Teil 2

Der veränderte Lebensraum 
wirkt auf den Menschen

»Wir haben uns eine Welt erbaut, die
nicht für das Lebewesen Mensch paßt.«  

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    Ein gewaltiger Luxus   

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In den Bodenschichten des ehemaligen Steinheimer Sees findet man Millionen von Schneckenschalen eingebettet. Verfolgt man nun diese Schichten von unten nach oben, so kann man die Umwandlung überblicken, die die Schale dieser Schneckenart im Verlauf eines großen Zeitraumes erfahren hat. 

Dieser Spaziergang durch Tausende und Hunderttausende von Jahren ist besonders belehrend, nicht allein, weil er uns zeigt, wie aus der ursprünglichen Art heute mehrere neue Arten hervorgegangen sind; wir können an diesen Schichten auch ablesen, daß diese Neubildung von Arten nicht stetig erfolgt ist, sondern plötzlich; daß auf längere Ruheperioden, in denen die Erbmasse unveränderlich war, kürzere Zeiten folgten, in denen die Erbmasse aus den Fugen zu gehen schien, in denen explosiv Neues entstand.

Auch bei der Menschwerdung gab es wohl solche Explosionen, ein solches erhöhtes Bereitsein zur Wandlung, um dann wieder in eine stetigere Weiterentwicklung überzugehen. Ausschlaggebend für die Entwicklung des Menschen ist sein Großhirn. Es spricht manches dafür, daß das Großhirn bei den Säugetieren nicht allmählich gewachsen ist, sondern daß es sprungweise, durch jeweilige Verdoppelung der Zahl seiner Zellen entstand.

Setzt man die Masse der Hirnrinde in Beziehung zur Körpermasse, so gewinnt man einen wohl brauchbaren Index, der uns gestattet, die verschiedenen Säugetiere miteinander zu vergleichen. Dabei ergibt sich für Spitzmäuse der Index 1, für Mäuse der Index 2, für Feldhasen 5, für Schweine 14, für Pferde 30 und für Elefanten 70.

Nun kommt es weiterhin noch sehr auf die Qualität des Gehirns an. Die Zahl allein gilt hier nicht alles. Das menschliche Gehirn leistet erheblich mehr und ganz anderes, als eine Reihe hintereinandergeschalteter Spitzmausgehirne leisten würden. Sehen wir also, wie der Mensch seinen Denkapparat gebraucht.

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Alle Menschenrassen verfügen über die gleiche Zahl von Neuronen (= Nervenzellen im Gehirn). Nur sind bei kleineren Rassen die Zellen etwas kleiner, und dadurch ist die absolute Größe des Gehirns etwas geringer (Japaner). Der männliche Europäer hat ein Durch­schnitts­hirngewicht von 1360 g, der Chinese von 1430 g, der Neger von 1315 g.

Bei aller Bescheidenheit haben wir nun doch den Eindruck, daß unser Hirn mehr leistet als das eines Hottentotten. Und doch hat jener ebenso viele Denkzellen wie wir. Und was fängt der Neger im Busch mit seinem kostbaren Apparat wohl viel an! Lieben, essen und schlafen! Und doch kann er, wenn er will, schon allerhand Fähigkeiten seines Großhirns wecken. Unter günstigeren sanitären Bedingungen, in günstigerem Klima und anregender Umgebung steht er dem Weißen kaum mehr nach. Wenn man allerdings darauf hinweist, daß er in USA seine Universitätsstudien und seine Examina zum Teil mit gleichem Erfolg bewältigt wie der Weiße, so stimmt das wohl nicht ganz. Man muß bedenken, daß 33% der USA-Neger Bastarde, Mulatten, sind. Diese aber sollen um so viel leistungsfähiger sein als die »waschechten« Neger, daß man ihre Chance, in höhere Stellungen zu gelangen, gegenüber der des Negers mit 34:1 bewertet hat. Doch mag auch die Hautfarbe bei der Karriere mitentscheiden.

Sicher ist: Der Mensch der Vorzeiten trug einen erheblichen Luxus mit sich herum, ein Gehirn mit den Fähigkeiten, einen »Faust« und eine Beethovensche Symphonie zu schreiben, zu ersinnen, wie man Atome zertrümmert und wie man den Tausenden von Milchstraßen nachspürt.  

Aber diese Fähigkeiten schlummerten zunächst so tief in ihm, daß Erdepochen nötig waren, um sie zu wecken. Die frühesten Menschen benutzten diese Kostbarkeit, die ihnen vermutlich durch eine zweifache Verdoppelung der Zellenzahl gegenüber ihren Vorfahren geschenkt wurde, im wesentlichen dazu, um etwas listiger, gewandter und überraschender dem Gegner den Schädel einzuschlagen. 15 Milliarden Nervenzellen des Eiszeitmenschen gegenüber etwa 3 ½ Milliarden seiner Vorfahren und der Menschenaffen, das war ein gewaltiger Luxus! Die Konsequenzen, die sein Besitzer aus dem wertvollen Geschenk zog, waren auf alle Fälle zunächst sehr bescheiden.

Ein Goethe und ein Gauß mit der gleichen Zahl der Gehirnneuronen wie in der Steinzeit! Ein merkwürdiges Instrument, dieses Gehirn, ein Klavier, bei dem es sehr darauf ankommt, daß man es auch zu spielen versteht. Hunderttausende von Jahren waren nötig, um dies zu erlernen. Von wo aber kamen dem Menschen die Melodien, die er diesem Instrument entlockte?

Auch wir nutzen unser Gehirn anscheinend bei weitem noch nicht genügend aus. Nur ein Teil ist von bestimmten Funktionen in Anspruch genommen.


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Überall finden sich »Zwischenfelder«, Bezirke, die noch nicht eingeteilt sind, die untätig in Reserve stehen; also immer noch Luxus. Nur bei Gehirn­verletzungen springen diese Reserven ein. Sonst warten sie auf den Menschen, der so viel denkt, daß alle Teile des Gehirns in Anspruch genommen sind. Sie werden noch lange warten müssen. Vielleicht noch einmal hunderttausend Jahre.

Professor Hebb in Montreal sah sich bei einigen Patienten gezwungen, erhebliche Teile des Großhirns operativ zu entfernen. Hebb behielt die Operierten auch nach ihrer Entlassung noch längere Zeit unter Beobachtung und stellte eingehende Intelligenzprüfungen an. Dabei ergab sich in keinem Fall ein Nachlassen der Intelligenz, ja, es war bei einem der Patienten sogar eine deutliche Zunahme des Konzentrationsvermögens und eine Abnahme von Hemmungen zu beobachten.

Man sieht, die Zwischenfelder gestatten es dem Chirurgen, an den edelsten Teil des Menschen, an die Großhirnrinde, wenn nötig, das Messer anzusetzen. Es macht den Eindruck, als ob diese Zwischenfelder als Symptom dafür gewertet werden dürfen, daß auch das sogenannte Nißlsche Grau, in dem man wohl nach Bumke das nicht abgrenzbare, das nicht zugeordnete Substrat, gewissermaßen »die höhere Instanz« sehen darf, hinsichtlich seiner Leistungsmöglichkeiten noch lange nicht ausgewertet ist.

Was mag jeweils zu dieser vermuteten Verdoppelung der Gehirnzellen geführt haben? War es die volle Ausnützung der gebotenen Masse? Und wenn dereinst unser Gehirn voll ausgewertet sein wird, wird dies der Anstoß sein zu einer weiteren Verdoppelung? Wenn eine solche Verdoppelung eintritt, wenn dadurch neue Wesen entstehen, die den heutigen Menschen ebenso hinter sich lassen, wie einst der Mensch seine Vorfahren hinter sich ließ, werden dann diese — nennen wir sie Übermenschen — werden diese Übermenschen dann auf uns, ihre Urahnen, etwa in der gleichen Weise herabsehen wie wir auf die affenähnlichen? Werden sie unsere Bibliotheken interessant finden, so wie wir die Affen interessant finden? Und werden sie über unsere Denkweise tiefsinnige Vorträge in ihren Akademien halten? Wird unsere Denkweise, die kausale, bei diesen Übermenschen einer anderen, rationelleren, weichen müssen, so wie das magische Denken unserem kausalen gewichen ist? Oder wird des Menschen Unzulänglichkeit ihn schließlich wieder in den Bann des magischen Denkens zurückführen?

Zunächst ist das eine für uns von praktischer Bedeutung: Die Zwischenfelder unseres Gehirns belehren uns, daß unsere Großhirnrinde noch lange nicht voll ausgewertet wird. Und dies, obwohl unsere randalöse, kaleidoskopische Umgebung uns ständig mit stärksten Nervenreizen sattsam überschüttet.


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     Die große Karriere     

 

Trotz mancher anhaftender Mängel wurde aus dem Menschen schließlich doch ein wohlproportioniertes Wesen. Nicht etwa, weil wir Menschen sind, kommt uns der menschliche Körper schön vor. Daß seine Proportionen in weitem Maße dem Goldenen Schnitt folgen, läßt uns erkennen, daß wir in unserem Urteil nicht parteiisch sind. Es sei denn, der Goldene Schnitt, dieses »sich unendlich in sich selbst wiederholende Verhältnis«, erschiene nur dem Menschen golden. Dann aber wäre wieder zu fragen, was hat im Menschen dieses Schönheitsempfinden entstehen lassen?

