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   Der Tiergarten des Menschen   

 

 

120-135

Der Mensch hat das Haustier geschaffen. Es sollte ihm dienen, ihm nützen; manche dieser Formen sollen ihm aber auch die Zeit vertreiben, ja sogar ein lieber Kamerad sein, von dem er keine Enttäuschung zu befürchten hat.  

In der Altsteinzeit war der Mensch noch allein. Seit etwa 15.000 Jahren befaßte er sich mit kleinen Wolfsarten, mit dem Hund, aus dem er allmählich die verschiedenen Rassehunde herauszüchtete. Erst nach der Eiszeit, also etwa 12.000 v.Chr., wurde das Interesse der Menschen am Hund lebhafter. Damals war er nicht nur Begleiter, Wächter und Helfer auf der Jagd, sondern auch Fleisch­lieferant.

Der Hund als Herdentier eignete sich gut zur Domestizierung. Wer dem Jungtier Respekt einflößen kann, wird als Führer anerkannt, gleich, ob dies ein Hund oder ein Mensch ist. Bei Gefahr wird die Meute zur Hilfe gerufen, es wird gebellt. Der Hund war also auch der gegebene Wächter.

Herdentiere lassen sich beinahe durchweg leicht zähmen. Die Neigung zur Vermassung kann ausgenützt werden. Die Katze ist heute noch souverän, verglichen mit dem Hund und dessen plebejischen Manieren, allem nachzulaufen, alles zu verbellen, selbst das Auto, das Flugzeug und den Donner. Die »vornehme Katze«! Sie wird nie zur Masse, und sie wird sich nie durch Sinnlosigkeiten lächerlich machen.

Auch die Huftiere sind Herdentiere. Sie wurden allmählich dem Bestand eingefügt. Erst die Ziege, das Schwein, dann um 6000 v.Chr. die anderen, vor allem das Rind und das Pferd. Die Liste der Haustiere ist heute sehr groß, auch dann, wenn wir diesen Titel nur solchen verleihen, denen eine gewisse Zahmheit angezüchtet und nicht nur andressiert ist. Damit wird nicht ausgeschlossen, daß wieder eine Verwilderung eintreten kann. Der Dingohund ist völlig verwildert; das Schwein, das Rind und die Ziege, das Pferd und der Esel verwildern sehr schnell, das Schaf so gut wie nie. Auf den Kanarischen Inseln mußten 1591 verwilderte Esel abgeschossen werden; zur Zeit gilt dasselbe für Australien. Verwilderte Ziegen haben die Insel St. Helena zum öden Felsen gemacht.

Aber auch niedere Tiere, bei denen eine psychische Einstellung gegenüber dem Menschen wenig oder gar nicht vorkommt, hat der Mensch so umgezüchtet, daß er sie leichter als Tier des Hauses halten kann. 

Dem Seidenspinner (Maulbeerspinner) hat er sein Flugvermögen genommen; die Raupe dieses Schmetter­lings hat er dazu verurteilt, ihr Klettervermögen zu verlieren, wodurch die Zucht erheblich vereinfacht wird.

Dabei handelt es sich häufig darum, daß der Mensch eine vom Zufall gebotene Änderung aufgreift, schützt, erhält und eine ganze Rasse darauf aufbaut. Zumeist aber sieht es heute so aus, daß dem Zufall nichts mehr überlassen wird, sondern daß der Mensch zielbewußt eingreift. Doch muß man sich klarmachen, daß es auch hier um die Erhaltung und Steigerung von plötzlich entstehenden Neuerungen, sogenannten Mutationen, geht, die um so schneller konsolidiert werden, je schärfer alles andere ausgeschaltet wird.

Allerdings kommt noch ein sehr wesentlicher Faktor hinzu. Je mehr der Züchter eine Mutation — die sich in freier Wildbahn vielleicht gar nicht hätte halten können — forciert und steigert, um so mehr lockert er das ganze Gefüge des Organismus und provoziert dadurch neue Mutationen.

Dazu kommt, daß die Domestikation generell bestimmte Änderungen bedingt. Deutlich ist überall die Verminderung der Hirngröße. Vor allem betroffen wird das Großhirn, bedingt durch die Abnahme der Zentren des Gesichts- und des Gehörsinns. Dieser Rückgang ist lediglich eine Folge der Minderung der Lebenswichtigkeit der Hauptsinnesorgane. Der Gesichtsschädel verkürzt sich im Verlauf der Domestikation, auch wenn der Mensch nicht bewußt auf dieses Ziel züchtet. Die Zahnreihen sind beim Haustier häufiger gestört als bei Wildtieren. Das Skelett ist weniger fest und ebenso wie die Muskulatur wasserreicher. Das Herz ist meist leichter, das Blut nicht so konzentriert. Die Farbstoffbildung ist gemindert; weiße Schwanzspitzen treten öfter auf, ebenso partieller oder totaler Albinismus. Die Scheckung wird häufiger und die Wildfärbung seltener. Die hormonale Regulierungsfähigkeit ist gemindert.

Der Fortpflanzungszyklus ist meist nicht mehr jahreszeitlich festgelegt. Nur da, wo der Mensch weniger Interesse hat, den normalen Ablauf zu stören (Hund, Katze) hat er sich noch einigermaßen erhalten. Die Zahl der Nachkommen ist oft erhöht.

Jedoch sehr entscheidend, aber nicht erstaunlich ist es, daß durchweg die Abwehrfähigkeit der Haustiere gegen Krankheiten gesunken ist, daß sie also weniger gesund sind als die freilebenden und auch als die nachträglich wieder verwilderten Formen. Sie sind also nicht nur domestiziert, sie sind auch denaturiert. Dies bedeutet aber, daß die Zucht das Wichtigste, die Gesundheit, etwas aus dem Auge verloren hat.

