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Teil 2 - Wachstum 

2.1 - Die zweifelhaften Vorteile steter Steigerung

cDitfurth-1995

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Zu den biologischen Bausteinen des Menschen gehören nach Lorenz »schier unwiderstehliche, phylogenetisch programmierte Verhaltens­tendenzen«. Zu nennen sind hier Machtgier und Statusstreben, vor allem aber die Freude am Wachstum von Besitz. 63

Wirtschaftswachstum wird definiert als die Zunahme der Gesamtproduktion von Gütern und Dienstleist­ungen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes, meist eines Jahres.64 Es bringt auf den ersten Blick nur Vorteile. In Deutschland ist die Regierung sogar gesetzlich verpflichtet »zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft«. Wirtschafts­wachstum heißt Steigerung des Sozialprodukts, also des Ausstoßes von Waren und Dienst­leistungen.

Alle gesellschaftlichen Gruppen profitieren vom Wachstum: die Unternehmer, weil ihre Gewinne steigen, die Gewerkschaften, weil sich mehr Spielraum für Lohnerhöhungen bietet, die Laden- und Gaststätten­besitzer, weil eine höhere Kaufkraft bessere Geschäfte verspricht, die Banken, weil Sparquote und Kreditumsatz steigen — und die Politiker sonnen sich im vermeintlichen Erfolg ihrer Politik und hoffen darauf, daß der Streit um einen größer gewordenen Kuchen nicht so heftig ausfällt wie der um einen kleineren. In der Tat lehrt die Geschichte, daß Wirtschaftkrisen, also Stagnation oder Schrumpfung des Produktions­ausstoßes, politische Instabilität auf dem Fuß folgt.

Historiker verweisen auf die Tatsache, daß der Aufstieg des Nazismus durch die Weltwirt­schafts­krise 1929 gefördert worden ist. Auch die Oktoberrevolution von 1917 wäre nicht denkbar gewesen ohne die ihr vorausgehende ökonom­ische Zerrüttung Rußlands. Und ohne das Wirtschafts­desaster der Planwirtschaft gäbe es heute noch die Sowjetunion und die weltpolitische Rivalität zweier Ideologien.

Auch der Dritten Welt sollte nach Meinung deutscher Politiker und Wirtschaftsexperten am steten Wachstum im Norden gelegen sein. Je höher das Sozialprodukt, je mehr also zu verteilen sei, desto mehr Entwick­lungshilfe sei möglich. Wachstum im Norden und im Süden sei das Rezept gegen Hunger, Elend und Unterentwicklung. Die Entwicklungsländer sollen ihre Rückstände bei der Versorgung mit Gütern, der Verfügung über Technologien und der Industrialisierung aufholen, so raten viele Experten, und so sieht es das Bonner Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die gleichen Experten setzen darauf, daß Wachstum und die Hilfe zum Wachstum - Entwicklungshilfe - selbst bei ungerechter Verteilung Armut und Elend abbauen würden.

»Trickle-down-Effekt« heißt das auf neuhochdeutsch: Die Bundesregierung hofft auf ein gesundes welt­wirt­schaftliches Klima mit stetigem Wachstum, niedrigen und stabilen Zinsen sowie offenen Märkten, während die Entwicklungsländer bei sich entwicklungsfördernde politische und wirtschaftliche Rahmen­bedingungen schaffen sollen.(65)

Auch Geld, das hauptsächlich in den Taschen der Reichen lande, sickere irgendwie und irgendwann »nach unten« durch. Nach dieser Logik bedeutet mehr Reichtum für die Reichen schließlich mehr Wohlstand für alle. 

Das Gegenteil ist wahr.

Aber nützliche Vorurteile leben länger. Schon 1969 hatte eine Kommission unter dem ehemaligen kanadischen Außenminister Lester Pearson mit guten Gründen gezweifelt an der beliebten These, daß Wachstum quasi im Selbstlauf zu Entwicklung führe. Er verwies vor allem auf ungleiche weltwirtschaftliche Bedingungen für Industrie- und Entwicklungsländer. Pearson prägte die Forderung, daß die Länder des Nordens ihre Entwick­lungshilfe auf 0,7 Prozent des Brutto­sozial­produkts erhöhen. Aber darauf hörten die Adressaten trotz aller wohlklingenden Beteuerungen so wenig wie auf die Empfehlungen der Kommission. Nach wie vor gilt das Diktat des stetigen Mehr.