Dieses Ebenmaß in der Ausbildung des ganzen Körpers ist der Lohn dafür, daß sich der Mensch in seinem Werdegang nie spezialisiert hat, weder zu einem Kletterer wie die Affen noch zu einem Rennläufer wie die Einhufer, weder zu einem Wühler wie der Maulwurf noch zu einem Schwimmer wie der Delphin, weder zu einem Wesen, das nur auf Flucht eingestellt ist wie der Hase, noch zu einem Räuber, dem die Schärfe der Krallen und die Stärke des Gebisses alles ist. Der Mensch hielt sich von Anfang an alle Karrieren offen und kam dafür an die Spitze. Der Universelle herrscht über die Spezialisierten.

Und heute? Wohin zielt der Mensch?

In der Leichtathletik läßt nur strengste Spezialisierung auf einen Erfolg hoffen. Der harmonisch durchgebildete Körper fällt zurück, wenn der Kampf um eine »Goldene« geht. Nur wer sich wie eine Maschine eingestellt hat auf eine einzige, ganz scharf umschriebene Bewegung und wer diese bis zur völligen Verbildung des Körpers trainiert, dabei sich nicht verführen läßt, auch noch auf eine zweite leichtathletische Übung, die andere Muskeln beansprucht, zu trainieren, nur der kann Meister werden. Nicht Harmonie, sondern Disharmonie wird erzwungen. Die Frau, die mit und infolge ihres Körpergewichts von 2,3 Zentnern mit großem Abstand eine Goldene gewinnen konnte, hat der Olympiade einen tödlichen Schlag versetzt. Der schöne, edle Frauenkörper wiegt keine 2,3 Zentner.1)

Man wird mir antworten: War es denn in Olympia viel anders als bei uns? Gewiß nicht. Olympia lag aber auch erheblich näher bei Sparta als bei Athen. Und auch Plato sowie Aristoteles hatten Veranlassung, vor Spezialisierung, insbesondere vor ungleicher Ausbildung einzelner Muskelgruppen, zu warnen.

Und heute? Ein Wettkampf von Amateuren, die alle zu Gladiatoren werden müssen, wenn sie auch nur die geringsten Aussichten auf Erfolg haben wollen. Müssen doch diese Amateure fleißiger, verbissener und ausschließlicher ihre ganze Lebensführung dem Training opfern als irgendein Berufssportler. 

1)  Die Gewinnerin der Silbernen mochte 2 Zentner wohl nicht überschritten haben (nach Photo taxiert).


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Jedem dieser Gladiatoren wird der Mantel des Amateurs umgehängt, weil man sich bewußt ist, selbst daran schuld zu sein, wenn wirkliche Amateure keine Existenzberechtigung mehr haben.

Olympische Festspiele! Völker verbindend, Haß auslöschend? Aber wo Gladiatoren kämpfen, wird kein Haß begraben. Seien wir ehrlich und schreiben statt Olympische Festspiele in Zukunft über die Eingangspforte: »circenses«.

Und nun noch generell etwas über den Sport. Er ist zumeist gar nicht mehr Erholung, sondern immer mehr Selbstzweck und Strapaze, geleitet von einer wilden Rekordsucht. Selbst der dem weiblichen Geschlecht besonders gemäße Sport, das Schlittschuhlaufen, besteht nicht mehr in dem Genießen des harmonischen Schwingens und Gleitens.

Rekorde gab es schon immer. Aber der tierische Ernst auf der Jagd danach fehlte. Rekorde fordern den Spezialisten. Der Städter braucht aber am Wochenende genußreiche sportliche Entspannung und nicht extreme sportliche Spezialisierung und Überanstrengung. Ihm taugt »optimale, nicht maximale Leistung«. Auch über der Eingangspforte zu den Olympischen Festspielen sollten diese Worte stehen.

Das Sich-nicht-Spezialisieren hat den Menschen letzten Endes befähigt, sich Spezialmaschinen zu konstruieren, solche zum Fliegen, solche zum Schwimmen über das Meer, zum Dahingleiten über den Boden, über Schluchten und durch Berge hindurch, und schließlich auch Maschinen, um all dies und sich selbst im Bruchteil einer Sekunde wieder zu atomisieren.

Das Nichtspezialisiertsein des Menschen kann uns befriedigen. Möge er dabei bleiben. Anzeichen körperlicher Degeneration sind schon vorhanden; es sind recht bedrohliche Anzeichen dafür, daß heute schon etwas mit dem Menschen nicht mehr ganz in Ordnung ist. Verwässerung der Gewebe, Minderung der Herzgröße, Rückgang des Pigments und der Behaarung, auch an Stellen, wo man sie gerne sehen würde (Glatze). Dazu gehören auch die Striae nach Geburten und die Dammrisse, die bei Naturvölkern nur auftreten, wenn den Frauen während der Geburt in unsinniger Weise aus rituellen Gründen der Unterleib gepreßt wird. (Auch die Infibulation der Mädchen verhärtet die Gewebe und provoziert Dammrisse.) Viele Erscheinungen, die wir bei den Haustieren als Domestikationszeichen aufzählten, finden sich auch beim zivilisierten Menschen. So auch die Schwächung des hormonalen Regulierungs­vermögens.

Tausendfältig ist die Einwirkung der Umgebung auf den Menschen. Mit tausend Zangen wird er ständig von seiner eigenen Schöpfung, von der Zivilisation gepackt; von ihr wird alles beherrscht: 


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der Schlaf im Bett, der geschlossene Raum, der geheizte Raum, das Waschen mit Seife, das Kämmen, das Bürsten der Zähne, die Kleidung, das Gehen in Schuhen, das viele Sitzen, das Frühstück, die Zigarre, die Zeitung — kurz, von morgens bis wieder zum Morgen umgibt uns die Zivilisation. Die Zähne, der Verdauungskanal, der Blutkreislauf, die Drüsenfunktion, die Muskeln, die Sinnesorgane, das Gehirn, das ganze Nervensystem, es gibt kein Organ, das sich nicht mit der Zivilisation auseinanderzusetzen hätte.

Aber nicht nur darauf soll in diesen Ausführungen geachtet werden, sondern es soll auch — und sogar vor allem — aufgezeigt werden, inwieweit durch das veränderte selbstgeschaffene Milieu der Mensch an Leib und Seele bereits eine Änderung erfahren hat.

 

      Steigert die Zivilisation die Gesundheit der Menschen?    

 

Wohl könnte es so scheinen. Die Lebenserwartung steigt ständig. Dies spricht doch wohl dafür. Im Durchschnitt wurde der Mensch bzw. Mitteleuropäer:

im Bronzezeitalter

18 Jahre alt

zur Zeit Christi

22 Jahre alt

im Jahre 1700

33 Jahre alt

im Jahre 1790

35 Jahre alt

im Jahre 1900

50 Jahre alt

im Jahre 1950

67 1/2 Jahre alt

Die Zahlen liegen für die einzelnen Länder Europas etwas verschieden; immer aber zeigen sie eindeutig eine steigende Tendenz, besonders stark seit 100 Jahren. Wozu also das Klagen über den lebenszerstörenden Rhythmus der Zivilisation und über ihre vielen Schädigungen der Gesundheit!?

Aber auch in diesem scheinbar so einfachen Falle kann die Statistik in die Irre führen, wenn man sie kritiklos gebraucht. Nehmen wir eine Statistik zur Hand, die in Deutschland für das männliche Geschlecht für die Zeit von 1871 bis 1934 gilt. Der Neugeborene hatte zwischen 1871 und 1881 die Chance, 35 1/2 Jahre alt zu werden; im Jahre 1933 war sie auf 60 Jahre gestiegen. Mithin eine Differenz von 24 1/2 Jahren. Nach dem ersten Lebensjahr aber lag die Lebenserwartung 1871 bereits bei 46 1/2; sie hatte somit für das 1 Jahr alte Baby bereits um 11 Jahre zugenommen. Dies zeigt, wie »lebensgefährlich« das erste Säuglingsjahr früher war, viel gefährlicher als 1932, wo die Lebenserwartung nach dem ersten Jahr nicht um 11 Jahre, sondern nur um 4 1/2 Jahre anstieg (heute noch weniger). 


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Mit anderen Worten: Die geringe Lebenserwartung war noch vor 100 Jahren in sehr hohem Maße durch die hohe Säuglingssterblichkeit bedingt. Die Zivilisation hat also durch ihre gesteigerte Hygiene vor allem die Sterblichkeit der Säuglinge heruntergedrückt (von 30 auf 6%).

Wirkt sie in gleichem Sinne auch auf den Erwachsenen? Hier ist schwer zu entscheiden, ob die Schädigung oder die Förderung der Gesundheit durch die Zivilisation überwiegt, vor allem also, ob der Hygieniker und der Arzt die Waagschale so kräftig belasten können, daß sie das Übergewicht hat.

