplizenschaft nach der Tat, die Beratung, die Hilfe oder die Ermutigung hinsichtlich dieser Tat" (Hervorhebungen vom Verf.) dem Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit gleichgestellt. Doch von den zwanziger bis zu den fünfziger Jahren applaudierten die Kommunisten in aller Welt sowie viele andere begeistert der Politik Lenins und später Stalins. Hunderttausende engagierten sich in der kommunistischen Internationale und den örtlichen Sektionen der "Partei der Weltrevolution". Von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren beweihräucherten weitere Hunderttausende den "Großen Vorsitzenden" der chinesischen Revolution und besangen die Errungenschaften des Großen Sprungs oder der Kulturrevolution. Und unserer Zeit noch näher gab es viele, die sich über die Machtergreifung Pol Pots freuten10.

Viele werden sagen, daß sie "nicht wußten". Tatsächlich war es nicht immer einfach, Bescheid zu wissen, denn für die kommunistischen Diktaturen war die Geheimhaltung eine bevorzugte Abwehrstrategie. Aber häufig war dieses Nichtwissen lediglich auf Verblendung aufgrund des Glaubens an die Partei zurückzuführen. Seit den vierziger und fünfziger Jahren waren viele Fakten bekannt und unbestreitbar. Wenn auch inzwischen viele Anhänger ihre Idole von gestern im Stich gelassen haben, geschah dies doch klammheimlich. Aber was ist von einem solch abgrundtiefen Amoralismus zu halten, der ein öffentliches Engagement einfach in der Versenkung verschwinden läßt, ohne daraus eine Lehre zu ziehen?


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1969 schrieb einer der Pioniere der Untersuchungen über den kommunistischen Terror, Robert Conquest: "Der Umstand, daß so viele es ›schluckten‹ [die Große Säuberung], war also sicherlich ein Faktor, der die ganze Säuberung erst möglich machte. Insbesondere die Prozesse hätten nur wenig Bedeutung gehabt, wenn sie nicht von einigen ausländischen, also ›unabhängigen‹ Kommentatoren für rechtmäßig erklärt worden wären."11) Diese könne man kaum von einer gewissen Mitschuld an den politischen Morden freisprechen, oder jedenfalls nicht von Mitschuld daran, daß die Morde sich wiederholten, nachdem der ersten Operation, dem Sinowjew-Prozeß von 1936, ungerecht­fertigterweise soviel Glauben geschenkt worden war.

Wenn schon die moralische und intellektuelle Mitschuld einer Reihe von Nichtkommunisten mit dieser Elle gemessen wird, wie steht es dann um die Mitschuld der Kommunisten? Man erinnert sich nicht, daß Louis Aragon öffentlich bedauert hätte, in einem Gedicht von 1931 die Schaffung einer kommunistischen politischen Polizei in Frankreich als wünschenswert12) bezeichnet zu haben, wenn er auch zeitweilig die stalinistische Periode zu kritisieren schien.

Joseph Berger, ein ehemaliger Komintern-Kader, der der "Großen Säuberung" anheimfiel und durch die Lager ging, zitiert den Brief einer ehemaligen Gulag-Deportierten, die auch nach ihrer Rückkehr aus den Lagern immer noch Parteimitglied war: 

"Die Kommunisten meiner Generation akzeptierten Stalins Autorität. Sie billigten seine Verbrechen. Dies gilt nicht nur für die sowjetischen Kommunisten, sondern für die der ganzen Welt. Von diesem Schandfleck sind wir gezeichnet, als einzelne und als Gruppe. Wir können ihn nicht wegwischen, es sei denn, wir tun alles dafür, daß so etwas nie wieder passiert. Was ist geschehen? Hatten wir den Verstand verloren, oder verraten wir jetzt den Kommunismus? 

Die Wahrheit ist, daß alle — auch die, die Stalin am nächsten waren — die Verbrechen ins Gegenteil verkehrten. Wir sahen sie als wichtige Beiträge zum Sieg des Sozialismus an. Wir glaubten, daß alles, was die politische Macht der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion und in der Welt stärkte, ein Sieg für den Sozialismus sei. Niemals kamen wir auf den Gedanken, daß es innerhalb des Kommunismus einen Konflikt zwischen Politik und Ethik geben könnte."13)

Berger selbst nuanciert diese Aussage: 

"Meines Erachtens kann man zwar die Einstellung derer verurteilen, die Stalins Politik akzeptierten — was nicht alle Kommunisten taten —, aber schwieriger ist es, ihnen vorzuwerfen, daß sie diese Verbrechen nicht verhindert haben. Zu glauben, daß zumindest hochgestellte Persönlichkeiten Stalins Absichten hätten vereiteln können, heißt nichts von seinem byzantinischen Despotismus verstanden zu haben.

Nun ist Berger insofern "entschuldigt", als er sich in der Sowjetunion befand und daher dem höllischen Apparat unentrinnbar ausgeliefert war. Aber die westeuropäischen Kommunisten hatten nicht unmittelbar unter der Repression der NKWD zu leiden — welche Verblendung verleitete sie, weiterhin dem System und seinem Führer zu lobsingen? Wie stark mußte der magische Filter sein, der sie unterwürfig hielt ... In seinem bemerkenswerten Buch über die russische Revolution lüftet Martin Malia einen Zipfel des Schleiers, wenn er von dem Paradox spricht, "daß hinter großen Verbrechen hohe Ideale stehen"14).


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Annie Kriegel, eine weitere bedeutende Analytikerin des Kommunismus, bestand auf dieser fast zwangs­läufig doppelten Ausprägung des Kommunismus, seiner Licht- und seiner Schattenseite. Auf dieses Paradox hat Tzvetan Todorov eine erste Antwort: 

"Der Bürger einer westlichen Demokratie möchte den Totalitarismus als eine dem normalen menschlichen Streben völlig fremde Haltung ansehen. Der Totalitarismus hätte sich aber nicht so lange gehalten und nicht so viele Individuen in seinem Kielwasser hinter sich hergezogen, wenn dem so gewesen wäre. Vielmehr handelt es sich um eine Maschinerie von fürchterlicher Effizienz. Die kommunistische Ideologie zeigt uns das Bild einer besseren Gesellschaft und fordert uns auf, diese anzustreben — Ist nicht der Wunsch, die Welt nach einem Idealbild umzu­gestalten, ein wichtiger Bestandteil des menschlichen Wesens? [...] 

Außerdem beraubt die kommunistische Gesellschaft den Einzelnen seiner Verantwortung: Es sind immer ›sie‹, die entscheiden. Verantwortung ist oft eine schwere Bürde. [...] Die Anziehungskraft des totalitären Systems, die unbewußt sehr viele Menschen erfahren, ergibt sich aus einer gewissen Angst vor der Freiheit und der Verantwortung. Das erklärt die Popularität aller autoritären Regime (so die These Erich Fromms in ›Die Furcht vor der Freiheit‹). Schon La Boétie sprach von ›freiwilliger Knechtschaft‹."15

Die Mitschuld derer, die sich freiwillig in Knechtschaft begeben haben, war nicht und ist nie abstrakt und theoretisch. Die bloße Tatsache des Akzeptierens und/oder der Weiterverbreitung von Propaganda zur Vertuschung der Wahrheit implizierte und impliziert immer eine aktive Komplizenschaft. Denn Öffentlichkeit herzustellen ist das einzige — wenn auch, wie die Tragödie in Ruanda gezeigt hat, nicht immer wirksame — Mittel, die im Verborgenen begangenen Massengewaltverbrechen zu bekämpfen.

 

Es ist nicht leicht, diesen zentralen Aspekt des Kommunismus an der Macht zu analysieren: Diktatur und Terror. Jean Ellenstein hat das Phänomen des Stalinismus als eine Mischung aus griechischer Tyrannis und orientalischem Despotismus definiert. Die Formel ist naheliegend, berücksichtigt aber nicht den modernen Charakter des Phänomens, seinen totalitären Aspekt, durch den er sich von früher bekannten Formen der Diktatur unterscheidet. Ein kurzer vergleichender Überblick soll helfen, diesen Aspekt besser einzuordnen.

Zunächst wäre an die russische Tradition der Unterdrückung zu erinnern. Die Bolschewiken bekämpften das terroristische Zaren­regime, das allerdings vor den Schrecken des an die Macht gelangten Bolschewismus verblaßt. Unter dem Zaren wurden die politischen Gefangenen vor ein ordentliches Gericht gestellt. Die Verteidigung konnte sich ebensosehr — wenn nicht noch mehr — zur Geltung bringen wie die Anklage.