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Gewaltig sind die Aufgaben des Tierarztes und seine Verantwortung. Die Vereinigten Staaten — um nur eine Zahl zu nennen — erleiden jährlich einen Verlust durch Haustierkrankheiten bis zu einer Milliarde Dollar. Und dies, obwohl eine gewaltige Zahl von wohlausgebildeten Tierärzten ständig um den Gesundheitszustand der Haustiere bemüht ist.

Entscheidend ist die Rolle, die bei den Haustieren die Bakterien- und die Viruskrankheiten spielen; sie ist ungleich größer als bei den Tieren der freien Wildbahn, obwohl auch diese als Herdentiere ständig in engem Kontakt miteinander bleiben. Der Grund ist unschwer zu finden: Die Natur züchtet auf Gesundheit, der Mensch auf Leistung. Dieses Übersehen der Gesundheit ist wiederum erklärlich. Denn die Zucht liegt zumeist nicht in Händen des Hüters der Gesundheit des Tieres, sie liegt nicht in Händen des Tierarztes.

Das Erbgefüge der Haustiere ist so weit gelockert, daß der Mensch jedes seiner Organe nach Belieben ändern kann. Darin liegt eine Verführung und eine große Gefahr. Es verleitet dazu, wirklich nur an das einzelne Organ zu denken, und zu vergessen, daß das Tier nicht ein Zusammengesetztes, nicht eine Summe von Organen ist, sondern eine Einheit, und daß die Gesundheit nur gewahrt sein kann, wenn diese Einheit eine ausgeglichene Harmonie darstellt.

Die schwersten Fehler, die die Zivilisation begeht, entstehen meist dadurch, daß der Mensch seine Aufgabe als etwas nach allen Seiten hin Isoliertes auffaßt, daß man nicht genug Umsicht übt, um das Einzelne als lebendigen Teil der Gesamtheit zu würdigen, daß man also an bestimmter Stelle einem Vorteil nachjagt, der durch seine Rückwirkung auf andere Faktoren zum Nachteil werden muß. 

Dieses schmalspurige Denken war typisch für die vom Materialismus beherrschte Welt. Man fand sie beim Bauern, beim Forstmann und beim Wasser­bau­ingenieur. Die Natur wurde als ein Gebilde betrachtet, das nur da zu reagieren hat, wo der Mensch es wünscht.

Auch in der Tierzucht trat man dem Objekt gegenüber, wie wenn man ein totes Mosaikbild vor sich hätte, an dem man nach Belieben Steine ausbrechen und andere dafür einsetzen kann, ein Gebilde, dem man eine Gegenreaktion auf solche Eingriffe hin nicht zubilligte. Daß aber dadurch das harmonische Gefüge gestört und damit die Gesundheit untergraben werden könnte, mußte erst durch trübe Erfahrungen erlernt werden. Zu sehr neigte man dazu, die Milchkuh mit den Augen eines Fabrikleiters anzusehen und nur den Weg: Futter — Euter — Milch zu beachten. Die Kuh besteht aber nicht nur aus einem futterverdauenden Apparat und dem Euter. Die ganze Kuh gehört dazu, so wie zum Speck das ganze Schwein. Man kann nicht aus der Kuh einen Milchroboter machen, ohne ihre Gesundheit zu untergraben. Die Natur macht die Rekordsucht nicht ungestraft mit. Nicht maximale, sondern optimale Leistung muß auch hier das Ziel sein.


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Allzu mutig geht der züchtende Mensch vor, bei den Pflanzen ebenso — wie bei den Tieren. Es werden aus Hybriden Bäume gezüchtet, die astfrei wachsen und etwa zwei-, ja sogar dreimal schneller als die Eltern. Weiß man, ob sie so gesund sind, daß sie sich auch ohne die betreuende Hand des Menschen erhalten könnten? Nun — wenn auch nicht — man wird sie eben unter Obhut halten und wird dauernd dreifachen Nutzen haben. Ob dauernd, dies bleibt immerhin fraglich, wenn Gesundheit nicht oberstes Prinzip bei der Auslese ist. 

Der Mensch lebt sowieso ständig im Kampf gegen Bakterien und Viren, nicht nur soweit es seine eigene Gesundheit betrifft. Für Pflanzen und Tiere gilt dasselbe. Und eine große Schwierigkeit liegt in der stetigen Änderung, die diese Mikroorganismen durchmachen. Kommt nun aber noch hinzu, daß vom Menschen neue Pflanzen- und Tiertypen geschaffen werden, die eine geminderte Abwehrfähigkeit besitzen, dann ist die Gefahr groß, daß eines Tages solche Zuchten zusammenbrechen.

Hühner werden auch nachts belichtet, damit ihr Eierlegen keine Unterbrechung erleidet. Denn die belichtete Zirbeldrüse beeinflußt die Hormonbildung. Sie fressen dann auch ständig, und damit sie keine Zeit mit dem Suchen der Nahrung verlieren, wird diese ihnen auf einem laufenden Band vor den Schnabel geführt, und zwar in so bequemer Höhe, daß die Pickbewegungen kaum einige Zentimeter betragen. Erfolg: Die Hühner legen ständig, entwickeln mehr und zarteres Fleisch, mehr Fett sowie infolge mangelnder Bewegung weniger und weichere Knochen. Man muß fragen, was könnte man ihnen noch als überflüssig wegzüchten? Die Flügel? Man besitzt bereits eine flügellose Rasse. Das Gehirn? Dies interessiert nicht. Wie weit es sich bereits bei den Hühnern, die nur noch fressen, legen und fett werden, rückgebildet hat, ist nicht untersucht. Die Gesundheit? Hierauf wird die Zukunft Antwort geben.

Damit die Kühe dem Stallknecht die Arbeit erleichtern und den Kot exakt immer auf die gleiche Stelle absetzen, werden elektrisch geladene Drähte gespannt, die sie zum Stillstehen an bestimmter Stelle zwingen. Wozu auch die unnütze Bewegung der Tiere! Sie sollen dafür mehr Milch geben, sollen aber im übrigen zufrieden sein, zumal ihnen während des Wiederkauens aufmunternde Musik geboten wird. Wie wenig Menschen haben diesen Genuß! Allerdings ist jetzt festgestellt worden, daß die Kühe unmusikalisch sind.


