Warum?
Nachwort 1997 von Stephane Courtois
"Die blauen Augen der Revolution leuchten vor notwendiger Grausamkeit." -Louis Aragon-
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Jenseits der Verblendung, der Leidenschaften der Parteigänger und der freiwilligen Amnesie sollte dieses Buch die Gesamtheit der in der kommunistischen Welt begangenen Verbrechen in groben Zügen darstellen, vom Mord an Einzelpersonen bis zum Massenmord.
Bei dem Versuch, das Phänomen des Kommunismus im 20. Jahrhundert als Ganzes zu erfassen, ist das Buch lediglich ein Schritt in einem entscheidenden Moment: als nämlich 1991 das Herz des Systems in Moskau zerfiel und reichhaltige Dokumentationen zugänglich wurden, die bis dahin streng unter Verschluß gestanden hatten.
Doch selbst eine - gleichwohl unerläßliche - Zusammenstellung der genauestens belegten, bestfundierten Kenntnisse kann weder die intellektuelle Neugier noch das Gewissen befriedigen. Die grundlegende Frage nach dem Warum bleibt bestehen. Warum etablierte sich der 1917 erstmals auftretende moderne Kommunismus beinahe sofort als blutige Diktatur und dann als verbrecherisches Regime? Konnten seine Ziele nur mittels extremer Gewaltanwendung erreicht werden? Wie ist es zu erklären, daß die kommunistischen Machthaber das Verbrechen jahrzehntelang als eine banale, normale, ordnungsgemäße Maßnahme aufgefaßt und praktiziert haben?
Sowjetrußland war das erste kommunistisch regierte Land. Es war das Zentrum, der Motor eines weltweiten kommunistischen Systems, das sich allmählich aufbaute und sich nach 1945 enorm ausweitete. Die Sowjetunion Lenins und Stalins war die Matrix des modernen Kommunismus. Daß diese Matrix von vornherein eine verbrecherische Dimension annahm, ist um so erstaunlicher, als diese Tatsache der Entwicklung der sozialistischen Bewegung zuwiderlief.
Während des ganzen 19. Jahrhunderts wurde das Nachdenken über die revolutionäre Gewalt von der grundlegenden Erfahrung der Französischen Revolution bestimmt. In dieser gab es 1793/94 eine Episode extremer Gewaltanwendung, die drei Hauptformen aufwies. Die zügelloseste manifestierte sich in den Septembermorden, bei denen die Aufständischen in Paris etwa 1000 Personen ermordeten, ohne daß irgendeine Regierungsanordnung oder die Anweisung irgendeiner Partei vorgelegen hätte. Die bekannteste bestand in der Einrichtung des Revolutionstribunals, des Sicherheitsausschusses und der Guillotine. Auf diese Weise wurden 2625 Menschen in Paris und 16.600 in ganz Frankreich umgebracht.
Lange Zeit verschleiert wurde der Terror der republikanischen Truppen, die die Vendée auslöschen sollten und in der unbewaffneten Bevölkerung Zehntausende töteten. Und doch bilden diese Monate der Schreckensherrschaft nur eine blutige Episode, einen Moment in einem längeren Zeitraum, der durch die Schaffung einer demokratischen Republik mit Verfassung, Versammlung gewählter Vertreter und politischen Debatten charakterisiert wird. Sobald der Konvent wieder mutiger wurde, wurde Robespierre gestürzt, und die Schreckensherrschaft war beendet.
Francois Furet zeigt gleichwohl, wie damals eine bestimmte Idee der Revolution entsteht, die nicht von extremen Maßnahmen zu trennen ist:
"Der Terror... ist nur noch die Herrschaft der Furcht, die Robespierre in seiner Theorie zu einer Herrschaft der Tugend verwandelt. Der Terror, der die Aristokratie beseitigen sollte, endet als ein Mittel, um die Böswilligen zu reduzieren und das Verbrechen zu bekämpfen. Zukünftig besteht er gleichzeitig mit der Revolution, untrennbar von ihr, da er allein es eines Tages erlaubt, eine Republik von Bürgern hervorzubringen. [...] Wenn die Republik freier Bürger noch nicht möglich ist, dann liegt dies daran, daß die Menschen durch die vergangene Geschichte pervertiert, böse sind; die Revolution, dieses unerhörte Ereignis, diese totale Innovation schafft durch den Terror einen neuen Menschen." 1)
In gewisser Hinsicht nimmt die Schreckensherrschaft das Vorgehen der Bolschewiken vorweg — das Manipulieren sozialer Spannungen durch die Jakobiner, das Anheizen des ideologischen und politischen Fanatismus, das Ingangsetzen eines Vernichtungskriegs gegen revoltierende Bauern. Zweifellos hat Robespierre mit einem ersten Stein den Weg gepflastert, der Lenin später zum Terror führte. Hatte er nicht bei der Abstimmung über die Prairial-Gesetze vor dem Konvent erklärt: "Um die Feinde des Vaterlands zu bestrafen, genügt es, ihre Persönlichkeit festzustellen. Es geht nicht darum, sie zu bestrafen, sondern darum, sie zu vernichten!"? 2)
Diese Urerfahrung des Terrors scheint die wichtigsten revolutionären Denker des 19. Jahrhunderts kaum inspiriert zu haben. Marx hat ihr wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Gewiß betonte und forderte er die "Rolle der Gewalt in der Geschichte". Aber er sah darin eine sehr allgemeine These, die nicht auf eine systematische, absichtliche Gewaltanwendung gegen Personen zielte. Andererseits haftete ihr eine gewisse Ambiguität an, die sich die Verfechter des Terrors als Verfahren zur Lösung sozialer Konflikte zunutze machten. Unter Hinweis auf die für die Arbeiterbewegung katastrophale Erfahrung der Pariser Kommune und deren außerordentlich harte Unterdrückung (mindestens 20.000 Tote) kritisierte Marx nachdrücklich diese Art von Aktionen.
In der in der Ersten Internationalen begonnenen Auseinandersetzung zwischen Marx und dem russischen Anarchisten Michail Bakunin schien sich ersterer eindeutig durchgesetzt zu haben. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg konnte man die interne Debatte der sozialistischen Arbeiterbewegung über terroristische Gewalt als nahezu abgeschlossen betrachten.
wikipedia Aufstand_der_Vendée 1793-1796
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Parallel dazu wurde die rasche Entwicklung der parlamentarischen Demokratie in Europa und den Vereinigten Staaten zu einem neuen und entscheidenden Faktum. Die parlamentarische Praxis erwies, daß die Sozialisten auf dem Gebiet der Politik von Gewicht waren. Bei den Wahlen zur französischen Nationalversammlung von 1910 erhielt die französische Sektion der Internationale (SFIO) 74 Sitze, wozu noch 30 für die unabhängigen Sozialisten unter Alexandre Millerand kamen. Dieser war 1899 als Handelsminister in ein bürgerliches Kabinett eingetreten. Jean Jaures stand für die Synthese der alten revolutionären Wortklauberei mit einem reformistisch-demokratischen Vorgehen in der Tagespolitik.
Die deutschen Sozialisten waren in Europa am stärksten und am besten organisiert. Vor dem Ersten Weltkrieg zählte die SPD eine Million Mitglieder, 110 Reichstagsabgeordnete, 220 Vertreter in den Landtagen und 12.000 in Städten und Gemeinden, 89 Tageszeitungen. Auch die englische Arbeiterbewegung war zahlreich und gut organisiert, unterstützt von mächtigen Gewerkschaften. Was die skandinavische Sozialdemokratie betrifft, so war sie sehr aktiv, im wesentlichen reformistisch und ausschließlich parlamentarisch ausgerichtet. Die Sozialisten hatten Grund zu der Hoffnung, eines nicht allzu fernen Tages eine absolute Mehrheit im Parlament zu erringen, die es ihnen ermöglichen würde, auf friedlichem Weg grundlegende soziale Reformen in Angriff zu nehmen.
Diese Entwicklung wurde theoretisch untermauert von Eduard Bernstein, einem der wichtigsten marxistischen Denker des ausgehenden 19. Jahrhunderts und (mit Karl Kautsky) Verwalter des Marxschen Nachlasses. Nach Bernsteins Ansicht zeigte der Kapitalismus nicht die von Marx angekündigten Zerfallserscheinungen, und er propagierte deshalb einen allmählichen friedlichen Übergang zum Sozialismus, gestützt auf das Vertrautwerden der Arbeiterklasse mit Demokratie und Freiheit.
Schon 1872 hatte Marx die Hoffnung geäußert, die Revolution könne in den Vereinigten Staaten, in England und Holland friedliche Formen annehmen. Diese Einstellung wurde von seinem Freund und Schüler Friedrich Engels im Vorwort zur 1895 veröffentlichten zweiten Ausgabe des Marxschen Textes "Die Klassenkämpfe in Frankreich" vertieft.
Dennoch war die Haltung der Sozialisten zur Demokratie zwiespältig. In der Dreyfus-Affäre, die Frankreich um die Jahrhundertwende erschütterte, hatten sie gegensätzliche Positionen vertreten: Während sich Jaures für Dreyfus einsetzte, erklärte der führende französische Marxist Jules Guesde herablassend, das Proletariat habe sich nicht in eine interne Querele der Bourgeoisie einzumischen.
Die europäische Linke war nicht einheitlich, und einige ihrer Strömungen — Anarchisten, Syndikalisten, Blanquisten — tendierten noch zu einer radikalen Ablehnung des Parlamentarismus, auch unter Anwendung von Gewalt. Gleichwohl orientierte sich die Zweite Internationale, die sich offiziell zum Marxismus bekannte, am Vorabend des Ersten Weltkriegs an friedlichen Lösungen, die sich auf die Mobilisierung der Massen und allgemeine Wahlen stützten.
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Innerhalb der Internationale bildete sich seit dem Anfang des Jahrhunderts ein extremistischer Flügel aus, zu dem die radikalste Gruppierung der russischen Sozialisten gehörte, die von Lenin geführten Bolschewiken. Sie fühlten sich zwar mit der europäischen Tradition des Marxismus verbunden, waren aber ebenso in der russischen revolutionären Bewegung verwurzelt. Während des ganzen 19. Jahrhunderts hatte diese einen engen Bezug zur Gewaltausübung durch eine Minderheit, die ihren ersten radikalen Ausdruck in Sergej Netschajew fand. Er inspirierte Dostojewski zur Gestalt des Revolutionärs Pjotr Werkowjenski in dem berühmten Roman "Die Dämonen". 1869 schrieb Netschajew einen "Katechismus des Revolutionärs", in dem er sich definierte:
"Der Revolutionär ist ein Geweihter. Es gibt für ihn weder persönliche Interessen, noch Geschäfte, Gefühle, Bindungen, er besitzt nichts, nicht einmal einen Namen. Sein Geist wird völlig in Anspruch genommen von einem einzigen, ausschließlichen Interesse, einem einzigen Gedanken, einer einzigen Leidenschaft: der Revolution.
Tief in seinem Innern, nicht nur mit Worten, sondern auch tatsächlich, hat er alle Bande gelöst zwischen sich und der bürgerlichen Ordnung und der ganzen zivilisierten Welt mit den Gesetzen, Konvenienzen, der Moral und den Konventionen, die allgemein in dieser Welt Gültigkeit haben. Er ist ihr unversöhnlicher Feind, und wenn er weiterhin in dieser Welt lebt, dann nur, um sie desto sicherer zu zerstören." 3)Dann präzisierte Netschajew seine Ziele: "Ein Revolutionär nimmt am Leben des Staates teil, an der Welt der Klassen, der sogenannten zivilisierten Welt und lebt in dieser Umgebung nur, weil er an ihre nahe und vollständige Zerstörung glaubt. Er ist kein Revolutionär, wenn er an irgendetwas, was es auch sein mag, in dieser Welt hängt." 4)
Netschajew faßte die Aktion unmittelbar ins Auge: "Diese ganze unsaubere Gesellschaft soll in mehrere Kategorien eingeteilt werden, die erste besteht aus denjenigen, welche ohne Verzug zum Tode verurteilt werden. [...] Die zweite umfaßt die, die man einstweilen am Leben läßt, damit sie mit ihren monströsen Handlungen das Volk zur unausweichlichen Erhebung treiben."
Netschajew hatte Nacheiferer. Am 1. März 1887 wurde ein Anschlag auf Zar Alexander III. verübt. Er mißglückte, die Täter wurden verhaftet. Unter ihnen war Alexander Iljitsch Uljanow,* Lenins ältester Bruder, der mit vier seiner Komplizen gehenkt wurde. Lenins Haß auf das Zarenregime war tief verwurzelt. Er persönlich beschloß und organisierte ohne Wissen des Politbüros 1918 die Ermordung der kaiserlichen Familie.