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Dabei sind die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise offensichtlich bereits erreicht, wie zumindest Krisen, Kriege und Katastrophen anzeigen. Wenn es weiteren Ländern gelingt, ihre Aufhol­programme zu verwirklichen, werden die Möglichkeiten des Nordens sinken, billige Ressourcen zu beschaffen. Die heutige Weltwirtschaftsordnung bezieht ihre Kraft aus dem Unterschied zwischen armen und reichen Ländern, so wie ein Verbrennungsmotor seine Energie aus den Druckunterschieden im Zylinder über und unter dem Kolben bezieht.66 Würde unser Wirtschaftsmodell sich weltweit durchsetzen, würde ihm die Gleichförmigkeit die Kraft rauben und der Niedergang jedem Blinden sichtbar werden. Nach Ansicht von japanischen Wissen­schaftlern sind die Grenzen des Wachstums schon heute überschritten, und deshalb fordern sie, die Waren­produktion zu drosseln, um zu versuchen, ein neues Gleichgewicht herzustellen.67

 

    Der mörderische Siegeszug der Statistik     

 

Auch die Technik des Nordens erzielt keinen »Durchsicker-Effekt«, denn sie dient unseren Bedürfnissen als reiche Verbraucher, der Verbesserung der Landwirtschaft in Zonen mit gemäßigtem Klima und der Einsparung menschlicher Arbeitskraft: verhängnisvolle Folgen des Fortschritts für die Länder des Südens, wo der Lebensstandard dadurch noch weiter zurückfällt hinter dem unsrigen.68)

Mit Wirtschaftswachstum lasse sich sogar das als bedrohlich empfundene Wachstum der Menschenzahl anhalten, sagen die Experten. Als Beispiel dienen die heutigen Industriestaaten, in denen die durch große Wirtschafts­kraft möglich gewordene soziale Sicherheit die Bevölkerungs­vermehrung gebremst habe. Eine funktionierende Altersversorgung, die Verbesserung des Gesundheitssystems und eine gute Ausbildung erübrigten die Notwendigkeit, viele Kinder zu gebären, die dann später die »Rente« der Eltern zu bezahlen hätten.

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Wachstum ist das Geheimnis des Erfolgs der Industriestaaten im Norden. 

Seit sich im 19. Jahrhundert die kapitalistische Warenwirtschaft unter starken Geburtswehen durchgesetzt hat, haben sich die Kategorien im Denken der Menschen drastisch gewandelt. Religion und Familie wurden in den Hintergrund gedrängt durch die schlagkräftigen Paradigmen des gigantische Reichtümer produzierenden Kapitalismus. Der Status des Menschen wurde gekoppelt mit dessen Stellung im Wirtschaftsprozeß. Das unablässige Streben nach beruf­licher Karriere und nach einem höheren Lebensstandard69 wurde zur gesellschaftlich anerkannten Maxime.70

Wie lange hatten die Menschen in den Jahrhunderten zuvor benötigt, um ihr Los ein wenig zu mildern! Im Schneckentempo, und nicht selten in die falsche Richtung, bewegte sich die Wirtschaft. Das Dreifelder­system war eine Revolution — nach unseren Maßstäben, die wir Saatgut nicht einfach ernten und wieder anpflanzen, sondern in Eigenregie herstellen, ist es eine Petitesse. Fünf Jahrtausende brauchte es, bis sich aus primitiven Bodenkratzern der moderne Pflug entwickelte, heute verlassen die neuen Computer­generationen im Halbjahresrhythmus die staubarmen Fabriken. 

Gewiß, Fortschritte im Handel machten nicht nur die Welt offener, sie führten auch zum Austausch von handwerklichen Fertigkeiten. Aber letztlich blieb die Produktivität gebunden an die Begrenztheit des Bodens, den die Landwirte bebauten.

Der Paukenschlag der Wirtschaftsgesellschaft läßt sich in einer schlichten Formel ausdrücken: y = f(A,K,F) — das Sozialprodukt ist das Resultat des Einsatzes (mathematisch »Funktion«: f) von Arbeit (A), Kapital (K) und technischem Fortschritt (F). Der Boden kommt nicht mehr vor, es sei denn als Kapital. Das Zusamm­en­wirken von Arbeit und Natur wird abgelöst durch die Kooperation von Arbeit und Kapital. Auf diese Weise dringt das Geld ein in den Produktionsprozeß. Geld ist beliebig haltbar und vermehrbar, die neue Produkt­ions­weise kennt keine Beschränkungen.71

Die Entkoppelung des wirtschaftlichen Fortschritts von der begrenzten Ressource Boden macht den Menschen zum alleinigen Urheber des gesellschaftlichen Reichtums, entweder durch seine Arbeitskraft oder durch die Mittel, die er schafft, um deren Wirkung zu potenzieren. 

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Das Ziel der Produktion ist nun die Vermehrung von Kapital, das sich in Geld ausdrückt. Wie das Geld erscheinen nun auch die Waren, die man dafür kaufen kann, beliebig multiplizierbar. Der Bremsfaktor Natur wurde aus der Rechnung entfernt. Der Erfolg dieser Methode hat lange Jahrzehnte jeden Zweifel niedergetrampelt. Die Verwandlung des Bodens in eine, nicht einmal die wichtigste Existenzform des Kapitals war nach einem Satz des Ökonomen Hans Christoph Binswanger ein »alchimistischer Verwandlungs­prozeß von Natur in Geld«, der es dem Menschen ermöglicht hat, die Natur zu beanspruchen und doch ihrer Endlichkeit zu entkommen.72 Mit dem technischen Fortschritt gewinnt das Kapital noch an Kraft, der Boden und andere natürliche Ressourcen verlieren jede eigenständige Bedeutung.

