1.2 - Die Welt im Kopf cDitfurth-1995
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Allerdings: Der schiefe Blick wäre kaum gerader, würde unsere Wirklichkeitswahrnehmung nicht oder weniger medial verzerrt. Der Erfolg der Fernsehkultur ist nämlich keineswegs das Ergebnis eines Diktats, sondern zurückzuführen auf ideale Voraussetzungen. Bei der Verwandlung der Wirklichkeit in ein Surrogat unserer zum Teil tiefliegenden Vorurteile handelt es sich auch um eine Verdichtung traditioneller ideologischer Strukturen.
Sie bilden die historisch, politisch und kulturell geprägte mittlere Stufe der Informationsverarbeitung des Individuums. Die äußere ist die Welt des Scheins und der Instrumente, vor allem der Medien. Die innere Stufe bilden die Kategorien unseres Denkapparats, wie sie sich als Zwischenprodukt der biologischen Evolution herausgebildet haben.
Die heutige so bedrohliche Lage wäre unverständlich, würden wir nicht die verheerend perfekte Verzahnung der äußeren Wahrnehmung, der ideologischen Prädisposition und der biologischen Grundstrukturen des Denkens beleuchten.
Ist aber die Ideologie nicht mit dem letzten geschlossenen geistigen Großsystem, dem Marxismus-Leninismus, untergegangen? Das behaupten besonders Vertreter des Konservatismus und Liberalismus, die die eigenen Standpunkte als offen und »unideologisch« preisen. Amerikanische Publizisten sprechen seit dem Untergang des Sowjetsystems gar vom »Ende der Geschichte«, um damit unfreiwillig zu enthüllen, daß sie alles, was außerhalb der beendeten Blockkonfrontation liegt, nicht wahrnehmen.
Die Industriegesellschaft moderner Prägung sei quasi per se ein schlechter Nährboden für Ideologien. So etwa der Soziologe Hans-Joachim Lieber. Das Vorherrschen der Sachzwänge mache Ideologien traditioneller Art überflüssig. Sie hätten keine verhaltenssteuernde oder verhaltensmotivierende Funktion mehr. Politische Herrschaft werde zur Verwaltung, der Staat zum »technischen Staat«, Herrschaftsdisziplin zur Sachdisziplin.(38) Das muß bezweifelt werden.
Beruhen die Sichtweisen, Prämissen und Denkziele von Konservativen, Sozialdemokraten wie Liberalen doch auf einem als unerschütterlich eingeschätzten geistigen Fundament.(39) Sie stellen die intellektuelle Widerspiegelung der Interessenlage dar, in der sich die Profiteure des westlichen Kapitalismus befinden, und zwar unabhängig von ihren moralischen, politischen und sozialen Überzeugungen. Dazu sind nicht nur Unternehmer oder Bankiers zu rechnen, sondern auch jene zwei Drittel der »Zwei-Drittel-Gesellschaft«, deren soziale Existenz dank der obwaltenden Umstände auf der Sonnenseite des Lebens anzusiedeln ist.
Selbst Kritiker der herrschenden Lebensweise denken in deren Kategorien. Viele Intellektuelle, die in die bestehenden Verhältnisse fest eingewoben sind, halten diese für alternativlos. Dies haben Denker zu allen Zeit gedacht und gesagt. Mit dem Unterschied, daß die »natürliche Weltordnung« früher als gottgegeben galt und sie heute als technikbedingt verstanden wird.
Die Industriestaaten des Nordens sind der Maßstab der Welt. Braucht es eines Beweises dafür, daß die Marktwirtschaft die Wirtschaftsordnung darstellt, die am besten den menschlichen Bedürfnissen entspricht? Überzeugt diese Wirtschaftsordnung nicht durch Tatsachen, und kann sie nicht auf Glaubenssätze verzichten, um ihre Maximen durchzusetzen?