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Sie konnte sich auf eine öffentliche Meinung im Inland berufen, die unter dem kommunistischen Regime nicht existierte, und vor allem auf die internationale Öffentlichkeit. Die Untersuchungsgefangenen und Verurteilten unterstanden immerhin einer Gefängnisordnung, und die für Verbannung oder sogar Deportation geltenden Vorschriften waren vergleichsweise milde. Die Deportierten konnten ihre Familie mitnehmen, lesen und schreiben, was ihnen beliebte, jagen, fischen, Freizeit mit ihren Schicksals­gefährten verbringen. Lenin und Stalin hatten darin persönlich Erfahrungen sammeln können. Selbst Dostojewskis "Aufzeichnungen aus einem Totenhause", die zur Zeit der Publikation die Öffentlichkeit erschütterten, erscheinen harmlos gegenüber den Schrecken des Kommunismus.

Gewiß wurden im Rußland der Jahre 1880 bis 1914 Meutereien und Aufstände von einem archaischen politischen System hart unterdrückt. Dennoch: Die Zahl der von 1825 bis 1917 wegen ihrer Meinung oder wegen politischer Aktivitäten zum Tode verurteilten Personen belief sich auf 6360. Davon wurden 3932 hingerichtet: 191 in der Zeit von 1825 bis 1905 und 3741 in den Jahren 1906 bis 1910. Diese Zahl hatten die Bolschewiken bereits im März 1918 übertroffen, nach nur vier Monaten Machtausübung. Die Bilanz der zaristischen Unterdrückung ist also mit der des kommunistischen Terrors nicht zu vergleichen.

In den zwanziger bis zu den vierziger Jahren prangerte der Kommunismus den Terror der faschistischen Regime heftig an. Ein Blick auf die Zahlen zeigt auch hier, daß die Dinge so einfach nicht liegen. Der italienische Faschismus, der sich als erster manifestierte und sich offen als totalitär bezeichnete, hat seine politischen Gegner zweifellos gefangengesetzt und häufig mißhandelt. Allerdings kam es selten zu Ermordungen. Mitte der dreißiger Jahre zählte Italien einige hundert politische Gefangene und mehrere hundert "confinati", die unter Bewachung auf den Inseln leben mußten. Einzuräumen ist, daß sich Zehntausende Italiener im politischen Exil befanden.

Der nationalsozialistische Terror betraf bis Kriegsbeginn nur einige Gruppen. Die Gegner des Regimes — im wesentlichen Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten, bestimmte Gewerkschafter — wurden offen unterdrückt, eingekerkert und vor allem in Konzentrationslagern interniert und Quälereien ausgesetzt. Insgesamt wurden von 1933 bis 1939 rund 20.000 aktive Linke in den Lagern und Gefängnissen mit oder ohne Gerichtsverfahren ermordet, zu schweigen von Abrechnungen der Nationalsozialisten untereinander wie der "Nacht der langen Messer" im Juni 1934.

Zu einer weiteren Opferkategorie gehörten die Deutschen, die durch das Raster der Rassekriterien ("groß, blond, arisch") fielen: geistig und körperlich behinderte sowie alte Menschen. Hier entschloß sich Hitler im Krieg, zur Tat zu schreiten: 70.000 Deutsche wurden zwischen Ende 1939 und Anfang 1941 Opfer der Euthanasie durch Vergasung, bis die Kirchen protestierten und das Programm gestoppt wurde. Die dabei entwickelten Methoden der Vergasung wurden auf die dritte Gruppe von Opfern, die Juden, angewandt.


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Bis Kriegsbeginn wurden die diskriminierenden Maßnahmen gegen Juden durchgängig praktiziert, wobei die Verfolgung einen Höhepunkt in der "Reichskristall­nacht" erreichte — mehrere hundert Tote und Internierung von 35.000 Menschen in Konzentrationslagern. Erst im Krieg, vor allem mit dem Angriff auf die Sowjetunion, wurde der NS-Terror in vollem Umfang entfesselt. 

Zusammengefaßt lautet seine Bilanz wie folgt: 15 Millionen in den besetzten Ländern getötete Zivilisten, 5,1 Millionen Juden, 3,3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene, 1,1 Millionen in den Lagern gestorbene Deportierte, mehrere hunderttausend Roma und Sinti. Hinzu kommen 8 Millionen Zwangsarbeiter und 1,6 Millionen überlebende KZ-Häftlinge.

Der NS-Terror hat unsere Vorstellungen in dreierlei Hinsicht geprägt. Zunächst einmal, weil er die Europäer unmittelbar betraf. Sodann, nach dem Sieg über die Nationalsozialisten und der Verurteilung ihrer Führungsspitze in Nürnberg, waren ihre Verbrechen offiziell als solche bezeichnet und stigmatisiert. Und schließlich war die Aufdeckung des Völkermords an den Juden aufgrund seines scheinbar irrationalen Charakters, seiner rassistischen Dimension und der Radikalität des Verbrechens ein Schock für die Gewissen.

Es geht hier nicht darum, irgendwelche makabren arithmetischen Vergleiche aufzustellen, eine Art doppelte Buchführung des Horrors, eine Hierarchie der Grausamkeit. Die Fakten zeigen aber unwiderleglich, daß die kommunistischen Regime rund hundert Millionen Menschen umgebracht haben, während es im Nationalsozialismus rund 25 Millionen waren. 

Diese einfache Feststellung sollte zumindest zum Nachdenken über die Ähnlichkeit anregen, die zwischen dem NS-Regime, das seit 1945 als das verbrecherischste System des Jahrhunderts angesehen wird, und dem kommunistischen besteht, dessen Legitimität auf internationaler Ebene bis 1991 unangefochten war, das bis heute in bestimmten Ländern die Macht innehat und nach wie vor über Anhänger in der ganzen Welt verfügt. Wenn auch viele kommunistische Parteien mit Verspätung die Verbrechen des Stalinismus anerkannt haben, haben die meisten Lenins Prinzipien doch nicht aufgegeben, und sie hinterfragen kaum ihre eigene Verwicklung in den Terror.

Die von Lenin erarbeiteten, von Stalin und seinen Schülern systematisierten Methoden lassen an die Methoden der Nazis denken, nehmen sie aber oftmals voraus. In dieser Hinsicht hatte Rudolf Höß, beauftragt mit der Errichtung des KZ Auschwitz und später Lagerkommandant, eindeutige Vorgaben: 

"Vom Reichssicherheitshauptamt wurde dem Kommandanten eine umfangreiche Bericht­zusammen­stellung über die russischen Konzentrationslager überreicht. Von Entkommenen wurde darin über die Zustände und Einrichtungen bis ins einzelne berichtet. Besonders hervorgehoben wurde darin, daß die Russen durch die großen Zwangs­arbeits­maßnahmen ganze Völkerschaften vernichteten."16  

Dennoch bedeutet die Tatsache, daß das Ausmaß und die Techniken der Massengewaltausübung von den Kommunisten eingeführt wurden und die Nazis sich von ihnen inspirieren ließen, keineswegs, daß man eine direkte kausale Beziehung zwischen der Machtergreifung der Bolschewisten und dem Aufstieg des National­sozialismus herstellen kann.


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Ende der zwanziger Jahre führte die GPU (so die neue Bezeichnung der Tscheka) das Quotensystem ein: Jede Region, jeder Bezirk mußte einen bestimmten Prozentsatz von Personen verhaften, deportieren oder erschießen, die "feindlichen" Gesell­schafts­schichten angehörten. Diese Prozentsätze wurden zentral von der Parteileitung festgelegt. Planungswut und Statistikmanie betrafen nicht nur die Wirtschaft, sondern eroberten auch den Bereich des Terrors. Von 1920 an, seit dem Sieg der Roten über die Weiße Armee auf der Krim, wurden statistische beziehungsweise soziologische Methoden angewandt: Die Opfer werden nach genau festgelegten Kriterien ausgewählt, gestützt auf Fragebogen, denen sich keiner entziehen kann. Nach denselben "soziologischen" Methoden organisieren die Sowjets die Liquidationen und Massen­deportationen in den baltischen Staaten und im besetzten Polen der Jahre 1939 bis 1941.

Der Transport der Deportierten in Viehwaggons führte zu den gleichen "Aberrationen" wie bei den Nationalsozialisten: 1943/44, mitten im Krieg, ließ Stalin Tausende von Waggons und Hundert­tausende von Soldaten der NKWD-Sondertruppen von der Front abziehen, um sicherzustellen, daß die kaukasischen Völker binnen weniger Tage deportiert wurden. Diese Logik des Völkermords — der nach dem französischen Strafgesetzbuch in der totalen oder teilweisen Vernichtung einer nationalen, ethnischen, rassischen, religiösen oder durch ein anderes willkürliches Kriterium bestimmten Gruppe besteht —, angewandt von den kommunistischen Machthabern auf als feindlich bezeichnete Gruppen, Teile ihrer eigenen Gesellschaft, fand in den Taten Pol Pots und seiner Roten Khmer ihren Höhepunkt.

Nationalsozialismus und Kommunismus bezüglich der Vernichtung von Menschen so nahe zusammenzurücken, mag schockieren. 