Martin Malia beurteilt die Gewalttat einer Gruppe der Intelligentsia so:
"Diese phantastische Neuinszenierung der Französischen Revolution setzte das Signal für den Beginn des politischen Terrorismus, wie ihn die moderne Welt kennt — Terror als zielgerichtete, fortgesetzte Taktik im Unterschied zum isolierten Gewaltakt. So verband sich in Rußland die von den Narodniki verfolgte Strategie der Massenerhebung von unten mit dem Terror revolutionärer Eliten von oben, und damit erhielt die politische Gewalt in Rußland eine Legitimation, die breiter und zugleich authentischer begründet war als die anfängliche Legitimierung politischer Gewalt durch die revolutionären Traditionen des Westens von 1789 bis 1871."5
* (d-2012:) wikipedia Alexander_Iljitsch_Uljanow
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Die politischen Gewaltakte von Minderheiten nährten sich allerdings von einer Gewalttätigkeit, die das russische Leben seit Jahrhunderten durchzieht. Helene Carrere d'Encausse hebt hervor:
"Dieses Land erscheint denen, die sein Schicksal erforschen, in seinem namenlosen Unglück wie ein Enigma. Beim Versuch, die tieferen Ursachen für diese jahrhundertealte Tragik zu erhellen, stößt man auf eine besondere Verbindung, die offenbar — und immer mit dem schlimmsten Ergebnis — die Eroberung oder den Erhalt der Macht mit dem politischen Mord verknüpft, ob er nun an Einzelnen oder Massen, tatsächlich oder symbolisch verübt wird. [...] Diese lange Tradition des Mordens hat zweifellos ein kollektives Bewußtsein geschaffen, in dem die Hoffnung auf ein befriedetes politisches Universum kaum Platz hat."6)
Zar Iwan IV, genannt "der Schreckliche", war noch nicht 13 Jahre alt, als er 1543 seinen wichtigsten Minister, Fürst Schujskij, von Hunden zerreißen ließ. 1560 stürzt ihn der Tod seiner Frau in einen Rachewahn. Er vermutet in jedem einen möglichen Verräter, löscht in konzentrischen Kreisen sämtliche Angehörigen seiner tatsächlichen oder eingebildeten Feinde aus. Er schafft sich eine Leibgarde, die Opritschnina, die alle Vollmachten hat und individuellen und kollektiven Terror ausübt. 1572 liquidiert er die Opritschniki, bevor er seinen eigenen Sohn und Thronerben ermordet. Unter seiner Herrschaft wird die Einschränkung der bäuerlichen Freizügigkeit eingeführt.
Peter der Große ist kaum zurückhaltender, weder was die erklärten Feinde Rußlands, noch den Adel, noch das Volk betrifft. Und auch er brachte seinen Sohn und Thronfolger eigenhändig um.
Von Iwan dem Schrecklichen bis zu Peter dem Großen gab es in Rußland einen besonderen Mechanismus, der den Willen zum Fortschritt, der von einem absolutistischen Machthaber ausging, an eine immer stärkere Unterjochung des Volkes und der Eliten durch den diktatorischen und terroristischen Staat band. So schreibt Wassilij Grossman über die Bauernbefreiung von 1861:
"Dieses Ereignis war, wie das folgende Jahrhundert gezeigt hat, revolutionärer als das Ereignis der Großen Oktoberrevolution. Dieses Ereignis hat die tausendjährige Geschichte Rußlands in Frage gestellt, die Grundlage, die weder Peter noch Lenin angerührt hatten: Die Abhängigkeit russischer Entwicklung vom russischen Sklaventum." 7)
Und wie immer konnte dieses Sklaventum nicht jahrhundertelang erhalten werden ohne ein hohes Maß ständiger Gewaltausübung.
Der hochgebildete tschechische Staatsmann Thomas Masaryk, der 1918 die tschechoslowakische Republik gründete und aufgrund längerer Aufenthalte zwischen 1917 und 1919 das revolutionäre Rußland gut kannte, stellte von vornherein den Bezug zwischen zaristischer und bolschewistischer Gewalt fest. 1924 schrieb er:
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"Die Russen, und auch die Bolschewiken, sind Kinder ihres Zarismus; er hat sie jahrhundertelang erzogen und geformt. Sie verstanden, den Zaren zu beseitigen, beseitigten aber nicht den Zarismus. Sie tragen die zarische Uniform, wenn auch gewendet; [...] Die Bolschewiken ... waren auf eine positive administrative Revolution nicht vorbereitet, sondern waren nur einer negativen Revolution gewachsen. Negativ in dem Sinne, daß sie in ihrer Einseitigkeit, Engbrüstigkeit und Kulturlosigkeit vieles ganz überflüssigerweise zerstörten. Insbesondere werfe ich ihnen vor, auf völlig zarische Weise in der Vernichtung von Menschenleben zu schwelgen." 8)
Diese Kultur der Gewalt war keine Eigentümlichkeit der Machthaber. Wenn die Bauern revoltierten, waren Massaker an Adligen und zügelloser Terror an der Tagesordnung. An zwei dieser Aufstände erinnert man sich in Rußland besonders, an den unter Stenka Rasin von 1667 bis 1670 und vor allem an den Pugatschows, der sich zwischen 1773 und 1775 an die Spitze einer großen Bauernrevolte stellte, den Thron Katharinas der Großen erzittern ließ und das ganze Wolgatal entlang eine Blutspur hinter sich her zog, bis er gefangengenommen und grausam hingerichtet wurde — gevierteilt, in Stücke geschnitten und den Hunden vorgeworfen.
Dem Schriftsteller Maxim Gorki zufolge, einem Zeugen und Interpreten des russischen Elends vor 1917, geht diese Gewalttätigkeit von der Gesellschaft selbst aus. 1922, als er die bolschewistischen Methoden bereits kritisiert, schreibt er einen langen warnenden Text:
"Die Grausamkeit ist etwas, das mich mein ganzes Leben lang erstaunt und nicht in Ruhe gelassen hat. Worin bestehen, wo sind die Wurzeln der menschlichen Grausamkeit? Darüber habe ich viel nachgedacht. Nichts habe ich verstanden und verstehe immer noch nichts. [...] Jetzt, nach dem entsetzlichen Wahnsinn des Weltkriegs und der blutigen Ereignisse der Revolution, [...] muß ich sagen, daß die russische Grausamkeit sich nicht entwickelt zu haben scheint. Ihre Formen wandeln sich offenbar nicht. Ein Chronist vom Anfang des 17. Jahrhunderts erzählt, daß zu seiner Zeit folgende Foltern üblich waren: ›Man schüttete Pulver in den Mund und zündete es an. Anderen führte man Pulver von hinten ein. Man durchlöcherte die Brüste der Frauen, zog Schnüre durch die Wunden und hing die Frauen daran auf.‹
1918 und 1919 machte man im Gebiet von Don und Ural dasselbe: Einem Mann führte man von hinten eine Dynamitpatrone ein und ließ sie explodieren. Ich glaube, ausschließlich das russische Volk hat — so wie ausschließlich den Engländern der Sinn für Humor eigen ist — den Sinn für eine besondere Grausamkeit, eine kaltblütige Grausamkeit, die anscheinend die Grenzen des menschlichen Widerstands gegenüber dem Leid erproben, die Hartnäckigkeit, die Standfestigkeit des Lebens studieren will. In der russischen Grausamkeit ist ein teuflisches Raffinement zu spüren, es steckt darin etwas Subtiles, Ausgeklügeltes.
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Diese Besonderheit wäre nicht mit Worten wie Psychose oder Sadismus zu erklären, die im Grunde nichts besagen. [...] Wären diese Grausamkeiten nichts als der Ausdruck der Perversionen Einzelner, brauchte man darüber nicht zu reden: Es wären Fälle für den Psychiater, nicht für den Moralisten. Aber ich spreche hier nur über das kollektive Vergnügen am Leiden. [...] Wer ist grausamer, die Weißen oder die Roten? Wahrscheinlich sind beide gleich grausam, denn die einen wie die anderen sind Russen. Im übrigen wird die Geschichte die Frage nach der größeren Grausamkeit ganz klar beantworten: Der Aktivere ist der Grausamere."9
Doch seit Mitte des 19. Jahrhunderts schien Rußland einen gemäßigteren, westlicheren, demokratischeren Kurs eingeschlagen zu haben. 1861 schaffte Zar Alexander II. die Leibeigenschaft ab und befreite die Bauern. Er schuf die Semstwo genannten Organe der lokalen Selbstverwaltung. Mit dem Ziel, einen Rechtsstaat aufzubauen, führte er 1864 eine unabhängige Justiz ein. Die Universitäten, die Künste, die Zeitschriften blühten. 1914 war der Analphabetismus unter der Landbevölkerung, die 85 % der Gesamtbevölkerung ausmachte, zu einem großen Teil beseitigt. Die Gesellschaft schien von einer zivilisatorischen Strömung getragen, die die Gewaltausübung auf allen Ebenen verringerte. Selbst die gescheiterte Revolution von 1905 verstärkte noch einmal die demokratische Bewegung in der Gesellschaft als Ganzem. Es ist paradox, daß genau zu dem Zeitpunkt, an dem ein Sieg der Reform über Gewalt, Obskurantismus und Rückständigkeit möglich schien, der Krieg alles zunichte machte und am 1. August 1914 in Europa Massengewaltausübung in heftigster Form losbrach.
Martin Malia schreibt:
"In Aeschylos' ›Orestie‹ zeugt ein Verbrechen das andere, bringt Gewalt neue Gewalt hervor, bis das erste Verbrechen, die Erbsünde des Geschlechts, durch anhaltendes Leiden gesühnt ist. Wie der Fluch, der auf dem Geschlecht der Atriden lag, kam das Blut von 1914 über das Haus des modernen Europa und löste eine Welle der Gewalt aus, die als Krieg und Bürgerkrieg unser Zeitalter beherrschte. Die Gewalt und der Blutzoll des Krieges standen zu jedem denkbaren Gewinn, den eine der Parteien sich erhoffen mochte, in keinem Verhältnis mehr. Aus dem Kriegsgeschehen ging die russische Revolution und damit die bolschewistische Machtergreifung hervor."10
Lenin hätte dieser Analyse nicht widersprochen. Schließlich forderte er schon 1914, "den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln", und prophezeite, daß aus dem kapitalistischen Krieg die sozialistische Revolution hervorgehen werde.
Gewalttätigkeit wütete vier Jahre lang, ein ununterbrochenes, sinnloses Abschlachten, in dem 8,5 Millionen Kriegsteilnehmer den Tod fanden. Es entsprach einem Krieg neuen Typs, der von General Ludendorff als "totaler Krieg" definiert wurde und bis in den Tod Militärs und Zivilisten gleichermaßen einbezog. Dennoch blieb dieser Gewaltausbruch, der ein in der Weltgeschichte bis dahin nicht gekanntes Niveau erreichte, begrenzt durch eine ganze Reihe völkerrechtlicher Gesetze und Gebräuche.
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Andererseits hat der tägliche Umgang mit Hunderten und Tausenden Toter, oft unter fürchterlichen Umständen — das Giftgas, Menschen lebend begraben unter dem Pfeifen der Granaten, das langsame Sterben zwischen den Linien — die Gewissen erheblich beschwert und die psychologische Abwehr der Menschen gegen den Tod — den eigenen wie den des Nächsten — geschwächt. Eine Art Betäubung konnte entstehen, ja sogar eine gewisse Desensibilisierung. Karl Kautsky, der wichtigste Führer und Theoretiker der deutschen Sozialisten, kam darauf 1920 zurück:
"Die Hauptursache der Umkehrung des Ganges der bisherigen Entwicklung zur Humanität in eine Entwicklung zur Brutalität ist im Weltkrieg zu suchen. [...] Als ... der Weltkrieg ausbrach und vier Jahre lang fast die gesamte gesunde männliche Bevölkerung in seinen Bann zog, da wurden die verrohenden Tendenzen des Militarismus auf den Gipfel der Gefühllosigkeit und Bestialität gesteigert, da konnte sich auch das Proletariat ihnen nicht mehr entziehen. Es wurde in hohem Maße von ihnen angesteckt, kehrte in jeder Beziehung verwildert heim. Der Heimkehrer war durch die Kriegssitten nur zu oft in eine Stimmung gebracht worden, die ihn bereit machte, im Frieden den eigenen Landsleuten gegenüber seine Ansprüche und Interessen mit Gewalttat und Blutvergießen zu vertreten. Das wurde zu einem Element des Bürgerkriegs."11
Paradoxerweise hat kein bolschewistischer Führer am Krieg teilgenommen, sei es, weil sie im Exil waren, wie Lenin, Trotzki und Sinowjew, sei es, daß sie ins hinterste Sibirien verbannt waren, wie Stalin und Kamenew. In ihrer Mehrzahl Akademiker oder Debattenredner ohne militärische Erfahrung, hatten sie nie an einem wirklichen Kampf mit wirklichen Toten teilgenommen. Bis zu ihrer Machtergreifung waren die Kriege, die sie ausfochten, verbaler, ideologisch-politischer Natur. Ihre Vorstellungen vom Tod, vom Massaker, von der Menschheitskatastrophe waren abstrakt.
Diese persönliche Unkenntnis der Schrecken des Kriegs hat möglicherweise die Brutalität begünstigt. Die Bolschewiken entwickelten eine im wesentlichen theoretische Klassenanalyse, die den tiefverwurzelten nationalen beziehungsweise nationalistischen Aspekt des Ersten Weltkriegs übersah. Sie schrieben dem Kapitalismus die Verantwortung für das Massaker zu und rechtfertigten somit a priori die revolutionäre Gewalt: Indem die Revolution die Herrschaft des Kapitalismus beenden würde, würde sie diesen Massakern ein Ende setzen, koste es auch die Vernichtung einer "Handvoll" verantwortlicher Kapitalisten. Eine makabre Spekulation, die auf der völlig irrigen Hypothese fußte, Böses sei mit Bösem zu bekämpfen. Aber in den zwanziger Jahren trug ein bestimmter, vom Protest gegen den Krieg genährter Pazifismus dem Kommunismus häufig Anhänger zu.