Solche Argumente sind nichts als ein weiterer Beweis für die alte Einsicht, daß jene, die am tiefsten im Netz der Ideologie verstrickt sind, dies als letzte erkennen. Wenn überhaupt. Sloterdijk spricht in diesem Zusammenhang von einem »blinden Spiegel«, der den Hauptbetroffenen der Kritik, auch der Ideologiekritik, nichts sage.(40)
Als ein zentrales Beispiel für die ideologische Durchdringung unserer und aller anderen Industriegesellschaften mag der nach wie vor nie ernsthaft angezweifelte Wunderglaube an die Heilsbringung durch Wachstum und Entwicklung gelten.
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Ich werde später ausführlich erörtern, welche verheerenden Wirkungen Wirtschaftswachstum hat. Hier genügt der Hinweis darauf, daß die Unanfechtbarkeit des Maßstabs Wachstum sich schon dokumentiert in den verbalen Verrenkungen, mit denen die ja unübersehbaren Folgen antizipierend geistig entkoppelt werden von der Ursache. Ein nicht wachstumsgeprägtes Denkmodell ist offenkundig undenkbar: »nachhaltige«, »dauerhafte« oder »zukunftsfähige« Entwicklung (von den Experten im UNO-Jargon gerne als »sustainable development« vernebelt), »ökologisches«, »umweltverträgliches« oder »qualifiziertes« Wachstum heißen die Zauberbegriffe,(41) deren Wiederholung nichts ändert an der Fixierung unseres Blicks auf die nackten Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts und daran, daß sich die »zukunftsfähige« Entwicklung nicht unterscheidet von dem Zustand, der herrschte, bevor das schöne Adjektiv der Entwicklung vorangestellt wurde.
Viele in Politik und Wirtschaft fühlen sich heute bemüßigt, das anzustrebende Wachstum als umwelt- und sozialverträglich zu verkaufen, indem sie positiv besetzte Adjektive bemühen. Aber bis heute sind keine ökologischen oder sozialen Ordnungsrahmen geschaffen worden, die das Wachstum wenigstens kanalisieren könnten.(42) Statt dessen: Ein Aufatmen geht durch die Gesellschaft, wenn das Bruttosozialprodukt wächst, Depression kommt auf, wenn es stagniert oder schrumpft. Ähnliche soziale Bewegungen vermag das Millionenleid im größeren Teil der Erde bei uns nicht auszulösen — eine eindeutige Prioritätenskala.
Wachstum ist der Fetisch unserer Existenz, der Kern unseres kollektiven geistigen Gerüsts. Die Hartnäckigkeit des Wachstumswahns dokumentiert sich nicht zuletzt darin, daß er trotz der von ihm verursachten Zerstörung und des auf seine Wirkung zurückgehenden Elends gänzlich ungerupft weiter die Gehirne regiert. Das geht so weit, daß wir Schrumpfung »negatives Wachstum« nennen und bei Stillstand von »Nullwachstum« sprechen. Aber Wachstum ist nicht identisch mit Entwicklung, auch wenn das öffentliche Bewußtsein in schönster Regelmäßigkeit diesen Schluß zieht.
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In der Biologie überschneiden sich die Begriffe teilweise, aber niemand käme auf die Idee, eine Krebserkrankung, ungebremstes Zellwachstum also, oder Fettleibigkeit als Entwicklung zu begrüßen. Der norwegische Nord-Süd-Experte Johan Galtung definiert Wachstum als einen Prozeß von Produktion, Verteilung und Verbrauch. Entwicklung sei ein Wachstum, das dem Menschen, der Natur, der Zukunft, der Kultur und der Gesellschaft keinen Schaden zufüge oder, noch besser, diese sogar fördere.(43) Das klingt gut. Nur, sind wir nicht schon in der fatalen Lage, daß eine so bestimmte Entwicklung in der Dritten Welt verlangt, daß in den Industrieländern auf Wachstum verzichtet wird, wenn das globale Ökologiekonto, ohnehin schon tief in den Miesen, nicht rettungslos überzogen werden soll?