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Der Zauberpilz! Man mengt unter das Futter geringste Dosen von Antibiotica (V50 bis V100 der in der Medizin verwendeten), und das Wunder beginnt. Die Hühner, Hunde, Katzen, Pelztiere, Pferde und Schweine wachsen schneller und zeigen weniger Verluste. Dies alles jedoch nur bei nicht vollwertigem Futter und bei nicht streng hygienischer Haltung; die Bienen geben mehr Honig und die Seidenraupen mehr Seide. Auf Fische wirkt es nicht. Aber auch der Wein gärt besser bei Zusatz von Antibiotica. Wahrhaftig ein Zauberpilz1. Oder darf man mißtrauisch sein gegen diese Zauberei? Ferkel, die zu stark getrieben sind, werden infolge Störung des Vitaminhaushalts häufig von einer atypischen Knochenerweichung befallen. Um diese wiederum zu bekämpfen, muß man das antirachitische Vitamin D verabreichen. Darmflora, hormonales System und intermediärer Stoffwechsel werden von den Antibiotica beeinflußt.

70% der Weltproduktion von Antibiotica dienen nicht-therapeutischen Zwecken. Darf man sich wundern, wenn es bei der außerordentlich vielseitigen Verwendung immer mehr resistente Stämme und immer mehr allergische Menschen gibt?

Eine schlachtreife Sau über Nacht aus dem Boden zu stampfen, das ist der Traum des Fleischfabrikanten. Mangelnde Gesundheit der Tiere? Ein lästiger Faktor, dem man erst gezwungen die Aufmerksamkeit zuwendet, wenn er sich finanziell auszuwirken beginnt.

Traurig solche vom Menschen geschaffenen Kreaturen, und tief zu bedauern. Noch trauriger die Mentalität der Menschen, die solches Züchten für fortschrittlich halten. Gifte, Gegengifte und wiederum Gegengifte gießt man in diese Tiere hinein und verwandelt sie so in eine chemische Fabrik, in deren Betrieb der Organismus nicht mehr viel mitzureden hat. Früher oder später werden Viren und Bakterien die Lebensunfähigkeit solcher Geschöpfe beweisen. Siegt dieses rein merkantile Denken schließlich auf allen Gebieten der Haustierzucht trotz Warnungen der Tierärzte, dann wird eines Tages alles zusammenbrechen. Dann wird das Glas Milch teurer sein als Sekt; dann wird für die meisten Menschen das Schwein zu einem sagenhaften Gebilde werden; dann wird das Ei auf dem Frühstückstisch zum sicheren Indikator für den Millionär, und das Bestreichen des Brotes mit echter Butter wird dann zur symbolischen Handlung herabsinken.

 

    Geschändete Natur   

 

Wanderer, fährst du gen Süd, bereite dich vor, daß du von der Poebene nichts gewahren wirst, nichts als gewaltige Reklametafeln. In unendlichen Reihen wechseln am Straßenrand 7 m hohe Wermutflaschen und ebenso überdimensionierte Ölbüchsen mit Damen, die durch Vorzeigen ihrer Nylonbeine und sonstiger attraktiver Dessous versuchen, die Augen des gewissenhaften Fahrers von der Fahrbahn abzulenken.

1)  Auch Baby's werden »getrieben«.


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Würden Menschen normaler Größe am Rande einer Autobahn solchen Unfug treiben wie die zwei Riesen auf dem beigegebenen Bild (Tafelbild 16) so würde man sie wegen Transportgefährdung dem Ort einer erzwungenen Besinnung zuführen. Der Optimist wehrt sich gegen diese Ungeheuerlichkeit, indem er sich vorstellt, daß vielleicht morgen schon ein Befehl von oben den ganzen Kulissenspuk hinwegfegt. Aber auch dann bleibt der niederdrückende Gedanke, daß eine solche Entwürdigung der Natur und eine solche Vergewaltigung des naturliebenden Menschen überhaupt aufkommen konntenur um der Reklame willen. 

Was hat man aber erst zu erwarten, wenn es darum geht, aus der Natur selbst Nutzen zu ziehen, Geld aus ihr »zu machen«. Wird doch in solchen Fällen oft geradezu mit zynischer Brutalität vernichtet für immer. Hier geht es nicht um einen Kulissenzauber, sondern um gnadenlose Verwüstung der Natur und Entseelung der Heimat.

Hier ist zunächst eine kleine Korrektur anzubringen. Wir brauchen nicht bis in die Poebene zu fahren. Auch bei uns geschieht alles, um den Fahrer schuldig und die Insassen zu Krüppeln werden zu lassen. Bernd Rosemeier, der bekannte Rennfahrer, ist infolge einer heftigen Bö bei einer Unterführung verunglückt. Jeder Kundige weiß, wie sehr bei solchen überbrückten Straßeneinschnitten die Aufmerksamkeit wach sein muß. Aber gerade hier hat man es darauf abgesehen, den Fahrer abzulenken. Wie verlockend sind aber auch solche Brücken in ihrer ganzen Breite, um dem Fahrer mitzuteilen, daß er doch ja die Spielbank im nächsten Ort besuchen möge; und um ihn bis zur letzten Sekunde zu beschäftigen, werden auch noch die verschiedenen Spiele aufgezählt. Oder von der Brüstung herab grinst in Überlebensgröße die Idealgestalt eines Säufers, und unter ihm zieht ein Spruchband über die ganze Breite der Brücke hin, auf dem er uns verrät, welchem köstlichen Alkohol er seine Säuferfigur und seine Säuferallüren zu verdanken hat.