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Letztlich bleibt, wie Francois Furet in "Das Ende der Illusion" hervorhebt, das Resümee:
"Der Krieg wird von Massen einberufener Zivilisten bestritten, die von der bürgerlichen Selbstbestimmung zu militärischem Gehorsam übergewechselt sind und nicht wissen, für welchen Zeitraum; man schickt sie in eine Feuerhölle, in der ›Durchhalten‹ mehr gilt als Kalkül, Wagnis oder Sieg. Nie zuvor war dem militärischen Dienst weniger Würde beschieden als in den Augen dieser Millionen an die Front verfrachteter Männer, die soeben erst die sittliche Welt bürgerlicher Rechtsordnung verlassen hatten. [...]
Der Krieg... ist der für den Bürger unfaßbarste politische Zustand. Seine Notwendigkeit gründet sich in Leidenschaften, nicht in Interessenlagen, die zum Einlenken führen könnten, und noch weniger in der Vernunft, die eine Annäherung zwischen den Menschen bewirken könnte. [...] Die kriegführende Armee bildet eine Sozialordnung, in der das Individuum nicht mehr existiert und deren Unmenschlichkeit zugleich die Ursache ihrer fast unerschütterlichen Erstarrung ist."12
Der Krieg hat von neuem die Gewalttätigkeit und die Mißachtung des einzelnen Menschen legitimiert und gleichzeitig eine noch in den Kinderschuhen steckende demokratische Kultur geschwächt und eine Kultur des Sklaventums neu belebt.
Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts befand sich die russische Wirtschaft in einer Phase dynamischen Wachstums. Die Gesellschaft baute ihre Autonomie täglich aus. Plötzlich legten die außerordentlichen Zwänge, die der Krieg sowohl auf die Menschen als auch auf die Produktion und die Strukturen ausübte, die Grenzen des politischen Systems frei. Dem Mann an der Spitze des Regimes mangelte es an Energie und Weitsicht, die die Lage vielleicht gerettet hätten. Die Revolution vom Februar 1917 war die Antwort auf eine Katastrophensituation und nahm einen klassischen Verlauf: eine bürgerlich-demokratische Revolution mit der Wahl einer konstituierenden Versammlung, die gleichzeitig eine soziale Revolution der Arbeiter und Bauern war. Der Staatsstreich der Bolschewiken vom 7. November 1917 stürzte alles um. Die Revolution trat in eine Phase der allgemeinen Gewalttätigkeiten ein. Es bleibt eine Frage: Warum kam es in Europa nur in Rußland zu einem solchen Umsturz?
Gewiß tragen der Erste Weltkrieg und die Tradition der Gewalt in der russischen Geschichte zum Verständnis des Kontexts bei, in dem die Bolschewiken an die Macht gelangten. Sie erklären aber nicht den außerordentlich brutalen Weg, den diese von vornherein einschlugen und der in scharfem Kontrast zu der im Februar 1917 begonnenen Revolution steht, die in ihren Anfängen einen im wesentlichen friedlichen und demokratischen Charakter aufwies. Der Mann, der diese Gewaltsamkeit durchsetzte, wie er auch seiner Partei die Machtergreifung aufzwang, war Lenin.
Lenin errichtete eine Diktatur, die sich sehr rasch als terroristisch und blutig herausstellte. Die revolutionäre Gewalt trat nicht länger reaktiv auf, als Abwehrreflex gegen die seit Monaten von der Bildfläche verschwundenen zaristischen Truppen, sondern als eine aktive Kraft, die die alte russische Tradition der Brutalität und Grausamkeit belebte und die latente Gewalt der sozialen Revolution schürte. Zwar begann der Terror "offiziell" erst am 2. September 1918, doch gab es einen "Terror vor dem Terror".
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Lenin organisierte ihn von November 1917 an, wohlüberlegt und ohne mit offenem Widerstand der anderen Parteien oder der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen konfrontiert zu sein. Am 4. Januar 1918 ließ er die erstmals in der Geschichte Rußlands aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene Konstituierende Versammlung auflösen und auf deren in den Straßen protestierende Anhänger schießen.
Diese erste Phase des Terrorismus wurde sofort von einem russischen Sozialisten, dem Menschewistenführer Juri Martow, scharf kritisiert. Er schrieb im August 1918:
"Von den ersten Tagen ihrer Machtergreifung an und obwohl sie die Todesstrafe für abgeschafft erklärt hatten, begannen die Bolschewiken zu töten. Sie töteten die Gefangenen des Bürgerkriegs, wie es alle Wilden tun. Sie töteten die Feinde, die sich nach der Schlacht ergeben hatten auf das Versprechen hin, daß ihr Leben verschont werde. [...] Nachdem derartige Massaker von den Bolschewiken organisiert oder auch toleriert worden waren, nahmen die Machthaber die Liquidierung ihrer Feinde selbst in die Hand. [...] Nachdem sie Zehntausende von Menschen ohne Gerichtsurteil ausgelöscht hatten, gingen die Bolschewiken dann dazu über, in aller Form hinzurichten. So bildeten sie ein neues oberstes Revolutionstribunal, um über die Feinde der Sowjetmacht zu Gericht zu sitzen."13
Martow hatte düstere Vorahnungen:
"Die Bestie hat das warme Blut des Menschen geleckt. Die Maschinerie zur Tötung des Menschen ist in Gang gesetzt. Die Herren Medwedjew, Bruno, Peterson, Karelin — die Richter des Revolutionstribunals — haben ihre Ärmel aufgekrempelt und sich zu Schlächtern gemacht. [...] Doch Blut ruft Blut herbei. Der von den Bolschewiken seit Oktober organisierte politische Terror hat seine blutigen Dämpfe über Rußland verbreitet. Der Bürgerkrieg verschärft die Grausamkeiten, erniedrigt die Menschen zur Zügellosigkeit und Wildheit. Mehr und mehr vergessen sie die großartigen Prinzipien der wahren Menschlichkeit, die der Sozialismus immer gelehrt hat."
Dann wendet sich Martow an Radek und Rakowski, zwei Sozialisten, die sich den Bolschewiken angeschlossen hatten, der eine ein polnischer Jude, der andere rumänisch-bulgarischer Herkunft:
"Sie sind zu uns gekommen, um unsere uralte, von den Zaren genährte Barbarei zu kultivieren, um auf dem alten russischen Altar des Mordens zu weihräuchern, um die Mißachtung des Lebens des anderen bis zu einem selbst in unserem wilden Land bisher nicht gekannten Grad zu treiben, um schließlich das Panrussische Werk der Henkersherrschaft zu organisieren. [...] Der Henker ist zur zentralen Figur des russischen Lebens geworden!"
Im Unterschied zur Schreckensherrschaft der Französischen Revolution, die, abgesehen von der Vendée, nur eine kleine Schicht der Bevölkerung traf, zielt der Terror unter Lenin auf alle politischen Gruppierungen und sämtliche Schichten der Bevölkerung: auf Adel, Großbürgertum, Militär, Polizei, aber auch auf konstitutionelle Demokraten, Menschewiken, Sozialrevolutionäre wie auch auf das Volk in seiner Masse, auf Bauern und Arbeiter. Die Intellektuellen wurden besonders schlecht behandelt.
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Am 6. September 1919, nach der Verhaftung mehrerer Dutzend führender Intellektueller, schrieb Gorki Lenin einen wütenden Brief:
"Für mich bemißt sich der Reichtum eines Landes, die Kraft eines Volkes nach der Quantität und Qualität seines intellektuellen Potentials. Die Revolution hat nur Sinn, wenn sie das Wachstum und die Entwicklung dieses Potentials begünstigt. Die Wissenschaftler müssen mit einem Höchstmaß an Zuvorkommenheit und Respekt behandelt werden. Doch wir, während wir unsere Haut retten, schlagen den Kopf des Volks ab, wir zerstören unser Hirn."14
Lenins Antwort war so brutal wie Gorkis Brief hellsichtig:
"Die ›intellektuellen Kräfte‹ des Volkes mit den ›Kräften‹ der bürgerlichen Intellektuellen in einen Topf zu werfen — das ist nicht richtig. [...] Die intellektuellen Kräfte der Arbeiter und Bauern wachsen und festigen sich im Kampf für den Sturz der Bourgeoisie und ihrer Helfershelfer, der Intelligenzler, der Lakaien des Kapitals, die sich einbilden, das Hirn der Nation zu sein. In Wirklichkeit ist das kein Hirn, sondern Dreck."15
Diese Anekdote über die Intellektuellen ist ein erster Hinweis auf die tiefe Verachtung, die Lenin für seine Zeitgenossen hegte, auch für die bedeutendsten Köpfe unter ihnen. Bald nach der Zeit der Verachtung kam die Zeit des Mordens.
Lenins vorrangiges Ziel war es, sich möglichst lange an der Macht zu halten. Nach zehn Wochen, als die Dauer der Pariser Kommune überschritten war, fing er an, von mehr zu träumen. Seine Entschlossenheit, an der Macht zu bleiben, wuchs ins Ungeheure. Die Geschichte war an einer Wegscheide angekommen, und die russische Revolution, nunmehr in Händen der Bolschewiken, schlug eine bis dahin unbekannte Richtung ein.
Warum war der Machterhalt so wichtig, daß er alle Mittel und die Aufgabe der elementarsten moralischen Grundsätze rechtfertigte? Weil Lenin nur so seine Ideen in die Tat umsetzen, "den Sozialismus aufbauen" konnte. Die Antwort offenbart das eigentliche Motiv des Terrors: die leninistische Ideologie und der völlig utopische Wille, eine Doktrin anzuwenden, die keinerlei Bezug zur Realität hat.
In diesem Zusammenhang ist die Frage berechtigt, was denn am Leninismus vor 1914 und vor allem nach 1917 marxistisch sei. Gewiß ging Lenin von einigen marxistischen Grundbegriffen aus: dem Klassenkampf, der Gewalt als Geburtshelfer der Geschichte, der geschichtlichen Berufung des Proletariats. Aber schon 1902 forderte er, wie in seiner berühmten Schrift "Was tun?" dargelegt, eine neue Konzeption der revolutionären Partei als Untergrundorganisation von Berufsrevolutionären mit quasi-militärischer Disziplin. Er nahm das Modell Netschajews auf, entwickelte es weiter und entfernte sich damit weit von den Auffassungen der großen sozialistischen Organisationen in Deutschland, England und selbst Frankreich.
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1914 kam es zum definitiven Bruch mit der Zweiten Internationale. Während sich die sozialistischen Parteien angesichts der Gewalt der nationalistischen Gefühlsausbrüche praktisch geschlossen hinter ihre jeweiligen Regierungen stellten, verlegte sich Lenin auf eine theoretische Flucht nach vorn: Er sagte die "Verwandlung des imperialistischen Kriegs in einen Bürgerkrieg" voraus. Während nüchterne Überlegungen zu dem Schluß führten, daß die sozialistische Bewegung noch nicht stark genug sei, um dem Nationalismus zu wehren, und daß sie nach einem unvermeidlichen Krieg — denn man hatte ihn nicht vermeiden können — ihre Kräfte neu sammeln müsse, um neuerliche kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern, siegte bei Lenin die revolutionäre Leidenschaft: Er legte ein Bekenntnis ab, schlug eine Wette vor, setzte alles auf eine Karte. Zwei Jahre lang schien seine Prophezeiung sinnlos. Dann gab es plötzlich eine großartige Überraschung: In Rußland brach die Revolution aus. Lenin war überzeugt, daß darin eine eindeutige Bestätigung seiner Vorhersage zu sehen sei. Der Voluntarismus Netschajews siegte über den marxistischen Determinismus.
Wenn die Diagnose bezüglich der Möglichkeit der Machtergreifung auch genauestens zutraf, erwies sich die Hypothese, daß Rußland bereit sei, den Weg des Sozialismus einzuschlagen und dadurch enorme Fortschritte machen werde, als grundfalsch. In dieser fehlerhaften Einschätzung liegt ein wichtiger Grund für den Terror: das Mißverhältnis zwischen der Realität — einem Rußland, das die Freiheit wollte — und dem Willen Lenins, die absolute Macht zu erringen, um eine Doktrin auszuprobieren.
Schon 1920 stellt Trotzki diese gnadenlose Verkettung deutlich heraus:
"Es ist ganz klar, daß es, wenn man sich die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln als Aufgabe stellt, dafür keinen anderen Weg gibt als die Konzentration aller Staatsmacht in den Händen des Proletariats, die Schaffung einer Ausnahmeregierung während der Übergangszeit. [...] Die Diktatur ist unerläßlich, denn es geht nicht um partielle Änderungen, sondern um die Existenz der Bourgeoisie. Auf dieser Basis ist kein Kompromiß möglich, nur die Gewalt kann entscheiden. [...] Wer den Zweck will, kann vor den Mitteln nicht zurückschrecken."16
In der Zwickmühle zwischen seiner Entschlossenheit, seine Lehre anzuwenden, und der Notwendigkeit, an der Macht zu bleiben, erfand Lenin den Mythos der bolschewistischen Weltrevolution. Bereits 1917 wollte er daran glauben, daß das Feuer der Revolution alle am Krieg beteiligten Länder, in erster Linie Deutschland, verwüsten werde. Doch eine Weltrevolution fand nicht statt. Nach der deutschen Niederlage im November 1918 entstand ein neues Europa, das sich um die in Ungarn, Bayern und auch in Berlin rasch erloschenen revolutionären Funken nicht kümmerte.