<Ideologie> ist zum Schimpfwort verkommen
Ist Ideologie wirklich nur »falsches Bewußtsein«, wie der frühe Karl Marx schreibt und wie ihm viele bis heute nachsprechen? Die Sache ist in Wahrheit komplizierter. Sicher gibt es grobschlächtige, eindimensionale Kampfbegriffe, die vor allem in der Politik in erster Linie dazu dienen, eine andere Position öffentlichkeitswirksam herabzusetzen, Ideologien »geringer Reichweite«, die den Interessen von Verbänden oder Parteien nutzen sollen.44
Im Niveau darüber anzusiedeln sind komplexe Wirklichkeitsbestimmungen, die die allgemeinverbindliche Sinnwelt unterschiedlich auslegen. Berger und Luckmann sprechen von einer Ideologie, wenn eine Wirklichkeitsbestimmung sich mit einem konkreten Machtinteresse verbindet.45 In einer solchen Ideologie steckt nicht nur »falsches Bewußtsein«, sondern auch Wahrheit.46
Die ätzende Kritik des Bürgertums am Feudalstaat zum Beispiel war der Wirklichkeit in vielerlei Hinsicht nahe, so wie Marx' Attacke auf den Kapitalismus bis heute erkenntnisfördernd ist.47) Der Aufstieg der Naturwissenschaften zur allmählichen und nie beendeten Erschließung unserer näheren und weiteren Umwelt war auf das engste verbunden mit dem Sieg der Bourgeoisie. Die Aufklärung entzauberte nicht nur religiöse Mythen, sondern schuf ebenso die geistigen Voraussetzungen der Demokratie und setzte das Fundament der Menschenrechte.
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Aber die Aufklärung ist nicht, was sie zu sein behauptet. Auch sie ist eine Ideologie, faßt Weltbilder zusammen und schafft Raster der Wahrnehmung, die meist unwillkürlich wirken. Sie vermittelt den Eindruck interessenlosen Dialogs, hat sich aber in der Auseinandersetzung mit ihren historischen Gegnern weniger um Wahrheit als um Macht gekümmert, hat Klasseninteressen formuliert und durchgesetzt. 48
Inzwischen hat sie ihren geschichtlichen Charakter geändert:
Hatte sie in Feudalzeiten angegriffen und kritisiert, so sieht sie sich heute meist in verteidigender und rechtfertigender Position. So, wie sie sich heute darstellt, bremst oder verhindert sie oft sogar Erkenntnisse. Rousseaus »edler Wilder« war von den Gebrechen der Zivilisation unberührt und daher gut, da der Genfer Philosoph das Schlechte nicht in der Natur des Menschen, sondern in dessen sozialer Umgebung vermutete. Erst diese mache aus an sich guten Menschen Verbrecher. Sinnvoll erscheint diese Position, wenn man beachtet, daß Rousseau einem religiösen Weltbild entgegentrat, welches das Böse als naturbestimmt und unabänderlich im Menschen ansiedelte. Der Mensch sei nicht böse von Geburt an, widersprach Rousseau, er werde es erst in einer Gesellschaft, die Egoismus und Neid, bittere Armut und protzenden Reichtum hervorrufe.49
Das war zwar nur die halbe Wahrheit, denn die moderne Biologie und Psychologie haben das Tabula-rasa-Konzept gründlich widerlegt und gezeigt, daß der Mensch keineswegs als unbeschriebenes Blatt zur Welt kommt. Aber diese halbe Wahrheit besaß einen überlegenen humanen Impetus, und sie verwandelte den Menschen aus einem dem Schicksal ergebenen geistigen Sklaven in ein Subjekt, das handeln und die Bedingungen seiner Existenz mitbestimmen kann. Nur wer sich im Besitz der ganzen Wahrheit weiß, kann halbe Wahrheiten schmähen.
