Vom schwierigen Umgang mit der Wahrnehmung
Von Joachim Gauck 1998
wikipedia Joachim Gauck *1940 Pankowbuch
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Dem Wunsch des Piper-Verlages, diesem Schwarzbuch einen Essay aus ostdeutscher Sicht beizufügen, entspreche ich nur zögernd. Ich bin weder Historiker noch Politikwissenschaftler. Zwar veranlaßt mich mein jetziges Amt, am öffentlichen Diskurs über die untergegangene DDR-Gesellschaft teilzunehmen. Aber eine erneute Analyse des Stasi-Systems könnte kaum über das hinausreichen, was schon in den letzten Jahren zutage gefördert wurde. Zudem legen die erregten Diskussionen über das Schwarzbuch nahe, einem ganz anderen Phänomen nachzugehen — dem Phänomen der selektiven Wahrnehmung.
Warum haben wir nicht gewußt, was wir wußten?
Warum haben wir nicht gewußt, was wir nicht wußten?
Warum ist selbst unser Erinnern selektiv?Um es gleich zu sagen: Die Beschäftigung mit diesem Thema fiel mir nicht leicht. Denn ich spürte und spüre eine deutliche Unlust, meinen eigenen Wahrnehmungsdefiziten zu begegnen, die nun — fast zehn Jahre nach dem Umbruch — überdeutlich geworden sind: Ausblendungen, die eine fundamentale Kritik der politischen Zustände verhinderten und gelegentlich auch illusionäre oder romantische Politikvorstellungen begünstigten.
Und da meine Abwehrmechanismen nicht untypisch waren, dürften die folgenden Überlegungen auch für einige meiner Landsleute aus der DDR sowie bestimmte Kreise im Westen zutreffen. Denn nur die lange Jahre vorherrschende Einäugigkeit in der Wahrnehmung erklärt, warum wir zehn Jahre nach seinem Zusammenbruch noch immer über die Menschenfeindlichkeit des Kommunismus streiten.
Eine grundsätzliche Bemerkung vorweg: In anderen, nicht kommunistisch regierten Teilen der Welt waren Parteigänger und Freunde des Kommunismus Verbündete von Demokraten gegen Diktatoren und brutale Ausbeuter. In manchen autoritären Regimen waren sie entschiedene, manchmal letzte Opposition. Ihr Widerstand und ihre Leidensbereitschaft erwuchsen aus kommunistischen Idealen. Es muß deutlich bleiben, daß wir einen Raum der Achtung offenhalten für jene, deren kommunistischen Idealen wir zwar Skepsis oder Kritik entgegenbringen, deren Haltung als Kämpfer gegen Ohnmacht, Willkür und Unterdrückung uns aber Achtung und Sympathie abringt.
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Auch ohne die ab 1990 erfolgte Öffnung von Geheimdienst-, Partei- und Staatsarchiven, die eine Fülle zum Teil unbekannter Fakten zutage förderte, haben die meisten DDR-Bürger ihrem System kräftig mißtraut. Vor einem Aufbegehren allerdings schützten sie sich durch eine ängstliche Rest-Loyalität. Deren Gründe liegen einerseits im forciert vorgetragenen Machtanspruch der Herrschenden, andererseits aber auch in dem Hang breiter Kreise, »es gar nicht so genau wissen« zu wollen.
Damals die fehlende Legitimation des realsozialistischen Herrschaftsgebäudes nicht analysiert zu haben, erscheint heute als etwas Peinliches. Und weil es nicht angenehm ist, eigene Lücken in der Wahrnehmung zu besichtigen, erinnern wir uns auch lieber selektiv. Bei den Verantwortlichen und Tätern der SED-Diktatur ist uns das »Schönreden« der Wirklichkeit geläufig. Tatsächlich aber ist die Neigung, es nicht so genau wissen zu wollen, ein Problem breitester Kreise in unfreien Systemen. Teile dieser Haltung entdecke ich rückblickend bei mir selber, obwohl ich weder Parteigänger noch Mitläufer war.