Wie ein Relikt aus biedermeierlichem Denken mutet es an, wenn wir hören, daß früher noch öfter Konzessionen an den schönheitsdurstigen und erholung­suchenden Menschen gemacht wurden. Als noch vor 30 Jahren der Reisende das Westufer des Gardasees nur vom Dampfer aus genießen konnte, überraschte ihn für kurze Zeit der Einblick in eine Schlucht. Sie war von einem schönen, starken Wasserfall erfüllt. Aber die Industrie benötigte elektrische Energie und wünschte den Wasserfall einzurohren und auf eine Turbine zu leiten. Man fand einen für beide Teile befriedigenden Kompromiß. 


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Oben, beim Absturz, wurde ein Bassin für eine kleine Wasserreserve gebaut. Von hier konnte das Wasser in die Rohre geleitet, oder es konnte ihm der Weg über die Felsen freigegeben werden. Näherte sich nun ein Dampfer, so gab er ein Signal, ein Hebel wurde bedient, und die Wassermassen, die eben noch die Turbine trieben, stürzten nun frei, schäumend und tosend durch die Schlucht hinab ins Tal. Schon 100 m weiter war den Passagieren des Dampfers der Einblick in die Schlucht sowieso bereits wieder versperrt. Sogleich wurde der Hebel zurückgelegt; flugs kam der Wasserfall wieder ins Futteral und hatte unten seine seriöse Arbeit auf der Turbine bis zum nächsten Dampfer weiter zu leisten. Heute gibt es zuviel Dampfer.

Damals mußte doch wohl noch das Eingeständnis lebendig gewesen sein, daß man Unrecht tut, wenn man Naturschönheiten zerstört. Man fühlte sich schuldig, und man versuchte, soweit als möglich die Schuld zu verringern.

Heute wird mit einer zu jeder Schändung der Natur entschlossenen Verbissenheit gekämpft, ohne die geringste Rücksichtnahme auf die Schönheit, aber auch auf die Gesundheit der Landschaft. Ein Paktieren, ein Entgegenkommen gibt es nicht. Dies würde als Schwäche empfunden. Der Natur ist man keine Rechenschaft schuldig. Den Wildbächen wird der letzte Tropfen Wasser entzogen. Nur das Hochwasser wird ihnen zugemutet, das in dem trockenen und bewachsenen Bachbett um so größere Verheerung anrichten kann. Wenn schon das Grundwasser sowieso überall sinkt, warum soll man Hemmungen fühlen, diesen Prozeß zu beschleunigen?

Und die Schönheit und Unberührtheit der Landschaft? Mit solchen Sentimentalitäten kann man keine Turbinen treiben. Diese brauchen Wasser, viel Wasser, alles verfügbare Wasser. Der Wald, der darüber zugrunde geht — ist wert, daß er zugrunde geht.

Was ist es nun, was diese Menschen so bereit macht, ihre eigenste Heimat zu schänden und zu vernichten? Ist es möglich, daß es so viele von der Natur Exkommunizierte gibt, so viele Unselige, denen die Natur nur noch Ausbeutungsobjekt zu sein vermag?

Und doch, ein Schuldgefühl scheint in ihnen noch lebendig zu sein. Warum würden sonst grundsätzlich bei solchen Eingriffen die Pläne so lange als möglich verheimlicht und die Allgemeinheit plötzlich durch den ersten Spatenstich vor vollendete Entschließungen gestellt? Der erste Spatenstich, der erste Axthieb — sie fürchten sich wohl selbst vor diesem Signal ihres Unrechts und sind froh, wenn diese Schreckstunde vorüber ist und die Sache ihren Lauf nimmt.


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Immer mehr gewinne ich den Eindruck, daß ein übergeordnetes »Es« alle, auch die Trefflichsten, die hier am Werke sind, in seinen Bann schlägt und sie bedenkenlos in einer Richtung fortschiebt, die ihrem »privaten« Gewissen — wie wir hoffen — gar nicht entspricht. 

Warum stellt in all diesen Gremien auch nicht einer die Forderung: »Erst die Gesunderhaltung der Heimat. Dann erst wird gerechnet.«

Ich könnte mir denken, daß die meisten solchen erlösenden Worten eines Mutigen freudig zustimmen würden — oder ist mein Optimismus zu groß? Schämt man sich einer solchen Regung?

Immer wieder müssen wir uns vor Augen halten: Wir stehen erst am Anfang dieser systematischen Entwertung unserer Heimat und unseres ganzen Kontinents. Erschreckend, wenn man sieht, wie aus dem Mosaikbild unseres ehemals gesunden Landes allein in den letzten 30 Jahren immer wieder Stück für Stück herausgebrochen wurde und wie dieser Prozeß mit zunehmender Beschleunigung sich weiter fortsetzt, so daß sich bald hier, bald dort Opferstrecke an Opferstrecke reiht. 

Und oft wird die Landschaft in kurzsichtigster Weise geopfert, lediglich, weil mit ihrem Untergang die Produktion eines elektrischen Stromes erkauft werden kann, der einige Pfennige billiger ist als der, der ohne diese Zerstörung hätte gewonnen werden können. Man verteidigt sich in Wort und Schrift: Den Bauern werde als Ersatz für die trockengelegte Bewässerungsanlage Futter aus anderen Ländern beschafft werden. Das Werk kommt dafür auf. Auch für den sterbenden Wald wird dem Besitzer bares Geld bezahlt werden. Wie tröstlich! In der einen Waagschale: gesunder Wald, in der anderen: Steppe plus Banknoten — eine einfache Gleichung, völlig befriedigend für den, dessen Lebenssinn und Lebensauftrag in Banknoten restlos ausgedrückt werden kann.

Der Hochverräter an unserer Heimat, das ist das kalte, brutale Nützlichkeitsdenken, merkantilistisch, beabsichtigt egoistisch und, wie immer in solchem Falle, unbewußt selbstmörderisch.1) Daß hierbei hohe Verantwortliche oft genug das Katastrophale dieses Vorgehens gar nicht erkennen und daher noch unterstützen, zeigt, wie nötig es ist, die Sturmglocken zu läuten, bevor unsere Heimat nur noch aus einzelnen Oasen inmitten einer Zivilisationssteppe besteht.