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Ein Teil der Rousseauschen Ideen hat sich etwa im modernen Strafrecht niedergeschlagen, das versucht, auch die sozialen Lebensbedingungen des Täters und die Verantwortung der Gesellschaft für ihre Glieder zu berücksichtigen.
Und daß Armut spezielle Formen der Kriminalität hervorruft, gehört heute zum Gemeinwissen. Die speziellen Verbrechen der Reichen allerdings werden noch immer nicht angemessen wahrgenommen.(50)
Das Menschenbild der Aufklärung ist bei manchen inzwischen zum Diktat geworden. Die seit einigen Jahren stattfindende unsägliche Diskussion läßt sich zusammenfassen unter dem amerikanischen Stichwort »Political Correctness«, kurz: »P.C.«.
Die unabstreitbare Forderung nach rechtlicher Gleichheit des Menschen verwandelt sich in die These, daß alle Menschen sogar biologisch gleich seien — »ausgenommen lediglich die Hautfarbe«, bei der Unterschiede ja auch schlecht zu leugnen wären. Wer diese Position nicht teilt, ist ein »Biologist« oder »Rassist«.
Die Ergebnisse der biologischen Verhaltensforschung wischen die Vertreter der P.C. kurzerhand vom Tisch. Daß auch Karl Marx im »Kapital« dem Verhältnis zwischen Naturbedingungen und Tugenden, Fertigkeiten und Fähigkeiten bemerkenswerte Gedanken widmet,(51) ignorieren die sich als links verstehenden Verfechter der politischen Korrektheit.
Es gibt schon zwischen Menschen unter gleichen geographischen und sozialen Umständen erhebliche Unterschiede. Diese Differenzen wachsen, wenn wir Menschengruppen betrachten, die unter verschiedenen klimatischen und sozialen Verhältnissen aufwachsen. Die Anpassung an verschiedene Umwelten verändert auch das Denken und Handeln der Menschen. Der Überlebenskampf von Völkern unter härtesten natürlichen Voraussetzungen wie etwa in Sibirien selektiert Eigenschaften, die dort als Tugenden verstanden werden, auf einer Südsee-Insel aber günstigstenfalls staunendes kollektives Kopfschütteln provozierten.
Hätten in früheren Zeiten Völker in nördlichen Regionen nicht besondere Techniken der Lebensmittelbeschaffung mit großem Eifer ausgedacht und angewendet, wären sie ausgestorben. Hätten dagegen die Völker in klimatisch milderen Regionen den gleichen Eifer an den Tag gelegt, wären sie ausgestorben, weil sie bald alles leergejagt und leergefischt hätten.
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Unterschiede zwischen Menschen und Menschengruppen zu sehen ist kein Rassismus. Dieser herrscht, wo aus Unterschieden Rangfolgen abgeleitet werden. Es ist zu befürchten, daß bei manchen Vertretern der P.C. ein »rassistisches Unterbewußtsein« die Gedanken verdirbt. Wie kämen sie sonst auf die Idee, die Feststellung von Differenzen gleichzusetzen mit der Bestimmung von Wertigkeiten?
Der Blick der Menschen im Norden auf die des Südens ist von diesen biologischen, stammesgeschichtlichen Unterschieden mitbestimmt, die sich in vielfältigsten Formen niederschlagen in seinem Weltbild. Daher der bornierte Spruch vom »faulen Neger«, den uns die Kolonieneroberer und Sklavenhändler vererbt haben.