Aber es ist immerhin Wassilij Grossman (dessen Mutter von den Nazis im Ghetto von Berditschew umgebracht wurde, der den ersten Bericht über Treblinka veröffentlicht hat und zu den Autoren des "Schwarzbuchs" über den Untergang des sowjetischen Judentums gehörte), der in seinem Roman <Alles fließt ...> eine Figur über die Hungersnot in der Ukraine sagen läßt: 

"die Schriftsteller schreiben, und Stalin selbst, alle sagen das eine: ›Kulaken — Parasiten, sie verbrennen das Brot, sie morden Kinder.‹ Und man erklärte geradeheraus: die Wut der Massen gegen sie aufpeitschen, sie als Klasse vernichten, die Verfluchten. [...] Um sie zu töten, mußte man erklären: Kulaken — keine Menschen. Wie die Deutschen sagten: Juden — keine Menschen. Ebenso Lenin und Stalin: Kulaken sind keine Menschen." 

Und über das Schicksal der Kulakenkinder sagt Grossman: "Genau wie die Deutschen, die die Judenkinder im Gas erstickt haben — ihr sollt nicht leben, ihr seid Juden."17)


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In beiden Fällen sind nicht so sehr Einzelpersonen das Ziel als vielmehr Gruppen. Der Terror soll eine als feindlich bezeichnete Gruppe auslöschen, die sicherlich nur einen Teil der Gesellschaft darstellt, aber als solcher von der Logik des Genozids getroffen wird. Somit ähneln die Mechanismen der Trennung und des Ausschlusses im "Klassen-Totalitarismus" ganz besonders denen im "Rassen-Totalitarismus". Die künftige NS-Gesellschaft sollte auf der "reinen Rasse" aufgebaut werden, die künftige kommunistische Gesellschaft auf einem von jeglicher bürgerlichen Schlacke freien proletarischen Volk. 

Die Umgestaltung dieser beiden Gesellschaften wurde auf dieselbe Weise angestrebt, auch wenn die Ausschluß­kriterien nicht die gleichen waren. Es ist daher falsch zu behaupten, der Kommunismus habe universalen Charakter: Wenn dieses Projekt eine welt­umspannende Bestimmung hat, wird ein Teil der Menschheit für unwürdig erklärt, darin zu existieren, wie es auch im National­sozialismus geschieht. Der Unterschied besteht darin, daß eine Abtrennung nach Schichten (Klassen) erfolgt, statt einer rassischen und territorialen Trennung wie bei den Nazis.

Die leninistischen, stalinistischen und maoistischen Verbrechen sowie die kambodschanische Erfahrung stellen somit der Menschheit — und den Juristen und Historikern — eine neue Frage: Wie ist das Verbrechen zu bezeichnen, das darin besteht, aus politisch-ideologischen Gründen nicht Einzelne oder begrenzte Gruppen Oppositioneller, sondern große Teile der Gesellschaft auszulöschen? Muß man einen neuen Begriff erfinden? Einige angel­sächsische Autoren sind dieser Meinung und haben den Ausdruck "politicide" geprägt. Oder soll man so weit gehen wie die tschechischen Juristen, die die unter dem kommunistischen Regime begangenen Verbrechen kurzerhand als "kommunistische Verbrechen" bezeichnen?

 

  

  Was wußte man über die Verbrechen des Kommunismus?  

 

Was wollte man davon wissen? Warum hat es bis zum Ende des Jahrhunderts gedauert, daß sich die Wissenschaft mit diesem Thema befaßt? Ganz offensichtlich ist das Studium des stalinistischen und allgemein des kommunistischen Terrors im Vergleich zu den Untersuchungen der NS-Verbrechen gewaltig im Rückstand, auch wenn im Osten jetzt mehr und mehr darüber gearbeitet wird.

Hier besteht ein eindrucksvoller, nicht von der Hand zu weisender Kontrast. Die Sieger von 1945 stellten legitimerweise das Verbrechen — und besonders den Völkermord an den Juden — in den Mittelpunkt ihrer Verurteilung des Nationalsozialismus. Viele Wissenschaftler aus der ganzen Welt arbeiten seit Jahrzehnten über dieses Thema. Tausende von Büchern sind dazu geschrieben, Dutzende von Filmen gedreht worden, darunter einige weltberühmte, und in ganz unterschiedlichen Sparten — "Nacht und Nebel" oder "Shoah", "Sophies Entscheidung" oder "Schindlers Liste". Raul Hilberg, um nur ihn zu erwähnen, beschreibt in seinem Hauptwerk detailliert, mit welchen Methoden die Juden im Dritten Reich umgebracht wurden18).

Doch zur Frage der kommunistischen Verbrechen gibt es keine Arbeiten dieser Art. Während die Namen Himmlers oder Eichmanns in der ganzen Welt als Symbole zeitgenössischer Barbarei bekannt sind, sind Dserschinski, Jagoda oder Jeschow weitgehend unbekannt.


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Was Lenin, Mao, Ho Chi Minh und selbst Stalin betrifft, so wird ihnen immer noch eine erstaunliche Verehrung zuteil. In Frankreich war die staatliche Lotterie­gesellschaft sogar so unbedacht, Stalin und Mao in einer ihrer Werbekampagnen zu erwähnen. Wer käme auf die Idee, Hitler oder Goebbels zu so etwas heranzuziehen?

Die außerordentliche Aufmerksamkeit, die den Verbrechen Hitlers gilt, ist völlig gerechtfertigt. Sie entspricht der Bereitschaft der Überlebenden, Zeugnis abzulegen, dem Wunsch der Wissenschaftler, zu verstehen, und dem Willen der moralischen und politischen Autoritäten, demokratische Werte zu bekräftigen. Aber warum reagiert die öffentliche Meinung so schwach auf die Zeugenaussagen über die kommunistischen Verbrechen? Warum das peinlich berührte Schweigen der Politik? Und vor allem: Warum sagt die akademische Welt nichts zu der kommunistischen Katastrophe, die achtzig Jahre lang rund ein Drittel der Menschheit auf vier Kontinenten betraf? Warum diese Unfähigkeit, in den Mittelpunkt der Analyse des Kommunismus einen so wesentlichen Faktor wie das Verbrechen zu stellen, das systematische Massenverbrechen, das Verbrechen gegen die Mensch­lichkeit? Ist es etwa unmöglich zu begreifen? Handelt es sich nicht eher um eine bewußte Weigerung, wissen zu wollen, um eine Angst vor dem Begreifen?

Die Verschleierung hat viele komplexe Gründe. Zunächst ist da das klassische unaufhörliche Bemühen der Henker, die Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen und zu rechtfertigen, was sie nicht verbergen konnten. Die "Geheimrede" Chruschtschows von 1956, die die erste Anerkennung dieser Verbrechen durch kommunistische Führer selbst darstellt, ist auch der Bericht eines Henkers, der seine eigenen Verbrechen (als Führer der ukrainischen KP auf dem Höhepunkt des Terrors) vertuschen will, indem er sie Stalin allein anlastet und sich darauf beruft, Befehlen gehorcht zu haben. Gleichzeitig sucht er den größten Teil der Verbrechen zu verbergen, denn er spricht nur von den kommunistischen Opfern, die der Zahl nach wesentlich geringer waren als die anderen. Außerdem verharmlost er diese Verbrechen, indem er sie als "Mißbrauch unter Stalin" bezeichnet, und versucht schließlich, das Fortbestehen des Systems mit denselben Prinzipien, denselben Strukturen und denselben Menschen zu recht­fertigen.

Chruschtschow bezeugt das ganz unverblümt, wenn er den Widerstand beschreibt, auf den er während der Vorbereitungen für seinen Bericht stieß, vor allem seitens eines Vertrauten Stalins: 

"Kaganowitsch war ein solcher Jasager, daß er auf einen Wink Stalins seinem eigenen Vater die Kehle durch­geschnitten und gesagt hätte, es sei im Interesse der Sache — der Sache Stalins, wohlgemerkt... er argumentierte gegen mich aus selbstsüchtiger Angst um seine eigene Haut. Er wurde ausschließlich von seinem heftigen Verlangen getrieben, sich jeder Verantwortung für das, was geschehen war, zu entziehen. Wenn Verbrechen begangen worden waren, dann wollte Kaganowitsch sichergehen, daß seine eigenen Spuren verwischt waren."19)


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Daß die Archive der kommunistischen Länder unter strengstem Verschluß standen, die totale Kontrolle von Presse und Rundfunk sowie aller Wege ins Ausland, die Propaganda über die "Errungenschaften" des Regimes, dieser ganze Apparat zur Abriegelung von Informationen sollte in erster Linie verhindern, daß die Wahrheit über die Verbrechen ans Licht kam.

 

Die Henker begnügten sich nicht damit, ihre Verbrechen zu verbergen, sondern bekämpften auch Menschen, die zu informieren suchten, mit allen Mitteln. Denn einige Beobachter und Analytiker haben sich bemüht, ihre Zeitgenossen aufzuklären. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dies in Frankreich bei zwei Gelegenheiten besonders deutlich.