Ich wuchs in einer der vielen Familien auf, die nach dem Krieg die neue Ordnung als despotisch, ungerecht, staatsterroristisch erfuhren. Als ältestes von vier Kindern erlebte ich, wie es ist, wenn der Ernährer »abgeholt« wird. Mein Vater war einer der Deutschen, die ohne Grund in einem Verfahren eines sowjetischen Militärtribunals zu 25 Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt wurden.
Zwar existierte die DDR schon — man schrieb das Jahr 1951 —, aber die Besatzer hatten noch die Macht, ihren stalinistischen Terror zu veranstalten. Besonders in Familien, die zu Regimeopfern gemacht wurden, gab es neben der Angst eine sehr wache Beobachtung jeglichen Unrechts. Kontakte wurden auch zu anderen Familien aufgenommen, die Ähnliches erlebten, wie die Familien der Tausenden von »Werwölfen«, die in der Nachkriegszeit in die teilweise direkt vom NS-Regime übernommenen Lager wie Sachsenhausen oder Buchenwald eingesperrt waren. Da es im ganzen Osten nach dem Krieg keine »Werwolf«-Aktivitäten gab, waren diese Verhaftungen von halben Kindern und Jugendlichen als reine Willkürakte bekannt.
Andere Familien belasteten die Erlebnisse unzähliger Frauen und Mädchen, die in Zusammenhang mit der Befreiung Opfer brutaler Vergewaltigungen geworden waren. Wenn man dann noch bedenkt, daß das zerstörte Land durch umfangreiche Reparationsleistungen und Demontagen zusätzlich niedergedrückt war, wundert es nicht, daß in breiten Schichten der Bevölkerung die Einschätzung herrschte, man sei unter ein Unrechtsregime geraten. Vorherrschend war ein hoher Ton der Empörung.
Die ebenfalls emphatisch vorgetragene politische Moral der Sieger verfing dagegen nur begrenzt. Zwar hatte die Sowjetarmee die Vernichtungslager der Nazis befreit, hatte das Terrorsystem in die Knie gezwungen und dabei einen unsäglichen Blutzoll entrichtet.
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Zwar hatten sich auch deutsche Kommunisten am Widerstand gegen die Nationalsozialisten beteiligt und dadurch eine gewisse Sympathie bei Menschen gewonnen, die als Christen, Sozialdemokraten, Liberale oder Unangepaßte sich ebenfalls nicht unterworfen hatten. Aber alles in allem überzeugte der kommunistische Antifaschismus nur eine Minderheit. Zu eindeutig waren die Sprache der Repression und die neue politische Wirklichkeit.
Die Schaffung eines »Blocks« beendete die Eigenständigkeit nichtkommunistischer Parteien und sicherte die Vorherrschaft der Kommunisten, die sich mit der SPD 1946 zur SED vereinigten. Hervorgehobene und wichtige Stellen wurden seitdem fast nur noch mit Kommunisten besetzt. Unbeliebt machten sich die Kommunisten auch, als sie Stalins Territorialforderungen nachgaben, die Westverschiebung Polens und damit den Verlust der deutschen Ostgebiete guthießen. Nicht nur, daß die SBZ sich schwertat, den hohen Prozentsatz von »Umsiedlern« zu integrieren, die in Mecklenburg und Brandenburg ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung bildeten. Einheimischen wie Vertriebenen galt der Verlust der Heimat als grobes Unrecht, das die Kommunisten noch zementierten, als sie 1950 die Oder-Neiße-Grenze als neue deutsch-polnische Staatsgrenze anerkannten.