 

    Der bedrohliche Friedhof   

 

Der Mensch hat seine Umwelt gezwungen, ihm zu zinsen: den Wald, den Acker, das Innere des Bodens und das Wasser. Er forderte Nahrung, Kleidung und Energie; und er erhielt, was er wünschte. Energie war für ihn Geld; und davon konnte er nie genug haben. Nun aber ward ihm die Erkenntnis, daß das Gefüge der Atome durch Kräfte von ungeahntem, gewaltigstem Ausmaß zusammengehalten wird; damit war auch schon der prometheische Mensch am Werk, diesen Zusammenhalt der Teilchen zu sprengen oder Kernfusionen zu erzeugen, um sich die frei gewordenen Energien dienstbar zu machen.

1)  Daß bei großen Wasserwerken Konzessionsbewerber und Erteiler identisch sein kann (der Staat als Hauptaktionär), gehört sich nicht.


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Nur 15 Jahre liegt die Vernichtung von Hiroshima zurück. Erschüttert fragte man sich damals, wo dieser Weg hinführt. Heute haben wir bereits die Antwort: Er führte über die Bombe Lulu mit 150mal stärkerer Wirkung als die Hiroshimabombe — wir könnten auch sagen: über Lulu mit 150 Hiroshimaeinheiten — zur Superbombe mit 850 solcher Einheiten und im Jahre 1955 bereits zu einer noch stärkeren, die die Superbombe wiederum um ein Mehrfaches übertrifft, ein Instrument, mit dem man alles Leben der Erde vernichten kann.

600 Jahre vergingen, bis sich die Holzkanonen zu einem einigermaßen befriedigend arbeitenden Mordinstrument entwickelt hatten. Nur zehn Jahre benötigte man zu einem »Fortschritt« in der Steigerung der Atombombenwirkung, die jede Erwartung und Befürchtung übertrifft. 

Hätte Hitler diese Bombe gekannt, sie hätte ihm dazu dienen müssen, mit seinem Tod alles Leben der Erde mit in den Abgrund zu reißen. Sind wir sicher, daß es nie einen zweiten Hitler in der Welt geben wird?

Was bringen die nächsten zehn Jahre an Fortschritten hinsichtlich dieses Instruments für den Massenmord? Alfred Weber schließt seine Kulturgeschichte ab mit Hiroshima: »Am Ende der bisherigen Geschichte stehen wir wieder in Weltangst.« Angst vor dem Menschen.

Dem allmächtigen »Es werde!« vermag der Mensch nun ein mächtiges »Es sterbe!« entgegenzusetzen. Welch ein Triumph, aber ein Triumph des Teufels.

Ohnmächtig starrt die verängstigte Welt auf den viel zu gescheiten Menschen, der täglich den Dolch schärft, mit dem alle umgebracht werden. 

Vorbei sind die Zeiten, da als Faustregel galt: Nur die allerdümmsten Kälber Wählen sich den Metzger selber.

Ist es aber nicht doch beruhigend, wenn der Bericht über die Atomkonferenz in Genf sagte: »Die Techniker und Nationalökonomen hatten keine Bedenken.« Oder wird die Beklemmung nur noch größer, wenn man erfährt, daß es hieß: Nur die Techniker und die Nationalökonomen... Diese beiden sprachen von Rentabilität. Die Physiker, Mediziner, Biologen und Vererbungsforscher aber meldeten schwerste Bedenken an für die jetzige Generation, für die Kinder und für die Zukunft der Menschheit. 


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Und ihre Bedenken werden nicht geringer. Im Gegenteil, sie wachsen von Jahr zu Jahr. Man versucht die Toleranzdosis festzustellen, d.h. festzustellen, welche Strahlenmenge unschädlich ist und auch keinerlei Erbschäden hervorzurufen vermag.1)

Es ist sehr schwer, bisher sogar unmöglich, diejenigen Mindestmengen zu bestimmen, die bei zehn- und zwanzigjähriger Einwirkungsdauer vom Organismus ohne erkennbare Benachteiligung ertragen werden. Denn selbst da, wo infolge kurzer Halbwertzeiten mit einer Kumulierung der Reizursache weniger gerechnet zu werden braucht, kann trotzdem eine Summierung der Störungsabläufe bei immer wieder auftretenden Reizen eintreten und bedenklich werden.

Meist aber liegen die Halbwertzeiten, gemessen an der Lebensdauer des Menschen, sehr hoch (Strontium), so daß mit einer steten Kumulierung zu rechnen ist. Ablagerung des radioaktiven Strontiums im Knochenmark — so wird der Mensch wirklich bis ins Mark getroffen.

Ist es eine Beruhigung, wenn wir erfahren, daß hier und dort die »Toleranzdosis« nicht erreicht wurde? Zumal solche Beruhigungspillen immer seltener werden. Bechert berichtet, daß das Freiburger Institut in der Rheinebene über eine längere Zeit hinweg bei Niederschlägen im Durchschnitt eine Überschreitung der Toleranzdosis um das Fünfzehnfache festgestellt hat — und um das Zweihundertfache auf den Futterwiesen im Schwarzwald auf 1000 m Höhe. Die Pflanzen nehmen dieses Gift mit den Wurzeln und auch mit den Blättern auf.

Wie sehr die Nahrung vergiftet wird, zeigen Untersuchungen am Columbiafluß, der durch die Hanford-Werke stark verseucht ist. Die Flußenten übertrafen die Radioaktivität des Flußwassers um das 40.000fache, die Fische um das 150.000fache. Man kann sie geradezu als Sammler ansprechen. Das Eigelb der Wasservögel um das 1.000.000fache.