Von Januar bis April 1949 fand in Paris ein Prozeß statt, in dem sich Viktor Krawtschenko (ein ehemaliger hochrangiger sowjetischer Funktionär, der in seinem Buch "Ich wählte die Freiheit" die stalinistische Diktatur beschrieben hatte) und die von Louis Aragon herausgegebene Zeitschrift "Les Lettres francaises" gegenüberstanden, die ihren Prozeßgegner mit Beleidigungen überschüttete. Von November 1950 bis Januar 1951 fand wiederum in Paris ein weiterer Prozeß statt.

Die Gegner waren erneut "Les Lettres francaises" und David Rousset, ein Intellektueller und ehemaliger Trotzkist, der von den Nazis nach Deutschland deportiert worden war und 1946 für sein Buch "L'Univers concentrationnaire" den Prix Renaudot erhalten hatte. Rousset hatte am 12. November 1949 alle ehemaligen Deportierten aus den NS-Lagern aufgerufen, eine Kommission zur Untersuchung der sowjetischen Lager zu bilden, und war dafür von der kommunistischen Presse, die die Existenz dieser Lager leugnete, heftig angegriffen worden. Auf den Aufruf Roussets hin berichtete Margarete Buber-Neumann am 25. Februar 1950 im "Figaro litteraire" unter der Überschrift "Für die Untersuchung der sowjetischen Lager. Wer ist schlimmer, Satan oder Belzebub?" über ihre doppelte Erfahrung als Deportierte in national­sozialistischen und sowjetischen Lagern.

Gegen all diese Aufklärer des Gewissens der Menschheit boten die Henker in einem systematischen Kampf das ganze Arsenal der Möglichkeiten großer moderner Staaten auf, die überall auf der Welt intervenieren können. Sie wollten sie disqualifizieren, unglaubwürdig machen, einschüchtern. Solschenizyn, Bukowski, Sinowjew, Pljuschtsch wurden ausgewiesen, Sacharow nach Gorkij verbannt, General Grigorenko in einer Irrenanstalt inhaftiert, Markow mit einem vergifteten Regenschirm ermordet.

Angesichts der nachdrücklichen Einschüchterung und Verschleierung zögerten die noch lebenden Opfer ihrerseits, an die Öffent­lichkeit zu treten. Sie sahen sich außerstande, sich in eine Gesellschaft wieder­einzu­gliedern, in der die, von denen sie denunziert und gepeinigt worden waren, unbehelligt herumstolzierten. Wassilij Grossman20 zeichnet diese verzweifelte Lage nach. Im Unterschied zur jüdischen Tragödie — die internationale jüdische Gemeinde hält die Erinnerung an den Völkermord wach — war es den Opfern des Kommunismus und ihren Angehörigen lange verwehrt, das Gedächtnis des tragischen Geschehens in der Öffentlichkeit zu pflegen, da jegliche Erinnerung oder Rehabilitationsforderung verboten war.


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Wenn es den Henkern nicht gelang, eine Wahrheit zu verschleiern — die Erschießungen, die Lager, die absichtlich ausgelöste Hungersnot —, rechtfertigten sie die Fakten, indem sie sie dick übertünchten. Wenn sie sich zum Terror bekannten, machten sie ihn zur Allegorie der Revolution: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Oder, wie es in Frankreich heißt: Man kann kein Omelett machen, ohne Eier aufzuschlagen. Dem entgegnete Wladimir Bukowski einmal, er habe wohl die zerbrochenen Eier gesehen, aber niemals das Omelett zu kosten bekommen. 

Am schlimmsten wirkte sicherlich die Pervertierung der Sprache. Wie durch Zauberei wurden das System der Lager zum Werk der Umerziehung, die Henker zu Erziehern, bemüht, die Mitglieder der alten Gesellschaft zu "neuen Menschen" zu formen. Man "bat" die Lagerhäftlinge mit Gewalt, an ein System zu glauben, das sie versklavte. In China heißt der Lagerhäftling "Student": Er soll das richtige Denken der Partei studieren und das eigene falsche Denken korrigieren.

Oft ist die Lüge nicht das genaue Gegenteil der Wahrheit, und jede Lüge fußt auf wahren Elementen. Die pervertierten Wörter werden aus einer verschobenen Perspektive gebraucht, die den Blick auf das Ganze verzerrt: Das ist sozialer und politischer Astigmatismus. Zwar ist es leicht, eine von der kommunistischen Propaganda verzerrte Sicht zu korrigieren, aber es ist äußerst schwierig, den Fehlsichtigen wieder dazu zu bringen, die Dinge intellektuell stichhaltig zu erfassen. Der erste Eindruck bleibt und wird zum Vorurteil. 

Die unvergleichliche propagandistische Stärke der Kommunisten stützte sich vor allem auf die Pervertierung der Sprache. So bedienten sie sich wie Judokämpfer der Kraft des Gegners, indem sie die Kritik an ihren terroristischen Methoden umdrehten und gegen die Kritiker selbst richteten. Dabei schweißten sie die Reihen ihrer Aktivisten und Sympathisanten immer wieder neu mit dem kommunistischen Glaubensbekenntnis zusammen. Auf diese Weise fanden die Kommunisten zum ersten Grundsatz ideologischen Glaubens zurück, der seinerzeit von Tertullian formuliert worden war: "Ich glaube, weil es absurd ist."

Im Rahmen dieser propagandistischen Gegenmaßnahmen haben sich Intellektuelle buchstäblich prostituiert. 1928 erklärte sich Maxim Gorki zu einer "Exkursion" auf die Solowki-Inseln bereit, zu dem ersten Zwangsarbeitslager, aus dem durch "Metastasen" (Solschenizyn) das Gulag-System werden sollte. Nach dieser Reise veröffentlichte er ein Buch voll des Lobes über Solowki und die sowjetische Regierung. 

Ein französischer Schriftsteller, Henri Barbusse (1916 ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt), zögerte nicht, das stalinistische Regime zu beweihräuchern, als finanzielle Unterstützung winkte. 1928 publizierte er ein Buch über das "wunderbare Georgien" — jene Region, in der Stalin und sein Helfershelfer Ordschonikidse 1921 ein regelrechtes Gemetzel veranstaltet hatten und in der sich der NKWD-Chef Berija durch Skrupellosigkeit und Sadismus hervortat — und 1935 die erste offiziöse Stalin-Biographie.


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Später sang Maria-Antonietta Macciochi ein Loblied auf Mao, das bei Alain Peyrefitte widerhallte, während Danielle Mitterrand Castro schmeichelte. Gier, Schwäche, Eitelkeit, die Faszination, die von Kraft und Gewalt ausgeht, revolutionäre Leidenschaft — was auch immer die Motive für solche Loblieder sein mögen, stets haben die totalitären Diktaturen die Beweihräucherer gefunden, die sie brauchten. Die kommunistische macht da keine Ausnahme.

Der Westen bewies gegenüber der kommunistischen Propaganda eine außerordentliche Verblendung, in der sich Ahnungs­losigkeit angesichts eines ausgesprochen hinterlistigen Systems, Angst vor der Macht der Sowjets und Zynismus von Politikern und Geschäfte­machern mischten. Um Verblendung handelte es sich beim Treffen von Jalta, als Präsident Roosevelt Stalin Osteuropa gegen das förmliche Versprechen preisgab, dort baldmöglichst freie Wahlen durchführen zu lassen. Realismus und Resignation bestimmten das Treffen von Moskau, bei dem General de Gaulle im Dezember 1944 das unglückselige Polen dem Moloch opferte und dafür vom nach Paris zurückgekehrten Generalsekretär der KPF, Maurice Thorez, sozialen Frieden und politisches Stillhalten zugesichert bekam.

Die Verblendung wurde bei den westlichen Kommunisten und vielen Linken durch die Überzeugung begünstigt, ja beinahe legitimiert, daß jene Länder sich im Aufbau des Sozialismus befänden und daß diese Utopie, die in den demokratisch verfaßten Ländern die sozialen und politischen Konflikte nährte, dort Realität würde — eine Realität, deren Reiz Simone Weil hervorgehoben hat: 

"Die revolutionären Arbeiter sind allzu glücklich, daß ein Staat hinter ihnen steht — ein Staat, welcher ihren Unter­nehmungen jenen offiziellen Charakter, jene Legitimität, jene Wirklichkeit verleiht, die einzig der Staat verleihen kann, und welcher gleichzeitig geographisch allzuweit entfernt ist, um ihren Abscheu zu erregen."21)  

Der Kommunismus präsentierte sich also von seiner hellen Seite. Er nahm für sich die Aufklärung in Anspruch, eine Tradition der sozialen und menschlichen Emanzipation, den Traum von der "wirklichen Gleichheit" und dem "Glück für alle", von dem Gracchus Babeuf als erster gesprochen hatte. Diese leuchtende Seite verbarg fast völlig die dunkle.