Daß die leninistische Theorie von der europäischen und Weltrevolution versagt hatte, trat bei der Niederlage der Roten Armee 1920 bei Warschau offen zutage, wurde aber erst 1923, nach dem Scheitern der deutschen Revolutionsbewegung, eingestanden.
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Die Bolschewiken standen nun allein da, alleingelassen mit einem völlig anarchischen Rußland. Mehr als je zuvor stand Terror auf der Tagesordnung. Der Terror ermöglichte es, an der Macht zu bleiben, mit der Umgestaltung der Gesellschaft entsprechend der Theorie zu beginnen und all die mundtot zu machen, die durch ihr Reden, durch ihr Verhalten oder durch ihre bloße Existenz (sozial, ökonomisch, intellektuell) auf die Hohlheit der Doktrin hinwiesen. Die Utopie an der Macht wurde zur mörderischen Utopie.
Dieses doppelte Mißverhältnis zwischen marxistischer und leninistischer Theorie und später zwischen der leninistischen Theorie und der Realität führte zur ersten Grundsatzdebatte über die Bedeutung der russisch-bolschewistischen Revolution. Schon im August 1918 hatte Kautsky ein unwiderrufliches Urteil gefällt:
"Auf keinen Fall brauchen wir anzunehmen, daß sich in Westeuropa die Vorgänge der großen französischen Revolution wiederholen werden. Wenn das heutige Rußland soviel Ähnlichkeit mit dem Frankreich von 1793 aufweist, so beweist das nur, wie nahe es dem Stadium der bürgerlichen Revolution steht. [...] Was sich jetzt dort abspielt, ist tatsächlich die letzte der bürgerlichen, nicht die erste der sozialistischen Revolutionen."17
Damals ereignete sich etwas Wichtiges:
Der Stellenwert der Ideologie in der sozialistischen Bewegung änderte sich total. Schon vor 1917 hatte sich Lenin fest davon überzeugt gezeigt, daß er als einziger die wahre sozialistische Lehre besitze und den wahren "Sinn der Geschichte" entschlüsseln könne. Der Ausbruch der russischen Revolution und vor allem die Machtergreifung schienen ihm "Zeichen des Himmels", ein schlagender, unumstößlicher Beweis dafür, daß seine Ideologie und seine Analyse unfehlbar seien18. Nach 1917 werden seine Politik und die zugehörigen theoretischen Ausarbeitungen zum Evangelium. Die Ideologie verwandelt sich in ein Dogma, in eine absolute, universale Wahrheit. Diese Sakralisierung hat unmittelbare Konsequenzen, die Cornelius Castoriadis genau beschrieben hat:
"Wenn es nun also eine wahre Theorie der Geschichte gibt und in den Dingen eine Vernunft am Werk ist, dann muß die Lenkung dieser Entwicklung natürlich Spezialisten anvertraut werden, die sich mit dieser Theorie auskennen, mit anderen Worten: den Technikern dieser Vernunft. Die absolute Macht der Partei [...] besitzt philosophischen Status. Sie hat ihren Vernunftgrund in der materialistischen Geschichtsauffassung‹. [...] Wenn diese Geschichtsauffassung wahr ist, muß die Macht der Partei absolut sein; Demokratie ist dann allenfalls ein Zugeständnis an die menschliche Fehlbarkeit der Führer oder eine pädagogische Maßnahme, deren richtige Dosierung von den Führern zu verordnen ist."19
Der Aufstieg der Ideologie und Politik in den Rang einer absoluten, weil "wissenschaftlichen" Wahrheit begründet die "totalitäre" Dimension des Kommunismus. Diese Wahrheit kommandiert die Einheitspartei, rechtfertigt den Terror und verpflichtet schließlich die Machthaber, sämtliche Aspekte des sozialen und individuellen Lebens zu beherrschen.
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Lenin bekräftigt die Richtigkeit seiner Ideologie, indem er sich zum Vertreter des russischen Proletariats erklärt, dessen Zahl aber gering ist und das er nicht zögern wird zu vernichten, sobald es revoltiert. Diese Inanspruchnahme des Proletarischen gehörte zu den großen Schwindeleien des Leninismus. 1922 veranlaßte sie Alexander Schljapnikow, einen der wenigen bolschewistischen Führer, die aus der Arbeiterschaft kamen, zu einer kaltblütigen Anmerkung. Auf dem XI. Parteitag kritisierte er Lenin: "Wladimir Iljitsch hat gestern behauptet, das Proletariat existiere als Klasse im marxistischen Sinne nicht [in Rußland]. Erlauben Sie mir, Sie dazu zu beglückwünschen, daß Sie die Diktatur im Namen einer Klasse ausüben, die nicht existiert!"
Die Manipulation des Symbols "Proletariat" findet sich in allen kommunistischen Diktaturen Europas und der Dritten Welt wieder, von China bis Kuba.
Hierin liegt ein wesentliches Kennzeichen des Leninismus: in der Manipulation der Sprache, in der Abkoppelung der Wörter von der Realität, die sie darstellen sollen, in einer abstrakten Vision, in der die Gesellschaft und die Menschen jegliche Konsistenz verloren haben und nur noch Teile einer Art historisch-sozialen Metallbaukastens sind.
Diese mit dem ideologischen Ansatz eng verbundene Abstraktion ist eine Grundgegebenheit des Terrors: Man löscht nicht Menschen aus, sondern "Bourgeois", "Kapitalisten", "Volksfeinde". Nicht Nikolaus II. und seine Familie werden umgebracht, sondern "Feudalherren", "Blutsauger", Parasiten, Flöhe ...
Dieser ideologische Ansatz bekam bald beträchtliches Gewicht, weil es ihm gelang, sich die Macht des Staats zu sichern, der Legitimität, Ansehen und Mittel verschafft.
Im Namen der Wahrheit ihrer Botschaft gingen die Bolschewiken von der symbolischen Gewalt zur tatsächlichen Gewaltanwendung über und errichteten eine absolute, willkürliche Herrschaft. Sie nannten sie "Diktatur des Proletariats" und nahmen damit einen Ausdruck auf, den Marx zufällig in einem Briefwechsel gebraucht hatte. Darüber hinaus zeigen die Bolschewisten ein ungeheures Sendungsbewußtsein. Sie vermitteln neue Hoffnung, indem sie den Eindruck erwecken, der revolutionären Botschaft ihre Reinheit wiederzugeben. Diese Hoffnung findet rasch Anklang, sowohl bei denen, die bei der Heimkehr aus dem Krieg von einem Wunsch nach Rache beseelt sind, als auch bei denen — häufig denselben —, die von einer Erneuerung des Revolutionsmythos träumen. Abrupt gewinnt der Bolschewismus universale Tragweite und Anhänger auf allen Kontinenten. Der Sozialismus steht am Scheideweg: Demokratie oder Diktatur.
Mit seinem im Sommer 1918 geschriebenen Buch <Die Diktatur des Proletariats> legt Kautsky den Finger auf die Wunde. Als die Bolschewiken erst sechs Monate an der Macht sind und lediglich einige Anzeichen die Tausende von Todesopfern ahnen lassen, die ihr politisches System fordern wird, stellt er heraus, worum es eigentlich geht:
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"Der Gegensatz der beiden sozialistischen Richtungen [...] ist der Gegensatz zweier grundverschiedener Methoden: der demokratischen und der diktatorischen. Beide Richtungen wollen dasselbe: das Proletariat und damit die Menschheit durch den Sozialismus befreien. Aber den Weg, den die einen gehen, halten die anderen für einen Irrweg, der ins Verderben führt. [...]
Freilich stellen wir uns mit der Forderung freiester Diskussion schon auf den Boden der Demokratie. Die Diktatur heischt nicht Widerlegung der gegnerischen Ansicht, sondern die gewaltsame Unterdrückung ihrer Äußerung. So stehen sich die beiden Methoden der Demokratie und der Diktatur schon unversöhnlich gegenüber, ehe die Diskussion begonnen hat. Die eine fordert, die andere verbietet sie."20
Kautsky stellt die Demokratie in den Mittelpunkt seiner Überlegungen und führt aus:
"Ihre kraftvollste Stütze findet die Diktatur einer Minderheit stets in einer ergebenen Armee. Aber je mehr sie die Gewalt der Waffen an die Stelle der Majorität setzt, desto mehr drängt sie auch jede Opposition dahin, ihr Heil im Appell an die Bajonette und Fäuste zu suchen statt im Appell an die Wahlstimmen, der ihr versagt ist; dann wird der Bürgerkrieg die Form der Austragung politischer und sozialer Gegensätze. Wo nicht vollständige politische und soziale Apathie und Mutlosigkeit herrscht, wird die Diktatur einer Minderheit stets von gewaltsamen Putschen oder einem ständigen Guerillakrieg bedroht. [...]
Diese kommt dann aus dem Bürgerkrieg nicht mehr heraus, ist in steter Gefahr, durch ihn gestürzt zu werden. — Für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft gibt es aber kein größeres Hindernis wie den inneren Krieg. [...] Im Bürgerkrieg kämpft jede Partei um ihre Existenz, droht dem Unterliegenden völlige Vernichtung. Dieses Bewußtsein macht die Bürgerkriege leicht so grausam."21
Diese warnende Analyse schrie geradezu nach einer Antwort. Voller Wut und ungeachtet der vernichtenden Kritik schrieb Lenin einen berühmt gewordenen Text: "Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky". Schon der Titel zeigte die Wendung an, die die Diskussion genommen hatte, oder, wie Kautsky vorhergesagt hatte, die Verweigerung der Diskussion. Lenin definiert hier den Kern seines Denkens und Handelns:
"In den Händen der herrschenden Klasse ist der Staat eine Maschinerie zur Vernichtung des Widerstands der gegnerischen Klasse. So gesehen unterscheidet sich die Diktatur des Proletariats im Grunde in nichts von der Diktatur jeder anderen Klasse, denn der proletarische Staat ist eine Maschine zur Vernichtung der Bourgeoisie."
Diese sehr summarische, reduzierende Auffassung vom Staat bringt ihn (Lenin -OD) dazu, das Wesen dieser Diktatur aufzudecken:
"Die Diktatur ist eine sich unmittelbar auf Gewalt stützende Macht, die an keine Gesetze gebunden ist. Die revolutionäre Diktatur des Proletariats ist eine Macht, die erobert wurde und aufrechterhalten wird durch die Gewalt des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie, eine Macht, die an keine Gesetze gebunden ist."22
Der zentralen Frage nach der Demokratie weicht Lenin mit einer Pirouette aus:
"Die proletarische Demokratie, deren eine Form die Sowjetmacht ist, hat gerade für die gigantische Mehrheit der Bevölkerung, für die Ausgebeuteten und Werktätigen, eine in der Welt noch nie dagewesene Entwicklung und Erweiterung der Demokratie gebracht."23
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Diesen Ausdruck muß man sich merken: "proletarische Demokratie". Jahrzehntelang wird er als Schlagwort dazu dienen, die schlimmsten Verbrechen zu verschleiern.
Der Streit zwischen Kautsky und Lenin hebt die beiden mit der bolschewistischen Revolution auftretenden Grundtendenzen hervor — einen Marxismus, der sich an unterstellte "Gesetzmäßigkeiten der Geschichte" halten will, und einen aktivistischen Subjektivismus, dem alles recht ist, was die revolutionäre Leidenschaft nährt. Die unterschwellige Spannung, die im Werk Karl Marx' zwischen dem Messianismus des "Kommunistischen Manifests" von 1848 und der kühlen Analyse der Gesellschaftsentwicklung im "Kapital" besteht, verwandelt sich durch die Auswirkung dreier Ereignisse — des Ersten Weltkriegs, der Februar- und der Oktoberrevolution — in einen tiefen, unheilbaren Riß, der aus Sozialisten und Kommunisten die berühmtesten feindlichen Brüder des zwanzigsten Jahrhunderts machen wird. Was in diesem Streit auf dem Spiel steht, ist nach wie vor von Bedeutung: Demokratie oder Diktatur, Menschlichkeit oder Terror.
Besessen von revolutionärer Leidenschaft machen sich die beiden Hauptakteure dieser ersten Phase der bolschewistischen Revolution, Lenin und Trotzki, angesichts der sich überstürzenden Ereignisse daran, ihr Handeln mit Theorie zu unterlegen. Genauer gesagt: Sie bringen die Schlußfolgerungen, die ihnen die Entwicklung nahelegt, in ideologische Form. Sie erfinden die permanente Revolution: Die Lage in Rußland läßt es zu, von der bürgerlichen Revolution im Februar direkt zur proletarischen Revolution im Oktober überzugehen. Der Verwandlung der permanenten Revolution in permanenten Bürgerkrieg wird das passende ideologische Mäntelchen umgehängt.
