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Vorwort     Die Pietà       wikipedia Pieta = Schmerzensmutter       Volltext-2020.pdf

 

Das Böse, was uns hier im letzten Monat geschah,
war ein Zeichen. --Der Dorfälteste von Ban Srisomboon (1)

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In Zeiten der Seuche wie während der Grippepandemie 1918, die den kleinen Bruder meiner Mutter und 40 bis 100 Millionen weitere Menschen in den Tod riss, fällt es schwer, sich eine klare Vorstellung vom individuellen Leiden zu machen.

Durch große Epidemien, Weltkriege oder Hungersnöte verursachtes Massensterben ist ein Ereignis, das die Menschheit als Ganzes erfasst und jenseits unseres emotionalen Begriffs­vermögens liegt. Die Betroffenen sterben dadurch zweimal: ihre physische Agonie verdoppelt sich durch das Verschwinden in den dunklen Wassern der Megatragödie.

Camus drückt das so aus: »Und da ein toter Mensch nur von Bedeutung ist, wenn man ihn tot gesehen hat, sind hundert Millionen über die Geschichte verstreute Leichen in der Vorstellung nur Rauch.«(2)

Niemand trauert um eine Vielzahl von Menschen oder hält Totenklage am Grab der Abstraktion. Wir besitzen keinen Instinkt für kollektives Leid wie andere soziale Wesen und auch keine biologische Solidarität, die sich automatisch einstellt angesichts der Vernichtung unserer Artgenossen. Schlimmstenfalls empfinden wir beim Schwarzen Tod, bei Tsunamis, Massakern, Völkermorden und einstürzenden Wolkenkratzern sogar so etwas wie eine perverse, genüssliche Faszination.

Um bei einer verheerenden Zerstörung Trauer zu empfinden, müssen wir sie personifizieren. Die »Endlösung« rührt solange nicht wirklich an die menschlichen Gefühle, bis jemand <Das Tagebuch der Anne Frank> gelesen hat oder die erschütternden Dokumente im Holocaust- Museum sieht. Dann ist es möglich zu weinen.

Die Bedrohung durch die Vogelgrippe, eine erst im Entstehen begriffene Seuche, die laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) in den nächsten Jahren bis zu 100 Millionen Menschen töten könnte, wird vielleicht am bewegendsten in der Geschichte von Pranee Thongchan und ihrer kleinen Tochter Sakuntala greifbar. In der Tat war es das Bild der sterbenden Elfjährigen, die von ihrer jungen Mutter zärtlich in den Armen gehalten wird, die Pietà, die den emotionalen Anstoß zum Schreiben dieses kleinen Buches gab, das vom Versagen unserer Regierungen und anderer berichtet, die Welt vor der drohenden Gefahr eines ungeheuer gefährlichen Influenza­ausbruchs zu schützen. Genau diese intime und bewegende Größenordnung einer MutterTochter-Tragödie wird verloren gehen, wenn die Vogelgrippe, wie so viele vorhersagen, zur nächsten großen Pestilenz der Globalisierung im Kielwasser von HIV/AIDS heranreift.

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Ban Srisomboon ist ein Dorf mit 400 Haushalten in der Provinz Kamphaeng Phet im Norden von Thailand, einer freundlichen, verschlafenen Region, deren verfallene Tempel und Paläste nur wenige Touristen anziehen, die aber im ganzen Land bekannt ist für ihre vorzüglichen Bananen. Wie für andere auf dem Land lebende Thais gehören Hühner für die Menschen von Ban Srisomboon zum alltäglichen Leben. Sie züchten freilaufendes Geflügel für den Verkauf und investieren ihre Einnahmen in Kampfhähne, quasi eine nationale Leidenschaft. Doch Ende August 2004 starben im ganzen Dorf Hühner auf rätselhafte Weise, ganz ähnlich wie die Ratten in Oran in den ersten Kapiteln von Die Pest. Aber im Gegensatz zu den glücklosen Siedlern in Camus‘ berühmtem Roman erkannten die Bauern von Ban Srisomboon, dass die toten Hühner Träger der aviären Influenza waren, die sich in Thailand seit November 2003, heimtückisch ausbreitete. Dieser Grippesubtyp, den Virologen mit dem genetischen Nummernschild »H5N1« versahen, wurde erstmals 1997 in Hongkong identifiziert, als er von Wasservögeln auf Menschen übergesprungen war und sechs seiner 18 Opfer getötet hatte. Eine verzweifelte Notschlachtung des gesamten Geflügels in der Stadt hatte den Ausbruch zunächst unter Kontrolle bringen können, doch das Virus tauchte ab – höchstwahrscheinlich in das »stille Reservoir« der Hausenten.