Die vorsorgliche Hausfrau wird also in Zukunft neben das Salzfaß auch den Geigerzähler auf den Tisch stellen; denn da die Fische sehr viel mehr aushalten als der Mensch, so kann man sich auch mit lebendfrischen Fischen in Zukunft vergiften.

Es ist auch sehr wohl zu beachten, die Toleranzdosis gibt Grenzwerte im Hinblick auf die Erkrankung des Menschen, nicht aber auch im Hinblick auf die genetische Auswirkung. Hier gibt es keine unterschwellige Strahlendosis.

Womit muß man heute rechnen? Manche Meteorologen (vor allem in Japan) rechnen mit einem Zusammenhang zwischen Katastrophenwetter und den Explosionen von Atombomben, andere halten ihn wenigstens für durchaus möglich. Viele Atomphysiker aber sind sich einer solchen Beeinflußung sicher. 

1)  Die ionisierenden Strahlen verhindern den Aufbau der Grundsubstanz der Erbmasse, der Nutleinsäure.


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Man muß damit rechnen, daß die Häufung von Mißgeburten mit den Explosionen zusammenhängt. Frauen, die in Japan sich weitab von dem Explosionsherd befanden und selbst keine Schädigung an sich feststellen konnten, brachten Mißgeburten zur Welt, falls sie sich zur Zeit der Explosion in der ersten Hälfte der Schwangerschaft befanden. Man muß aber außerdem damit rechnen, daß die Erbmasse gestört und für immer geschädigt wird. Dies aber bedeutet, daß auch bei ungestört verlaufender Schwangerschaft die Zahl der Mißgeburten steigt. 

In Hiroshima und Nagasaki, wo heute noch die Radioaktivität erhöht ist, zeigten in den letzten zehn Jahren 10% der Neugeborenen Mißbildungen1. In den Vereinigten Staaten sind (nach vorsichtiger Schätzung) infolge der Versuche mit Wasserstoffbomben allein schon im Frühjahr 1955 bei 1800 Kindern Veränderungen der Erbmasse eingetreten. Demgegenüber wird allerdings von einer japanisch-amerikanischen Kommission angegeben, daß es sich hierbei meist nur um entwicklungsmäßige Störungen, nicht um Änderung der Erbmasse handle.

Immerhin, nicht umsonst wird bereits empfohlen und gefordert, es sollen sich in den Atombombenfabriken nicht Kollege und Kollegin heiraten wegen der zu erwartenden Erbschädigungen.

Entstehung von Leukämie, von Augenstar durch radioaktiven Explosionsstaub und Zunahme der Tumoren wird nicht mehr bestritten. Man konnte bereits eine Zunahme der Radioaktivität der Atmosphäre feststellen. Geht dieser Prozeß weiter, so muß man mit der Zeit auch mit einer indirekten Schädigung der Erbmasse rechnen, durch die radioaktiv gewordene Nahrung. Auch auf diese Weise können die Geschlechtsorgane getroffen werden. Eine Sterilisierung der Organismen und des Menschen ist bei Fortführung der Atomversuche nicht auszuschließen. Sie kann erfolgen durch Vergiftung oder durch Mutationen. Unter einer Million Mutationen ist etwa eine einzige günstig, alle anderen schädlich. Auch bei Trinkwasser wurden die Grenzwerte der radioaktiven Schädigung bereits erreicht, mancherorts auch schon überschritten — wie wir aus Bonn hören. Ganz besonders gilt dies für Regenwasser.

1 »Von den 30.150 Neugeborenen, die seit dem Abwurf der Atombombe zur Welt gekommen sind, war jedes siebente Kind anormal. Es gab 471 Totgeburten, 118 vorzeitige Unterbrechungen, 1046 Babys mit degenerierten Knochen, Muskeln, Haut oder Nerven, 429 mit mißgebildeten Geruchs- und Gehörorganen, 254 mit mißgebildeter Lippe oder Zunge, 58 mit Wolfsrachen. 243 mit mißgebildeten inneren Organen, 47 mit mißgebildetem Gehirn, 25 ohne Gehirn, 8 ohne Augen und Augenhöhlen.« (Bekanntgabe auf dem Landeskongreß japanischer Hebammen in Hiroshima.)


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Womit muß man weiter rechnen? Mit verschiedenartiger Schädigung des ganzen Organismus muß man auch dann rechnen, wenn die Versuche in einem anderen Erdteil stattgefunden haben. In wenigen Tagen kann eine radioaktive Staubwolke um die ganze Erde wandern. Die Gefahrengrenze der radioaktiven Niederschläge wird für das Vieh bereits überschritten — überschritten im Schwarzwald und in Dänemark, wenn die Explosion in Nevada stattgefunden hat.

Menschen und Säugetiere sind am empfindlichsten, die niedersten Organismen am widerstandsfähigsten. Setzen wir die lebensgefährliche Strahlendosis beim Menschen gleich 1, so ergibt sich folgendes Bild:

Die niedersten Organismen halten demnach etwa 800fach höhere Dosen aus als der Mensch. Sehr befriedigend für uns: Hat die Menschheit sich und die Säugetiere vernichtet, so leben noch die Insekten, Würmer und Bakterien auf dieser Erde weiter. Nur die Bandwürmer der Säugetiere und des Menschen werden dann ihren Herrn vermissen.

Mit all dem wird man rechnen müssen.

Unser Planet ist zu klein für Atombomben; daher muß man schließlich auch mit seiner Geschöpfe Untergang rechnen.

All dies gilt allein schon bei Fortsetzung der Versuche mit Atombomben.

Fragen wir uns nun, was die Menschheit zu erwarten hat, wenn die Diplomaten eines Tages des quälenden Spiels, mit Atombomben zu drohen und zu kokettieren, überdrüssig sind und die Bomben schärfen? Was ist dann zu erwarten? Die totale Katastrophe — der Tod der gesamten Menschheit. Mit all ihren Werken wird sie wie ein Spuk von unserem Planeten verschwinden. Viele werden sofort umkommen, die meisten nach kürzerem oder längerem Siechtum. Wer aber ist dann noch da, die Siechen zu pflegen? Sie verkommen.