Nach 1952, als die SED die Kollektivierung der Landwirtschaft vorantrieb, in der Industrie keine Erfolge vorweisen konnte und Engpässe in der Versorgung auftraten, spitzte sich die Situation zu. Statt den »Aufbau des Sozialismus« zu unterstützen, stand der Bevölkerung der Sinn nach anderem: Am 17. Juni 1953 entwickelte sich spontan und breit ein fundamentaler Protest gegen Programm und Praxis des SED-Regimes — der erste Volksaufstand in Osteuropa gegen das sowjetische System. In über 550 Städten und Gemeinden wurden Forderungen laut, die keineswegs nur die Verbesserung, sondern die Abschaffung des bestehenden Systems zum Inhalt hatten: »Freie, allgemeine und gesamtdeutsche Wahlen«, »Rücktritt der Regierung«, »Loslösung der Gewerkschaft von der Partei«, »Freilassung der politischen Gefangenen« und »Beseitigung der Zonengrenzen«.
Ich selbst war damals dreizehn Jahre alt. Die gewaltsame Niederschlagung des Volksaufstands hat sich mir tief eingeprägt. Ähnlich betroffen war ich 1956, als sowjetische Truppen die Freiheitsbestrebungen der Ungarn niederwalzten. In beiden Fällen war selbstbestimmtes Handeln zur Erlangung demokratischer Zustände erstickt worden. Wahrscheinlich wurde damals jenes Grundgefühl erzeugt, das mich und den größten Teil meiner Landsleute bis 1989 begleitete: das Gefühl der Ohnmacht.
Konnte man sich der staatlichen Allmacht anfänglich noch einfach durch eine Reise mit der S-Bahn nach Westberlin entziehen, so verwandelte der Mauerbau am 13. August 1961 die Flucht zu einer Möglichkeit mit tödlichem Risiko. Ich, wir, die Durchschnittsbürger saßen fest hinter der »Mauer«. Wir fühlten uns endgültig ausgeliefert. In meiner Erinnerung veränderte dieser verfestigte Zustand von Ohnmacht und Ausweglosigkeit tiefgehend meine und die Einstellung vieler DDR-Bürger zum SED-Regime.
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Zwar gab es schon in den 50er, den stalinistischen Jahren das Phänomen der Anpassung aus Angst; in der neuen Situation jedoch nahm die Anpassung noch zu, obwohl die nackte Repression nachließ. Zu offensichtlich war das sozialistische System auf Dauer angelegt. Hilfe von außen, also Beistand des Westens, war ausgeblieben: 1953, 1956 und 1961.
So blieb vielen nur die wenig tragfähige Hoffnung, das System möge sich von innen heraus humanisieren. Eigenständigkeit, unangepaßtes Verhalten und politische Opposition wurden zur Sache von Minderheiten. Die Masse entwickelte Haltungen, die wir als Minimalkonsens und Mindestloyalität bezeichnen können.
Der Minimalkonsens entwickelte sich durch ein Eingehen auf die Ratio der Herrschenden und eine stärkere Berücksichtigung der Logik des Faktischen. Was stattfand, war eine Selbstentmächtigung durch »höhere Einsicht«. Dabei beglaubigten tradierte Wertvorstellungen Teile der neuen Ideologie. Es erfolgte so etwas wie ein »Einleben« in die neue gesellschaftliche und ideologische Umgebung in Form eines schleichenden Übergangs vom Akzeptieren zum Mitmachen bis zum Mitverantworten. Die Regel war dabei kein schlagartiger Bewußtseinswechsel (obwohl es auch Mitglieder der NSDAP gab, die von einem Tag zum anderen zu Anhängern des Kommunismus mutierten), sondern ein Prozeß, bei dem sich in ein und derselben Person neue Einstellungen und Werte Schritt für Schritt neben den alten etablierten.
Derartiges kennen wir bereits aus der NS-Ära. In christlichen Milieus konnte Hitler beispielsweise religiöse Gefühle durch die Anrufung des »Allmächtigen« instrumentalisieren, in konservativen Kreisen die Neigung zu starker politischer Führung und die Hochschätzung der Nation. Deklassierten Arbeitern und Bauern hingegen machte er ein Integrationsangebot mit egalitärem Pathos und einem Sozialprogramm.