Im Jahr 2003 trat es dann in ganz China und Südostasien in geradezu epischem Ausmaß wieder auf. Die Forscher waren entsetzt, als sie herausfanden, dass das H5N1 Virus – genau wie der so genannte Jüngste-Tag-Bazillus in Michael Crichtons vor Jahren gedrehtem Thriller Andromeda Strain – »zunehmend pathogener« wurde, und zwar sowohl für Hühner als auch für Menschen. In den ersten drei Monaten von 2004 wurden, nachdem neue Todesfälle aus Vietnam und Thailand gemeldet worden waren, mit enormem internationalen Einsatz über 120 Millionen Hühner und Enten getötet, um eine Brandmauer um den Herd des Ausbruchs zu bauen. Der Großteil des geschlachteten Geflügels hatte kleinen Bauern oder Vertragszüchtern gehört, und als diese häufig durch die Verluste zugrunde gerichtet wurden, führte das zu großer Besorgnis und Bitterkeit in den ländlichen Gebieten Südostasiens.

Die Familienoberhäupter in Ban Srisomboon standen nun vor einem entsetzlichen Dilemma. Einerseits war ihnen bewusst, dass die Krankheit wirklich gefährlich war, sowohl für ihre Kinder als auch für ihre Hühner, und dass sie rechtlich verpflichtet waren, die Behörden zu informieren. Andererseits war ihnen klar, dass die Regierung umgehend ihr Geflügel töten würde, einschließlich ihrer preisgekrönten Kampfhähne. Die offizielle Entschädigung lag lediglich bei 20 Baht pro Vogel (circa 50 Cents), aber die Hähne waren bis zu 10.000 Baht wert – in einigen Fällen waren sie das wichtigste Familienkapital.(3)

Darüber, wie das Dorf diesen Widerspruch löste, veröffentlichten die Bangkoker Zeitungen unterschiedliche Versionen. Nach der einen Version entschieden die Dorfbewohner sich dafür, den Ausbruch zu verheimlichen und das Beste zu hoffen. In einer anderen Version übermittelten sie zweimal dem Landwirtschaftsministerium, dass eine ungewöhnliche Anzahl von Hühnern gestorben war, doch versäumten die Behörden, das Dorf daraufhin zu inspizieren. Sakuntalas Onkel Somsak Laemphakwan erzählte Reportern, dass er bei jedem Ausbruch für die Tierkadaver tiefe Löcher aushob, um sicher zu gehen, dass sich die Infektion nicht über seine toten Vögel weiterverbreiten konnte. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahme litt seine kleine Nichte, die wie andere Dorfkinder täglich mit den Vögeln in Kontakt kam, plötzlich unter verdächtigen Bauchschmerzen und Fieber. Somsak brachte sie in die nahe gelegene Klinik, aber die Krankenschwester hielt ihre Krankheit fälschlicherweise für eine schlimme Erkältung. Fünf Tage später jedoch begann Sakuntala Blut zu erbrechen und wurde auf schnellstem Wege in das Distriktkrankenhaus der 25.000-Einwohner-Stadt Kamphaeng Phet verlegt. Als sich ihr Zustand zusehends verschlechterte, rief ihre Tante Pranom Thongchan Sakuntalas Mutter an, die in einer Bekleidungsfabrik in der Nähe von Bangkok arbeitete, und sagte ihr, sie solle sofort nach Hause kommen.(4)

Pranee war entsetzt, ihre Tochter im Endstadium einer Viruspneumonie vorzufinden und zu sehen, wie sie Blut erbrach und kaum noch Luft bekam (Pneumonie beziehungsweise Lungenentzündung tötet durch langsames Ersticken). In der letzten Nacht, so die Krankenschwestern, hielt sie ihre Tochter in den Armen, küsste und streichelte sie, flüsterte ihr Koseworte zu – Liebesbezeugungen, von denen man hoffen möchte, dass sie die panische Angst und das Leiden des Mädchens ein wenig linderten. (Die Berichte waren besonders bitter für mich, weil sie unheimlicherweise die Erinnerungen meiner Mutter, die 1918 acht Jahre alt war, an den Tod ihres kleinen Bruder wachriefen, der in den Armen ihrer Stiefmutter gestorben war.)

Das Krankenhaus vermerkte »Denguefieber« als Todesursache für Sakuntalas Tod und ihr Leichnam wurde eingeäschert, noch bevor irgendjemand eine Gewebeprobe hatte entnehmen können. Auf der Beerdigung ihrer Tochter klagte Pranee über Muskelschmerzen und akute Erschöpfung und ihre Familie brachte sie in dasselbe Krankenhaus, das die gefährliche Krankheit ihrer Tochter als Erkältung fehldiagnostiziert hatte. In schrecklicher Wiederholung medizinischer Inkompetenz, wurde auch Pranee versichert, sie leide lediglich an Erschöpfung. Sie ging an ihre Fabrikarbeit zurück, brach bald darauf zusammen, und wurde in ein Krankenhaus eingeliefert, in dem sie am 20. September, zwei Wochen nach ihrer Tochter, verstarb. Sie war gerade sechsundzwanzig Jahre alt geworden.