Hier kann man den Einfluß des Kriegs auf die Haltung der Revolutionäre in seiner ganzen Tragweite ermessen. Trotzki schreibt: "Kautsky sieht im Krieg, in seinem fürchterlichen Einfluß auf die Sitten, einen der Gründe für den blutigen Charakter des revolutionären Kampfs. Das ist unbestreitbar."24
Doch daraus ziehen die beiden Männer nicht dieselbe Schlußfolgerung. Der deutsche Sozialist wird angesichts des Gewichts des Militarismus immer sensibler für die Frage der Demokratie und der Verteidigung des Individuums. Für Trotzki besteht
"die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, aus der die zeitgenössische Demokratie entstanden ist, keinesfalls im Prozeß einer allmählichen Demokratisierung, von der vor dem Krieg der größte Utopist der sozialistischen Demokratie, Jean Jaures, träumte, und von der zur Zeit der klügste aller Pedanten, Karl Kautsky, träumt"25.
Trotzki verallgemeinert seine These und spricht "vom erbarmungslosen Bürgerkrieg, der sich über die ganze Welt ausbreitet". Seiner Meinung nach ist die Welt in eine Phase eingetreten, "in der der politische Kampf sich rasch in Bürgerkrieg verwandelt", in der bald nur noch zwei Kräfte aufeinander stoßen: "das revolutionäre Proletariat unter Führung der Kommunisten und die konterrevolutionäre Demokratie, an deren Spitze sich Generäle und Admiräle stellen".
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Hier liegt ein zweifacher perspektivischer Irrtum vor: Zum einen hat die Geschichte gezeigt, daß der Wunsch nach repräsentativer Demokratie und seine Verwirklichung zu einem weltweiten Phänomen geworden sind, sogar in der Sowjetunion von 1991. Zum anderen neigt Trotzki wie Lenin stark dazu, den ohnehin überzogen interpretierten russischen Fall zu generalisieren. Die Bolschewiken sind davon überzeugt: Weil in Rußland ein Bürgerkrieg — im wesentlichen von ihnen — entfacht wurde, werde und müsse er sich auf Europa und dann auf die ganze Welt ausdehnen. Doch gerade auf dieser doppelten Fehlinterpretation wird die Rechtfertigung des kommunistischen Terrors jahrzehntelang aufbauen.
Aus diesen Anfängen zieht Trotzki definitive Schlußfolgerungen:
"Man kann und muß begreiflich machen, daß wir in Bürgerkriegszeiten die Weißen Garden auslöschen, damit sie nicht die Arbeiter auslöschen. Daher ist es nicht unser Ziel, Menschenleben zu vernichten, sondern zu retten. [...] In der Revolution wie im Krieg geht es darum, den Willen des Feinds zu brechen, ihn zur Kapitulation zu bringen und dazu, daß er die Bedingungen des Siegers akzeptiert. [...] Die Frage, wem die Macht im Land gehören wird, d.h. ob die Bourgeoisie leben oder sterben soll, wird nicht unter Bezugnahme auf Verfassungsartikel gelöst, sondern mittels aller Formen der Gewalt."26
Hier findet man bei Trotzki die Ausdrücke, auf denen bei Ludendorff der Begriff des totalen Kriegs fußt. Die Bolschewiken, die sich für große Neuerer hielten, waren in Wirklichkeit von ihrer Epoche und dem herrschenden extremen Militarismus bestimmt.
Allein die Bemerkungen Trotzkis über die Pressefreiheit zeigen, wie prägend diese Kriegsmentalität ist:
"In Kriegszeiten werden alle Institutionen, die Organe der Regierung wie die der öffentlichen Meinung, mittelbar oder unmittelbar Organe zur Kriegsführung. Das betrifft in erster Linie die Presse. Eine Regierung, die ernstlich einen Krieg führt, kann niemals zulassen, daß auf ihrem Territorium Publikationen verbreitet werden, die offen oder verdeckt den Feind unterstützen. Das gilt noch viel mehr in Zeiten des Bürgerkriegs.
Zur Natur des Bürgerkriegs gehört es, daß die beiden sich bekämpfenden Lager im Rücken ihrer Truppen Bevölkerungen haben, die mit dem Feind gemeinsame Sache machen. Im Krieg, in dem der Tod über Erfolg und Mißerfolg entscheidet, müssen die feindlichen Agenten, die sich ins Hinterland der Armeen eingeschlichen haben, die Todesstrafe erleiden. Gewiß ein unmenschliches Gesetz, aber bisher hat noch niemand den Krieg als eine Schule der Menschlichkeit betrachtet, und noch viel weniger den Bürgerkrieg."27
Die Bolschewiken sind nicht die einzigen, die in diesen Bürgerkrieg verwickelt sind, der in Rußland im Frühsommer 1918 ausbricht und während fast vier Jahren einen Furor der Grausamkeiten auf beiden Seiten entfesselt: Es wird gekreuzigt, gepfählt, bei lebendigem Leib zerteilt und verbrannt. Aber nur die Bolschewiken haben eine Theorie des Bürgerkriegs und bekennen sich zu ihm.
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Unter dem Einfluß der Doktrin und der vom Krieg eingeführten neuen Sitten wird der Bürgerkrieg für sie zu einer dauerhaften Form des politischen Kampfs. Der Bürgerkrieg der Roten gegen die Weißen verbirgt einen anderen, viel größeren und folgenschwereren Krieg: den Krieg der Roten gegen einen bedeutenden Teil der Arbeiterschaft und einen großen Teil der Bauern, für die vom Sommer 1918 an die bolschewistische Zuchtrute unerträglich zu werden beginnt. In diesem Krieg stehen sich nicht mehr, wie nach dem traditionellen Verständnis, zwei einander bekämpfende politische Gruppierungen gegenüber, sondern die Machthaber und der größere Teil der Gesellschaft. Das ist neu, ein nie dagewesenes Phänomen, das nur dadurch eine gewisse Dauer und ein gewisses Ausmaß erhalten kann, daß ein totalitäres System errichtet wird, das sämtliche gesellschaftlichen Aktivitäten kontrolliert und sich auf Massenterror stützt.
Die neuerdings mit Archivmaterial durchgeführten Untersuchungen zeigen, daß dieser "schmutzige Krieg" (Nicolas Werth) der Jahre 1918 bis 1921 die eigentliche Matrix des Sowjetregimes war, der Schmelztiegel, aus dem die Männer hervorgingen, die diese Revolution führen und entwickeln würden, der Hexenkessel, in dem die so eigentümliche leninistisch-stalinistische Mentalität zusammengebraut wurde: eine Mischung aus idealistischer Exaltation, Zynismus und unmenschlicher Grausamkeit. Dieser Bürgerkrieg, der sich vom sowjetischen Territorium auf die ganze Welt ausbreitete und so lange dauern sollte, bis der Sozialismus den Planeten erobert hätte, etablierte die Grausamkeit als "normale" Umgangsform unter Menschen. Er ließ die traditionell bestehenden Dämme gegen eine unbedingte, grundsätzliche Gewalt brechen.
Dennoch quälten die von Kautsky aufgeworfenen Probleme die russischen Revolutionäre von den ersten Tagen der bolschewistischen Revolution an. Isaac Steinberg, ein Sozialist der revolutionären Linken, der sich den Bolschewisten angeschlossen hatte und von Dezember 1917 bis Mai 1918 Volkskommissar für Justiz war, sprach schon 1923 von der bolschewistischen Macht als einem "System des methodischen Staatsterrors" und stellte die zentrale Frage nach den Grenzen der Gewalt in der Revolution:
"Der Umsturz der alten Welt, ihr Ersatz in Form eines neuen Lebens, das doch noch dieselben Übel aufweist und von denselben alten Prinzipien vergiftet ist — das stellt den Sozialisten vor eine entscheidende Wahl: die alte [zaristische, bürgerliche] Gewalt oder die revolutionäre Gewalt zum Zeitpunkt des entscheidenden Kampfs. [...] Die alte Gewalt ist nichts als ein kränklicher Schutz für die Versklavung, die neue Gewalt ist der schmerzhafte Weg zur Befreiung. [...] Das entscheidet unsre Wahl: Wir nehmen das Instrument der Gewalt in die Hand, um die Gewalt für immer zu beenden. Denn es gibt keine andere Waffe gegen sie. Hier klafft die moralische Wunde der Revolution. Hier zeigt sich ihre Antinomie, ihr innerer Schmerz, ihr Widerspruch."28
Steinberg fügte hinzu: "Wie der Terror vergiftet die Gewalt (auch in Form von Zwang und Lüge) immer die innersten Gewebe der Seele, zuerst des Besiegten und gleich darauf des Siegers, und schließlich der ganzen Gesellschaft."
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Steinberg war sich der ungeheuren Risiken bewußt, denen sie sich einfach vom Standpunkt der "universalen Moral" oder des "natürlichen Rechts" her aussetzten. Gorki war in derselben Stimmung, als er am 21. April 1923 Romain Rolland schrieb: "Ich verspüre nicht den leisesten Wunsch, nach Rußland zurückzukehren. Ich käme nicht zum Schreiben, wenn ich meine Zeit damit verschwenden müßte, immer wieder denselben Vers zu singen: Du sollst nicht töten."29
Alle Skrupel dieser nichtbolschewistischen Revolutionäre und die letzten Vorbehalte der Bolschewiken selbst wurden vom Furor Lenins hinweggefegt, der von dem Stalins abgelöst wurde. Und am 2. November 1930 konnte Gorki, der sich dem "genialen Führer" gerade wieder angeschlossen hatte, demselben Romain Rolland schreiben:
"Mir scheint, Rolland, daß Sie die Ereignisse in der Sowjetunion gelassener und gerechter beurteilt hätten, wenn Sie folgende simple Tatsache zugegeben hätten: Das Sowjetregime und die Avantgarde der Partei der Werktätigen befinden sich im Bürgerkrieg, d.h. im Klassenkrieg. Der Feind, den sie bekämpfen — und bekämpfen müssen —, ist die Intelligentsia, die sich um eine Restaurierung des bürgerlichen Regimes bemüht, und der reiche Bauer, der bei der Verteidigung seines eigenen kleinen Guts, der Basis des Kapitalismus, das Werk der Kollektivierung behindert. Sie greifen auf den Terror zurück, auf die Ermordung von Kollektivisten, auf das Brandschatzen kollektivierter Güter und anderer Methoden des Partisanenkriegs. Im Krieg wird getötet."30
In Rußland gab es dann noch eine dritte Revolutionsphase, die bis 1953 von Stalin verkörpert wurde. Sie war gekennzeichnet von einem allgemeinen Terror, wie ihn die Große Säuberung der Jahre 1937/38 symbolisiert. Von da an befindet sich die Gesellschaft als Ganzes im Visier, aber auch der Staats- und Parteiapparat. Stalin legt die auszulöschenden feindlichen Gruppen eine nach der anderen fest. Dieser Terror wartet nicht auf die Ausnahmesituation eines Kriegs, um loszubrechen. Er findet in einer außenpolitisch friedlichen Phase statt.
So wenig sich Hitler um die Repression kümmerte — er überließ diese "untergeordneten" Aufgaben ausnahmslos Vertrauensmännern wie Himmler — so sehr interessiert sich Stalin dafür, der sie initiiert und organisiert. Er zeichnet persönlich Listen mit Tausenden Namen zu Erschießender ab und zwingt die Mitglieder des Politbüros, dies ebenfalls zu tun. Zur Zeit der vierzehn Monate anhaltenden Großen Säuberung von 1937 bis 1938 werden im Zuge von 42 umfassenden, sorgfältig vorbereiteten Operationen 1,8 Millionen Menschen verhaftet, fast 690.000 ermordet. Ständig herrscht eine Atmosphäre des Bürgerkriegs, mal "heiß", mal "kalt", heftig und offen oder verdeckt und schleichend. Der Ausdruck "Krieg der Klassen", häufig dem des Klassenkampfs vorgezogen, hat nichts Metaphorisches mehr. Der politische Feind ist nicht mehr dieser oder jener Gegner und auch nicht mehr die "feindliche Klasse", sondern die Gesellschaft als Ganzes.
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Unausweichlich wie eine ansteckende Krankheit breitete sich der Terror, dessen Ziel die Zerstörung der Gesellschaft war, auf die Gegen-Gesellschaft aus, die von der Partei an der Macht gebildet wurde. Schon unter Lenin, von 1921 an, waren Abweichler oder Oppositionelle Sanktionen unterworfen worden. Doch die potentiellen Feinde blieben die, die nicht Parteimitglied waren. Unter Stalin wurden sogar die Parteimitglieder zu potentiellen Feinden. Erst bei der Ermordung Kirows allerdings fand Stalin den Vorwand für die Anwendung der Todesstrafe auf Parteimitglieder. So knüpft er an Netschajew an, dem Bakunin im Juni 1870 die Freundschaft aufkündigte. In seinem Abschiedsbrief schrieb Bakunin:
"Daher muß unserem Wirken dies klare Gesetz zugrunde liegen: Aufrichtigkeit, Loyalität, Vertrauen unter allen [revolutionären] Brüdern. Lüge, List, Täuschung und nötigenfalls Gewalt werden nur gegen die Feinde angewandt. [...] Was Sie betrifft, mein lieber Freund — und das ist Ihr Grundprinzip, Ihr ungeheurer Irrtum —, Sie haben sich verleiten lassen von dem System der Loyolas und Machiavellis. [...] Da Ihnen die Grundsätze und Vorgehensweisen der Jesuiten und der Polizei Bewunderung abverlangen, haben Sie es für richtig gehalten, auf diesen Ihre eigene Organisation zu gründen. [...] wobei Sie sich Ihren Freunden gegenüber so verhalten, als ob sie Feinde wären."31
Eine weitere stalinistische Innovation besteht darin, daß es den Henkern ihrerseits bestimmt ist, Opfer zu werden. Nach der Ermordung Sinowjews und Kamenews, seiner alten Parteigenossen, erklärte Bucharin seiner Lebensgefährtin: "Ich bin schrecklich froh, daß man diese Hunde erschossen hat!"32 Keine zwei Jahre später wird Bucharin selbst wie ein Hund erschossen. Dieser stalinistische Zug findet sich in den meisten kommunistischen Diktaturen wieder.