Nach dem Fiasko des Dritten Reiches fanden die Kommunisten bei Teilen der Intellektuellen und Arbeitern umgekehrt Gehör mit ihrer Forderung nach einer sozialistischen Alternative. Denn das »Monopolkapital« und die »Finanzoligarchie« hatten die Diktatur in den Sattel gehoben; nur eine Macht der Arbeiter und Bauern würde eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung garantieren können. Die Themen Gerechtigkeit und Frieden knüpften zudem an alte Heilserwartungen aus der christlichen Verkündigung an. Bodenreform und sonstige Enteignungen sollten Reichen nehmen und Armen geben — war es nicht Jesus Christus selbst, der die Armen selig gepriesen hatte?
Zu alledem trat noch ein Element der moralischen Ent-Schuldung: Wer zum kommunistischen Lager gehörte, zählte zu den »Siegern der Geschichte« und war somit Teil der guten Welt des Antifaschismus. Verbündeter der Sowjetunion zu sein, befreite automatisch von deutscher, brauner Schuld. Eine kurze Entnazifizierung in der SBZ diente primär dem Elitenwechsel.
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Viele NSDAP-Mitglieder wurden zu Unrecht bestimmter Verbrechen beschuldigt, während andere, oft stärker belastete, Karrieren in Partei und Gesellschaft machten: Sobald sie ins Lager der Kommunisten überwechselten, waren sie einer substantiellen Bearbeitung eigener Verstrickung und Schuld enthoben.
Generell gilt offensichtlich: Wenn sich die Herrscher totalitärer Systeme lediglich auf die Furcht der Unterdrückten oder auf negative Gefühle wie Neid, Haß, Atavismus, Sadismus stützten, würden ihre Staaten eher zusammenbrechen. Dauerhafter werden sie, weil aus den positiven Motivschichten heraus der Mechanismus von Akzeptieren, Teilnehmen, Mitgestalten und Mitverantworten entsteht.
Ist dieser Adaptationsprozeß in den Anfangsjahren der DDR noch von einer deutlich oppositionellen Bewegung begleitet, so wird er in den 60er Jahren dominant. In der evangelischen Kirche, in der ich seit 1965 tätig war, zeigte sich der Umschwung von offener Opposition zu Loyalität (freilich unterschiedlicher Abstufung) beispielhaft.
Ende der 60er Jahre verabschiedete sich die evangelische Kirche mit ihrer Formel »Kirche im Sozialismus« explizit von der antitotalitären Haltung, wie sie u.a. die Bischöfe Otto Dibelius (Berlin) und Hans Joachim Fraenkel (Görlitz) oder der Studentenpfarrer Siegfried Schmutzler in Leipzig vertreten hatten. Sicher gab es Kapitulanten, sicher gab es inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit, die an diesem Prozeß mitwirkten. Entscheidend aber war, daß die Mehrheit der Christen in der DDR Minimalkonsens und Mindestloyalität als rational geboten ansah. Sie verhielten sich wie die Entspannungspolitiker: Der friedliche Ausgleich gewann gegenüber der kontroversen Auseinandersetzung.
Diese Haltung ebenso wie die spätere Phase der Entspannungspolitik hat ihre eigene Problematik, die ich an einem Zitat von Vaclav Havel deutlich machen will:
»Ich erinnere mich noch, wie zu Beginn der 70er Jahre einige meiner westdeutschen Freunde und Kollegen mir auswichen aus Furcht, daß sie durch einen wie auch immer gearteten Kontakt zu mir, den die hiesige Regierung nicht gerade liebte (...), die zerbrechlichen Fundamente der aufkeimenden Entspannung bedrohen könnten.«
Nicht seiner möglichen Kränkung wegen spricht Havel dieses Thema an, sondern wegen der Anpassung dieser Personen. »Nicht ich war es, sondern sie, die freiwillig auf ihre Freiheit verzichteten.«
In der Zeit zwischen 1968 und 1980 hatte ich selbst diese Position des »Realismus« übernommen. Der Antikommunismus, den mein Umfeld vertreten hatte und der in der DDR und in anderen Ostblockländern aus einer Fülle von Lebenserfahrungen und Leiden erwachsen war, hatte sich schrittweise verwandelt: An die Stelle der Delegitimierung des Systems war der Wunsch nach einem konstruktiven Dialog und einer zwar kritischen, aber aus taktischen Gründen solidarischen Haltung gegenüber dem real existierenden System getreten.