Wenn wir nun diesem Problem etwas näher nachgehen, so wollen wir uns zunächst darüber klar sein, daß Gesundheit nicht eine statische Angelegenheit ist, sondern daß damit nur eine dynamische Äußerung gemeint sein kann, nämlich die Fähigkeit, sich zu wehren, die Fähigkeit, trotz allem weiterzuleben und immer wieder zu einem harmonischen Gleichgewicht aller Körperfunktionen zurückzufinden.

Lassen wir die Lebenserwartung des Erwachsenen als Maß der Gesundheit gelten. Sie war in Deutschland 1875 für einen 20jährigen 38 1/2 Jahre; 1932 dagegen 48 Jahre, also 9 1/2 Jahre mehr. Auch für einen 50jährigen liegt sie immerhin noch um 4 1/2 Jahre höher als 1875. Zeigt dies nicht eine Steigerung der Gesundheit an?

Dazu ist zu sagen, daß der Unterschied noch größer wäre und somit noch eindrucksvoller zugunsten der Zivilisation sprechen würde, wenn nicht durch die fortgeschrittene Hygiene viele Schwächlinge unter den Säuglingen und Kindern am Leben blieben. Diese belasten die Erwartungskurve der Erwachsenen. Weiter wird die Gesundheit, d.h. die Abwehrfähigkeit im allgemeinen, heute viel stärker bis zum letzten herausgefordert als vor 100 Jahren — allerdings als eine Folge der Zivilisation. So z.B. durch Überanstrengung im Sport, durch übermäßiges Rauchen usw. Es gibt also heute mehr Noxen, die die Gesundheit dauernd schädigen, als früher, Noxen, die oft mehr verlangen, als auch der völlig gesunde Körper zu leisten vermag.

Wenn dennoch der Mensch älter wird, so liegt dies trotz allem nicht daran, daß seine Abwehrfähigkeit gestiegen ist, sondern vor allem daran, daß ihm der Arzt zur Seite steht und seiner Abwehrfähigkeit beispringt. Ohne die ärztliche Kunst würde wohl heute die Lebenserwartung des 50jährigen nicht um einige Jahre höher, sondern viel eher niedriger liegen als vor 50 und 100 Jahren.1)

1) Es wird auch vermutet, daß sich die Erbmasse mit der früher eintretenden Geschlechtsreife dahin geändert habe, daß der Mensch langlebiger geworden ist. Dagegen spricht, daß die beschleunigte Entwicklung der Jugend nur Milieueinwirkung (keine Mutation) ist.


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Die Zivilisation — zu der auch die Entwicklung der ärztlichen Kunst gehört — wirkt also recht zwiespältig: Sie fördert und sie hemmt. Im Endergebnis wird das Leben verlängert. Ob aber darin eine Steigerung der Gesundheit gesehen werden darf, ist damit durchaus nicht gesagt. 

Wenn ein älterer Mensch eine Lungenentzündung mit Hilfe von Penicillin übersteht, dann hat die Spritze nicht etwa seine Gesundheit gesteigert, sondern getan, was der Körper vielleicht nicht mehr vermocht hätte. Sie wirkt wie ein deus ex machina, und sie birgt bei jüngeren Menschen die Gefahr, daß der Körper sich auf diese Hilfe verläßt, d.h., daß er an Abwehrfähigkeit einbüßt. Manche allopathische Spritze kann so ein Nagel zum Sarge der Gesundheit werden. Sie erleichtert im Augenblick und bedroht die Zukunft. Sie hält dem Körper einen Schild vor und nimmt ihm damit das Recht, sich selbst zu wehren1.

Die Frage, ob die Gesundheit im ganzen von der Zivilisation günstig oder ungünstig beeinflußt wird, ist somit präzis gar nicht zu beantworten. Sie ist viel zu komplex.

In USA sterben alljährlich 65.000 Menschen unter 40 Jahren an Abnutzungkrankheiten. Also Alterstod vor 40 Jahren. Aber auch bei uns sind viele Ärzte der Meinung, daß es heute viel weniger Menschen gibt, die nicht schon in mittlerem Lebensalter durch Funktionsstörungen erkennen lassen, daß sie »angeschlagen« sind. Die organischen Veränderungen kommen dann nach.

75 Tabletten Aspirin und ähnliche Arzneimittel verschluckt der Durchschnittsdäne alljährlich. Da nun ein starker Prozentsatz der Menschen an diesem Konsum nicht beteiligt ist, ergibt sich für die übrigen ein bedenklich hoher Anteil. 9000 kg Schlafmittel werden alljährlich in Dänemark verbraucht. Und andernorts werden es nicht weniger sein. In England werden jährlich 20 Millionen Schlafmittelrezepte ausgestellt. In USA werden mit Detektivromanen zugleich Schlaftabletten mitverkauft, damit der erregte Leser nach der Lektüre gut einschläft. Der starke Verbrauch der verschiedenartigsten Arzneimittel scheint zu Überempfindlichkeiten zu führen, die sich nicht nur in Allergien, sondern auch in anderen Dingen, vor allem im Mangel weißer Blutkörperchen äußern. Es tritt mit der Zeit eine Gewöhnung ein, die das Schlafmittel, das in immer höheren Dosen genommen wird, zum Rauschmittel werden läßt. Damit ist der anfangs nur Schlaflose süchtig geworden und dem Mittel vollkommen verfallen.

1) Ein Impfplan in Rheinland-Westfalen schlägt für die 2 ersten Lebensjahre vor: Im ersten Jahr einmal impfen gegen Tuberkulose, gegen Pocken und gegen Kinderlähmung, zweimal gegen Diphtherie, Keuchhusten und Starrkrampf. Im zweiten Jahr je zweimal gegen Diphtherie und Starrkrampf. Somit 13 Impfungen in den 2 ersten Jahren. 


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Der Körper wird vor manche schwierige Aufgabe gestellt. Oft werden Medikamente verschrieben, die bestimmte Symptome oder auch Ursachen von Symptomen beseitigen, die aber an anderer Stelle den Organismus schädigen. Mit welcher Begeisterung wurden die Antibiotica begrüßt, und welchen Schaden — neben großem Nutzen — haben sie den Menschen schon zugefügt. Warnende Stimmen wurden gerne überhört. 90% Antibiotica werden heute noch (nach Reimann) überflüssig, d.h. zumeist schädigend angewendet. In Südamerika kauft man ohne Rezept. Viele haben ihre eigene Spritze. Frühgeburten und Säuglinge werden mit Antibiotica »getrieben«, wie die Schweine während der Mast. 30 % der Ausgaben für Medikamente entfallen heute auf Antibiotika. Hat nicht Lentrodt vollkommen recht, wenn er fragt, ob hier »nicht eine allzu große Verliebtheit in die Antibiotica als therapeutische Monomanie die Geister verwirrt«?

Die bedenklichen Nebenwirkungen, die bei verschiedenen Antibiotica verschieden stark auftreten, sind einmal toxischer (= vergiftender) Art (vor allem neurotoxisch); ferner wirken sie sensibilisierend, d.h. sie führen zu Allergien, und schließlich verändern sie die Mund- und Darmflora; vor allem, sie töten die Colibakterien, ohne die der Darm nicht richtig zu arbeiten vermag. Sie erzeugen Soor-Erkrankungen auch bei Erwachsenen.

Im Kampf gegen Infektionskrankheiten sind die Antibiotica ein Bundesgenosse des Arztes, wertvoll und mächtig, aber auch zum Verrat neigend und dann vernichtend, sobald dieser Verbündete nicht ständig unter scharfer Kontrolle gehalten wird. Schon droht eine neue tödliche Krankheit: die pilzbedingte Lungenentzündung. Eine Folge der Antibiotikabehandlung.

Durch geburterleichternde Mittel können beim Neugeborenen Lähmungen und auch Epilepsie hervorgerufen werden.

Medikamente sollen jeweils eine bestimmte, umschriebene Reaktion im Körper hervorrufen. Je schärfer der Arzt zu zielen vermag, um so besser. Aber gar zu oft erweist er sich als ein etwas mangelhafter Schütze. Und nicht immer läßt sich rechtzeitig feststellen, ob neben der erwünschten Wirkung auch noch bedenkliche Nebeneffekte mit in Kauf genommen werden müssen. Selbst die Erbmasse kann in Mitleidenschaft gezogen werden. Es entstehen in ihr plötzliche Veränderungen, Mutationen genannt. Sie sind so gut wie immer von Übel. Viele mögen auf die Zufuhr von irgendwelchen Heilmitteln zurückzuführen sein (Sulfonamide). Man stellt fest, daß die Zahl der Mißgeburten in den letzten zehn Jahren erschreckend angestiegen ist.1)

 1) In Deutschland haben Mißbildungen besonders stark seit Kriegsende bis zum Jahre 1948, also vor den Versuchen mit Atombomben, zugenommen. Man führt sie z.T. auf Aufregung, Unterernährung und höheres Alter der Mütter zurück.


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Schauen wir der Natur etwas in ihr Rezeptbuch.