Entwicklungshilfe, so wie sie bei uns verstanden wird, folgt den Maximen unserer Weltsicht. Eugen Lemberg hat auf das menschliche Charakteristikum hingewiesen, die eigenen Denk- und Verhaltensweisen auf andere zu projizieren. Ein erstes Bauelement für das Weltbild des Menschen besteht darin, die Umwelt nach der eigenen Erfahrung zu beurteilen. Die Entstehung von Weltbildern und Ideologien beruht demnach auf »einem verblüffend einfachen und durchgehend gültigen Prinzip«: die Verwendung der inneren Erfahrung zur Interpretation der verschiedensten Erscheinungen und Ereignisse in der Umwelt. Die Weltgeschichte kann sich der Mensch nur vorstellen in Analogie zum eigenen planenden und auf ein Ziel gerichteten Handeln. 52
Solcherart Wirklichkeit als historisches und gesellschaftliches Konstrukt schafft sich willkürlich und unwillkürlich jede menschliche Gemeinschaft, unter welchen Bedingungen auch immer sie lebt. Weltbilder sind Leitbilder, sie geben Gruppen Ziele, halten sie zusammen, grenzen sie gegen andere Gruppen ab. Ideologien stabilisieren soziale Gemeinschaften und strukturieren diese. Sie bestimmen, was Gut und Böse ist, prägen die Moral der Gesellschaft und teilen deren Glieder nach eigenen Kriterien. Der »Hang« zur Ideologie sitzt tief. Wie wäre sonst die Leichtigkeit zu erklären, mit der Haß und Gewalt wüten, wenn sie nur ideologisch gerechtfertigt werden? 53
Der Mensch hat ein starkes Bedürfnis nach Ideologie, nach Rationalisierung von Glaubensinhalten, die ihm geistigen Halt geben. Es kommt hier weniger auf den Wahrheitsgehalt an als vielmehr auf die Nützlichkeit und die Bewährung der Weltbilder.
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Um so wichtiger: Ideologiekritik
Ideologien wird es immer geben. Um so wichtiger ist daher die Ideologiekritik. Wenn interessenbestimmte Weltbilder im Gewand der absoluten Wahrheit daherkommen und über Mittel verfügen — zum Beispiel Massenmedien —, dann ist Vorsicht angesagt.
Die Ideologiekritik hat die Aufgabe, auch vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu befragen, Axiome hinter Argumenten zu finden und nichts, aber auch gar nichts in unserer Lebenswelt zu akzeptieren.
Selbst der Pluralismus, ein hoher Wert, der Ideologiekritik erst ermöglicht, will mit missionarischem Eifer in aller Welt verbreitet werden. Ihn nicht zu akzeptieren oder seine Spielregeln zu verletzen ruft oft Sanktionen hervor. Wir übersehen, daß die meisten Völker der Welt in anderen Kategorien denken als in denen unserer Wohlfahrtsdemokratie.
Das gilt ebenfalls angesichts unseres Fortschrittsglaubens, den keineswegs die ganze Welt teilt und dem zu folgen für Milliarden von Menschen alles mögliche bewirkt hat — nur keinen Fortschritt, was immer das sei. Nach wie vor jedoch sind es unsere Kriterien, die bestimmen, was Entwicklung zu sein hat. Und daran wird sich kaum etwas ändern.
Ein Kind, das in unseren Breitengraden aufwächst, lernt keine Alternativen kennen zu seiner Lebenswelt. Es lernt auch nicht, Aufgaben von morgen zu lösen. Was es lernt, wird eher neue Gefahren verursachen.54 Es wird vielleicht schon manche Sitten und Gebräuche beim Nachbarn befremdlich finden. In Elternhaus, Kindergarten und Schule wird es die Ingredienzen unserer Lebensweise so selbstverständlich wie die Atemluft einsaugen. Sein Wissen richtet sich nach der Bedeutung der Informationen im Alltagsleben.