Die Arbeitsproduktivität in Deutschland, der Produktionsausstoß pro Kopf, hat seit 1952 um mehr als 500 Prozent zugenommen. Der technische Fortschritt als Wachstumsinstrument und Wachstums­stimulans, besonders die elektronische Revolution, kennt keine Grenzen der Steigerung. Statt dessen ist ein »Wachstum der Grenzen« angesagt.73 Und sind die Pessimisten etwa des Club of Rome nicht glänzend widerlegt worden?

Rohstoffmangel? Wenn einer fehlt, ersetzen wir ihn durch einen anderen. Umwelt­verschmutzung? Haben wir im Griff, weil unsere Wissenschaft und unsere Technik Riesenschritte machen. Nein, neues Wachstum ist vonnöten, und eine neue Branche, die Umweltindustrie, marschiert voran. Der internationale Wettbewerb tobt bereits, Deutschland darf seine Spitzenstellung nicht verlieren. Arbeits­plätze, ohnehin schon Mangelware, stehen auf dem Spiel. Japan, die »kleinen Tiger« Asiens — Taiwan, Hongkong, Singapur, Südkorea — machen Dampf und der europäischen und amerikanischen Industrie das Leben schwer. Die Mehrzahl der Computer-Hauptplatinen kommt aus Taiwan. Andere Länder wie die Volksrepublik China oder Indien verschärfen durch Niedriglöhne die Konkurrenz. In der Wachstumsbranche Elektronik laufen einstige Zwerge dem Noch-Handelsriesen Deutschland den Rang ab. 

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Was hilft gegen das Wachstum der anderen, das einem Märkte wegnimmt und dadurch zum Schrumpfen verurteilt? Eigenes Wachstum, Steigerung der Arbeitsproduktivität, Kostensenkung. Das sind, gemessen an den Erfordernissen des weltweiten Wettbewerbs, geradezu absolute Weisheiten, auch wenn sich manche verbal daran vorbei­mogeln wollen.

Kein Politiker, der nicht zum Sektenprediger herabgestuft werden will, kommt an diesen Gesetzen vorbei. Wer sich dem Wachstums­kurs versagt, ist weg vom Fenster, in der eigenen Partei und beim Wähler. Es gibt keine »guten Wähler« und »schlechten Parteien«, sondern eine stete Wechselwirkung beider Lebens- und Macht­ansprüche. Die Ansprüche des Wählers sind Forderungen an die Politik. Selbst die vernünftigste Politik hat keine Chance, wenn sie die Grundbedürfnisse der Wähler ignoriert. Und der Wähler verlangt wirtschaftliche Stabilität, soziale Sicherheit und wenigstens auf lange Sicht die Vergrößerung seines Besitz­standes. Das hat ihm die Politik über Jahrzehnte versprochen, und das ist der Sinn aller Wirtschaft. Die Politik mißt ihren Erfolg zuerst an der Frage, ob sie den Maximen des Wählers gerecht geworden ist — zumindest in dessen Einbildung.

Der Druck der Wirtschaftswirklichkeit auf alle Bürger und Politiker ist kaum zu überschätzen. Bis tief in das Unterbewußtsein hinein hat der Wachstumswahn unser Hirn durchdrungen.74 

[Anmerkung 74: Christian Leipert hat dazu eine bemerkenswerte Feststellung getroffen: <Humaner Wohlstand> möglich? ....]

Kein Unternehmen in dieser Welt, das nicht darauf aus wäre, mehr herzustellen und mehr zu verkaufen. Es war kein Zufall, daß ökolog­ische Alternativen erst in den achtziger Jahren zart keimten, als die Konjunktur boomte und die Verteilungs- und Denkspielräume so groß waren wie nie zuvor.

Die Lage hat sich drastisch geändert, seit die Ausweitung und Verschärfung der internationalen Konkurrenz und der ökologische Rückschlag des dreißig­jährigen Wirtschaftswunders Tribute fordern. Heute sind die Grünen der linke Flügel der Wachstumsgesellschaft, die sie einst abgelehnt hatten.75 Das ist nicht erstaunlich, beruhen doch alle bisherigen Gesellschaftsmodelle und Reformbestrebungen letztlich auf der Idee, wie fortwährendes Wachstum gesichert werden könnte. 

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Die Entfesselung der Produktivkräfte forderten bereits Marx und Engels. Und der Sozialismus sowjetischen Typs ist gescheitert an seiner Unfähigkeit, Wohlstand zu produzieren. Bei aller Gegensätzlichkeit, Kapitalismus und Sozialismus stützen sich als Wachstumsgesellschaften auf die gleichen Pfeiler, wenn sie auch auf unterschiedliche Mittel — Plan oder Markt — setzen, um den gleichen Zweck zu erreichen: den maximalen Zugang zu Ressourcen, die im Maßstab menschlicher Bedürfnisse stets als knapp empfunden werden.76