Wir haben von den Wuchsstoffen, von dem Crocin und Safranal, von dem Acetylcholin und anderen Stoffen gehört, daß sie in nicht mehr vorstellbaren feinsten Spuren zu wirken vermögen.

Aber nicht in dem Crocin und Safranal — es sind tote, geschlechtsspezifische Befruchtungsstoffe — liegt das Erstaunliche. Das Ungewöhnliche, immer wieder Überraschende äußert sich darin, daß das Protoplasma auf solche feinste Spuren entscheidend zu reagieren vermag. Die Hormone sind Sendboten ohne Leben, die von einer Stelle des Organismus ausgehen und von einer anderen wahrgenommen und verstanden werden. Das Aktive liegt nicht so sehr bei den Zellen, die die Hormone produzieren, als vielmehr bei denen, die auf diese Fernnachrichten antworten. Daß sich diese Empfangsorgane auf eine so unendlich geringe Menge einzustellen vermögen, das ist es, was uns immer wieder überrascht.

Und seltsam genug, alle Organismen bedienen sich derselben Sprache. Während bei den höheren Tieren und beim Menschen nicht nur jede Art, sondern auch innerhalb derselben Art jedes Individuum im Chemismus des Blutes und des Gewebes seine Eigenart besitzt und als originales Gebilde auftritt, sind die von ihm produzierten Spurenstoffe, die Hormone, Enzyme und Vitamine, Allerweltsgut und durch das ganze Reich der Organismen mit gleichem chemischen Aufbau verbreitet. Wie eigenartig berührt es doch, daß die Geschlechtshormone der Frau auch von Pflanzen gebildet werden. Nur Hormone des Vorderlappens der Hypophyse machen hier eine Ausnahme. Sie sind meist nur für eine bestimmte Klasse, bisweilen sogar für die einzelne Art spezifisch.

Die Natur ist der geniale Lehrmeister. Wir bewundern sie, wie sie mit minimalen Spuren arbeitet und damit dirigiert. Sie setzt alle diejenigen ins Unrecht, die die homöopathische Methode einfach deshalb ablehnen, weil sie sich eine Auswirkung unmeßbar feiner Spuren nicht vorstellen können.

Hier liegt noch eine Welt verschlossen, deren Riegel erst gesprengt werden müssen. Wenn sich die Tore öffnen, dann erst wird man die Anmaßung erkennen, die in der grundsätzlichen Verneinung einer Methode der geringsten Spuren liegt.

Unser Körper ist ebenso wie der aller Tiere und Pflanzen — man denke an die Wuchsstoffe — auf minimalste Spuren eingestellt. Warum gibt man ihm nicht, was ihm gemäß ist?


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       Zivilisationskrankheiten     

 

Ein nicht klar zu umreißender Begriff; aber dennoch brauchbar. Auch Zivilisationsschädigungen seien hier aufgeführt.

Wenn eine Krankheit heute in anderer Form, mit anderen Symptomen und anderem Verlauf auftritt als früher, so kann es daran liegen, daß die Reaktionsweise des Menschen sich geändert hat, oder aber auch daran, daß neue Bakterienrassen und Viren entstanden sind. Neuerdings hat die medikamentöse Behandlung solche Neubildungen gefördert. Die Erfolge von Sulfonamiden sind bereits auf etwa ein Drittel gesunken, da sich in den ersten Jahren schon giftfeste Bakterienstämme herausentwickelt hatten.1) 

Ähnliches hat man bei Penicillin festgestellt. Etwa 50% der Eitererreger sind bereits penicillinresistent. Im Osten der USA sind es schon 75%. Vor zehn Jahren waren es nur 12%. Alle Bakterien werden mehr und mehr unempfindlich gegen dieses Gift, auch die Meningokokken, die Gonokokken und die Tuberkelbazillen, vor allem aber die Staphylokokken. Trotzdem setzt der »fortgeschrittene« Ökonom der Milch, wenn sie zuviel Keime enthält, Penicillin zu, um eine besonders einwandfreie Milch vortäuschen zu können. Auch durch Euterbehandlung können Antibiotika in die Milch gelangen.2) Kaugummi wird mit Penicillinzusatz angeboten. Lippenstifte mit Antibiotika garantieren den aseptischen Kuß. Wann wird der Siegeszug der Antibiotika beendet sein?

Im Kampf zwischen Darmbakterien und Antibiotika haben unstreitig die Bakterien die erste Runde verloren. Dann aber machten sie überraschend schnell eine gewaltige Erfindung. Sie produzierten ein Ferment, das das Penicillin zersetzt und unschädlich macht. Man nennt es Penicillase. Die zweite Runde ging also deutlich an die Bakterien. Aber der Kampf ist noch nicht entschieden. Setzt man dem Penicillin das verdauende Ferment Trypsin zu, so zersetzt dieses wiederum die Penicillase, und die Bakterien sind wieder wehrlos. Die dritte Runde scheint also an den Wissenschaftler zu gehen. Allerdings gilt dies nur bei Darminfektion. Wie wird der nächste Schachzug der Bakterien aussehen? Wer wird schließlich den anderen matt setzen?

Und was hat bei all dem unser eigener Körper mit seiner angestammten Abwehrfähigkeit zu tun? Nichts. Der Kampf findet in ihm statt. Er selbst aber stellt dazu lediglich die Arena für die Kämpfer. Eine rein passive Angelegenheit.

1)  Unter einer Milliarde Zellen erweist sich etwa eine als giftfest (Demerec). 
2)  Da durch Kochen die Antibiotica weitgehend zerstört; werden, können sie sich nur hei Obst, ungekochter Milch und Trinkwasser bedenklich auswirken, wenn die Mengen groß genug sind.


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Aber nicht nur Bakterien passen sich an Gifte an. Auch Läuse und Wanzen. Sowohl Fliegen — wir haben schon darauf hingewiesen — als auch Läuse gewöhnen sich an DDT, so daß bereits widerstandsfähige Stämme existieren. Bei den Truppen in Korea wirkte DDT nur noch auf 55% der Läuse.

Der »englische Schweiß«, der 1486 mit einer Sterblichkeit von 90% auftrat, wurde 1802 zum letztenmal in Hamburg festgestellt. Kinderlähmung hat es vermutlich schon zur Pharaonenzeit gegeben. Das Mittelalter scheint davon verschont geblieben zu sein. Dann trat sie wieder auf. Seit 150 Jahren wird sie genauer beschrieben in England, 1840 zum erstenmal in Deutschland, beidemal also mit beginnender Verseuchung der Flüsse. Erst seit der Jahrhundertwende zeigt sie ein epidemisches Auftreten in Europa, Nordamerika und Australien, und neuerdings auch in den Tropen. Es scheint dies mit der Zivilisation zusammenzuhängen. Sie wird auch öfters als Zivilisationsseuche bezeichnet. Je dichter die Besiedlung, um so häufiger die Krankheit. Früher trat sie nur sporadisch auf. Bis 1930 wurden nur Kinder unter 5 Jahren befallen, heute auch ältere Personen (vor allem Sporttypen). Ebenso hat sich auch die Erscheinungs­form geändert.

Während die Kinderlähmung seit 1947 in großen Teilen Afrikas in Zunahme begriffen ist, geht sie in USA und Kanada erheblich zurück. In Europa sind besonders stark befallen: England, Irland und Skandinavien.

Die Sterblichkeit bei Masern, Scharlach und besonders bei Diphtherie ist in den letzten Dezennien gesunken, und zwar nicht nur infolge der zweckmäßigeren Behandlung. Weniger erfreulich verläuft die Sterblichkeitskurve der Zuckerkrankheit. In New York ist sie seit 20 Jahren sehr stark angestiegen (trotz Insulin). Die Sterbefälle bei Herz- und Nierenkrankheiten haben sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt.

Alle Krankheiten, die durch Tröpfcheninfektion weiterverbreitet werden, treten um so häufiger auf, je dichter die Menschen beisammenleben (Schulen, Tram, Bahn). Man kann sie als Zivilisationsseuchen bezeichnen. Alle Krankheiten, die durch Reinlichkeit zurückgehalten werden, schwinden mit zunehmender Zivilisation. Tuberkulose wird durch Massierung der Menschen gefördert und durch Reinlichkeit und zweckmäßigere Behausung gemindert, im Enderfolg aber durch medizinische Betreuung insbesondere der jungen Menschen sehr stark eingedämmt. Bei den Negern in Südafrika, die in Minen arbeiten und die Lunge mit Mineralstaub belasten, tritt die Tuberkulose besonders virulent auf. In US wird durch Alkoholgenuß die Wirkung beim Neger verstärkt.

Man darf aber auch nicht übersehen, daß die immerwährenden Neuinfektionen im Laufe der Zeit zu einer Immunität führen, die viele dieser Krankheiten harmlos werden läßt, während sie für allzusehr behütete Kinder ebenso wie für Völker, die zum erstenmal davon befallen werden (Masern bei Polynesiern, Tbc bei Feuerländern), tödlich verlaufen können.