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Bei Beibehaltung der prinzipiellen Ablehnung, so glaubte ich damals, wären die Möglichkeiten kirchlichen Handelns stärker gefährdet. Der 35jährige wollte nicht Anhänger einer Ideologie aus Zeiten des Kalten Krieges bleiben. Es erschien ihm erfolgversprechender, die Ideologie von ihrem eigenen Ansatz her in Frage zu stellen — so wie Robert Havemann und Ernst Bloch es taten. Außerdem verfolgten nach 1968 zahlreiche westliche Intellektuelle und zunehmend auch Vertreter der evangelischen Kirche einen kapitalismuskritischen Kurs und hingen verschiedenen sozialistischen Ideen an.
Das »Prinzip Hoffnung« bot evangelischen Christen die Möglichkeit, den Sozialismus positiv zu rezipieren. Ohne die real existierende Herrschaft in Ostdeutschland zu exkulpieren, wollten viele Christen in der DDR mit der fortschrittlichen Linken des Westens die Zukunft eher nicht-kapitalistisch imaginieren. Der erwartete Vorteil für jene, die aus taktischer oder auch tatsächlicher Loyalität ihre Haltung änderten, blieb jedoch aus: Die Staatsmacht verweigerte jeden echten Dialog mit der Kirche.
Im Rückblick erscheint mir der Verlust, den die Taktik des friedlichen Ausgleichs mit sich brachte, höher als der Gewinn. In dem Maße, in dem die Debatten ausschließlich um philosophische und ideologische Probleme, also um Fragen des Überbaus kreisten, gerieten die politische Praxis mit ihren Menschenrechtsverletzungen und das grundsätzliche Legitimationsdefizit der SED-Herrschaft aus dem Blick. Ich war zwar verbunden mit den »fortschrittlichen« Milieus im Westen, deren Meinung ich schätzte, aber ich bezahlte dies mit einem Verlust an Wahrnehmung, Moral und Handlungsfähigkeit.
Die Gehorsamsforderungen des Staates, die Militarisierung der Gesellschaft, die ökologischen Desaster, die Kriminalisierung von Ausreisewilligen, die Zersetzungsstrategien der Stasi gegenüber Oppositionellen verschafften der Wirklichkeit zwar Ende der 70er Jahre wieder den ihr gebührenden Platz in meinem Denken. Doch in den Gemeinden diskutierten wir noch bis 1988 häufiger über den Rassismus in der Dritten Welt und die Ungerechtigkeiten des Weltwirtschaftssystems als über die Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land. In vollem Umfang ist mir dies erst nach 1989 deutlich geworden. Und so bleiben Fragen.
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Warum habe ich grundlegendes, durch eigene Erfahrung erworbenes Wissen durch fremde, primär »linke« Analysen aus dem Westen ersetzt? Einerseits besaß ich Literatur, die meine kritische Position untermauerte: Manes Sperber, Alexander Solschenizyn, Wolf Biermann und andere verbotene Schriften standen in meinem Bücherschrank. Andererseits habe ich Bücher nicht gelesen, die meine emotionale Abneigung »auf den Begriff« gebracht und mir zu einer vertieften Kenntnis über die Struktur des Politischen im totalitären Staat verholfen hätten.
Ich habe keinen Anlaß zu bereuen, daß ich die Bücher von Helmut Gollwitzer, Erhard Eppler oder Dorothee Solle gelesen habe. Aber warum habe ich beispielsweise Hannah Arendts Texte nicht gelesen? Warum so viel Moralisches über Politik und so wenig Politikwissenschaft? Hatte ich eine Abneigung gegenüber den Fakten? Genügte es mir, eine Meinung über eine Realität zu haben, deren Fakten ich mir nicht bis zum Ende erschlossen hatte?