Beide Gesellschaftsformationen definieren Armut als Kapitalmangel, Unter­entwicklung ist aus ihrer Sicht ein Defizit an wissenschaftlich-technischem Wissen, eine Schwäche der Infrastruktur und ein niedriger Organisationsgrad der Gesellschaft. Entwicklung bedeutet für beide Wachstum und Industrialisierung. Johan Galtung spricht von »dunkelblauem« und »dunkelrotem Totalitarismus«. Der »dunkelblaue Totalitarismus« setze Wachstum ohne Rücksicht auf Entwicklung durch und lasse die Kräfte des Marktes entscheiden darüber, welche Güter produziert werden. Der »dunkelrote Totalitarismus« setze gleichfalls Wachstum ohne Rücksicht auf Entwicklung durch, lasse aber Planungskräfte entscheiden darüber, welche Güter produziert werden.77

 

Und Kapitalismus wie Sozialismus setzen auf die Vorbildwirkung des eigenen Wachstums und darauf, daß vom Wohlstand in den Industriestaaten quasi automatisch etwas abfällt für die Dritte Welt.78 Wobei gefragt werden muß, ob das, was wir unter Wohlstand verstehen, auch das ist, was Menschen anderer Erdteile darunter begreifen. »Ob ein Volk im Wohlstand lebt, hängt davon ab, was es erhofft«, schreibt der amerikanische Politologe C. Douglas Lummis zu Recht.79 Was uns als arm erscheint, ist für andere reich. Manchmal scheint es durch bis zu uns, daß es da noch etwas anderes geben muß als die Jagd nach dem Mehr. Schauen wir nicht manchmal mit neidischem Auge auf die uns naiverscheinende Lebenswelt von Naturvölkern, die in anscheinend ewiger Stabilität allen ihren Gliedern einen wohldefinierten Platz zuweist. 

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Hatte nicht auch das vielen Westdeutschen nicht begreifliche Gefühl des Aufgehoben-Seins in der gestorbenen DDR einen ganz eigentümlichen Reiz auf den Außenstehenden. Als Einladung, einmal kurz darüber nachzudenken, daß es ein Leben neben der Wirtschaft gibt (was gelernte DDR-Bürger allerdings neidvoll als Wachstums­hemmung ihres Systems beklagten). Selbst in ihrer Verfälschung hatte die Solidarität ihren verlockenden Glanz nicht gänzlich eingebüßt. Wir sind arm geworden durch unseren Reichtum.

Menschliche Werte gelten vielen unserer Politiker gerade noch als rhetorische Stilmittel, um gezielt Emotionen zu erwecken. Aber es wäre falsch, ihnen allein diese Verbiegung anzulasten. Denn wir würden einen Politiker, der das Wachstumsgebot mißachtet, einfach wegblasen. Stelle sich doch mal einer hin und fordere, die stete Steigerung zu beenden. Ihm würde vorgehalten, daß dies Arbeitsplätze und Wohlstand kosten müßte und daß die politische Stabilität leiden würde. Auch sei dann Entwicklungshilfe politisch nicht mehr durchzusetzen.80 Alle diese und andere Folgen wären nicht zu leugnen. Und doch wäre ein Wachstums stopp die einzige Chance. Aber solange es keine anderen Konzepte gibt, um die Gefahren und Nöte dieser Welt zumindest abzuschwächen, werden die Menschen Wachstum feiern und sich an die Vorstellung klammern, daß es trotz aller nicht mehr völlig zu verdrängenden Malaise den Schlüssel zu einer besseren Zukunft darstellt.81

In den achtziger Jahren, als die Schäden des Wirtschaftswachstums unübersehbar wurden, während die Konjunktur sich bester Gesundheit erfreute, leisteten sich Wissenschaftler einige Zweifel an den Maßstäben, an denen wir uns orientieren. Sie kritisierten die bis heute gültige Tatsache, daß privatwirtschaftliche Unternehmen Kosten, die ihrer Produktion zuzuordnen wären, auf die Gesellschaft abwälzen. Auch die herrschende Volkswirtschaftslehre und einige ihrer zentralen Begriffe wurden bemängelt. Etwa, daß die Wissenschaft von der Ökonomie ihren Stellenwert vor allem bezieht aus den Wegen zum Wachstum, die sie eröffnet. Daß sie die Natur herauserklärt aus dem Produktionsprozeß und sie in einen Gegenstand der Tausch­wirtschaft verwandelt, dessen Wert sich in Geld ausdrückt.82

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Volkswirtschaftlicher Gradmesser für Erfolg oder Mißerfolg ist seit 1953 das Bruttosozialprodukt. Es umfaßt den Geldwert aller in einem Zeitraum erstellten Güter, also der Waren und Dienstleistungen nach Abzug der als Vorleistungen verbrauchten Güter, beispielsweise der Ersatzinvestitionen. Dahinter steht die Annahme, daß die Welt ein einziger riesiger Marktplatz sei, auf dem die Nationen um Rang und wirtschaftliches Ansehen wetteifern. Produktivität heißt die Verhaltensnorm, sie ist der anthropologische Maßstab unserer Existenz, seit die Wirtschaftsgesellschaft gesiegt hat.83