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In einer Sträflingskolonie, die in gesundem, trockenem und kaltem Klima Sibiriens mit keiner Infektionskrankheit in Berührung kam, starben alle Kinder an verschiedenen Krankheiten, als sie nach dem Süden verlegt wurden, in die Nähe eines an der Bahn gelegenen Dorfes. Die Kinder hatten vorher nie Gelegenheit gehabt, den Umgang mit Bakterien zu erlernen.

Wie viele Familien machen doch die Erfahrung: Das erste Kind wird aseptisch aufgezogen. Für das zweite genügt allgemeine Sauberkeit. Mit dem dritten Kind weicht die Bakterienangst; man läßt es »im Dreck« aufwachsen. Dieses dritte ist zumeist das widerstandsfähigste. Es hat gelernt, wie man Bakterien umbringt.

Der Krebs, die Geißel der Menschheit, nimmt noch immer zu. Der Neger im Busch hat nicht darunter zu leiden, wenn er auch so wie andere Naturvölker und ebenso wie Wildtiere (Schilddrüsenkrebs) nicht ganz frei davon ist (Hautkrebs).1) 

Unter den zivilisierten Negern aber in Kapland, und nicht weniger unter denen von New York, ist Krebs erschreckend stark verbreitet. Gewerbe und Industrie verursachen Reizkrebse. Der Krebs der Schneeberger Bergarbeiter, der auf der Einwirkung radioaktiver Substanzen beruht, befällt mehr als 60%. Von Pecharbeitern in Brikettfabriken werden bis zu 40%, bei längerem Aufenthalt bis 75% krebskrank. Die Latenzzeit des Blasenkrebses kann bei Anilinarbeitern bis zu 15 Jahren, bei Schneeberger Lungenkrebs und bei dem Chromatkrebs bis zu 30 Jahren betragen. Die Zahl der Berufskrebse ist sehr groß. 

Teerkrebs und Rußkrebs stehen an erster Stelle. Ebenso wie Tabakteer wirken die Auspuffgase schlechter Verbrennungsmotore. Die Zahl der Lungenkrebse hat sich seit den letzten 40 Jahren etwa um das Zehnfache und mehr erhöht, in den letzten 10 Jahren um das Dreifache, wobei man fünfmal mehr Männer feststellt als Frauen. Hierüber wird später noch zu berichten sein.

Es gibt in der Industrie sehr viele Stoffe, die den Arbeiter mit Krebskrankheit bedrohen, Stoffe, die den normalen Stoffwechsel, wie Butenandt sagt, zur Entgleisung bringen.

Beinahe 60% aller Krebse bei erwachsenen Männern lieferte 1954 noch der Magenkrebs. Thermische (zu heiße Speisen, eisgekühlte Getränke) und chemische Schädigungen sind daran schuld. Schankwirte haben 25mal häufiger Speiseröhren-, Zungen- und Magenkrebs als andere Berufe. Überhitzte Fette (350°), wie sie bei unnötigem Braten von Pfannengerichten entstehen, können Krebs erzeugen.

1) Außer Hautkrebs kommt bei ihm auch Leberkrebs vor ( Bantu-Neger), der auf Mangel an hochwertigem Eiweiß zurückgeführt wird.


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Die Sterblichkeit an Krebs ist seit 1900 auf mehr als das Doppelte gestiegen.

Zu den besonders zählebigen Irrlehren gehört die so angenehm narkotisierende Behauptung, der Krebs nehme nur scheinbar zu. Höheres Alter und bessere Diagnose täusche dies vor. Sicher wirkt dies etwas mit, erklärt aber nicht den starken Anstieg. Denn der 50jährige wird nur etwa 3 Jahre älter als vor 80 Jahren. Und bei der Sektion wurde auch früher schon der Krebs mit Sicherheit diagnostiziert.

Die Frau hat an Lebenserwartung in den letzten Dezennien ebensoviel gewonnen wie der Mann, und sie wird von gleichen Ärzten und gleichen Apparaten untersucht wie der Mann. Stellt man bei ihr eine mäßige Zunahme des Lungenkrebses fest, so könnte dies vielleicht noch der besseren Diagnose und dem höheren Alter zugeschrieben werden. — Wie aber kommt dann der Mann in den letzten Dezennien zu einer Steigerung, die um ein Vielfaches über der Zunahme bei den Frauen liegt?

Also wird man sagen: Der Lungenkrebs nimmt wirklich zu, alle anderen aber nur scheinbar. Für den Magenkrebs aber kann man gleich zwingend eine Zunahme dartun. Heute noch findet man bei den Negern und anderen Naturvölkern bei genauester Untersuchung nur ganz vereinzelt Magen- und Darmkrebs. Kommen diese Menschen aber unter den Einfluß der Zivilisation, so leiden sie nicht nur sehr häufig an Magen- und Darmkrebs, sondern zum Teil sogar häufiger als die weiße Rasse. Wer aber will behaupten, daß der Neger in New York eben gründlicher oder von besseren Ärzten untersucht würde als der Weiße? Und seine Lebenserwartung liegt außerdem niederer als die der Weißen.

Krebs und Zivilisation sind enge Verbündete. Arzt und Zivilisation aber auch. Die Zivilisation — ein Januskopf, der dem Krebs stärkste Förderung verspricht; auf der anderen Seite aber dem Arzt zuflüstert, wie er den Krebs zu bekämpfen hat.

Neuerdings werden immer jüngere Menschen von Krebs befallen. Auch dies hat nichts mit besserer Diagnostik oder gesteigerter Lebenserwartung zu tun.

Man kennt bereits etwa 400 krebserzeugende Chemikalien. Aber viele Krebsursachen konnten noch nicht festgestellt werden. Bei arabischen und jüdischen Frauen kommt der Krebs des Muttermundes viel seltener vor als bei anderen. Man vermutet, daß es mit der Beschneidung der Männer zusammenhängt. In USA beginnt man bereits, Neugeborene zu beschneiden.

Schädigungen der Arbeiter durch Gewerbegift haben sich trotz eifriger Bemühungen bis heute nicht vermeiden lassen. Bei vielen Giften ist zu befürchten, daß nicht nur das Individuum, sondern auch dessen Erbmasse getroffen wird.


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Frauen, die in Bleibetrieben arbeiten, sind zu 50% kinderlos. Fehlgeburten sind häufig. Die normal geborenen Kinder sind oft Schwächlinge und zeigen eine Sterblichkeit von 75%. Aber auch wenn nur der Mann in solchen Betrieben tätig ist, sind seine Kinder häufig geschädigt. Stark wirksame Gewerbegifte sind ferner Jod, Arsen, Quecksilber, Phosphor, Chinin, Schwefelkohlenstoff, Benzol, Anilin; auch Nikotin ist ein Keimgift und führt zu Aborten.

Groß ist die Zahl der Gewerbe, die zur »Staublungenkrankheit« verschiedener Provenienz führen. Dazu die Verkehrsgifte in geschlossenen Straßenzügen. Wann wird sich unsere Lunge damit abgefunden haben, daß sie keine reine Luft mehr beanspruchen kann?

Die Erfindung neuer Substanzen steigert ständig die Möglichkeit der Schädigung durch Gewerbegifte. Technische Lösungsmittel (von Lacken, Farben usw.) haben sich als starke Atemgifte erwiesen. Sie schädigen den Kreislauf und die Leber und führen zu degenerativen Veränderungen des Zentralnervensystems. Nachdem das Trikresylphosphat während des Krieges Tausende von Menschen vergiftet hatte, wurde es nach dem Krieg zum Weichmachen von Kunststoffen verwendet und führte nun beim Tragen von Regenmänteln, von Schuhen, von Handtaschen und bei Verwendung von Einwickelpapieren, die damit behandelt worden waren, zu langandauernden Vergiftungen. Es hatte sich gezeigt, daß die ölige Substanz sehr leicht in die Haut eindringt.

Viele Berufe fordern dauerndes Stehen, ohne daß infolge genügender Bewegung die beanspruchten Muskeln stärker durchblutet werden. Dies führt dazu, daß das Fußgewölbe seine Tragfähigkeit einbüßt und daß dadurch der Plattfuß entsteht, der wieder den ganzen Unterkörper ungünstig beeinflussen kann. Bei Fabrikarbeiterinnen und Verkäuferinnen führt das Stehen in den Entwicklungsjahren zu einem Zusammenschieben der Beckenknochen, so daß in vielen Fällen Eingriffe bei der Geburt nötig werden. Heimarbeiterinnen leiden infolge langen Sitzens oft an mangelnder Blutzirkulation, die zu Scheiden- und Gebärmutter­katarrhen und zu Menstruationsstörungen führt. Man darf annehmen, daß auch die ständigen Erschütterungen auf einem nicht sehr gut gefederten Soziussitz des Motorrades zu Störungen der Uterusfunktionen und zur Beeinträchtigung der Gebärfähigkeit führen. Verhindert der Beruf ein Austreten zur gewünschten Zeit (Trambahnschaffner), so entstehen bisweilen Blasenleiden.