Für einige seiner "Feinde" sah Stalin vor ihrer Auslöschung ein besonderes Los vor: Er ließ sie in Schauprozessen auftreten. Lenin hatte 1922 dieses Verfahren mit einem ersten Scheinprozeß, dem gegen die Sozialrevolutionäre, eingeführt. Stalin verbesserte es und machte es zum dauerhaften Bestandteil seines Unterdrückungsapparates. Nach 1948 ließ er solche Prozesse auch in Osteuropa durchführen.
Annie Kriegel hat auf den fürchterlichen Mechanismus sozialer Prophylaxe hingewiesen, den diese Prozesse darstellten. Ihr Charakter einer "Pädagogik der Hölle" ersetzte auf Erden die von der Religion angedrohte Hölle33. Gleichzeitig wurde eine Pädagogik des Klassenhasses und der Stigmatisierung des Feindes betrieben. Im asiatischen Kommunismus wird dieses Vorgehen konsequent bis an sein äußerstes Extrem getrieben: Dort werden Tage des Hasses organisiert.
Der Pädagogik des Hasses hatte Stalin die Pädagogik des Mysteriums an die Seite gestellt. Absolute Geheimhaltung umgab die Verhaftungen, die Gründe, die Verurteilungen, das Schicksal der Opfer. Mysterium und Geheimnis standen in enger Verbindung mit dem Terror und nährten in allen Bevölkerungskreisen eine schreckliche Angst.
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Weil sie sich im Krieg glaubten, stellten die Bolschewisten eine umfassende Terminologie des Feindes auf: "feindliche Agenten", "Bevölkerungsgruppen, die gemeinsame Sache mit dem Feind machen" usw. Im Kriegsmodell wird die Politik auf grob vereinfachte Begriffe reduziert, die als Freund/ Feind-Beziehung34, als die Behauptung eines "wir" gegen ein "sie" definiert werden. Dazu gehört eine Aufteilung nach "Lagern" — ein weiterer Ausdruck aus dem Militärischen: das revolutionäre und das konterrevolutionäre Lager. Und ein jeder ist, unter Androhung der Todesstrafe, gehalten, sein Lager zu wählen — eine schwerwiegende Regression in ein archaisches Stadium der Politik, die 150 Jahre Arbeit des am Individuum orientierten demokratischen Bürgertums zunichte macht.
Wie ist der Feind zu definieren? Da die Politik auf einen allgemeinen Bürgerkrieg zwischen zwei Kräften, der Bourgeoisie und dem Proletariat, zurückgeführt wird und die Auslöschung einer der beiden mit den gewalttätigsten Mitteln erfordert, ist der Feind nicht nur ein Mensch des Ancien Regime — Aristokrat, Großbürger, Offizier —, sondern jeder, der sich der bolschewistischen Politik widersetzt und als "bourgeois" eingestuft wird. "Feind" bezeichnet alle Personen oder sozialen Kategorien, die aus der Sicht der Bolschewisten die absolute Macht behindern. Dieses Phänomen taucht sofort auf, sogar als der Terror noch nicht existiert — in den Wahlversammlungen der Sowjets. Kautsky ahnte es voraus, als er 1918 schrieb:
"Nur jene dürfen wählen, ›die die Mittel zu ihrem Unterhalt durch produktive oder gemeinnützige Arbeit erwerben‹. Was aber ist ›gemeinnützige und produktive Arbeit‹? Das ist ein richtiger Kautschukbegriff. Nicht minder kautschukartig ist die Bestimmung über diejenigen, die vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Dazu gehören jene, ›die Lohnarbeiter zum Zwecke des Gewinnes beschäftigen‹ [...] Man sieht, wie wenig dazu gehört, um nach dem Wahlregiment der Sowjetrepublik zum Kapitalisten gestempelt zu werden und das Wahlrecht zu verlieren. Das Kautschukartige der Begriffsbestimmungen des Wahlrechtes, die der weitesten Willkür die Tore öffnen, liegt nicht am Gesetzgeber, sondern am Gegenstand. Es wird nie gelingen, den Begriff des Proletariats juristisch eindeutig und präzis zu fassen."35
Nachdem der Begriff des "Proletariers" den des "Patrioten" unter Robespierre ersetzt hat, ist die Kategorie des Feindes ein dehnbarer Begriff geworden. Sie kann an- oder abschwellen je nach den Erfordernissen der jeweiligen Politik. Diese Kategorie wird zu einem wesentlichen Element in der kommunistischen Theorie und Praxis. Tzvetan Todorov präzisiert:
"Der Feind ist die große Rechtfertigung des Terrors. Der totalitäre Staat kann ohne Feinde nicht leben. Fehlen sie ihm, erfindet er sie. Sobald sie identifiziert sind, gibt es keine Gnade mehr für sie. [...] Feind sein ist ein unheilbarer, erblicher Fehler. [...] Manchmal wird die Tatsache betont, daß die Juden nicht dafür verfolgt wurden, was sie getan hatten, sondern dafür, was sie waren: eben Juden. Doch unter den kommunistischen Machthabern ist es nicht anders: Sie fordern die Unterdrückung (oder in Krisenzeiten die Beseitigung) der Bourgeoisie als Klasse. Die einfache Zugehörigkeit zu dieser Klasse genügt, es ist nicht erforderlich, irgendetwas zu tun."36
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Eine wichtige Frage ist noch offen: Warum den "Feind" auslöschen? Die traditionelle Aufgabe der Repression ist, wie es im Titel eines berühmten Werks heißt, zu "überwachen und bestrafen". War diese Phase des Überwachens und Strafens überholt? War der "Klassenfeind" ein hoffnungsloser Fall? Solschenizyn steuert eine erste Antwort bei. Er schildert, daß im Gulag die Strafgefangenen grundsätzlich besser behandelt wurden als die politischen Häftlinge, nicht nur aus praktischen Erwägungen — sie übten eine gewisse Eingliederungsfunktion aus —, sondern auch aus "theoretischen" Gründen. Das Sowjetregime rühmte sich ja, einen "neuen Menschen" zu schaffen und dabei selbst die eingefleischtesten Kriminellen umzuerziehen. Dieses Argument erwies sich in der Propaganda als äußerst fruchtbar, sowohl in Stalins Rußland als auch im China Maos oder Kuba Castros.
Aber warum muß der "Feind" getötet werden? Es ist ja nun nicht neu, daß Politik unter anderem darin besteht, Freund und Feind zu unterscheiden. Bereits im Evangelium heißt es: "Wer nicht für mich ist, ist gegen mich." Das Neue besteht darin, daß nach Lenin nicht nur gilt, wer nicht für ihn sei, sei sein Gegner, sondern auch: "Wer gegen mich ist, muß sterben." Diese Aussage dehnt er vom Bereich der Politik auf die Gesellschaft insgesamt aus.
Durch den Terror vollzieht sich eine doppelte Verwandlung: Der Gegner, zunächst ein Feind, wird zum Kriminellen und schließlich zum Ausgeschlossenen. Das Ausschließen läuft fast automatisch auf die Idee vom Auslöschen hinaus. Denn von da an reicht die Freund/Feind-Dialektik zur Lösung des Grundproblems des Totalitarismus nicht mehr aus: des Strebens nach einer vereinten, gereinigten, nicht antagonistischen Menschheit mittels der messianischen Dimension des marxistischen Projekts, die Menschheit im und durch das Proletariat zu vereinen. Dieses Projekt rechtfertigt eine erzwungene Vereinheitlichung — der Partei, der Gesellschaft, schließlich des Reichs —, die als Abfall all die zurückweist, die nicht in den Entwurf passen. So kommt man bald von einer Logik des politischen Kampfs zu einer des Ausschließens, von einer Ideologie des Eliminierens schließlich zu einer des Auslöschens sämtlicher unreiner Elemente. Am Ende dieses Gedankengangs steht das Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Die Einstellung bestimmter kommunistischer Regime in Asien — China, Vietnam — ist etwas anders. Wahrscheinlich liegt es an der konfuzianischen Tradition, daß der Umerziehung mehr Raum gegeben wird. Diese Institution ist charakteristisch für den chinesischen Laogai. Sie zwingt den als "Schüler" oder "Studenten" bezeichneten Häftling, sein Denken unter der Aufsicht seiner Kerkermeister bzw. Lehrer zu verändern. Steckt in dieser Art von "Umerziehung" nicht eine weniger offene, noch heuchlerischere Haltung als in der simplen Ermordung? Ist es nicht schlimmer, seine Feinde zu zwingen, sich zu verleugnen und sich dem Diskurs ihrer Henker zu unterwerfen?
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Demgegenüber wählten die Roten Khmer von vornherein eine radikale Lösung: Sie waren der Ansicht, die Umerziehung eines Teils der Bevölkerung sei unmöglich, weil dieses Volk allzu "verdorben" sei. So beschlossen sie, sich ein anderes Volk zuzulegen. Das führte zur Auslöschung der gesamten intellektuellen und städtischen Bevölkerung, wobei auch dort beabsichtigt war, den Feind zunächst auf psychologischer Ebene zu vernichten, seine Persönlichkeit durch eine aufgezwungene "Selbstkritik" zu zersetzen, in der er sich mit Schande bedeckt, die ihm aber keinesfalls die Höchststrafe erspart.
Die Führer der totalitären Regime nehmen für sich das Recht in Anspruch, ihre Nächsten in den Tod zu schicken, und haben die "moralische Kraft" dazu. Ihre wichtigste Rechtfertigung ist immer dieselbe: die wissenschaftlich begründete Notwendigkeit. In seinen Überlegungen zu den Ursprüngen des Terrorismus schreibt Tzvetan Todorov:
"Es ist der Szientismus, nicht der Humanismus, der dazu beigetragen hat, die Grundlagen für den Totalitarismus zu schaffen. [...] Die Beziehung zwischen Szientismus und Totalitarismus beschränkt sich nicht auf die Rechtfertigung von Handlungen mit angeblich wissenschaftlichen (biologischen oder historischen) Notwendigkeiten. Man muß den Szientismus (und sei es ein "barbarischer") bereits praktizieren, um an die perfekte Transparenz der Gesellschaft und damit an die Möglichkeit zu glauben, die Gesellschaft durch eine Revolution nach einem Ideal formen zu können."37
Trotzki illustrierte diese These schon 1919, als er schrieb:
"Historisch gesehen, ist das Proletariat eine aufsteigende Klasse. [...] Die Bourgeoisie befindet sich zur Zeit im Niedergang. Nicht nur spielt sie keine wesentliche Rolle in der Produktion, sondern sie zerstört mit ihren imperialistischen Methoden der Aneignung auch die Weltwirtschaft und die menschliche Kultur. Doch die historische Vitalität der Bourgeoisie ist ungeheuer. Sie klammert sich an die Macht und will sie nicht loslassen. Dadurch droht sie bei ihrem Fall die ganze Gesellschaft mit sich zu reißen. Man muß ihr die Macht entreißen und ihr dazu die Hände abschneiden. Der rote Terror ist eine Waffe, die gegen eine dem Tod geweihte Klasse eingesetzt wird, die sich damit nicht abfinden will." 38)
Trotzkis Schlußfolgerung: "Die gewaltsame Revolution wurde notwendig, gerade weil den unmittelbaren Erfordernissen der Geschichte mit dem Apparat der parlamentarischen Demokratie nicht genügt werden konnte."39
Hier treffen wir auf die Vergöttlichung der Geschichte, der alles geopfert werden muß, und auf die unheilbare Naivität des Revolutionärs, der sich aufgrund seiner Dialektik einbildet, die Heraufkunft einer gerechteren und menschlicheren Gesellschaft mit kriminellen Methoden zu begünstigen. Zwölf Jahre später drückte Gorki die Dinge brutaler aus: "Gegen uns steht all das, dessen Zeit, die die Geschichte ihm zugemessen hat, abgelaufen ist. Das berechtigt uns zu der Ansicht, daß wir uns nach wie vor im Bürgerkrieg befinden. Daraus ergibt sich ganz natürlich die Schlußfolgerung: Wenn sich der Feind nicht ergibt, wird er vernichtet."40) Im selben Jahr machte Aragon eine Gedichtzeile daraus: "Die blauen Augen der Revolution leuchten vor notwendiger Grausamkeit."
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Demgegenüber ging Kautsky das Problem schon 1918 mutig und offen an. Er machte sich frei von jeglichem Terminologiefetischismus und schrieb:
"Genaugenommen ist jedoch nicht der Sozialismus unser Endziel, sondern dieses besteht in der Aufhebung ›jeder Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht, eine Rasse‹. [...] Würde uns nachgewiesen, daß wir darin irren, daß etwa die Befreiung des Proletariats und der Menschheit überhaupt auf der Grundlage des Privateigentums an Produktionsmitteln allein oder am zweckmäßigsten zu erreichen sei ..., dann müßten wir den Sozialismus über Bord werfen, ohne unser Endziel im geringsten aufzugeben, ja wir müßten das tun, gerade im Interesse dieses Endzieles." 41)
Kautsky stellte den Humanismus eindeutig über den marxistischen Szientismus, dessen herausragendster Vertreter er doch war.