Das Bruttosozialprodukt ist laut der jüngsten Auflage der »Brockhaus Enzyklopädie« nach wie vor ein »wichtiger Indikator für wirtschaftliches Wachstum und Konjunkturanalyse«. Ein seltsames Meßinstrument ist dieses »hochaggregierte Konstrukt«84, mit dem wir den Erfolg unserer Wirtschaftstätigkeit bestimmen, indem wir die Preise von Grundstoffen, Zwischenprodukten und Endprodukten addieren, Werte also gleich mehrfach zusamm­enzählen. Anderes sparen wir bei dieser eigentümlichen Addition einfach aus, obwohl es in unserer Gesell­schaft von großer Bedeutung ist, aber keinen Preis hat, vor allem die Hausarbeit in ihren vielfältigen Formen, wie sie vor allem Frauen leisten. Anders gesagt: Heiraten Sie ihren Koch oder ihre Köchin, und sie senken das Bruttosozialprodukt, denn Hausarbeit taucht nicht auf in der »volkswirtschaftlichen Gesamt­rechnung«.85

Genausowenig wie die Natur. Der Berliner Ökonom Christian Leipert hat in einer bahnbrechenden Arbeit über »die heimlichen Kosten des Fortschritts« minuziös herausgearbeitet, daß Umweltzerstörung das Brutto­sozial­produkt sogar steigen läßt, weil die Investitionen, die getätigt werden müssen, um die Schäden zu beheben oder zu begrenzen, als Gutschriften erscheinen, die Schäden aber aus der Bilanz ausgeklammert werden. Würde ein Unternehmer seine Einnahmen als Gewinne ausweisen und sich weigern, anfallende steigende Ersatzinvestitionen und Reparaturkosten zur Kenntnis zu nehmen, so würde ihm die marktwirt­schaftliche Realität bald eine gnadenlose Lektion erteilen. Im gesellschaftlichen Maßstab aber wird exakt dieses Verfahren praktiziert, wenn es um Beschädigungen der Natur geht. 

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Wurde früher das Bruttosozialprodukt zu hoch ausgewiesen, weil die Überbeanspruchung der Natur nicht berücksichtigt wurde, so steigern laut Leipert heute die »defensiven Aktivitäten« — Umweltschutz, Reparatur und Schadenssanierung — das Bruttosozialprodukt. Je rascher es wächst, desto schneller verlieren wir an Lebensqualität. Es tritt demnach das Gegenteil von dem ein, was die Tonnenideologie verheißt.86

Wenn ein Chemiegigant den Rhein vergiftet, dann sind die Folgen und ihre Ursachen offenkundig. Dann erregen sich Politiker und Medien. Die meisten und wirksamsten ökologischen Schäden unserer Wirtschafts­weise aber sind nicht so spektakulär und viel komplexer mit ihren Ursachen verknüpft. Sie entziehen sich daher unserer Wahrnehmung, vor allem der Wahrnehmung unserer Medien.

Christian Leipert hat detaillierte Berechnungen vorgelegt, aus denen unter anderem hervorgeht, daß in der Bundesrepublik Deutschland der Anteil der »Reparaturkosten« zwischen 1970 und 1988 von knapp sieben auf fast zwölf Prozent gestiegen ist. Leipert: »Folgekosten des Wachstumsprozesses stimulieren das Wachstum der Zukunft.«87 Je höher die Schäden und die sich aus ihnen ergebenden Aufwendungen, desto besser steht Deutschland da im internationalen Vergleich.

Bruttosozialprodukt und Pro-Kopf-Einkommen als internationale Vergleichsmaßstäbe sind aber auch in anderer Hinsicht88 fragwürdige Meßlatten. Bei Gesellschaften mit einem hohen Anteil an Selbstversorgung und einer bedeutenden »Schatten­wirtschaft« kann man das Bruttosozialprodukt nur grob schätzen, da sich die Einkommen nicht bestimmen lassen.

Das Bruttosozialprodukt besteht im Kern aus den Komponenten »Verarbeitung natürlicher Ressourcen« und »Produktvermarktung«. Wird nichts verarbeitet, werden Früchte etwa im Naturzustand verzehrt, wird ein geringeres Bruttosozialprodukt ausgewiesen. Das gleiche geschieht, wenn Produkte nicht vermarktet werden, wie es für die Subsistenz­wirtschaft typisch ist.89

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Eine Politik, die das Bruttosozialprodukt in der Dritten Welt steigern will, zerstört Strukturen der Selbstversorgung und verwandelt selbständige Bauern in Anhängsel des Weltmarkts. Sie sind die Hungernden von morgen. Auf den großen Farmen, die Früchte für den Export nach Europa und Nordamerika produzieren, werden viele nicht mehr gebraucht als Tagelöhner. Nirgendwo zeigt sich das Elend des Wachstums so drastisch wie in der Zerstörung traditioneller agrarwirtschaflicher Produktions- und Lebensweisen. Dazu später mehr.