In Fabriken muß der Arbeiter oft bestimmte Muskelgruppen bewegen, und dies in einem unnatürlich schnellen, von der Maschine diktierten Tempo. Andere Muskeln werden kaum beansprucht. Für den Geistesarbeiter bedeutet sein ganzer Muskelapparat häufig einen erheblichen Luxus. Die mangelhafte Durchblutung der Muskeln führt zur Anhäufung von Säuren, vor allem von Milchsäuren. Dies wieder führt zur Verhärtung von Muskeln. Dadurch wird die Lust, sich zu bewegen, immer weiter herabgemindert.


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Der Schall trifft bei uns nicht nur das Ohr, ebensowenig wie bei den lange nicht so sensiblen und geistig nicht angestrengten Tieren. Bei hoher Schallfrequenz (20 Kilohertz) verenden Insekten (Küchenschaben) bereits in 3 Minuten. Setzt man Ratten intensivem Lärm aus, so verenden sie infolge innerer Blutung in einer Stunde; Meerschweinchen bereits nach 15 Minuten. Durch den Heulton einer Sirene entsteht beim Menschen Juckreiz, Kopfweh und Stechen im Mittelohr. Die Finger müssen gespreizt werden, um sie vor starkem Brennempfinden an den Berührungsflächen zu schützen. Dauerlärm erzeugt Hör- und Sehstörung, Magenleiden, auch Herzinfarkt; die Hormontätigkeit wird beeinträchtigt. 

Auch der Mensch kann durch dauernden Lärm »hingerichtet« werden. Im Jahre 221 v.Chr. erließ in China der Polizeiminister Ming-ti die Bestimmung: »Wer den Höchsten schmäht, der wird nicht gehenkt, sondern die Flötenspieler, Trommler und Lärmmacher sollen ihm so lange ohne Pause vorspielen, bis er tot zu Boden sinkt. Er soll durch den Lärm sterben. Das ist der qualvollste Tod, den ein Sterblicher erleiden kann.« Heute würde man Motorradfahrer dafür engagieren. Sie wären bessere Scharfrichter; Herrn Ming-ti wären sie allerdings wohl zu human, weil zu schnell wirkend.

Überstarke, aber in Betrieben und auf der Straße nicht seltene Geräusche schädigen das Ohr. Die Lokomotivführer werden davon betroffen, ebenso die Nieter in Werften (Kesselschmiedkrankheit). Sie erleiden insbesondere durch die hohen Töne Dauerschäden auf Grund von Veränderungen im Mittelohr. Sie werden schwerhörig. Man hat daher die Pfeiftöne der Lokomotiven herabgesetzt. Arbeiter, die einen Tag lang starkem Lärm ausgesetzt sind, hören abends ihre Uhr nicht mehr ticken. Dauernde Schädigungen gehen von den Ganglienzellen und dem Cortischen Organ (Schnecke) aus. Auch Taubheit nur für einzelne Töne kann entstehen, wie sie auch experimentell im Tierversuch erzeugt werden kann. Meerschweinchen, die lange einem bestimmten Ton ausgesetzt sind, werden für diesen Ton taub. An der Nebennierenrinde konnte man histologische Veränderungen als Folge von Dauerlärm feststellen.

Zu laute Umgebung (Schreibmaschinen) erschwert die Konzentration, führt zu schneller Ermüdung, leichter Vertaubung und, wie man in Fabriken immer wieder feststellen mußte, sie erhöht die Reizbarkeit und gibt Veranlassung zu Streitereien. Den Verschleiß des Nervensystems durch den Lärm erlebt aber nicht nur der in lautem Betrieb Tätige. 


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Der Lärm trifft jeden, zu Hause und auf der Straße.1) Am bedenklichsten wirkt sich der Schrecklärm aus, wenn durch ein plötzlich über das Haus fliegendes Flugzeug, durch ein Motorrad oder durch eine scharf angeschlagene Autohupe eine oft sehr intensive Schockwirkung erzielt wird, die zu schweren Schädigungen, ja sogar zum Tod führen kann. Nicht nur Gehirn und das Herz und die Blutgefäße werden dadurch getroffen (sowohl Verengerung als auch Erweiterung der Gefäße kann erfolgen, und zwar letzteres in solchem Maße, daß sich der Körper in die Gefäße hinein verblutet und das Herz leer arbeitet), auch der Magen wird alteriert und kann Dauerschaden erleiden. 

Und die Geschlechtsfunktion? Man weiß, daß der Lärm nah über den Boden hinfliegender Flugzeuge bei Silberfüchsen nicht nur das Verhalten der Mutter zu den Neugeborenen zum Katastrophalen ändern kann, sondern auch die Ranz sehr stark zu beeinträchtigen vermag. Sollte nicht auch der Mensch in dieser Hinsicht empfindlich sein? Gerade auf diesem Gebiet ist der zivilisierte Mensch nichts weniger als robust.

Der Lärm der Kraftfahrzeuge steht im umgekehrten Verhältnis zu der Größe des Vehikels. Kann doch das Motorengeräusch eines Autos als beruhigendes Gesäusel angesprochen werden gegenüber dem Getöse eines Dreiradlieferwagens oder gar eines Motorrades, das jeden Augenblick mitsamt seinem Reiter herrlich zu explodieren verspricht, aber nie an die Erfüllung des Versprechens denkt. Gerade dies aber ist der Eindruck, den der Motorradfahrer hervorzurufen wünscht, um sich klar aus der Masse all der Armseligen, die geräusch- und gestanklos ihre Lebenskreise ziehen, herausgehoben zu fühlen. Hätte Dante das Motorrad gekannt, er würde ihm sicher eine bedeutende Rolle in seinem Inferno zugewiesen haben. Aber was wußte Dante schon davon, was ein Höllenspektakel ist.2)

Der Umsatz an Schlafmittel steigt proportional der Zahl der zugelassenen Kraftfahrzeuge. Zählt Jazzmusik zum Lärm? Man hat festgestellt: Motorradlärm, Autolärm, Kleinkindergeschrei und Jazzmusik steigern den Blutdruck; klassische Musik setzt ihn herab.

Sehstörungen entstehen durch übermäßig lang andauernde, starke Belichtung (bei Filmaufnahmen). Es können dadurch Durchblutungsschädigungen in der zentralen Sehsphäre hervorgerufen werden.

1) Auch der Säugling findet einen nur oberflächlichen Schlaf. Durch überlaute Umgebung wird die geistige Entwicklung des Kindes gestört. Es wird störrisch und immer abwehrend.

2) Ein Strahltriebflugzeug erzeugt noch in einer Entfernung von 25 km eine Lautstärke von 80 Phon. Es wird in Belgien gehört, wenn es in Düsseldorf aufsteigt. Der Einbau eines wirksamen Schalldämpfers nimmt dem Flugzeug 1 Zentner Nutzlast, und da die Gesundheit der gesamten Bevölkerung nicht so wichtig ist, wie eine auch nur geringe Steigerung der Rentabilität, fliegt man ohne Schalldämpfer.


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Auch Kinder leiden sehr oft unter »Berufskrankheiten«. Zu ihrem Beruf gehört das stundenlange Sitzen in der Schule und das viele Lesen und Schreiben. Dies führt zu Hemmungen und zu Fehlleistungen des Wachstumsprozesses und zur Förderung von Kurzsichtigkeit. Allerdings besteht schon vor dem Schulbesuch Neigung zum Übergang von Normalsichtigkeit zur Kurzsichtigkeit. Andererseits beobachtet man bei Naturvölkern ein häufiges Auftreten von Myopie nur dann, wenn die Kinder in die Schule gehen oder sonst irgendwie zur Naharbeit veranlaßt werden.

Damit sind die Schäden der Zivilisation nur ganz summarisch abgehandelt. Es gibt noch andere dauernde Beeinträchtigungen der Gesundheit, auf die später da und dort hinzuweisen sein wird, auf Zentralheizung, auf den Menschen als Sitzkünstler und als Tyrann gegenüber seiner Blase und seinem Enddarm, auf den eitlen Menschen, der überschlank und indianerbraun zu sein wünscht und so fort. Immer ist die Auswirkung dieselbe: Der gegen Infektionskrankheiten abwehrschwache Körper.

Aber auch das Gute der Zivilisation soll dieser Anklage angehängt werden. Von der ärztlichen Kunst brauchen wir hier nicht zu sprechen. Reinlichkeit des Körpers und der Wohnung sind sehr wichtige hygienische Faktoren. Rheuma ist durch bessere Wohnmöglichkeit zurückgegangen. Bei 20% der prähistorischen Skelette findet man Spuren von chronischem Rheumatismus. Daß die großen Seuchen, die im Mittelalter die Menschheit immer wieder dezimierten, heute an unseren Häfen haltmachen, ist für uns eine Selbstverständlichkeit, eine Leistung, die man von der modernen Hygiene einfach erwartet.

Der Mensch besteht aber nicht aus Körper allein. Er hat auch eine Seele. Und inwieweit diese von der Zivilisation beeinflußt und zum Teil geschädigt wird, soll uns später noch besonders beschäftigen.