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Es ist bitter, heute auf derartige Fragen mit Ja antworten zu müssen. Genaueres Wissen hätte mich mit der Frage nach entschiedenerem Widerstand gegenüber dem System konfrontiert, hätte möglicherweise auch größere Einsamkeit innerhalb meines Milieus, den Verlust eines Teils meiner geistigen Heimat nach sich gezogen. Ich war, obzwar in Opposition zum System, Teil einer Gesellschaft geworden, die — nach Hannah Arendt — infolge totalitärer Herrschaft selbst einen Verlust von Wirklichkeit erlitten hatte.
Neben jenen, die sich durch »höhere Einsicht« entmächtigten, existierte aber noch die große Gruppe derer, die sich »durchwurstelten«. Sie gab dem Staat opportunistisch das geforderte Ja — man darf vermuten, daß es ein Aber gab —, nur selten oder insgeheim durfte sich jedoch das Nein zeigen. Unüberzeugte Minimalloyalität wurde zum Kennzeichen breiter Kreise in den späten DDR-Jahren. Um im gesellschaftlichen Leben nicht zu Außenseitern zu werden, paßten sie sich nach außen an, im Freundes- und Familienkreis konnten sie allerdings entgegengesetzte Meinungen vertreten. Nach dem Prinzip der Drehbühne stellten viele die jeweils nützliche Einstellung in den Vordergrund — sie waren affirmativ und kritisch zugleich. Doppel- und Mehrfachidentitäten wurden zur Normalität.
Es geht nicht darum, den moralischen Zeigefinger zu erheben und über Charakterschwäche zu räsonieren. Das Aufzeigen solcher Mechanismen soll vielmehr den Grad einer politischen Entfremdung verdeutlichen, die nicht nur aus Opportunismus, sondern vor allem aus Angst erwachsen war. Im kollektiven Gedächtnis waren die Schrecken des frühen Terrors aus stalinistischer Zeit lebendig geblieben, und der übergroße Geheimdienst, das brutale Grenzregime, die unnachsichtige Verfolgung politisch Oppositioneller ließen selbst in den 80er Jahren die Rückkehr zu stalinistischen Methoden jederzeit als denkbar erscheinen. Zur Bestätigung dieser Vermutung dienten die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, die Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 und das Massaker auf dem Tienanmen-Platz 1989 in Peking.
Zwar erlebten wir in den letzten Jahren vor 1989 einen Kommunismus in der DDR, der nicht mehr mordete und folterte. Dankbare Zeitgenossen haben deshalb allerlei euphemistische Bezeichnungen für diese Ära ersonnen. Eine nüchterne Betrachtung der politischen Verhältnisse wird dennoch zu einem Urteil gelangen, das den Kommunismus ebenso als totalitär einstuft wie den Nationalsozialismus.
Die Unterschiedlichkeit der Ideologien fällt zwar sofort ins Auge. Auch der Vergleich der Staatsformen, der Staatsorgane und des geschriebenen Rechts ergibt größere Differenzen als Übereinstimmungen. Wer jedoch die konkrete Herrschaftstechnik vergleicht, die dienstbare Rolle des Rechts und den permanenten Einsatz von Terror, der findet genauso Ähnlichkeiten wie bei der Untersuchung der Folgen staatsterroristischer Herrschaft auf die Bürger.
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Ins Auge fallen die Einschränkungen von Individualität und eine starke Entsolidarisierung. Angst um den Erhalt des Lebens oder die Aufstiegsmöglichkeiten trennt die anpassungsbereiten Mehrheiten von Minderheiten, die anders denken und leben und im Extremfall als Feinde, Abweichler oder Schädlinge ausgegrenzt, ja massenhaft eliminiert werden.