Der mörderische Siegeszug der Statistik zerschlägt alle Werte, die sich nicht »pro Kopf« bestimmen lassen. Solidarität pro Kopf gibt es nicht, Heldentum, in kriegerischen Gesellschaften die wichtigste Tugend, trägt nichts bei zum Bruttosozialprodukt. Und die traditionellen Tänze eingeborener Stämme mögen in unseren Augen als Touristenbelustigung einen Sinn finden. Die Globalisierung unseres Lebensstandards, der schon längst reduziert ist auf die Größe »BSP«, führt Glück und Lebensfreude von Menschen in der Dritten Welt auf die Schlachtbank unseres Kulturimperialismus. Sie werden zu Pro-Kopf-Produkten verwurstet.90 In den Worten des US-amerikanischen Kulturkritikers Ivan Illich: »Bisher haben alle Versuche, lokale Werte durch globale Waren zu ersetzen, nicht zu mehr Gleichheit geführt, sondern zur Hierarchisierung und Modernisierung der Armut91

Der Wachstumswahn hat sich bereits so tief in unsere Gehirnwindungen hineingefressen, daß wir nur die Kultur für zivilisiert halten, die ein bestimmtes Mindestmaß an Produktionsausstoß schafft. Und da wir in unserem Missionseifer und mit unserer gigantischen Medienmacht unser Vorbild ungefragt weltweit zum zentralen ideologischen Axiom erhoben haben, haben wir damit auch die Grundlagen geschaffen für die Vernichtung bewährter Strukturen des Wirtschaftens und Zusammenlebens der Opfer von morgen.

Die Lebensvielfalt dieser Welt finden wir schon heute meist nur noch in Schriften von Völkerkundlern und Fernreisenden. Werden Lebensweisen vernichtet, sind sie unwiderruflich verloren. 

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Den Anfang machen meist Missionare, sie bilden die Stoßtrupps des Abendlands im unentwickelten Gelände. Sie sind durchdrungen von der Idee, ihren Glauben, den sie für den einzig wahren halten, bis in den letzten Winkel dieses Planeten zu befördern. Wenn die Missionare Naturvölker erfolgreich bekehren, hat deren Niedergang schon angefangen. Zuerst zerstören die Missionare »heidnische« Kultgegenstände. Ihre wirksame Medizin und Geschenke verleihen ihnen Macht, auch Riten und Rituale zurückzudrängen. Am Schluß haben die Missionierten ihre Identität verloren.

Den Missionaren folgt die Wirtschaft auf dem Fuß. Sie walzt alles platt, was unserem Wohlstand fremd ist. Sie ist in ihrem Konvertierungsdrang erst befriedigt, wenn das Geld das Leben regelt. Selbstbewußte Ureinwohner mit einer eigenen kulturellen Identität verwandelt der Weltmarkt in Auslaufmodelle, bestenfalls in dankbare Abnehmer der Nahrungsmittelüberschüsse aus den Silos des Nordens.

 

    Die vielbeschworene »Eine Welt«   

 

Jede bisherige Entwicklungspolitik verlangt, daß die Wirtschaft sich ausweitet, daß der zurückgebliebene Rest des »Weltdorfes« sich in das große Ganze einklinkt. Währende Tausende von Dörfern für immer vom Erdball gefegt werden, jedes ein anderes als das andere, mutiert die besten Willens beschworene »Eine Welt« zum gleichförmigen Weltmarkt.92 Selbst das Saatgut verringert sich durch unsere Eingriffe auf immer weniger Sorten, in denen jedes Korn dem anderen in seinen Eigenschaften und Aussehen gleicht wie ein Haar dem anderen. Der Verlust der Einzigartigkeit trifft das Getreide, das Vieh und den Menschen. Diesen als Individuum und in den Gemeinschaften, die er bildet. 

In unserer »Einen Welt« herrschen Gleichförmigkeit, Gleichzeitigkeit und Gleichklang: Fast alle schon schauen die gleichen Fernsehserien, hören die gleiche Musik, verfolgen die gleichen Großereignisse, die unsere Satelliten in den letzten Winkel des Erdballs übertragen. Ganz tief in unserem Inneren glauben wir, die Not der anderen rühre aus ihrem Anderssein. Weil sie nicht so wirtschaften und leben wie wir, müssen sie leiden.

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Der Erfolg der biologischen und nicht minder der kulturellen Evolution beruht auf der Verschiedenheit, auf der riesigen Zahl von Möglichkeiten, die in der Vielfalt liegt. Wird sie eingeschränkt, verlieren wir sie gar, berauben wir uns jeder Entwicklungschance. Wie die biologische Evolution Experimentiermöglichkeiten einbüßt, weil Tausende von Varietäten auf eine gefährlich geringe Zahl zusammengeschrumpft wurden, verlieren menschliche Gemeinschaften in der uniformen Welt kulturelle, philosophische, wissenschaftliche und politische Alternativen.

Der Stalinismus war als Gegenkonzept zur Marktwirtschaft untauglich. Aber selbst diese Alternative zu unserer Lebensweise hat nicht nur Aggressionen gefördert, sondern auch ungeheure Anstrengungen ausgelöst, die Überlegenheit der eigenen Gesellschaft zu demonstrieren. Ist die bis heute nachhallende Resonanz auf die romantischen Verklärungen von Rousseau bis Margaret Mead nicht Beweis der menschlichen Sehnsucht nach anderen Lebensmodellen?