Zu dieser Unkenntnis — sei sie nun beabsichtigt oder nicht — der verbrecherischen Dimension des Kommunismus tritt, wie immer, die Indifferenz der Zeitgenossen für ihre Mitmenschen. Nicht, daß der Mensch ein Herz aus Stein hätte. Im Gegenteil, in vielen Grenzsituationen zeigt er ungeahnte Kräfte der Solidarität, der Freundschaft, des Gefühls und sogar der Liebe. Doch "hindert uns die Erinnerung an unseren Schmerz, das Leiden der anderen wahrzunehmen"22, wie Tzvetan Todorov unterstreicht. Welches europäische oder asiatische Volk war nach dem Ersten und dann nach dem Zweiten Weltkrieg nicht damit beschäftigt, die von unzähligen Verlusten gerissenen Wunden zu verbinden?

Die Verschleierung der kriminellen Dimension des Kommunismus hat allerdings noch mit drei konkreteren Gründen zu tun. 


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Der erste betrifft das Festhalten an der Revolutionsidee selbst. 

Noch heute ist die Trauerarbeit um die Idee der Revolution, wie sie im 19. und 20. Jahr­hundert gedacht wurde, längst nicht abgeschlossen. Ihre Symbole — die rote Fahne, die Internationale, die erhobene Faust — erstehen bei jeder großen sozialen Bewegung neu. Che Guevara kommt wieder in Mode. Eindeutig revolutionäre Gruppen dürfen ungehindert an die Öffentlichkeit treten, sie reagieren verachtungsvoll auf die geringste kritische Anmerkung zu den Verbrechen ihrer Vorgänger und wiederholen ohne Scheu die alten Recht­fertigungs­reden Lenins, Trotzkis oder Maos. Diese revolutionäre Leidenschaft ist uns nicht ganz fremd. Mehrere Autoren dieses Buches haben einmal selbst der kommunistischen Propaganda geglaubt.

Der zweite Grund hat mit der sowjetischen Beteiligung am Sieg über den National­sozialismus zu tun, der es den Kommunisten ermöglichte, ihr eigentliches Ziel — die Machtergreifung — unter glühendem Patriotismus zu verstecken. Von Juni 1941 an begaben sich die Kommunisten in allen besetzten Ländern in den aktiven — und oft bewaffneten — Widerstand gegen die deutschen oder italienischen Besatzer. Wie die Widerstands­kämpfer anderer ideologischer Richtungen bezahlten sie den Preis der Unter­drückung, hatten Tausende von Erschossenen, Massakrierten, Deportierten zu beklagen. Und sie haben sich dieser Märtyrer bedient, um die Sache des Kommunismus zu heiligen und jegliche Kritik an ihm verstummen zu lassen. Außerdem knüpften viele Nichtkommunisten im Widerstand Bande der Solidarität, des Kampfes, des Bluts mit Kommunisten, was vielen die Augen getrübt hat. In Frankreich war die Haltung der Gaullisten häufig von dieser gemeinsamen Erinnerung bestimmt und wurde durch die Politik de Gaulles noch bestärkt, der gegenüber den Amerikanern gern das sowjetische Gegengewicht ausspielte23.

Durch die Beteiligung der Kommunisten am Krieg und am Sieg über den Nationalsozialismus triumphierte der Begriff des Antifaschismus in der Linken endgültig als Wahrheitskriterium, und natürlich traten die Kommunisten als die besten Vertreter und Verteidiger dieses Antifaschismus auf. Der Antifaschismus wurde zur definitiven Etikettierung des Kommunismus. Das machte es den Kommunisten leicht, Aufmuckende im Namen des Antifaschismus zum Schweigen zu bringen. Francois Furet hat zu diesem entscheidenden Punkt erhellende Bemerkungen gemacht.  

Nachdem der besiegte Nationalsozialismus von den Alliierten zum absoluten Bösen erklärt worden war, geriet der Kommunismus beinahe automatisch in das Lager der Guten. Dies wurde deutlich bei den Nürnberger Kriegs­verbrecher­prozessen, in denen die Sowjets als Ankläger auftraten. So wurden nach demokratischen Maßstäben peinliche Episoden — wie der deutsch-sowjetische Pakt von 1939 oder das Massaker von Katyn — rasch heruntergespielt. Der Sieg über den Nationalsozialismus wurde als Beweis für die Überlegenheit des kommunistischen Systems angeführt. Im von den Westalliierten befreiten Europa rief das eine doppelte Reaktion hervor: ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber der Roten Armee (deren Besatzung man nicht zu ertragen hatte) und Schuldgefühle angesichts der Opfer, die die Völker der Sowjetunion gebracht hatten — Gefühle, die die kommunistische Propaganda weidlich ausgenutzt hat.


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Gleichzeitig blieben die Umstände der "Befreiung" Osteuropas durch die Rote Armee im Westen weitgehend unbekannt, wo die Geschichts­schreibung zwei sehr unterschiedliche Arten von "Befreiung" mehr oder weniger gleichsetzte: Die eine führte zur Wiederherstellung der Demokratie, die andere ermöglichte die Einsetzung von Diktaturen. In Mittel- und Osteuropa trat das sowjetische System die Nachfolge des "Tausendjährigen Reichs" an. Witold Gombrowicz drückte das dramatische Schicksal dieser Völker in wenigen Worten aus: 

"Die Beendigung des Krieges brachte den Polen keine Befreiung, — dort, in diesem so traurigen mittelöstlichen Europa geschah sie als ein Austausch von einer Nacht zur anderen, ein Austausch der Sbirren Hitlers mit den Sbirren Stalins. Während in den Pariser Cafes verschiedene edle Geister mit freudigem Krähen ›die Erlösung des polnischen Volkes aus der feudalen Bedrückung‹ begrüßten, ging in Polen einfach ein und dieselbe angezündete Zigarette von einer Hand in die andere, um weiterhin dem Menschen die Haut anzubraten."24)  

Hier verläuft der Riß zwischen zwei europäischen Erinnerungen. Doch einige Veröffentlichungen haben schon früh den Schleier gelüftet, der verdeckte, wie die Sowjetunion Polen, Deutsche, Tschechen und Slowaken vom Nationalsozialismus befreite25.

Ein letzter Grund für die Verschleierung ist subtiler und auch heikler zu erklären. Nach 1945 erschien der Genozid an den Juden als das Paradigma moderner Barbarei, und zwar so sehr, daß er allen Raum für die Wahrnehmung von Massenterror im zwanzigsten Jahrhundert beanspruchte. Nachdem sie zunächst das Besondere der Judenverfolgung durch die Nazis geleugnet hatten, erkannten die Kommunisten bald den Vorteil, den sie aus der Anerkennung dieser Besonderheit für die regelmäßige Mobilisierung des Antifaschismus ziehen konnten. "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch" — mit dieser Brechtschen Schreckensvision gingen sie bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit hausieren.

Neuerdings hat die Hervorhebung einer "Einzigartigkeit" des Genozids an den Juden, die die Aufmerksamkeit auf seine außergewöhnliche Grausamkeit lenkt, ebenfalls die Wahrnehmung vergleichbarer Tatsachen in der kommunistischen Welt behindert. Und schließlich: Ist es vorstellbar, daß die, die mit ihrem Sieg zur Zerstörung eines genozidalen Systems beigetragen hatten, selbst solche Methoden anwandten? Die am meisten verbreitete, reflexartige Antwort darauf war die Weigerung, ein solches Paradox für möglich zu halten.

 

Die erste große Wende in der offiziellen Haltung zu den kommunistischen Verbrechen datiert vom 24.2.1956. An jenem Abend steigt der Erste Sekretär Nikita Chruschtschow auf die Tribüne des XX. Parteitags der KPdSU. Die Sitzung ist nicht-öffentlich, nur die Parteitagsdelegierten sind zugegen.


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Entsetzt, in vollkommenem Schweigen, hören sie zu, wie der Erste Sekretär der Partei systematisch das Bild des "genialen Stalin", des "Vaters der Völker" zerstört, der dreißig Jahre lang der Held des Weltkommunismus war. Dieser später als "Geheim­rede" bekanntgewordene Bericht stellt einen entscheidenden Wendepunkt im zeitgenössischen Kommunismus dar. Zum erstenmal erkannte ein Kommunist aus der Führungsspitze offiziell — wenn auch ausschließlich zur Kenntnis der Kommunisten — an, daß das Regime, das 1917 die Macht ergriffen hatte, eine verbrecherische Seite hatte.

Es gibt viele Gründe dafür, daß Chruschtschow eines der größten Tabus des Sowjetregimes brach. Sein Hauptziel war, die Verbrechen des Kommunismus Stalin allein zuzuschreiben, das Übel somit einzugrenzen und auszumerzen, um das System als solches zu retten. Außerdem wollte er eine Attacke gegen den Stalinisten-Clan reiten, der sich seiner Macht im Namen der Methoden des früheren Chefs widersetzte. Diese Politiker wurden übrigens von Sommer 1957 an sämtlicher Ämter enthoben.