Muß man nun wirklich den Regierungen ein so selbstmörderisches Handeln zutrauen? Solange bei den »Großen« immer Atombomben auf den Verhand­lungs­tisch gelegt werden, solange muß man auch damit rechnen, daß eines Tages die Lunte angezündet wird. Und dies besonders dann, wenn der eine Partner glaubt, technisch dem anderen überlegen zu sein. 

Die größte Gefahr aber droht von den »Kleinen«. Sie sind unverantwortlich schnell dabei, die Bomben ihres großen Bruders zu entsichern — ein frivoles, ein teuflisches Spiel. Sie treiben Propaganda mit ihrem Selbstvernichtungswillen.


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Zu diesem akuten, ernstesten und schicksalhaften Problem der ganzen Menschheit soll noch ein bekannter Physiker gehört werden. Walter Gerlach hat klar und eindringlich Stellung genommen gegen die Neigung, die Folgen eines Atomkrieges zu verniedlichen und den Menschen Sicherheit durch Bunker vorzutäuschen. 

Er sagt:

»Die Folgen eines Atomkrieges sind vollkommen unabsehbar. Nach übereinstimmender Ansicht fast aller namhaften Kernphysiker bedeutet der Atomkrieg allgemeine Vernichtung und möglicherweise das Ende der Menschheit. Dabei würde nur eine kleine Minderheit plötzlich sterben, die Mehrheit dagegen einem langsamen und qualvollen Tod ausgeliefert sein.«

Und an anderer Stelle über den Wert von Bunkern:

»Überleben allein genügt nicht mehr. Strahlengefahr kann jahrelang weiterbestehen. Die leicht gebauten Häuser werden spielend <durchgeblasen> und mit radioaktivem Staub vergiftet. In unverseuchte Gebiete werden verseuchte Lebensmittel eingeführt, während nichtsahnend erbgeschädigte Menschen den Todeskeim in kommende Generationen tragen. Was soll Luftschutz da noch helfen?«

Die Zahl der Atomphysiker, die bei Atomkrieg eine katastrophale Einwirkung auf die Lebewesen und die ganze Erde befürchten, ist ständig im Wachsen. Andere Physiker empfehlen, man solle nur rechtzeitig unterirdische Städte bauen. Allerdings besteht dann nach einem Angriff für Jahre hinaus Ausgehverbot. Und wer bestellt dann den Acker? 

Das Paradies unter der Erde! Früher war dieser Platz für die Hölle reserviert.

Man darf sich nicht abwenden von dem Abgrund, an dem wir auf schmalem Pfad dahinziehen, man darf nicht glauben, die Gefahr schwinde mit dem Nichthinsehen. Es geht heute — wie uns die nachträglich entschleierte Lage im November 1956* gezeigt hat — jeden Tag um die Frage der Fortexistenz der Menschheit.

Wie aber? — Sollte die Menschheit wirklich reif sein zum Untergang? Sollte sich bereits ihr Schicksal erfüllen? Erschütternd genug, daß sich uns diese Frage immer wieder aufdrängt. Jedenfalls hat der Mensch noch nie mit so erstaunlicher Verbissenheit seinen Selbstmord vorbereitet.

Aber auch noch nie stand er so verzweifelt seinen eigenen Werken gegenüber — und so ohnmächtig. Immer wieder ruft er auf zur Vernunft, zur Aufrichtig­keit und zum Vertrauen. Und doch wächst die Atombombe nur, weil Mißtrauen die Welt beherrscht. So fehlt jedem Aufruf das Echo, und es wird fehlen, solange nicht die ganze Welt eine sittliche Wandlung erfährt. Ein weiter Weg.

Bis dahin gilt: Angst schafft die Atombombe; Angst verhindert ihre Anwendung. Unsere Hoffnung liegt in dieser Angst. So haben wir eine Atmosphäre der Angst geschaffen statt eine Welt der Zuversicht. Und dennoch — ein jeder tue, was in seiner Macht steht und was ihm sein Gewissen zu tun befiehlt. 

* (d-2011:)  Was meint der Autor? Atomkriegsgefahr? Atomunfall? 


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Wir sagten es schon: Die ganze Welt wird in Gift getaucht. Wie großzügig geht doch heute die Menschheit mit Gift um. Gift im Walde, Gift auf den Fluren, Gift im Boden, im Wasser; und der Segen, der aus den Wolken auf die Erde niederfällt, auch er ist vergiftet. Eine vergiftete Welt.

Gifte zu produzieren, ist heute der Menschen höchstes Anliegen. Kein Kapital wird gescheut, um die Vergiftung unseres Planeten zu beschleunigen. Schon immer waren Irrwege das Los der Menschen, keiner aber war je so bedrohlich, selbstmörderisch und grotesk wie der, auf dem wir zur Zeit mit fanatischer Verblendung vorwärtsstürmen — zu einer vergifteten Welt.

Es gibt einen Negerstamm — es sind Monotheisten —, bei denen jeweils der Älteste für alle anderen das Beten übernimmt. Er darf aber nur stumm oder ganz leise beten, damit Gott nicht erwacht. Denn wenn er sehen würde, was der Mensch aus der Erde gemacht hat, dann würde er vor Ärger und Zorn wohl wieder alles zusammenschlagen.

Und doch, wie bescheiden ist der Unfug, den die Neger im Busch bisher mit unserem Planeten angestellt haben. Um wieviel mehr müßten wir das Erwachen Gottes fürchten, ein Erwachen weniger durch zu lautes Beten als durch die Atombombe.

Versuchen wir trotz allem Optimisten zu bleiben. Denn stärker noch als alles andere, das die Welt bewegen kann, sind die sittlichen Kräfte. Mögen sie überall lebendig werden.