Die Versuche von Frankreichs Regierung, Anglizismen juristisch aus dem Sprachgebrauch zu verdrängen, riefen zu Recht einiges Kopfschütteln und Schmunzeln hervor. Aber dahinter steht neben krudem Nationalismus, billigem Populismus und Traditions­huberei ein tiefes Unbehagen über den Verlust der eigenen Identität angesichts einer zunehmend amerikanisch geprägten Kultur.

Der Markt akzeptiert keine Grenzen, er unterminiert und läßt schließlich jede Gemeinschaft zerbersten, die sich seinen Gesetzen nicht beugt.93 Das ist die tödliche Wahrheit des Euphemismus von der »Weltinnen­politik«.

Der österreichische Naturforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt hat auf Tausenden von Filmkilometern fremde Kulturen und das Verhalten fremder Volker dokumentiert. In vielen Fällen ist heute das Zelluloid der einzige Ort, an dem Riten und Rituale anderer Menschen erhalten geblieben sind. Werden kulturelle Werte zerstört, nimmt die »adaptive Breite« der Menschheit ab: Denn jede Kultur ist ein Experiment der Anpassung, in dem Menschen verschiedene Formen des Zusammenlebens und des Überlebens ausprobieren. 

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Auch die Kultur unterliegt dem Entropiegesetz. Wenn wir andere Kulturen vernichten, nehmen wir uns irreversibel die Chance, von ihnen zu lernen. Viele in unseren Augen »primitive« Völker aber haben Formen des Miteinander entwickelt, die unseren überlegen sind. Es gibt zahlreiche Anzeichen dafür, daß wir mit unserer Evolution in einer Sackgasse gelandet sind. Um so wichtiger wäre es, zu studieren, welche Entwicklungsrichtung andere Volker eingeschlagen haben.94 Die Monokultur des technischen Fortschritts und sein Überlegen­heits­anspruch aber sind so mächtig, daß sie nichts neben sich dulden. Sie zerstören den gesamten Erfahrungs­schatz ihnen fremder Zivilisationen.95 Götterglaube ist ihnen zuwider, und Dämonen denunzieren sie als Aberglauben.

Um das Wertesystem unserer Wirtschaft durchzusetzen, »müssen alle anderen Formen des sozialen Lebens verächtlich gemacht werden«, schreibt der mexikanische Entwicklungs­theoretiker Gustavo Esteva. Die Unwertbildung verwandele Fähigkeiten in Mängel, Gemeingut in Ressourcen, Männer und Frauen in die Ware Arbeitskraft. Aus der Tradition werde eine Last, aus Weisheit Unwissenheit und aus Autonomie Abhängigkeit. »Die selbständigen Aktivitäten der Menschen, in denen ihre Wünsche, Fähigkeiten und Hoffnungen zum Ausdruck kommen, die ihren Umgang miteinander und mit der natürlichen Umwelt bestimmen, werden umgeformt zu Bedürfnissen, deren Befriedigung ohne die Vermittlung des Marktes nicht möglich ist.«96 Klingt die brillante Analyse des Gustavo Esteva, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Einfluß der Ökonomie zurückzudrängen, nicht wie eine desillusionierte Variante des Hohelieds auf die welthistorische Rolle der Bourgeoisie, das Karl Marx und Friedrich Engels im »Manifest der Kommunistischen Partei« singen?

Eibl-Eibesfeldt berichtet über verschiedene Versuche der Zivilisierung von Naturvölkern. Ein prototypisches Beispiel sei hier referiert.97) 1957 wurde in der australischen Gibsonwüste ein Volk entdeckt, dem es bis dahin gelungen war, den Kontakt zu Weißen zu meiden: die Pintubi.

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Die ersten Kontakte verliefen freundlich. Die Pintubi erhielten Geschenke und verloren allmählich ihre Furcht. Als Pressemeldungen die Sensation verbreiteten, wuchs in Australiens Menschen­freunden die Überzeugung, daß es nicht gut sein könne, daß da arme Menschen nackt in der Wüste herumliefen und Eidechsen aßen. Den Leuten mußte geholfen werden. Also gab man den Pintubi noch mehr Geschenke, bis sie soviel Vertrauen zu ihren neuen Gönnern gefaßt hatten, daß sie deren Vorschlag folgten, die unwirtliche Wüste zu verlassen. Die Pintubi wurden mit Zucker und Tee an Orte gelockt, wo schon andere australische Ureinwohner lebten. Die Behörden bauten ihnen Duschen und Latrinen; Wellblechhäuschen dienten als Unterkünfte. Die Pintubi haben jetzt Kleider, die Alten erhalten sogar Pensionen, und mancher Junger hat einen Job gefunden, in dem er Geld verdienen kann. Mit dem Jagen und Sammeln ist es vorbei, statt dessen kaufen die Pintubi nun Konserven in Läden.