Doch zum erstenmal seit 1934 folgte auf den politischen Tod nicht eine tatsächliche Tötung. Aus diesem simplen "Detail" läßt sich ersehen, daß Chruschtschows Motive nicht ganz oberflächlich waren. Er, der jahrelang über die Ukraine geherrscht und in dieser Rolle ungeheure Gemetzel veranlaßt und gedeckt hatte, schien des Blutvergießens müde zu sein. In seinen Memoiren (in denen er sich sicherlich in günstigem Licht darstellt) schildert Chruschtschow seine Stimmung: "Der Parteitag wird zu Ende gehen, und man wird Resolutionen verabschieden — alles eine Formsache. Aber was dann? Die Hunderttausende von Menschen, die erschossen wurden, werden weiterhin auf unserem Gewissen lasten."26

Unvermittelt konfrontiert er die Genossen der Führungsspitze mit seinen Gedanken: "Was tun wir mit all denen, die verhaftet und ausgeschaltet wurden? [...] Wir wissen heute, daß die Menschen, die zur Zeit der Unterdrückung gelitten haben, unschuldig waren. Wir haben unwiderlegbare Beweise, daß sie, weit davon entfernt, Feinde des Volkes zu sein, ehrliche Männer und Frauen waren, der Partei ergeben, der Revolution ergeben, der leninistischen Sache und dem Aufbau des Sozialismus und Kommunismus in der Sowjetunion ergeben. [...] Ich halte es für unmöglich, alles zu vertuschen. Früher oder später werden die Leute aus den Gefängnissen und Lagern kommen und in die Städte zurückkehren. Sie werden ihren Verwandten, Freunden, Genossen und allen daheim erzählen, was passiert ist. [...]

Wir sind deshalb verpflichtet, den Delegierten offen einzugestehen, wie sich die Parteiführung während der fraglichen Jahre verhalten hat. [...] Wie können wir so tun, als wüßten wir nicht, was geschehen ist? [...] Wir wissen, daß es eine Herrschaft der Unterdrückung und Willkür in der Partei gegeben hat. und wir müssen dem Parteitag sagen, was wir wissen. [...] Im Leben eines jeden, der ein Verbrechen begangen hat, kommt ein Augenblick, da ihm ein Geständnis Milde, wenn nicht gar Verzeihung gewährleistet."27) 


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Bei einigen dieser Männer, die direkt an den unter Stalin begangenen Verbrechen beteiligt waren und ihre Karriere mehrheitlich der Vernichtung ihrer Vorgänger im Amt zu verdanken hatten, machte sich etwas wie Gewissensbisse bemerkbar. Gewiß war es eine begrenzte, eine interessierte Reue — Gewissensbisse von Politikern —, aber immerhin Reue. Irgend jemand mußte ja dem Morden Einhalt gebieten. Chruschtschow hatte den Mut dazu, selbst wenn er 1956 nicht zögerte, die sowjetischen Panzer nach Budapest zu schicken.

1961, auf dem XXII. Parteitag der KPdSU, erinnerte Chruschtschow nicht nur an die kommunistischen Opfer, sondern an alle Opfer Stalins, und schlug sogar die Errichtung eines Denkmals zu ihrem Gedächtnis vor. Wahrscheinlich hatte er die unsichtbare Grenze überschritten, jenseits derer das Grundprinzip des Systems in Frage gestellt wurde: das absolute Machtmonopol der Kommunistischen Partei. Das Denkmal wurde nie errichtet. 1962 autorisierte der Erste Sekretär die Veröffentlichung des Buches "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" von Alexander Solschenizyn. Am 24. Oktober 1964 wurde Chruschtschow brutal aus allen seinen Ämtern entfernt, aber auch er nicht liquidiert. Er starb 1971 in der Anonymität.

Sämtliche Fachleute erkennen die entscheidende Bedeutung der "Geheimrede" an, die zu einem tiefen Bruch in der Entwicklung des Kommunismus im 20. Jahrhundert führte. Francois Furet, der just 1954 aus der KPF ausgetreten war, schreibt dazu: "Der ›Geheimbericht‹ vom Februar 1956 verändert unmittelbar nach seinem Bekanntwerden grundlegend den Stellenwert der kommunistischen Idee in der Welt. Jetzt wird die Stimme gegen Stalins Verbrechen nicht mehr im Westen, sondern in Moskau — noch dazu im Allerheiligsten Moskaus, im Kreml — erhoben. Es handelt sich nicht mehr um die eines Kommunisten, der mit dem System gebrochen hat, sondern um die des weltweit ranghöchsten Kommunisten, des Vorsitzenden der Partei der Sowjetunion. Ihm haftet nicht derselbe Verdacht an wie den Ausführungen ehemaliger Kommunisten. Er verkörpert vielmehr die höchste Autorität, die in diesem System dem führenden Politiker zuerkannt wird. [...] Der nachhaltige Eindruck, den der ›Geheimbericht‹ hinterläßt, rührt daher, daß es keinen Widerspruch gibt."28

Der Vorgang war um so paradoxer, als von Anfang an viele Zeitgenossen die Bolschewiken vor den Gefahren ihres Wegs gewarnt hatten. Ab 1917/18 standen sich innerhalb der sozialistischen Bewegung die auf das "Licht aus dem Osten" vertrauenden Gläubigen und die gegenüber, die die Bolschewisten unablässig kritisierten. Der Streit bezog sich im wesentlichen auf Lenins Vorgehens­weise: Gewalt, Verbrechen, Terror

Doch während von den zwanziger bis zu den fünfziger Jahren die Schattenseite der bolschewistischen Erfahrung von zahlreichen Zeugen — Opfern oder qualifizierten Beobachtern — und in unzähligen Artikeln und Werken aufgezeigt wurde, war es nötig, daß die machthabenden Kommunisten selbst diese Realität eingestanden (wenn auch eingeschränkt), damit ein allmählich wachsender Teil der Öffentlichkeit sich des Dramas bewußt zu werden begann.


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Es war eine eingeschränkte Anerkennung, denn die "Geheimrede" sprach nur von den kommunistischen Opfern. Aber sie war ein Einge­ständnis. Es bestätigte die früheren Zeugenaussagen und Studien zum erstenmal und untermauerte, was jeder seit langem ahnte: Der Kommunismus hatte in Rußland zu einer ungeheuren Tragödie geführt.

Viele Führer der Bruderparteien waren nicht von vornherein davon überzeugt, daß jetzt die Zeit für Enthüllungen gekommen sei. Neben dem Wegbereiter Chruschtschow erscheinen sie sogar als Zurückgebliebene. Es dauerte bis 1979, daß die chinesische KP in der Politik Maos "große Verdienste" (bis 1957) und "große Irrtümer" (in der Zeit danach) erkannte. Die Vietnamesen behandeln die Frage nur unter dem Aspekt der Verdammung des von Pol Pot begangenen Völkermords. Was Castro betrifft, so leugnet er die unter seiner Führung geschehenen Greuel.

Bis zu jenem Moment wurden die kommunistischen Verbrechen nur von Feinden der Bolschewisten, trotzkistischen oder anarchistischen Dissidenten denunziert — ohne besonderen Erfolg. Die Überlebenden der kommunistischen Massaker waren ebensosehr bereit, Zeugnis abzulegen, wie die Überlebenden von NS-Massakern. Doch wurden sie kaum oder gar nicht gehört, vor allem nicht in Frankreich, wo nur kleine Gruppen, zum Beispiel die elsaß-lothringischen Malgré-nous, unmittelbar Erfahrungen mit dem sowjetischen Lagersystem gemacht hatten29. Die meiste Zeit über wurden die Zeugnisse, die Erinnerungs­schübe, die auf der Initiative weniger Einzelpersonen beruhenden Arbeiten unabhängiger Kommissionen — David Roussets Commission internationale sur le regime concentrationnaire, oder die "Commission pour la verite sur les crimes des Staline" — von der kommunistischen Propagandaflut zugeschüttet, begleitet von einem wachsweichen oder indifferenten Schweigen.

Dieses Schweigen folgt im allgemeinen auf einen Moment der Sensibilisierung, ausgelöst vom Erscheinen eines Buchs — Solschenizyns "Archipel Gulag" — oder von einem Zeugnis, das unbestreitbarer als andere ist — die Kolyma-Erzählungen von Warlam Schalamow30 oder "Du mußt überleben, mein Sohn!" von Pin Yathay31 —, und es zeigt eine gewisse Widerwilligkeit gegenüber dem kommunistischen Phänomen, die typisch ist für mehr oder weniger große Teile der westlichen Gesellschaften. Bis jetzt haben sie sich geweigert, der Realität ins Auge zu sehen: Das kommunistische System hat, wenn auch in unterschiedlicher Stärke, eine grundsätzlich verbrecherische Dimension. Aufgrund dieser Weigerung beteiligten sie sich, im Sinne von Nietzsche, an der Lüge: "Sich weigern, etwas zu sehen, das man sieht, sich weigern, etwas zu sehen, wie man es sieht."