 

       Vom gesunden Appetit    

 

Mühsam versucht jetzt die Wissenschaft zu ergründen, was der Mensch früher erfühlte, was Zigeuner und manche wilden Stämme noch ahnungsvoll richtig machen und was die Wikinger wußten, als sie auf ihre Seereisen immer einen Sack Zwiebeln mitnahmen, um sich vor Skorbut zu schützen. Die Zwiebel half ihnen, Amerika zu erreichen. Sie war wichtiger als ein Kompaß. Und die alten Germanen hatten ihre Walhalla nicht mit Lilien und Rosen ausgeschmückt, sondern mit Zwiebelbeeten von Herz und Magen erfreuenden Dimensionen. Auch im Himmel wünschten sie jeder Form von Avitaminose zu entgehen. Heute macht der Chemiker ein Kompliment vor solchem Wissen und Verlangen. Er hat festgestellt, daß die Zwiebel reich ist an verschiedenen Vitaminen.


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Es ist schlimm bestellt mit dem Menschen. Der ständige Gebrauch seiner Großhirnrinde hat ihm die Fähigkeit einer gesunden Nahrungsauswahl einschlafen lassen; er ist taub geworden dafür, weil er nur noch seiner Logik glaubt und auf sie hört. Diese ließ ihn vor 60 Jahren genau berechnen, wieviel Fett, Eiweiß und Kohlehydrate der Mensch in einem Tage braucht, um seinen Bedarf zu decken. Der Körper aber bewies durch die typischen Erscheinungen der Avitaminose, sich äußernd in bestimmten Krankheitssymptomen, daß diese Logik irgendwo unlogisch sein müsse. 

Der Wilde hat einen »gesünderen« Appetit als der Europäer, das heißt, er verlangt nach dem, was sein Körper braucht. Genau wie der Wildfuchs und die Wildforelle, ihrem Instinkt folgend, sich richtig ernähren. Den Farmfüchsen und den Forellen der Zuchtanstalten aber hat der Mensch die Nahrungsauswahl genommen. Sie verlassen sich jetzt auf den, der sie füttert, schlingen hinab, was er ihnen vorwirft, und überlassen ihm die Verantwortung, wenn es ihnen übel bekommt.

Die Forelle im Bach hört im Herbst auf, Futter zu sich zu nehmen. Aber selbst die frisch eingefangene Forelle ist bald bereit, sich vollständig der Fütterung durch den Menschen anzuvertrauen. Sie frißt auch dann, wenn die Laichzeit naht; und der Erfolg dieser Haltlosigkeit: Ihre Laichprodukte taugen nicht viel.

Wie der Mensch, so sind auch die Tiere durch zivilisatorische Einflüsse schnell zu verderben. Für das Reh bedeutet es keine Gefahr, wenn es auf einen Kleeacker kommt. Eine Kuh dagegen kennt keine Hemmungen und frißt sich so voll, daß der Magen infolge der sich entwickelnden Gase platzt.

Der zivilisierte Mensch ist völlig hilflos geworden. Sein Gaumen läßt sich vom Instinkt in keiner Weise mehr dirigieren. Es sei denn bei den Frauen während der Schwangerschaft, wo der Körper eindringlich nach vitaminreicher Kost, vor allem nach Obst verlangt. Aber auch naturverbundene Völker zeigen Instinktirrungen. Die Einwohner von Madras leiden zu 10%, die des angrenzenden Travancore zu 25% an Magen- und Darmkrebs. Reicht man Versuchstieren auf längere Zeit dieselbe einseitige Kost (Tapiocaknollen), wie sie die Einwohner von Madras und wie sie die von Travancore zu sich nehmen, so erkranken sie ebenfalls an Magen- und Darmkrebs; und zwar ruft auch bei den Versuchstieren die Ernährungsweise der Einwohner von Travancore mehr als doppelt so viele Krebsfälle hervor wie die von Madras. Ein anderes Beispiel von reduzierter Auswahlfähigkeit bei Naturvölkern: Lepra tritt nur da auf, wo die Menschen sich »natürlich« ernähren und die ihnen von der Natur dargebotenen sapotoxinreichen Früchte essen, oder wo viel Mutterkorn im Getreide mitvermahlen wird.


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Das Salzfaß spielt in der Küche und auf dem Tisch eine große Rolle. Was sagt hier der unverdorbene, natürliche Appetit des Rehes dazu? Alle Huftiere wären bei dem Futter, wie es unser Klima produziert, recht froh, wenn sie ein gefülltes Salzfäßchen immer zur Verfügung hätten. Wenn der Mensch ihnen Salzlecken anlegt, so machen sie ergiebig Gebrauch davon. Man kann also nicht sagen, daß es als menschliche Unart anzusprechen wäre, wenn wir in mäßigen Grenzen unsere Speisen salzen.

Woher aber die seltsame Neigung der Menschen und Tiere zum Alkohol? Primitive Völker produzieren Getränke mit nur geringem Alkoholgehalt. Aber nicht aus irgendwelchen lobenswerten Erwägungen heraus, sondern weil sie noch nicht daraufgekommen sind, wie man hochprozentigen Alkohol herstellt. Gärende alkoholische Getränke werden vom Affen bis zur völligen Betrunkenheit genossen. Aber auch bei niederen Tieren, so bei den Ameisen, findet man dieses »Laster«. Also — so muß man wohl schließen — ist es gar kein Laster, sondern eine völlig natürliche Angelegenheit, eine angeborene Liebhaberei unserer Zellen. Diese, dem Alkoholiker sicher sympathische Schlußfolgerung setzt allerdings voraus, daß der Mensch sich als reine Triebnatur auffaßt und sich nicht höher stellt als eine Ameise.

Das eine läßt sich aber immerhin feststellen: Der Hang zum Alkohol hat nichts mit Zivilisation zu tun. Die Fähigkeit, edelste Weine zu produzieren, buchen wir aber gern auf der »Habenseite« der Zivilisation.

Etwas anderes aber ist es, wenn der Mensch dauernd zuviel ißt, oder wenn er zwar normal ißt, sich aber kaum bewegt. Zuviel essen führt durch ungenügende Verdauung und Schlackenbildung zur Selbstvergiftung (Autointoxikation). Mangel an Bewegung reduziert die Darmperistaltik. Dies wiederum gibt dem unverdauten Eiweiß Zeit zur Zersetzung und den Kohlehydraten Zeit zur Gärung. Dabei bilden sich Säuren, die zur Darmentzündung führen und so auch zu einer Verschleimung der Darmwand. Damit wird schließlich die Sekretion verdauender Säfte behindert und die Fäulnis und Gärung und damit die Selbstvergiftung weiter gesteigert.

Die Trägheit der Darmperistaltik hat aber noch einen anderen Grund. Die für viele durch Beruf erzwungene sitzende Lebensweise im Verein mit Tram und Auto, die jede Bewegung rauben, sind es nicht allein. Es kommt dazu, daß bereits das Kleinkind auf Stubenreinheit erzogen wird. Dies allein wäre nicht schädlich, wenn sich nicht sehr bald, insbesondere durch die Schule, der Zwang zum Verhalten dazugesellte. Dadurch wird der Darm völlig aus dem Konzept gebracht. Diese »regulierte« Darmentleerung nimmt dem Darm mit der Zeit die eigene Initiative, und es kommt bei den Zivilisierten zu den so häufigen habituellen Obstipationen. Gegen diese werden dann wiederum dauernd Abführmittel angewendet. Ein Verhängnis für den Darm: Erst darf er nicht, dann bekommt er die Sporen.1)

1) Würden die Menschen weniger essen und sich mehr bewegen, so müßten die Ärzte hungern, »Der beste Weg gesund zu bleiben ist der Fußweg« (H. H. Berg).


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Bei den Primitiven und bei den Wildtieren ist eine Trägheit der Verdauung nicht bekannt.

Bei Fettsucht wird man trotz Selbstverschulden nie daran denken, von Borniertheit zu sprechen. Bei der oft fanatisch vom weiblichen Geschlecht erstrebten Magersucht dagegen ist es nicht immer ganz leicht, diesem Gedanken auszuweichen; besonders, wenn es sich um junge Frauen handelt, die sich Kinder wünschen. Der Embryo benimmt sich wie ein Parasit. Er raubt die Mutter aus, so gut es geht. Und es geht um so besser, je schwächer diese in ihrer Konstitution ist. Die Folge davon ist ein prächtig gediehener Parasit, also ein schwerer Neugeborener und eine ausgezehrte Mutter, bei der einige Monate nach der Entbindung Tuberkulose festgestellt werden kann. Daher im Krieg: Kräftige Kinder und kranke Mütter. Dasselbe Bild, wenn schon Kinder von 13 Jahren schwanger werden.

Die meisten Menschen werden brauchbar trotz der Erziehung, die sie als Kinder über sich ergehen lassen mußten, und die meisten lernen einen guten Appetit zu entwickeln, obwohl Eltern und Großeltern jahrelang alles getan haben, um sie appetitlos zu machen.