Ist die Menschheit nicht doch in einer furchtbaren Zwangslage? Wir brauchen unbedingt neue Energiequellen. Wenn die Kohlen- und Erdölvorräte aufgezehrt sind, so sollen die atomaren Kräfte helfen, Kräfte — man möchte sagen — dem Höllentor entsprungen. 

Dann werden wir bald so weit sein, daß jedem Zivilisierten statt 3 PS wie heute 30 PS oder gar 300 PS zur Verfügung stehen. Wird damit das Glück der Erdenkinder auch um das 10- und um das 1000fache ansteigen? 

Wird die Menschheit wirklich glücklich, wenn sie diesen gefährlichen, teuflischen Pferdekräften ausgeliefert ist? Wir dürfen hoffen, daß uns die Sonne mit ihren gewaltigen Energien, die sie der Erde zukommen läßt, aus diesem Dilemma befreien wird und uns verzichten läßt auf die Atommeiler, denen man den freundlich-harmlosen Namen »Reagierer« = Reaktoren gegeben hat.

Gewaltige kosmische Kräfte beginnt der Mensch einzuspannen. Werden ihm die allzu kräftigen, allzu feurigen, schwer zu zähmenden Rosse nicht eines Tages durchgehen? Und wird sich das, was er im kleinen beginnt, nicht gegen seinen Willen im großen fortsetzen? 

Zwei Todesarten waren bisher für unseren Planeten vorgesehen: erstens der Alterstod, zweitens der Tod durch Verkehrsunfall, d.h. durch Zusammenstoß mit einem anderen Himmelskörper.


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Nun hat der Mensch ihm auch noch die Möglichkeit des Selbstmordes geschenkt: Freitod durch Explosion der Atome. 

Sind doch sogar selbst die Abfälle der Atomwerke nicht harmlos; sie sind nicht nur schädlich, sie sind vernichtend. Die radioaktiv verseuchten Gegenstände, ja sogar das Kühlwasser wirken lebenzerstörend. Jahrtausende lang werden die Abfälle, die auf solchen »Friedhöfen« eingegraben oder im Meer versenkt* sind, ihre verheerende, alles abtötende Kraft behalten. (* In USA besteht die Vorschrift, daß sie mindestens 1000 Klafter tief (=1820 m) versenkt werden müssen.)

Wir stehen erst am Anfang, und jetzt schon bereiten diese ersten Friedhöfe großes Bangen und Kopfzerbrechen. Alle Möglichkeiten wurden erwogen, diese Massen unschädlich zu machen. Auch an den großen »Eisschrank« am Südpol hat man schon gedacht. Es blieb aber immer nur eine »befriedigende« Lösung: Man schieße diese Friedhöfe in den Weltenraum hinaus. Möge der Herr »Nachbar« sehen, was er mit einem solchen teuflischen Meteoriten anfängt.

Wie aber, wenn ein solches Gebilde zu dem Absender, zu unserem Planeten zurückfände? Und die Wolken, die sich aus den radioaktiven Gasen bilden? Ein Regen aus solchem Gewölk könnte eine unangenehme Erfrischung bringen. 

Atomwerke zu bauen, ist kein Problem mehr; die Abfälle mit Sicherheit unschädlich zu machen, bereitet größte Schwierigkeiten.

Jedenfalls, mit der biedermeierlichen Ruhe scheint es auf unserem Planeten endgültig vorbei zu sein.  

Nicht Kometen und Irrgäste des Weltenraumes werden zum Untergang unseres Planeten führen und auch nicht Explosionen von Sternen; die stärkste Bedrohung liegt in dem Forscherdrang des Menschen. 

Gibt es noch eine Rettung? Soll man Prometheus wieder in Ketten schlagen? Oder nur in die Ketten einer höheren Verantwortung?

Die gewaltigen frei werdenden Atomenergien fordern gebieterisch nach starken frei werdenden sittlichen Kräften. Hoffen wir, daß sie vorhanden sind und sich schnell genug wecken lassen. Zeit ist nicht mehr zu verlieren.

Vielerorts hat der Mensch das Innere der Natur schon so schwer getroffen, daß das Leben erlosch und der Üppigkeit die Öde folgte; daß die Kultursteppe sich zur wahren Steppe zu wandeln begann.

Versteppte Landschaft, verstepptes Gehirn, verstepptes Gemüt — das Ende des Menschen. 

Den Weltraum zu erobern ist zur heiligen Mission geworden. Warum? 

Um auf anderen Himmelskörpern ebenso unselig zu wirken, wie auf unserer Erde? Wäre es nicht menschenwürdiger zunächst mal auf unserer Erde ein Meisterstück zu liefern, das sich sehen lassen kann, bevor man Milliarden ausgibt, um die Rückfront des Mondes besichtigen zu können? Gewiß, die Naturkräfte zu beherrschen ist vorteilhaft. Aber es gibt noch Wesentlicheres für den Menschen.

Muß wirklich der Mensch alles entseelen? Vertrauen wir auf das Göttliche, das im Menschen lebendig ist. Hat doch die Atombombe einen neuen Begriff geboren, einen Begriff, der uns Gutes verheißt: Weltschicksal. Er umfaßt alle Menschen, auch den »bösen Feind«.

Versuchen wir nun, uns Rechenschaft zu geben darüber, wie die vom Menschen veränderte Natur auf ihn zurückwirkt, wie die Denaturierung, zu der er seine Umgebung verurteilt, in ihm selbst Denaturierung auslöst; wie weit diese gediehen ist und wie weit wir dennoch hoffen dürfen, daß uns trotz allem eine würdige Zukunft beschieden sein wird. 

Mancher mag dazu neigen, der Wissenschaft zu fluchen. Letzten Endes wird ihr Segen darin liegen, daß sie zu klarem, unbestechlichem Denken und damit auch zu gegenseitigem Verstehen der Menschen und der Völker erzieht.   

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Bändigt den Menschen: Ketten für Prometheus - Gegen die Natur oder mit ihr?  (1957) Professor Reinhard Demoll