Trotz all dieser Schwierigkeiten, die Frage zu behandeln, haben sich zahlreiche Beobachter daran versucht. Von den zwanziger bis zu den fünfziger Jahren stützten sich die Recherchen — mangels verläßlicherer Daten, die von der Sowjetregierung sorgfältig verheimlicht wurden — auf die Aussagen von Überläufern.


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Da nicht auszuschließen war, daß diese Aussagen (die für Historiker so zweifelhaft sind wie jede Zeugenaussage) dem Wunsch nach Rache entsprangen, systematische Verleumdungen enthielten oder von einer antikommunistischen Macht manipuliert waren, wurden sie von den Beweihräucherern des Kommunismus grundsätzlich diskreditiert. Was war 1959 von der Beschreibung des Gulag durch einen hochrangigen KGB-Überläufer zu halten, so wie sie in einem Buch von Paul Barton32 wiedergegeben wurde? Und was war von Paul Barton selbst zu halten, einem tschechoslowakischen Exilanten, der eigentlich Jiri Veltrusky hieß, 1945 in Prag den Aufstand gegen die Nazis mitorganisierte und sich 1948 gezwungen sah, aus seinem Land zu fliehen? Doch der Vergleich mit den inzwischen zugänglichen Archiven zeigt, daß die Information von 1959 absolut zuverlässig war.

In den siebziger und achtziger Jahren erschütterten die Bücher Solschenizyns — "Der Archipel Gulag", später der Zyklus "Das rote Rad" über die russische Revolution — die öffentliche Meinung. Wahrscheinlich war der durch das Werk des genialen Chronisten verursachte Schock größer als die allgemeine Kenntnis­nahme des schrecklichen Systems, das er beschrieb. Es war für Solschenizyn nicht leicht, durch die Kruste von Lügen zu dringen.

1975 verglich ihn ein Journalist einer großen französischen Tageszeitung mit Pierre Laval, Doriot und Deat, "die die Nazis als Befreier begrüßten"33. Dennoch gab Solschenizyns Zeugnis den Anstoß dazu, daß das Problem der Öffentlichkeit bewußt zu werden begann, wie auch das Zeugnis Schalamows über Kolyma, oder das Pin Yathays über Kambodscha. 

In jüngster Zeit hat Wladimir Bukowski, eine der wichtigsten Persönlichkeiten unter den sowjetischen Dissidenten der Ära Breschnew, unter dem Titel "Abrechnung mit Moskau"34 erneut Protest erhoben. In diesem Buch fordert er ein den Nürnberger Prozessen vergleichbares Verfahren, in dem die verbrecherischen Aktivitäten des Sowjetregimes verurteilt werden sollen. Das Werk verzeichnete im Westen einen Achtungserfolg. Gleichzeitig sprießen die Veröffentlichungen zur Rehabilitation Stalins wie Pilze aus dem Boden35.

 

Auf welche Motivation kann sich am Ende des 20. Jahrhunderts 
die Erforschung eines so tragischen, finsteren und umstrittenen Themas stützen? 

 

Heute bestätigen die Archive nicht nur die vorliegenden Zeugenaussagen, sie erlauben es auch, noch viel weiter zu gehen. Die internen Archive des Unterdrückungs­apparats der Sowjetunion, der ehemaligen Volksdemokratien und Kambodschas bringen eine erschreckende Realität ans Licht — die Massivität und den systematischen Charakter des Terrors, der in vielen Fällen bis zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit ging.

Die Zeit ist gekommen, die sich allen Beobachtern immer wieder stellende Frage wissenschaftlich, belegt mit unbestreitbaren Fakten und frei von politisch-ideologischem Ballast zu bearbeiten: 


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   Welchen Platz nimmt das Verbrechen im kommunistischen System ein?  

 

Was kann unter diesem Blickwinkel unser besonderer Beitrag sein? Unser Ansatz entspricht zunächst einmal einer historiographischen Pflicht. Kein Thema ist für den Historiker tabu. Gefahren oder Druck jeglicher Art — politisch, ideologisch, persönlich — dürfen ihn nicht davon abhalten, den Weg der Kenntnisnahme, Ausgrabung und Auswertung von Fakten zu verfolgen, insbesondere wenn diese lange Zeit absichtlich in den Archiven und Gewissen verborgen waren. Die Geschichte des kommunistischen Terrors stellt eines der Hauptstücke einer europäischen Geschichte dar, die beide Enden des großen historiographischen Themas Totalitarismus zusammenhält.

Der Totalitarismus hat eine nationalsozialistische, aber auch eine leninistisch/stalinistische Version. Es ist nicht länger akzeptabel, eine halbseitig gelähmte Geschichte zu schreiben, ohne Berücksichtigung der kommunistischen Variante. Auch kann man sich nicht länger auf eine Position zurückziehen, die die Geschichte des Kommunismus auf seine nationalen, sozialen und kulturellen Aspekte reduziert, zumal die Verwicklung in den Totalitarismus sich nicht auf Europa und die sowjetische Episode beschränkt. Sie betrifft ebenso das maoistische China, Nordkorea, das Kambodscha Pol Pots. Jede nationale Ausprägung des Kommunismus war wie über eine Nabelschnur mit der sowjetrussischen Matrix verbunden und trug gleichzeitig zur Entwicklung dieser weltweiten Bewegung bei. Die Geschichte, mit der wir hier zu tun haben, ist die eines Phänomens, das sich überall auf der Welt entfaltet hat und die ganze Menschheit betrifft.

 

Die zweite Aufgabe, die dieses Buch übernimmt, ist die Pflicht zur Erinnerung. Es ist eine moralische Verpflichtung, das Gedächtnis der Toten zu ehren, vor allem wenn es sich um unschuldige, anonyme Opfer eines Molochs handelt, der in seiner absoluten Macht selbst die Erinnerung an sie auslöschen wollte. Nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des kommunistischen Machtzentrums in Moskau ist Europa — der Kontinent, von dem die tragischen Erfahrungen des 20. Jahr­hunderts ausgingen — dabei, wieder ein gemeinsames Gedächtnis aufzubauen. Wir können unseren Beitrag dazu leisten. Auch die Autoren des vorliegenden Buches sind Träger dieser Erinnerung, wobei der eine durch seinen Lebenslauf stärker mit Mitteleuropa, der andere durch sein Engagement 1968 oder später eher mit der revolutionären Idee und Praxis verbunden sein mag.

Diese doppelte Aufgabe des Erinnerns und der Geschichtsschreibung besteht in ganz verschiedenen Kontexten. Hier betrifft sie Länder, in denen der Kommunismus praktisch nie zum Tragen kam, weder in der Gesellschaft noch in der Regierung — Großbritannien, Australien, Belgien usw. Dort stellt sie sich in Ländern, in denen der Kommunismus — wie in den Vereinigten Staaten nach 1946 — ein gefürchtetes oder — wie in Frankreich, Italien, Spanien, Griechenland, Portugal — ein gefährliches Phänomen war, auch wenn er dort nie an die Macht kam. In wieder anderen Regionen drängt sich die Aufgabe unabweisbar auf: in Osteuropa und Rußland, wo der Kommunismus die Macht verlor, die er mehrere Jahrzehnte lang innegehabt hatte. Schließlich flackert die Aufgabe wie ein Flämmchen im Wind dort, wo der Kommunismus noch an der Macht ist, in China, Nordkorea, Kuba, Laos, Vietnam.


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Die Einstellung der Zeitgenossen zur Geschichte und zur Erinnerung ist je nach Situation unterschiedlich. In den ersten beiden Fällen handelt es sich um das vergleichsweise einfache Bemühen, zur Kenntnis zu nehmen und zu reflektieren. Im dritten Fall stehen die Menschen vor der Notwendigkeit der nationalen Versöhnung, mit oder ohne Bestrafung der Henker. In dieser Hinsicht bietet das vereinte Deutschland zweifellos das überraschendste und "wundervollste" Beispiel, zumindest wenn man an das jugoslawische Desaster denkt. Aber auch die ehemalige Tschechoslowakei, aus der die Tschechische und die Slowakische Republik entstanden sind, Polen und Kambodscha leiden an der Erinnerung und an der Geschichte des Kommunismus.

Ein Quantum spontaner oder offizieller Amnesie mag unerläßlich scheinen, um die moralischen, psychischen, emotionalen, persönlichen und kollektiven Wunden zu verbinden, die ein halbes Jahrhundert oder mehr Kommunismus geschlagen hat. Dort, wo der Kommunismus noch an der Macht ist, organisieren die Henker oder ihre Erben entweder eine systematische Leugnung, wie auf Kuba oder in China, oder sie praktizieren nach wie vor den Terror als Regierungsform: in Nordkorea.