Wie viele Kinder, besonders in den gehobenen Schichten, leiden an chronischer Appetitlosigkeit. Oft handelt es sich um eine rein psychische Angelegenheit, die dann mit einem Schlag behoben werden kann. Einem Kind wird eine gute bekömmliche Speise vorgesetzt, begleitet von dem üblichen Befehl: »Das ist nicht viel, aber dies muß gegessen werden.« Widerwillig wird das Essen hinuntergewürgt. Man mache anderen Tags mit demselben Kind den Versuch und gebe nur halb soviel mit dem Ausdruck des Bedauerns, daß es heute nicht mehr davon haben könne. Während man sich selbst eine erheblich größere Portion gut schmecken läßt, wird man beobachten, daß das Kind plötzlich mit Appetit ißt und schließlich fragt, ob nicht doch noch etwas davon zu bekommen ist. Und wenn dann draußen in der Küche jeweils die immer wieder neu angeforderten Nachlieferungen abgewogen werden, so kann man feststellen, daß das Kind nun mit gesundem Appetit das Doppelte und Dreifache des am Tage vorher Gebotenen verlangt und verzehrt. Je weniger Kinder in einer Ehe, um so häufiger diese Art der Fehlerziehung und Fehlernährung.

Man kann ein Kind ermahnen, wenn es zuviel und wenn es zu gierig ißt, aber niemals, wenn es zuwenig ißt. Der Stock, die Rüge und der Zwang sind keine adäquaten Mittel, um den Appetit günstig zu beeinflussen. 


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Sie können ihn mindern und tun dies beinahe immer. Der Appetit streikt sofort, wenn er unter Befehl gestellt werden soll. Zu der psychisch bedingten Appetitlosigkeit kommt häufig noch eine solche, die durch Fehlernährung erzeugt wird. So wie der Säugling sofort durch die Art seines Stuhles Meldung macht, wenn seine normale Darmflora gestört und durch eine andere ersetzt ist, so wirkt sich auch eine durch Fehlernährung beeinträchtigte Mundhöhlen- und Darmflora sofort im Appetit des Kindes aus. 

Eine solche Schädigung der normalen, zum gesunden Menschen gehörenden Flora kann auch durch Darreichung unnatürlicher Nahrungsbestandteile (Saccharin, Farbstoffe u.a.) hervorgerufen werden und auch — soweit es die Mundhöhle betrifft — durch stark gechlortes Wasser. Dies verdient besonders in USA und bei uns Beachtung. Daß gechlortes Wasser (0,2 mg und mehr) unschädlich ist für Magen, Darm und Nervensysteme, ist keineswegs erwiesen. Beobachtungen von Ärzten mahnen zur Vorsicht. Ebenso die langen Latenzzeiten des Krebses und die schwere Erkennbarkeit der Ursachen von Magen- und Darmerkrankungen.

Und nun überlege man sich, daß Kinder wegen Appetitlosigkeit gequält, vielleicht sogar geschlagen werden, nur weil die Erwachsenen das Wasser unnötig stark gechlort haben. Eine Barbarei. Der Appetit läßt sich reizen — das geschieht reichlich —, er läßt sich beeinträchtigen, er läßt sich aber nicht kommandieren und reglementieren.

Immer wieder sind wir geneigt, bei den Primitiven und bei den Tieren anzufragen, wenn es darum geht, festzustellen, ob irgendeine Eßgewohnheit zivilisationsbedingt ist. »Das Tier frißt erst und trinkt hinterher«, der Mensch hat sein Glas Bier neben dem Schweinsbraten stehen. Also: Zivilisationsbedingt? Falsch. »Das Tier frißt geruhsam.« Auch dies stimmt nicht. »Das Tier überfrißt sich nicht.« Ebenfalls falsch. Der Marder oder der Fuchs, der sich im Hühnerstall so vollfrißt, daß er an Ort und Stelle einschläft, ist keine Seltenheit. Das Raubtier würgt und schlingt, so schnell es nur gehen Vnag, wenn ein Konkurrent in der Nähe ist. Also auch diese Unarten der Menschen sind nicht erst durch die Zivilisation entstanden. Man darf nicht denken, daß die Kreaturen der Schöpfung keinerlei Unarten hätten. Die Zivilisation hat sie nur verschärft, und da es sich hier um den denkenden Menschen handelt, wird die Unart zur Untugend oder gar zum Laster.

Die Gewohnheit des Tieres, erst zu fressen und dann zu saufen, hängt damit zusammen, daß es die Mahlzeit nicht immerfort unterbrechen kann, um einen fern gelegenen Wasserlauf aufzusuchen, zumal in der Wildnis das Aufsuchen der Tränke für die Huftiere immer die Gefahr bringt, den hier lauernden Raubtieren zum Opfer zu fallen.


    


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Der Mensch liebt es, alle möglichen Dinge durcheinanderzuessen, und stellt fest, daß er auf solche Art sehr viel mehr mit Appetit zu konsumieren vermag, als wenn er mittags nur Kartoffel und abends nur Wurst oder Fisch ißt. Aber auch hier findet er verwandte Neigungen bei den Raubtieren. Ein Fuchs verschafft sich bei dem erbeuteten Hasen zu dem gebotenen Fleischgang auch noch einen reichlichen Gemüsegang dadurch, daß er den Magen- und Darminhalt frißt.

Franzosen essen Fleisch und Gemüse als getrennte Gänge. Dies ist gesünder als das Mischen, wie es bei uns üblich ist. Stärke muß kräftig eingespeichelt werden. Im Magen wird der Speichel wirkungslos. Die Magenpassage unterbricht aber die Speichelwirkung nur dann, wenn gleichzeitig Fleisch aufgenommen wird. Schnelles Hinunterschlingen verringert die Einspeichelung und damit die Auswertung der Nahrung. Es verführt, da nicht genügend verdaut wird, zum Vielessen.

In einem sollten wir von den Tieren lernen. Bei ihnen geschieht jedes zu seiner Zeit; bei uns alles zu gleicher Zeit. Wenn der Leierschwanzvogel seine Tänze aufführt, so ist er auch in Abwesenheit des Weibchens so sehr von seiner überschwenglichen Selbstmanifestation beherrscht, daß er ein auf seinem Tanzplatz niedergelegtes, sonst sehr begehrtes Futter mit aller Energie ins Gebüsch feuert; und dies, je öfter es geschieht, mit um so deutlicheren Zeichen der Entrüstung. Und der Mensch: Essen, Lesen, Rauchen, Unterhalten, alles geschieht gleichzeitig. Ja, nicht mal beim Tanz mit der Angebeteten vergeht ihm der Appetit.

Die wichtigste Umstellung in der Nahrung hat Prometheus gebracht: Die Nahrung wird gekocht und oft zerkocht. Daran hat der Mensch sich schon so gewöhnt, daß der Rohköstler als ein bedauernswerter Heros angesehen wird. Die Küche wurde die Todespforte für die so wichtigen Vitamine und Wuchsstoffe. In der Küche wurden und werden auch heute noch die meisten von ihnen zu Tode geröstet. Man meint, Nietzsche hätte schon eine Vorlesung über Vitamine gehört und daraufhin die Hausfrau ungalant angefahren: »Durch den vollkommenen Mangel an Vernunft in der Küche ist die Entwicklung des Menschen am längsten aufgehalten und am schlimmsten beeinträchtigt worden.« 

Heute aber unterhält sich jede Hausfrau über Vitamine mit einer beneidenswerten Sicherheit. Was aber wichtiger ist als die Unterhaltung, das ist die Tatsache, daß sie danach die Nahrung auswählt; sie kauft auf dem Markt bewußt Vitamine ein, um ihren Kindern jede Form von Avitaminose zu ersparen, und hütet sich davor, länger kochen zu lassen als unbedingt nötig. Denn nicht nur auf den Schiffen gab es gefährliche Avitaminosen und in manchen Ländern, wie Japan, weil man dort sich beinahe ausschließlich von geschältem Reis ernährte; auch in Europa, auch in Deutschland litt die Bevölkerung im Mittelalter und teilweise bis heute vor allem durch Zerkochen der Nahrung unter Mangelkrankheiten.

Wenn auch der Gaumen Verrat an uns übt und bestimmte Speisen passieren läßt oder sie sogar fordert, die er besser zurückweisen würde, so sind wir deshalb noch nicht ganz verraten. Die Zellen des Körpers lassen sich vom Gaumen nichts befehlen, und sie können ablehnen, was er ihnen vermittelt. Hier sitzt der »innere Arzt«, wie die alten Ärzte sich ausdrückten, hier sitzt die rettende Vernunft, wenn der Appetit sie vermissen läßt. Die Zelle ist nicht so leicht bestechlich wie der Appetit, der Geschmacks-, der Geruchs- und der Gesichtssinn. Sie versucht wiedergutzumachen, was die anderen Sünder sich geleistet haben.

Auf dieser Wahlfähigkeit mag letzten Endes auch die Änderung und die oft seltsame Umgewöhnung des Appetits beruhen. In Peking stellt man aus Sojabohnen ein milchähnliches Getränk her, das nach unserem Geschmack als scheußlich bezeichnet werden muß. Man kann aber unsere Säuglinge bald daran gewöhnen; dann aber wird dieses Getränk allen anderen, auch frischer Kuhmilch, vorgezogen und bekommt sehr gut.

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Bändigt den Menschen: Ketten für Prometheus - Gegen die Natur oder mit ihr?  (1957) Professor Reinhard Demoll