Totalitäre Herrschaft hat Folgen. So wie ein Krieg noch lange nach seinem Ende eine Spur der Verwüstung in den Seelen der Überlebenden — Tätern wie Opfern — hinterläßt, so zeichnet auch totalitäre Herrschaft Spuren von Verstörung und Zerstörung in die Seelen. Nur fallen die seelischen Folgen nicht so unmittelbar ins Auge wie die Ruinen nach dem Krieg oder die ökologischen und ökonomischen Desaster, die wir nach dem Zusammenbruch des Sozialismus erlebten.
Den Kommunismus als absolutistisch oder despotisch zu beschreiben scheint mir nicht ausreichend. Wir stehen vor gigantischen Menschheitsverbrechen, und bei allem Streit um Definitionen darf nicht verkannt werden, daß neben dem Nationalsozialismus auch mit dem Kommunismus in diesem Jahrhundert ein Qualitätssprung ins Negative erfolgt ist.
Statt des neuen Menschen erblicken wir am Ende des Jahrhunderts den nachhaltig verstörten Menschen, statt der neuen Gesellschaft die zerstörte Gesellschaft. Ob als Frucht der abendländischen Aufklärung, wie dem Skeptiker scheinen mag, oder als Flucht aus der Aufklärung, wie der Optimist hoffen mag: So real wie blutig ist tatsächlich »einmalig« Neues entstanden. Neben den Demokratien stellen die neuen totalitären Systeme das andere Gesicht der Moderne dar. Man hätte den Erkenntnissen Hannah Arendts aus der Nachkriegsära und den Totalitarismustheorien in den letzten zwanzig Jahren eine sensiblere Beachtung gewünscht. Die modische Verwerfung von Begriff und Theorie hat der westdeutschen Kommunismusrezeption mehr geschadet als genützt. Es entstand ein Defizit an Erkenntnissen.
Hinter dem Eifer vieler Kritiker der Totalitarismustheorie standen oft andere als wissenschaftliche Motive. Viele fürchteten, mit der Delegitimierung der linken Diktatur zu eng an jene heranzurücken, die sich vor der Aufarbeitung der rechten Diktatur drückten. Dabei produzierte die Furcht vor der Einseitigkeit des rechten die Einseitigkeit des linken Lagers. Außerdem erschien der Linken eine Kritik des Kapitalismus aufgrund seiner Verbindung zum Nationalsozialismus dringender als eine Kritik des Sozialismus — der angeblich trotz all seiner Fehler einzigen Alternative.
Wer diese Engführung im Denken hätte aufbrechen können, wurde ausgegrenzt: seit jeher die »Renegaten«, d.h. die abtrünnigen Kommunisten; in den letzten zwanzig Jahren die osteuropäischen Dissidenten und ganz generell unvoreingenommene Zeitzeugen aus den Ländern des real existierenden Sozialismus. Statt die inoffizielle Sicht von unten einzubeziehen, beschränkte sich die jüngere westdeutsche DDR-Forschung weitgehend auf die Erforschung der offiziell zugänglichen Materialien. Nicht selten analysierte sie Potemkinsche Dörfer.
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Um die Auffassung vom sozialistischen System als »an sich« besserer Alternative aufrechterhalten zu können, mußte auch sein Repressionsapparat marginalisiert werden. Dabei hätte beispielsweise eine Analyse seiner Funktionen höchst aufschlußreich für die Charakterisierung des politischen Systems sein können. Welche Rolle spielte der Sicherheitsdienst in den verschiedenen Phasen bei der Ausmerzung alles Anderen? War die Verwandlung von nacktem Terror in flächendeckende Überwachung und Kontrolle gleichbedeutend mit einer Liberalisierung? Was besagt ein gigantischer Apparat von 90.000 Hauptamtlichen für nicht einmal 17 Millionen Einwohner — wie in der DDR — über die Stabilität des Staates? Brauchten die kommunistischen Regierungen den Sicherheitsdienst nicht genauso als Stabilitätsersatz wie das Militär oder die zentralistisch dirigierte Kaderpolitik?