Diese Aufgabe der Geschichtsschreibung und Erinnerung hat einen moralischen Aspekt, das ist unbestreitbar. Und man könnte uns fragen: "Wer gibt euch das Recht, Gutes und Böses zu unterscheiden?"

Um diesen Aspekt ging es der katholischen Kirche — wenn auch nach den ihr eigenen Kriterien —, als Papst Pius XI. mit zwei Enzykliken im Abstand von nur wenigen Tagen den Nationalsozialismus ("Mit brennender Sorge" vom 14.3.1937) und den Kommunismus ("Divini redemptoris" vom 19.3.1937) verurteilte. Letztere betonte, daß Gott den Menschen mit Vorrechten ausgestattet habe: "dem Recht auf das Leben, auf die Unverletzlichkeit des .Körpers, auf die zum Leben notwendigen Mittel; dem Recht, dem letzten Ziele auf dem von Gott vorgezeichneten Wege zuzustreben; dem Recht auf Zusammenschluß, Eigentum und Gebrauch des Eigentums". Selbst wenn man der Kirche eine gewisse Heuchelei vorwerfen kann, weil sie die exzessive Bereicherung der einen dank der Enteignung der anderen guthieß, mindert das die Bedeutung ihres Appells hinsichtlich der Würde des Menschen nicht.

Schon 1931 hatte Pius XI. in seiner Enzyklika "Quadragesimo Anno" geschrieben, der Kommunismus.... 

".... verfolgt in Theorie und Praxis seine beiden Hauptziele: schärfster Klassenkampf und äußerste Eigentumsfeindlichkeit. Nicht auf Schleich- und Umwegen, sondern mit offener und rücksichtsloser Gewalt geht er aufs Ziel. Vor nichts schreckt er zurück; nichts ist ihm heilig. Zur Macht gelangt, erweist er sich von unglaublicher und unbeschreiblicher Härte und Unmensch­lich­keit. Die unseligen Trümmer und Verwüstungen, die er in dem ungeheueren Ländergebiet von Osteuropa und Asien angerichtet hat, sprechen eine beredte Sprache." 


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Diese Warnung ist erst richtig zu würdigen, wenn man bedenkt, daß sie von einer Institution kommt, die jahr­hundertelang im Namen des Glaubens Massaker an Ungläubigen rechtfertigte, die Inquisition aufbaute, der Gedankenfreiheit Maulkörbe verpaßte und später Diktaturen wie die Francos oder Salazars unterstützte.

Doch wenn die Kirche hier ihre Rolle als moralischer Richter wahrnimmt, wie soll, wie kann der Historiker schreiben angesichts der "heroischen" Darstellung der Parteigänger des Kommunismus oder der leidvollen Erzählung der Opfer?

In seinen Memoiren schreibt Francois-Rene de Chateaubriand: 

"Wenn man im Schweigen der Erniedrigung nur mehr die Kette der Sklaven und die Stimme des Herrn vernimmt, wenn alles vor dem Tyrannen zittert und wenn es ebenso gefährlich ist, seine Gunst zu erlangen wie seine Ungnade herauf­zubeschwören, tritt der Historiker hervor, beauftragt, die Völker zu rächen. Vergebens freut sich Nero seines Lebens, schon ist Tacitus im Imperium geboren."36)  

Wir sind weit davon entfernt, als Anhänger der rätselhaften "Rache der Völker" aufzutreten, an die Chateaubriand am Ende seines Lebens nicht mehr glaubte. 

Aber der Historiker wird in aller Bescheidenheit und fast gegen seinen Willen zum Sprecher derer, denen es wegen des Terrors verwehrt war, die Wahrheit über ihre Verhältnisse kundzutun. Seine Aufgabe ist das Bekanntmachen. Seine erste Pflicht ist die Feststellung von Fakten und Elementen der Wahrheit, die zum Wissen werden.

Darüber hinaus ist die Beziehung des Historikers zur Geschichte des Kommunismus eine besondere: Er ist gezwungen, sich zum Geschichtsschreiber der Lüge zu machen. Selbst wenn ihm durch die Öffnung der Archive die für die Arbeit unverzichtbaren Dokumente zur Verfügung stehen, muß er sich vor Leichtgläubigkeit hüten. Viele komplexe Fragen dürften Gegenstand von Kontroversen sein, bei denen es nicht immer ohne Hintergedanken zugehen mag. Trotzdem kann sich diese Kenntnisnahme historischer Fakten nicht eines Urteils enthalten, das auf Grundwerte Bezug nimmt: auf die Einhaltung der Regeln der repräsentativen Demokratie und vor allem auf die Achtung vor dem Leben und der Würde des Menschen. An diesem Maßstab mißt der Historiker die Handelnden in der Geschichte.

Zu diesen allgemeinen Gründen, die Aufgabe der Erinnerung und der Geschichtsschreibung zu übernehmen, kommt bei einigen Autoren eine persönliche Motivation hinzu. Manchen war die Faszination des Kommunismus nicht immer fremd. Gelegentlich haben sie sich sogar im Rahmen ihrer Möglichkeiten im kommunistischen System engagiert, sei es in der orthodoxen marxistisch-leninistischen Strömung, sei es in den Neben- und abweichenden Strömungen (trotzkistisch, maoistisch). Wenn — und weil — diese Autoren in der Linken beheimatet bleiben, müssen sie über die Gründe für ihre Verblendung nachdenken. Dieses Nachdenken hat auch die Wege der Erkenntnis geprägt, die von der Wahl der Arbeitsgebiete, den wissenschaftlichen Veröffentlichungen und der Mitarbeit an Zeitschriften ("La Nouvelle Alternative", "Communisme") gekennzeichnet sind. 

Das vorliegende Buch gibt lediglich einen Moment der Reflexion wieder. Die Autoren führen sie fort, denn sie sind sich bewußt, daß man das Vorrecht, die Wahrheit zu sagen, nicht einer sich immer stärker bemerk­bar machenden extremen Rechten überlassen darf. Die Verbrechen des Kommunismus sind im Namen demokratischer Werte, nicht im Namen nationalfaschistischer Ideale zu analysieren und zu verurteilen.

Zu diesem Ansatz gehört das Vergleichen: von China über die Sowjetunion bis zu Kuba und Vietnam. Doch zur Zeit ist die Qualität der Dokumentation noch nicht einheitlich. In einigen Fällen stehen die Archive offen (oder halboffen), in anderen nicht. Das schien uns kein ausreichender Grund zu sein, die Arbeit aufzuschieben. Wir wissen aus sicherer Quelle genug über dieses Thema, um uns an ein Werk zu machen, das keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern als Vorarbeit zu verstehen ist. Zu wünschen wäre, daß dies der Anfang eines breiten Stroms von Untersuchungen und Reflexionen wird. In einer ersten Erhebung haben wir möglichst viele Fakten zusammengestellt — ein erster Anlauf, der es wert ist, daß ihm zu gegebener Zeit viele andere Arbeiten folgen. Aber ein Anfang muß gemacht werden, und dabei dürfen nur die eindeutigsten, unbestreitbarsten, wichtigsten Fakten berücksichtigt werden.

Dieses Buch enthält viel Text und wenig Bilder. Hier berühren wir einen kritischen Punkt in der Verschleierung der Verbrechen des Kommunismus: In einer weltweit von den Medien übersättigten Gesellschaft, in der bald allein das Bild — ob als Fotografie oder als Fernsehbild — Glaubwürdigkeit verschafft, verfügen wir lediglich über einige wenige Archivfotos aus dem Gulag oder dem chinesischen Laogai, über keine einzige Aufnahme von der Entkulakisierung oder der Hungersnot des Großen Sprungs. Die Sieger von Nürnberg konnten die Tausende von Leichen im Lager Bergen-Belsen nach Belieben fotografieren und filmen, und man hat von den Henkern selbst aufgenommene Fotos gefunden, wie das von einem Deutschen, der aus nächster Nähe eine Frau erschießt, während sie ihr Kind in den Armen hält. Nichts dergleichen für die kommunistische Welt, in der der Terror das bestgehütete Geheimnis war.

Der Leser/die Leserin möge sich nicht mit den wenigen hier zusammengestellten Bilddokumenten zufriedengeben. Nehmen Sie sich Zeit und lernen Sie Seite um Seite den Leidensweg von Millionen Menschen kennen. Es ist unerläßlich, daß Sie Ihre Phantasie bemühen, um sich die ungeheure Tragödie vorstellen zu können, die die Weltgeschichte auch in den kommenden Jahrzehnten noch prägen wird. Dann stellt sich die Hauptfrage: Warum? Warum hielten es Lenin, Trotzki, Stalin und die anderen für notwendig, all die, die sie als Feinde bezeichneten, auszulöschen? Warum glaubten sie, sie dürften das ungeschriebene Gesetz brechen, das das Leben der Menschen regiert: "Du sollst nicht töten"? Der Versuch einer Antwort auf diese Frage findet sich im Kapitel "Warum?".

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