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Töten im eigentlichen Sinn erfordert eine pädagogische Hilfestellung: Angesichts des Widerwillens im Menschen, seinen Nächsten zu töten, besteht die effizienteste Pädagogik hier immer noch darin, die Menschlichkeit des Opfers zu leugnen, es vorher zu "entmenschlichen". Alain Brossat bemerkt sehr richtig: "Der barbarische Ritus der Säuberungen, die volle Auslastung der Vernichtungsmaschinerie sind im Diskurs und in den Praktiken der Verfolgung nicht zu trennen von dieser Animalisierung des Anderen, der Reduzierung eingebildeter und tatsächlicher Feinde auf tierische Wesen."42
Tatsächlich gab sich der Generalstaatsanwalt Wyschinski, ein Intellektueller und Jurist mit klassischer Bildung, während der großen Moskauer Prozesse einer wahren Orgie der "Animalisierung" von Angeklagten hin:
"Erschießt die tollgewordenen Hunde! Tod dieser Bande, die ihre Raubtierkrallen und -zähne vor den Volksmassen versteckt! Zum Teufel mit dem Geier Trotzki, der vor giftigem Schleim schäumt und damit die großartigen Ideen des Marxismus-Leninismus bespritzt! Setzt ihn außerstande, diese Lügner zu verderben, diese Komödianten, diese miserablen Pygmäen, diese Kläffer, diese Hündchen, die sich auf einen Elefanten stürzen! [...] Ja, nieder mit diesem tierischen Abschaum! Schluß mit diesen widerwärtigen Bastarden aus Fuchs und Schwein, diesem stinkenden Aas. Bringt ihr schweinisches Grunzen zum Schweigen! Vernichten muß man diese tollgewordenen Hunde des Kapitalismus, die die Besten unserer sowjetischen Erde zerreißen wollen! Stopft ihnen ihre bestialischen Haßausbrüche gegen die Führer unserer Partei in den Rachen!"
War es nicht sogar Jean-Paul Sartre, der 1952 roh äußerte, jeder Antikommunist sei ein Hund? Diese Rhetorik des Verteufelns und Animalisierens scheint Annie Kriegels These von der in erster Linie pädagogischen Funktion der großen Schauprozesse zu untermauern. Wie in den mittelalterlichen Mysterienspielen werden hier für das gutgläubige Volk die Figur des "Bösen", des Häretikers, des "Trotzkisten", und bald die des "zionistischen Kosmopoliten", kurz, die des Teufels in Szene gesetzt.
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Brossat erinnert daran, daß aus Karnevals- und ähnlichen Bräuchen eine regelrechte Tradition der Animalisierung des Anderen entstanden war, die sich seit dem achtzehnten Jahrhundert in der politischen Karikatur wiederfindet. Mit diesem metaphorischen Ritus konnten, eben durch den Umweg über das Tier, Krisen und latente Konflikte zum Ausdruck gebracht werden. Im Moskau der dreißiger Jahre ist allerdings nichts metaphorisch: Der "animalisierte" Feind wird als Jagdwild behandelt, bevor er zum Galgenvogel wird, das heißt, mit einer Kugel ins Genick rechnen muß. Hat Stalin diese Methoden systematisiert und generalisiert, so sind sie von seinen chinesischen, kambodschanischen und anderen Nachfolgern weitgehend übernommen worden. Stalin hat sie allerdings nicht erfunden. Auch Lenin ist nicht frei von diesem Vorwurf, denn nach der Machtergreifung titulierte er alle seine Feinde mit Ausdrücken wie "Insekten", "Ungeziefer", "Skorpione", "Vampire".
Während des Scheinprozesses gegen die "Industriepartei" veröffentlichte die Liga für Menschenrechte einen Protest, der unter anderem von Albert Einstein und Thomas Mann unterzeichnet war. Gorki antwortete darauf mit einem offenen Brief: "Meines Erachtens war diese Hinrichtung absolut legitim. Es ist ganz natürlich, daß die Arbeiter- und Bauernmacht ihre Feinde wie Ungeziefer vernichtet."43
Alain Brossat zieht aus dieser mißbräuchlichen Zoologie den Schluß:
"Wie immer verraten sich die Dichter und Schlächter des Totalitarismus in erster Linie durch ihren Wortschatz. Das ›liquidieren‹ der Moskauer Henker, eng verwandt mit dem ›behandeln‹ der Techniker des nazistischen Mordens, stellt den linguistischen Mikrokosmos der irreparablen mentalen und kulturellen Katastrophe dar, die damals im sowjetischen Raum offen zutage tritt: Das menschliche Leben ist als Wert zerfallen, das Denken in Kategorien (›Volksfeinde‹, ›Verräter‹, ›verläßliche Elemente‹ ...) hat den ethisch positiv besetzten Begriff des Menschengeschlechts ersetzt. [...] In den nazistischen Reden, Praktiken und Apparaten der Vernichtung verbindet sich die Animalisierung des Anderen, die von der Zwangsvorstellung des Schmutzes und der Ansteckung nicht zu trennen ist, eng mit der Rassenideologie. Sie baut sich aus den unerbittlich hierarchischen Begriffen des Diskurses von der Rasse auf, aus der Unterscheidung zwischen Über- und Untermensch. [...] Doch im Moskau von 1937 sind der rassistische Diskurs und die zugehörigen totalitären Einrichtungen abgeriegelt, stehen nicht zur Verfügung. Daraus ergibt sich die Bedeutung der Animalisierung des Anderen für das Denken und die Umsetzung einer auf dem totalitären ›Alles ist erlaubt‹ fußenden Politik."44
Doch es gab auch solche, die nicht zögerten, die ideologische Barriere zu durchbrechen und vom Gesellschaftlichen zum Rassischen zu kommen. In einem Brief von 1932 schreibt Gorki, der damals, wohlgemerkt, ein persönlicher Freund des GPU-Chefs Jagoda war und dessen Sohn Angestellter eben dieser GPU war:
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"Der Klassenhaß muß durch die organische Abstoßung des Feinds als eines inferioren Wesens kultiviert werden. Meine innerste Überzeugung ist, daß der Feind ein durchaus minderwertiges Wesen ist, physisch, aber auch ›moralisch‹ degeneriert."45
Gorki wird diesen Weg bis ans Ende gehen und sich zugunsten der Schaffung des Instituts für Versuchsmedizin aussprechen. Gleich zu Beginn des Jahres 1933 schreibt er:
"Die Zeit ist nahe, da die Wissenschaft eine unabweisbare Anfrage an die sogenannten Normalen richten wird: Wollt ihr, daß alle Krankheiten, die Behinderungen, die Unvollkommenheiten, die Senilität und der frühzeitige Tod des Organismus präzise untersucht werden? Diese Untersuchung könnte nicht mit Experimenten an Hunden, Kaninchen und Meerschweinchen durchgeführt werden. Versuche am Menschen selbst sind unerläßlich. An ihm selbst müssen das Funktionieren seines Organismus, Prozesse wie der Intermediärstoffwechsel, die Blutbildung, neurochemische Vorgänge und überhaupt sämtliche Abläufe in seinem Organismus untersucht werden. Dazu wird man Hunderte von menschlichen Einheiten benötigen. Das wird ein echter Dienst an der Menschheit sein, das wird ganz offensichtlich viel bedeutender, viel nützlicher sein als die Vernichtung vieler Millionen Gesunder für das bequeme Leben einer miserablen, psychisch und moralisch degenerierten Klasse von Räubern und Parasiten."46
So verbinden sich die übelsten Auswirkungen des sozio-historischen mit denen des biologischen Szientismus.
Diese "biologischen" oder "zoologischen" Entgleisungen helfen zu verstehen, inwieweit zahlreiche Verbrechen des Kommunismus auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit beruhen und warum die marxistisch-leninistische Ideologie diese Verbrechen dulden und rechtfertigen konnte. Unter Bezugnahme auf juristische Entscheidungen zu den jüngsten Entdeckungen der Biologie schreibt Bruno Gravier:
"Die Gesetzestexte zur Bioethik [...] überdecken andere, düsterere Gefahren, die mit dem Fortschritt der Wissenschaft verbunden sind. Dessen Rolle bei der Genese von Ideologien, die sich auf dem Terror als ›Gesetz der Bewegung‹ (J. Asher) gründen, ist allzu sehr verkannt worden. [...] Der eugenische Zug in den Schriften renommierter Mediziner wie Richet oder Carrel bereitete der Massenvernichtung bis hin zu den abwegigen Maßnahmen der NS-Ärzte den Weg."47
Im Kommunismus gibt es eine sozio-politische Eugenik, einen Sozialdarwinismus. Dominique Colas drückt es so aus: "Als Meister des Wissens über die Entwicklung der sozialen Spezies nimmt Lenin die Schnitte vor, um zu entscheiden, welche davon verschwinden müssen, weil sie von der Geschichte verdammt sind."48
Sobald man mit wissenschaftlichem Anspruch — ideologisch und politisch-historisch wie der Marxismus-Leninismus — dekretiert, die Bourgeoisie sei eine überholte Etappe der Menschheitsentwicklung, rechtfertigt man ihre Liquidierung als Klasse und bald auch die Liquidierung einzelner Menschen, aus denen sie besteht oder die ihr zugerechnet werden.
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Unter Bezugnahme auf den Nationalsozialismus spricht Marcel Colin von "Klassifikation, Segregation, Ausschluß, rein biologischen Kriterien, die von der kriminellen Ideologie transportiert werden. Wir denken an diese szientistischen Präsuppositionen (Vererbung, Kreuzung, Rassereinheit) und auch an den phantastischen, millenaristischen oder planetarischen Beitrag, die historisch genau abgegrenzt und unüberschreitbar sind."49
Die auf die Geschichte und die Gesellschaft angewandten szientistischen Prämissen — die "geschichtliche Berufung des Proletariats" usw. — beruhen eben auf einer millenaristisch-planetarischen Phantasmagorie und sind im Kommunismus allgegenwärtig. Durch diese Setzungen wird eine "kriminogene" Ideologie fixiert und nach rein ideologischen Kriterien eine willkürliche Segregation (Bourgeoisie/Proletariat) sowie Klassifizierungen (Klein- und Großbürger, reiche, mittlere und arme Bauern usw.) festgelegt. Indem er diese Einteilungen festschreibt, als wären sie definitiv gegeben und als könnten die Menschen nicht von einer Kategorie in die andere wechseln, begründet der Marxismus-Leninismus den Primat der Kategorie und der Abstraktion gegenüber dem Wirklichen und Menschlichen. Jedes Individuum, jede Gruppe wird als Archetyp aus einer vereinfachten, abstrakten Soziologie aufgefaßt. Das erleichtert das Verbrechen: Der Denunziant, der Untersuchungsrichter, der Henker der NKWD denunziert, verfolgt, tötet nicht einen Menschen, sondern eliminiert eine dem Wohl der Allgemeinheit schädliche Abstraktion.
Die Doktrin wurde zu einer verbrechenerzeugenden Ideologie, einfach weil sie eine Grundgegebenheit leugnete: die Einheit dessen, was Robert Antelme "das Menschengeschlecht" oder was die Präambel der Menschenrechtserklärung von 1948 die "menschliche Familie" nennt. Wurzelte der Marxismus-Leninismus vielleicht weniger in Marx als in einem verfehlten Darwinismus, der sich der sozialen Frage zuwendet und dabei auf die gleichen Irrwege gerät wie in der rassischen Frage? Eins ist sicher: Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist Ergebnis einer Ideologie, die den Menschen und die Menschheit auf einen nicht universalen, sondern speziellen — biologisch-rassischen oder sozio-historischen — Zustand reduziert.
Auch hier gelang es den Kommunisten mit einem Propagandatrick, ihren Ansatz als einen universalen, die ganze Menschheit berücksichtigenden darzustellen. Häufig sah man sogar einen grundlegenden Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus darin, daß ersterer speziell sei — extrem nationalistisch und rassistisch —, während das leninistische Projekt universalistisch gewesen sei. Nichts könnte falscher sein: Lenin und seine Nachfolger schlossen den Kapitalisten, den Bourgeois, den Konterrevolutionär usw. eindeutig von der Menschheit aus.
Die aus dem soziologischen oder politischen Diskurs geläufigen Begriffe nahmen sie auf und machten daraus absolute Feindbilder. Wie Kautsky 1918 sagte, handelt es sich dabei um kautschukartig dehnbare Begriffe, die dazu berechtigen, aus der Menschheit auszugrenzen, wen, wann und wie man will, und die direkt zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit führen.
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Mireille Delmas-Marty schreibt:
"Sogar Biologen, z.B. Henri Atlan, erkennen an, daß der Begriff der Menschheit einen biologischen Ansatz übersteigt, und daß die Biologie ›über die menschliche Person wenig zu sagen hat‹. [...] Es trifft zu, daß man das Menschengeschlecht durchaus als eine tierische Spezies unter anderen betrachten kann, eine Spezies, die der Mensch selbst herzustellen lernt, wie er bereits Tier- oder Pflanzenarten herstellt."50
Haben nicht die Kommunisten genau das versucht? Gehörte die Idee vom "neuen Menschen" nicht zum Kern des Kommunismus? Haben nicht größenwahnsinnige "Lyssenkos" über neue Mais- und Tomatensorten hinaus auch eine neue Spezies Mensch schaffen wollen?