Das Wissensdefizit begünstigte ein Haltungs- und Handlungsdefizit. Ein stärkeres Bewußtsein von der Gewalt nicht legitimierter Macht hätte eine stärkere Abgrenzung gegenüber den Ansprüchen der SED-Machthaber und einen anderen Umgang mit der DDR-Opposition nach sich gezogen. Es ist zwar nicht sicher, ob auch eine realistischere Zukunftsplanung unter Einbeziehung der Wiedervereinigung erfolgt wäre. Sicher hingegen ist, daß eine umfassendere Analyse des sozialistischen Deutschland dem demokratischen Deutschland einen Zugewinn an Selbstbewußtsein erbracht hätte.
Ich meine damit nicht ein Mehr jenes platten Bewußtseins, daß man mehr sei, wenn man mehr habe. Vielmehr meine ich, daß das politische Selbstbewußtsein der Westdeutschen durch einen exakten Vergleich mit der DDR ein deutliches Plus erfahren hätte. Die westdeutsche Realität wäre zwar nicht als das »Gute«, aber doch als das deutlich weniger Schlechte bewußt geworden. Die sozialistischen Wirtschaftsverhältnisse sollten zwar zur Befreiung von der Knechtschaft des Kapitals führen. Tatsächlich aber haben die Abschaffung des Marktes und die Verweigerung der Mitbestimmung zu einem wirtschaftlichen Ruin geführt. Und die Entfremdung im realsozialistischen System sollte sich als gravierender erweisen als jene, die Marx als Ergebnis kapitalistischer Wirtschaftsverhältnisse kritisierte.
Zwar sind die westlichen Gesellschaften nicht im seligen Hafen von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit angekommen. Der Weg der Demokratien ist auch ein Kurs durch zahlreiche Klippen. Aber die Demokratie intendierte und entwickelte den politischen Raum, der allen Bürgern geöffnet ist und Partizipation auch tatsächlich ermöglicht. Indem sie Grund- und Bürgerrechte definierte und verwirklichte, gelangte so auch der Lohnabhängige schrittweise zu einer Freiheit und Würde, die in vordemokratischer Zeit nur Minderheiten vorbehalten waren.
Es ist das elementare Verdienst der parlamentarischen Demokratie, die eigene Würde und den Wert des Systems nicht ideologisch gesetzt und durchgesetzt zu haben — vielmehr schafft sie den Raum, in dem freie und ermächtigte Individuen und Gruppen ihre Lebensentwürfe durch Kontroverse und Konsens, Gestaltung und Herrschaft aushandeln. Wert und Würde der Demokratie wachsen so von unten her in dem Maße, wie Freiheit und Würde des Bürgers wachsen.
Freie Wahlen, gleiches Recht für alle, eine Verfassung, die die Menschen- und Bürgerrechte schützt, und eine Gewaltenteilung verleihen der Demokratie eine Legitimation, an der es dem sozialistischen System immer gemangelt hat. Wenn dazu noch eine Sozialgesetzgebung tritt, die die Verelendung ausschließt, wenn Bürgerrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit geschützt sind, die eine Kritik an Mißständen ermöglichen, wenn dazu eine Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit existiert, die dem Einzelnen auch gegenüber dem Staat zum Recht verhelfen kann, dann liegt die Überlegenheit der Demokratie eigentlich auf der Hand. Doch wo, wie im Westen, Unfreiheit abwesend ist, pflegen die Vorteile der Freiheit zu verblassen.
Wer, wie viele Menschen im Osten, noch die Erinnerung an totalitäre Herrschaft in sich trägt und noch vertraut ist mit der realen Entmächtigung jener Zeit, der könnte deswegen die einäugige Sichtweise auf den Kommunismus überwinden helfen. Denn wie schwach muß der Antifaschismus derer sein, die, in altem Anti-Antikommunismus befangen, die Sprache der Fakten fürchten und der Analyse des Kommunismus Zügel anlegen. Die Wahrnehmung der »schwarzen« Tatsachen roter Herrschaft läßt nur eine Einstellung zu: den antitotalitären Konsens aller Demokraten, der die intellektuelle und politische Äquidistanz gegenüber Demokratie und Sozialismus verbietet.
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