Während Gesundheitsbeamte auf einen Autopsiebericht von Pranee warteten, lag ihre Schwester Pranom mit ähnlichen Symptomen in medizinischer Quarantäne. Glücklicherweise vermuteten die Ärzte jetzt Vogelgrippe als Ursache und verordneten umgehend eine Behandlung mit Oseltamivir (Tamiflu), einem starken Antivirenmittel, das sich als einzigartig wirksam gegen die tödlichen Influenzastämme erwiesen hat, wenn es rechtzeitig verabreicht wird. Während Pranom sich wieder erholte, trafen Teams von Männern mit Gasmasken und Biosicherheitsanzügen nervös in Ban Srisomboon ein, das jetzt zur »roten Zone« erklärt worden war, um alle übriggebliebenen Vögel zu töten, einzupacken und zu vergraben. Andere Crews in Gummistiefeln und Regenzeug sprühten Desinfektionsmittel auf »alles vom Pickup voller Schuljungen, bis zu dreirädrigen Traktoren.« In einer Atmosphäre nahe der Panik mieden die Dorfbewohner ihre Nachbarn, rannten aber beim ersten Anzeichen eines Hustens oder Schnupfens in die Notaufnahme des Distriktkrankenhauses, vor lauter Angst, sie hätten die Vogelpest. Andere beknieten Mönche aus der Gegend, den übelwollenden Geist auszutreiben, der, wie aus einem Stephen King Film entsprungen, über ihr friedliches Dorf gekommen war.

Ihre Ängste waren keineswegs irrational: am 28. September gab die WHO bekannt, dass Pranee sich wahrscheinlich direkt bei Sakuntala angesteckt hatte, was damit die erste Mensch-zu-Mensch-Übertragung der äviären Grippe seit der Entstehung des aktuellen virulenten Subtyps 1997 markierte.

Obwohl die WHO und die thailändische Regierung versuchten, die Tragweite von Pranees Tod herunterzuspielen – »eine virale Einbahnstraße«, in den Worten eines Gesundheitsbeamten – wussten die Grippeforscher, dass die Enthüllung die Schlagzeilen und die Besorgnis verdiente, die sie rund um die Welt hervorrief. Wenn das aviäre Virus passende Gene von einem humanen Influenzastamm erworben hatte, dann wäre Pranee womöglich nur das erste von Millionen von neuen Opfern einer Seuche, die in ihrer gegenwärtigen Ausprägung (übertragen vom Geflügel auf den Menschen) zwei Drittel der Infizierten das Leben gekostet hatte.

Man hatte festgestellt, dass das Virus zum Zeitpunkt des Ausbruchs unmodifiziert war, was vermuten lässt, dass Pranee nur aufgrund ihres anhaltenden direkten Kontakts mit den Körperflüssigkeiten ihrer Tochter erkrankte. Aber einer der führenden Forscher hob hervor: »Das sollte keineswegs ein Grund zur Beruhigung sein«: »Die Mensch-zu-Mensch Übertragung eines der tödlichsten Humanpathogene der modernen Welt sollte als Erinnerung an dringend notwendige Vorkehrungsmaßnahmen gegen eine zukünftige Influenza-Pandemie dienen.«5

Der springende Punkt der Bedrohung durch die Vogelgrippe ist, wie wir sehen werden, dass eine Influenzamutation albtraumhafter Virulenz – die sich in vom globalen Agrokapitalismus geschaffenen Nischen ausgebildet hat und sich dort verschanzt – derzeit dabei ist, sich ein oder zwei neue Gene zu suchen, die es ihr möglich machen, in pandemischer Geschwindigkeit durch dicht besiedelte Städte mit zumeist armer Bevölkerung zu ziehen. Ein Schicksal, das weitgehend von uns provoziert worden ist: Von Menschen verursachte ökologische Schocks wie Ferntourismus, Zerstörung von Feuchtgebieten, industrielle »Revolution der Massentierhaltung« und Verstädterung der Dritten Welt sowie das damit einhergehende Entstehen von Megaslums sind dafür verantwortlich, dass die außergewöhnliche Mutationsfähigkeit der Influenza dabei ist, sich zu einer der gefährlichsten biologischen Kräfte auf unserem belagerten Planeten zu entwickeln.

Die zunehmende Armut in den Städten ist nur ein Grund für die erschreckende Anfälligkeit gegenüber dieser und anderen Krankheiten; dazu kommt noch die Vernachlässigung der Impfstoffentwicklung durch die pharma­zeutische Industrie, die Infektionskrankheiten für »unprofitabel« hält, sowie die Verschlechterung oder gar der Zusammenbruch der öffentlichen Gesundheitsinfrastrukturen in einigen reichen ebenso wie in armen Ländern. Das Böse, das Ban Srisomboon heimsuchte, war mit anderen Worten keine Seuche aus alten Zeiten, die aus dem Tiefschlaf geweckt wurde, wenn so etwas überhaupt unabhängig von spezifischen historischen Gegebenheiten existieren kann, sondern etwas gänzlich Neues, zu dessen Entstehung wir ungewollt, aber entscheidend beigetragen haben. Und das ist, wie die Dorfbewohner in Ban Srisomboon meinten, sicherlich ein »Zeichen«.

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