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Es wird später, wenn es das will, viel geistige Anstrengung investieren müssen, um Menschen, die auf anderen Erdteilen leben, zu begreifen. Den meisten wird dies nie gelingen, weil damit die Forderung einhergeht, die eigenen Lebensmaximen in Frage zu stellen. Nur diese sind wirklich, weil sie die ideologische Reflexion dessen sind, womit Individuen in steter Wechselwirkung stehen. Lorenz glaubt, daß »in akutester Form« Menschen in Machtstellungen von dieser »Wirklichkeitsverschiebung« betroffen seien, sie glaubten nicht an die Wirklichkeit der globalen Bedrohungen, weil für sie andere Dinge, wie Macht und Einfluß, wirklich seien.(55)
Verglichen mit der eigenen Realität erscheinen andere Wirklichkeiten lediglich als »eng umgrenzte Sinnprovinzen«56. Sie verlieren an Konkretheit mit zunehmender räumlicher und zeitlicher Distanz und dadurch an Bedeutung. Das gilt nicht allein in horizontaler Richtung und in der Gegenwart, sondern nicht weniger für die vertikale, die historische Denkachse. Ist schon die Vergangenheit wenig wirklich, so bietet die Zukunft größtmögliche Abstraktion und Anonymität. Wer kann sich unter den vielbeschworenen Enkeln, für die wir die Erde retten sollen, tatsächlich etwas vorstellen?
Sloterdijk nennt solche Rationalisierung der eigenen Vorurteile einen »hartnäckigen, systematischen, in eigene Lebensgrundlagen verkrallten Irrtum«(57). Willy Brandt dürfte aus eigener Erfahrung als Bundeskanzler gesprochen habe, als er feststellte, daß die politische Energie mit wachsender Distanz vom eigenen Standort spürbar nachlasse.(58)
Wirklichkeitsverschiebung ist ein wesentliches Instrument der Gruppenintegration, dessen arterhaltende Wirkung nicht wegzudenken ist aus der Stammesgeschichte der Menschheit. Es wird demnach vernünftig sein, die inhumanen Varianten in menschlichen Weltbildern zu bekämpfen und gruppenübergreifende Momente zu betonen. Denn Integration ist gleichbedeutend mit Abgrenzung. Nicht nur in diesem Punkt wurzeln Ideologien in den Eigentümlichkeiten des menschlichen Denkapparats.
Dessen Gestalt ist nicht das Ergebnis menschlichen Wahrheitsstrebens, sondern das Produkt der biologischen Evolution. Die in der menschlichen Stammesgeschichte geschaffenen Kategorien bilden das biologische Gerüst unserer Weltbilder.
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Ideale Paßformen auch hier. Das menschliche Gehirn als Träger des Bewußtseins ist nicht entstanden, damit wir die Welt erkennen. Es ist vielmehr ein Apparat, der sich in der biologischen Evolution bewährt hat. Es hat unsere Überlebenschancen dramatisch verbessert. Selbst wenn wir Emotionen, archaische Verhaltenswurzeln und Interessen aus unserer Betrachtung entfernen — ein willkürlicher Akt ohne Zweifel —, bleibt übrig, daß es uns unmöglich ist, die Realität, auch die soziale, ja von uns selbst geschaffene, in ihrer Komplexheit zu begreifen. Schon gar nicht verstehen wir, daß unsere Vernunft nicht ausreicht, das Leben so zu regulieren, daß die heute üblichen Verwerfungen ausbleiben. Wir sind bislang kläglich gescheitert mit dem Projekt, eine Welt zu schaffen, die ohne Mord und Totschlag, Hunger und Elend auskommt. Das hindert uns erstaunlicherweise nicht daran, uns für vernünftig zu halten.
Das, was wir sehen, ist das, was unsere Sinnesorgane und unser Hirn vorverarbeitet haben. Die Fähigkeit dazu besitzen wir als Produkt unserer Stammesgeschichte, so wie ein Vogel fliegen kann, ohne dies üben zu müssen. Wir verwechseln das, was unser Denkapparat vorgekaut hat, mit der Wirklichkeit.