Die wissenschaftsgläubige Mentalität des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, die mit dem Triumph der Medizin einhergeht, inspirierte Wassilij Grossman zu folgender Bemerkung über die bolschewistischen Führer:
"Dieser Charakter benimmt sich in der Menschheit wie ein Chirurg in den Stationen seiner Klinik.... Seine Seele steckt in seinem Messer. Das Eigentliche an solchen Menschen liegt im fanatischen Glauben an die Allmacht des Skalpells. Das Skalpell — es ist der große Theoretiker, der philosophische Führer des zwanzigsten Jahrhunderts." 51)
Pol Pot treibt diesen Gedanken auf die Spitze: Er amputiert mit einem entsetzlichen Schnitt den "verdorbenen" Teil des Volkskörpers — das "alte Volk" — und rettet den gesunden — das "neue Volk". So verrückt die Idee auch anmutet — ganz neu war sie nicht. Schon in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts schlug Pjotr Tkatschow, russischer Revolutionär und würdiger Schüler Netschajews, die Auslöschung aller Russen über 25 Jahre vor, weil sie unfähig seien, die Revolutionsidee zu verwirklichen. Zur gleichen Zeit empörte sich Bakunin in einem Brief an Netschajew über diesen irrsinnigen Einfall: "Unser Volk ist kein leeres Blatt Papier, auf das jede beliebige geheime Gesellschaft schreiben kann, was ihr gefällt, zum Beispiel Ihr kommunistisches Programm."52 Auch die Internationale fordert dazu auf, "reinen Tisch" zu machen, und Mao verglich sich mit einem genialen Dichter, der seine Kalligraphien auf das berühmte unbeschriebene Blatt pinselt. Als ob man eine mehrere tausend Jahre alte Kultur für ein leeres Blatt halten könnte ...
Gewiß gründet sich die gesamte hier beschriebene Entwicklung des Terrors auf die Sowjetunion unter Lenin und Stalin. Sie umfaßt aber einige unveränderliche Elemente, die man in unterschiedlicher Intensität in sämtlichen sich marxistisch-leninistisch nennenden Regimen wiederfindet. Jedes Land, jede kommunistische Partei hat eine eigene Geschichte, lokale und regionale Besonderheiten, mehr oder weniger pathologische Fälle. Doch die feststehenden Elemente gehörten immer zu der in Moskau ab November 1917 entwickelten Matrix, die deshalb wie ein genetischer Code den Lauf der Dinge prägte.
Wie soll man die Akteure dieses schrecklichen Systems begreifen? Wiesen sie besondere Kennzeichen auf? Offenbar hat jedes totalitäre System bestimmte Neigungen geweckt und die Menschen, die seinem Funktionieren am ehesten dienlich waren, zu entdecken und zu fördern gewußt.
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Der Fall Stalins ist einzigartig. Was die Strategie betrifft, war er ein würdiger Nachfolger Lenins, der eine lokale Angelegenheit eingehend untersuchen, aber genauso eine Situation von weltweiter Bedeutung überblicken konnte. Wahrscheinlich wird Stalin von der Geschichte später als der größte Politiker des zwanzigsten Jahrhunderts angesehen werden, dem es gelang, die unbedeutende Sowjetunion von 1922 in den Rang einer Supermacht zu heben und für Jahrzehnte den Kommunismus als Alternativlösung zum Kapitalismus durchzusetzen.
Er war auch einer der größten Verbrecher eines an formidablen Henkern nicht gerade armen Jahrhunderts. Muß man in ihm einen neuen Caligula sehen, wie ihn 1953 Boris Souvarine und Boris Nicolaievski beschrieben? Ist sein Handeln das eines reinen Paranoikers, wie Trotzki zu verstehen gab? Ist es nicht im Gegenteil das eines für die Politik außerordentlich begabten Fanatikers, der demokratische Verfahren verabscheut? Stalin ging den Weg zu Ende, den Lenin eingeschlagen und Netschajew vorgezeichnet hatte: Er benutzte extreme Mittel für eine extreme Politik.
Daß Stalin bewußt das Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Mittel der Staatsführung wählte, weist auch auf die typisch russische Dimension dieser Persönlichkeit hin. Als Ossete aus dem Kaukasus hatte er in seiner Kindheit und Jugend immer wieder Geschichten von den großen Räubern gehört, den "Abrek". Sie lebten, von ihrem Clan verbannt oder weil sie Blutrache geschworen hatten, als Kämpfer im kaukasischen Hochgebirge, erfüllt vom Mut der Verzweiflung. Stalin benutzte als Decknamen den Namen Koba, nach einem sagenumwobenen Räuber, einer Art Robin Hood. In dem Brief, in dem Bakunin mit Netschajew bricht, heißt es:
"Erinnern Sie sich, wie ärgerlich Sie waren, als ich Ihnen sagte. Sie seien ein abrek, und Ihr Katechismus ein Katechismus von abreki; Sie würden verlangen, daß alle Menschen so geartet sein müßten, daß vollkommene Selbstaufgabe und Verzicht auf alle persönlichen Wünsche, auf alle Vergnügungen, Gefühle, Neigungen und Beziehungen der normale, natürliche und dauernde Zustand aller Menschen ohne Ausnahme sein müßte. Ihre Härte gegen sich selbst, die Sie bis zur Selbstverleugnung treiben, Ihr wirklich außerordentlicher Fanatismus, daraus wollen Sie, sogar heutzutage noch, eine Lebensregel für die Gemeinschaft machen. Das was Sie verfolgen, ist widersinnig, undurchführbar, ist die vollständige Verneinung der Natur des Menschen und der Gesellschaft." 53)
Trotz seines bedingungslosen Engagements für die Revolution hatte Bakunin 1870 zu erkennen begonnen, daß sich auch das revolutionäre Handeln bestimmten grundlegenden moralischen Zwängen unterwerfen muß. Der kommunistische Terror ist häufig mit dem im Jahr 1199 von der katholischen Inquisition eingeführten verglichen worden.
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Hier kann der Romancier sicher mehr erklären als der Historiker. In seinem großartigen Roman "La Tunique d'infamie" bemerkt Michel del Castillo:
"Der Zweck liegt nicht im Foltern oder Verbrennen: Er besteht darin, die richtigen Fragen zu stellen. Kein Terror ohne die Wahrheit, auf der er beruht. Besäße man nicht die Wahrheit, wie könnte man den Irrtum erkennen? [...] Sobald man sich sicher ist, die Wahrheit zu besitzen, wie kann man dann beschließen, seinen Nächsten im Irrtum zu belassen?" 54)
Die Kirche versprach die Vergebung der Erbsünde und das Heil im Jenseits oder das Feuer einer übernatürlichen Hölle. Marx glaubte an eine prometheische Selbsterlösung der Menschheit, den messianischen Traum von der großen Dämmerung. Doch Leszek Kolakowski meint:
"Der Gedanke, daß die bestehende Welt so völlig verdorben ist, daß es undenkbar ist, sie auszubessern, und daß gerade aus diesem Grunde die Welt, die ihr nachfolgen wird, die Fülle der Vollkommenheit und die endgültige Befreiung bringen wird, dieser Gedanke ist eine von den monströsesten Aberrationen des menschlichen Geistes. [...] Diese Aberration ist zwar keine Erfindung unserer Zeit; man muß aber zugestehen, daß sie im religiösen Denken, das die Ganzheit der zeitlichen Werte der Kraft der übernatürlichen Gnade gegenüberstellt, viel weniger abstoßend ist als in den weltlichen Doktrinen, die uns versichern, wir seien imstande, uns aus dem Höllengrund mit einem Sprung auf den Gipfel des Himmels zu retten." 55)
Ernest Renan hatte die Problematik sicher richtig erkannt, als er in seinen "Dialogues philosophiques" annahm, daß es, um sich in einer Gesellschaft von Atheisten die absolute Macht zu sichern, nicht genüge, den Widerspenstigen mit dem Feuer einer mythologischen Hölle zu drohen. Vielmehr müsse eine wirkliche Hölle eingerichtet werden, ein Konzentrationslager zur Unterdrückung der Aufständischen und Einschüchterung aller übrigen, das von einer besonderen Polizei geführt wird, von Wesen ohne jeden moralischen Skrupel und den jeweiligen Machthaberm völlig ergeben: "gehorsame Maschinen, zu jeder Barbarei bereit"56.
Nach der Entlassung der meisten GULAG-Häftlinge 1953 und selbst noch nach dem 20. Parteitag der KPdSU, als eine gewisse Form des Terrors nicht mehr an der Tagesordnung war, behielt das terroristische Prinzip weiter Gültigkeit. Die Erinnerung an den Terror genügte, um den Willen zu lähmen, wie sich Aino Kuusinen erinnert:
"Infolge dieses Terrors lastete immer noch Furcht auf den Gemütern — es war, als könnte man nicht daran glauben, daß Stalin wirklich von der Bildfläche verschwunden war. Es gab kaum eine Familie in Moskau, die nicht in irgendeiner Weise davon betroffen gewesen war, und doch wurde auch jetzt noch nicht darüber gesprochen. Ich selbst zum Beispiel sprach sogar mit meinen engsten Freunden nie über meine Gefängnis- und Lagererlebnisse — und sie stellten keine Fragen. Die Angst hatte sich zu tief in den Herzen eingenistet." 57)
Wenn die Opfer diese Erinnerung an den Terror stets bei sich trugen, so stützten sich die Henker auch weiterhin darauf. Mitten in der Ära Breschnew gab die UdSSR eine Briefmarke zum fünfzigsten Jahrestag der Tscheka heraus und veröffentlichte eine Festschrift zu Ehren dieser Organisation.58)
Zum Abschluß geben wir ein letztes Mal Gorki das Wort, der in seiner Hommage an Lenin 1924 schrieb:
"Ein alter Bekannter von mir, ..., aus Sormowo und ein weichherziger Mensch, beklagte sich über die schwere Arbeit in der Tscheka. Ich sagte ihm: ›Auch mir scheint, das ist nichts für Sie, entspricht nicht Ihrem Charakter. Traurig stimmte er zu: ›Es entspricht gar nicht meinem Charakter.‹ Doch sagte er, nachdem er nachgedacht hatte: ›Wenn ich aber daran denke, daß sich Iljitsch wahrscheinlich auch oft zusammennehmen muß — dann schäme ich mich meiner Schwäche.‹ ...
Kam es vor, daß Lenin ›an sich halten‹ mußte? Er beachtete sich selbst zuwenig, um mit anderen von sich zu sprechen, er verstand wie niemand, über die geheimen Stürme seiner Seele zu schweigen. Doch einmal, ... als er ein paar Kinder streichelte, sagte er:
›Die hier werden schon ein besseres Leben haben als wir; vieles, was wir erlebt haben, werden sie nicht durchmachen. Ihr Leben wird weniger grausam sein. Er sah in die Ferne ... und fügte nachdenklich hinzu: ›Und trotzdem beneide ich sie nicht. Unserer Generation ist es gelungen, eine Arbeit zu vollbringen, die in ihrer historischen Bedeutsamkeit erstaunlich ist. Die durch die Umstände erzwungene Grausamkeit unseres Lebens wird verstanden und gerechtfertigt werden. Alles wird verstanden werden, alles!‹." 59)
Ja, allmählich wird alles verstanden, aber nicht in dem Sinn, den Wladimir Iljitsch Uljanow meinte. Was bleibt heute von dieser "in ihrer historischen Bedeutsamkeit erstaunlichen Arbeit"? Nicht ein illusorischer "Aufbau des Sozialismus", sondern eine ungeheure Tragödie, die auf dem Leben von Hunderten Millionen Menschen lastet und den Übergang ins dritte Jahrtausend prägen wird.
Wassilij Grossman, der Kriegskorrespondent von Stalingrad, der Schriftsteller, der zusehen mußte, wie der KGB das Manuskript seines Hauptwerks konfiszierte, und der an dieser "erstaunlichen Arbeit" gestorben ist, zieht daraus gleichwohl eine optimistische Lehre, die wir uns merken wollen:
"Unser Jahrhundert ist das Jahrhundert der größten Vergewaltigung des Menschen durch den Staat. Aber die Kraft und die Hoffnung der Menschen liegt hierin: gerade das zwanzigste Jahrhundert hat das Hegelsche Prinzip des welthistorischen Prozesses — ›alles Wirkliche ist vernünftig‹ — ins Wanken gebracht, ein Prinzip, das die russischen Denker des vorigen Jahrhunderts sich in unruhevollen Diskussionen zu eigen gemacht haben.
Und gerade jetzt, in der Zeit, in der die Macht des Staates über die Freiheit des Menschen triumphiert, wird von den russischen Denkern in Lagerwattejacken das Hegelsche Gesetz umgeworfen und das höchste Prinzip der Weltgeschichte vorbereitet: ›Alles Unmenschliche ist sinnlos und vergebens.‹ Ja, ja, in der Zeit der totalen Unmenschlichkeit wurde offenbar, daß alles mit Gewalt Geschaffene sinnlos und vergeblich ist, ohne Zukunft lebt, spurlos bleibt." 60
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