Der amerikanische Biologie-Nobelpreisträger Max Delbrück, Mitbegründer der modernen Genetik, hat in einem aufregenden Buch über <Wahrheit und Wirklichkeit> den Sachverhalt auf den Punkt gebracht: »Der bewußte Geist hat zu den Rohdaten keinen Zugang, er erhält nur einen hochverarbeiteten Teil der Eingabe.«59
Längst erwiesen ist, daß der Mensch nicht als unbeschriebene Tafel zur Welt kommt, sondern als ein hochkomplexer Mechanismus, in dem vor Jahrmillionen entwickelte Programme arbeiten.
Unser Glaube, die Wirklichkeit wahrzunehmen, wird genährt durch den Umstand, daß diese in der täglichen Erfahrung ausreichend übereinstimmt mit dem Bild in unserem Kopf. Aber das gilt nur für den »Mesokosmos«, für die Welt der mittleren Dimensionen, wie der Göttinger Philosoph Gerhard Vollmer schreibt. Er stellt fest, daß »unsere Fähigkeit, uns etwas vorzustellen, (...) sich an den Strukturen der normalen Umgebung« entwickelt habe.
Unsere Anschauungsformen und Kategorien passen auf eine Welt der alltäglichen Erfahrung, »der Erfahrung, die auch Höhlenmenschen und Hominiden vor Millionen von Jahren schon machen konnten«.60 Wir sind keine nur rationalen Wesen, das ist eine zentrale Erkenntnis der Evolutionsforschung.61
Der Mesokosmos, von dem Vollmer spricht, enthält nicht die Welt des Universums — den Makrokosmos — und nicht die der kleinsten Teile — den Mikrokosmos. In diesen beiden anderen Welten versagen die Kategorien unseres Lebens, so die der Kausalität und die der Konstanz von Zeit und Raum. Das kartesische Weltbild, die Trennung von Geist und Materie, ist unter die Räder der Quantenmechanik geraten.
Der Konstanzer Philosoph Ernst Peter Fischer hat auf die erkenntnistheoretischen Folgerungen in überzeugenden Arbeiten hingewiesen,62 lapidar gesagt: auf die eingebauten Wahrnehmungsfehler, die unsere Erkenntnis trüben, aber gleichzeitig vormachen, daß das Gegenteil der Fall ist.
Wie es scheint, liegen auch große Teile der vom Menschen selbst geschaffenen Realität außerhalb des Mesokosmos. Es kann nicht allein an unzulänglichen Theorien, Gewinninteressen oder menschenverachtender Gleichgültigkeit liegen, daß Millionen sterben oder dahinvegetieren, während wir immer wieder neue Erklärungen dafür formulieren. Das wurzelt eher in den sozialen, wirtschaftlichen, ideologischen und politischen Verhältnissen, in denen wir leben. Sie sind das Raster unserer Erkenntnis.
Versuchen Sie einmal, einen intelligenten Manager eines Tabakwarenkonzerns davon zu überzeugen, daß Rauchen tödlich sein kann. Sie werden sich wundern, was dem Mann alles einfällt, um das Gegenteil zu »beweisen«. Dabei lügt der Mann nicht. Er sagt das, was er glauben muß, um sein Leben zu führen. - Das kommt uns natürlich albern vor. Nur: Leben wir nicht alle, als wären wir Manager eines riesigen Tabakwarenkonzerns?
»Das Sein prägt das Bewußtsein«, hier hat Marx recht. Wenn das Sein so perfekt paßt zum biologischen Gerüst des Menschen, zu seinen tief verankerten Antrieben, dann ist es für uns die ganze Wirklichkeit.
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wikipedia Gerhard_Vollmer *1943 in Speyer
wikipedia Ernst_Peter_Fischer *1947 in Wuppertal
wikipedia Max_Delbrück_(Biophysiker) 1906-1981
wikipedia Hans-Joachim_Lieber 1923-2012
Von Christian von Ditfurth 1995