Eibl-Eibesfeldt hat 1972 drei Wochen bei den zivilisierten Pintubi verbracht und ihr Leben studiert. Er berichtet vom Ergebnis der zivilisatorischen Anstrengungen: Die Kindersterblichkeit ist trotz aller Hygiene­maßnahmen gestiegen. »Ich studierte entwurzelte Menschen, von Langeweile geplagt, weil sie nicht mehr jagen und sammeln konnten. Auch belastete sie die Tatsache, daß sie von ihrer Stammessitte vorgeschriebene Rituale nicht befolgen konnten, weil die heiligen Stätten viel zu weit entfernt waren. Sie spielten Karten und schoben Dollarscheine von Hand zu Hand. Sie hatten ihre Selbständigkeit eingebüßt, ihre Heimat verloren und waren Abhängige der Wohlfahrt geworden. Sie hatten den ersten Schritt getan, der sie letztlich in die Slums der großen Städte führen wird.«

Da unser Entwicklungsweg der einzig denkbare ist, will auch der Süden das erreichen, was wir als Maßstab der Maßstäbe gesetzt haben. China, Brasilien, Indien, Indonesien und andere bevölkerungsreiche Staaten fahren schon auf der Entwicklungs­autobahn. Sie erkaufen ihr Wirtschaftswachstum durch Massenelend. Überall, wo die kapitalistische Produktions­weise einen Nährboden findet, spaltet sie die Gesellschaft in wenige Reiche und viele Arme. 

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Die Klassengegensätze, die im Norden bei ohnehin schon günstigeren Ausgangsbedingungen erst in mehr als einem Jahrhundert sozialer Kämpfe gemildert werden konnten, werden im Süden ungedämpft ausgetragen. Die Gleichsetzung von Entwicklung und Wachstum heißt bei diesem Vorzeichen massenhafte Verelendung.

Die Beseitigung der »Unterentwicklung« degradiert Millionen von Menschen zu Almosenempfängern unserer rührigen Hilfsorganisationen. Diese weltweite Zerstörung aufzuhalten wäre die bedeutendste Entwicklungs­hilfe, die wir leisten könnten. Zu fordern ist nicht mehr Geld, sondern ein grundlegendes Umdenken, der Abschied von der Wahnvorstellung, Wachstum und Entwicklung zu exportieren. Aber wie sollen Menschen umdenken, denen seit fünf Jahrzehnten eingetrichtert und vorgeführt worden ist, daß sie unterentwickelt sind?

 

    Die »Unterentwickelten«   

 

Unterentwicklung gibt es seit dem 20. Januar 1949, als der damalige Präsident der USA, Harry S. Truman, in einer Rede Erdteile entdeckte, die nicht das gleiche Wohlstandsniveau aufwiesen wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Truman griff dabei zurück auf Überlegungen amerikanischer Experten, die schon zu Beginn der vierziger Jahre von »unterentwickelten« und synonym von »wirtschaftlich rückständigen« Gebieten gesprochen hatten. Aber erst als Truman den Begriff benutzte, entfaltete er eine »ungeahnte kolonisatorische Wirkung«, wie Gustavo Esteva schreibt.98

Seitdem wird geholfen — oder: der »Übergang vom nehmenden zum gebenden Kolonialismus vollzogen«99. Hilfe, das ist jetzt nicht mehr die Unterstützung für den Mitmenschen in der Nachbarschaft oder den Bettler an der Haustür. Hilfe wird nun von Profis organisiert, nachdem der Großteil der Welt in einem einseitigen Akt für hilfsbedürftig erklärt worden ist. Wer hilft, ist überlegen. Und es liegt nahe, daß er nur jenem hilft, der »kooperationswillig« ist.

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Hilfe ist selbst dann, wenn sie Not nicht brutal ausnutzt, ein Mittel der Disziplinierung. Meist unauf­dringlich durchsetzt sie die Gesellschaften, sind politische Paradigmen und ideologische Versatz­stücke unsichtbar, aber wirkungsvoll an die Getreidesäcke geklebt. Diese Hilfe macht den Rest der Welt zu Fürsorgeempfängern. Was könnte die eigene Überlegenheit deutlicher demonstrieren als die Hilflosigkeit anderer, die sich sogar dankbar zeigen?

Diese Hilfe, Entwicklungshilfe, in welcher Form auch immer, leistet noch weit mehr. Sie schafft sich nämlich den Grund ihrer Existenz selbst, so wie erst die Entwicklungspolitik Unterentwicklung verursacht hat. Entwicklungshilfe ist ein ökonomisches und soziales Perpetuum mobile besonderer Güte.

Der Marshall-Plan, der das durch Hitler-Deutschlands Krieg zerstörte Europa wieder aufbauen helfen sollte, war der Prototyp der Entwicklungshilfe. Das »European Recovery Program« enthielt im Kern schon alle Ingredienzen des globalen Entwicklungs­projekts. Es gliederte einen halben Kontinent wieder ein in den Weltmarkt und gab der amerikanischen Nachkriegs­konjunktur ein neuen Schub, es erzeugte durch Hilfe Dankbarkeit und machte aus Feinden Verbündete, die sich willig dem neuen Vorbild unterwarfen. Nicht zuletzt aus diesem Hilfsprogramm speiste sich Washingtons Führungsanspruch gegenüber Europa.

Die Entwicklungspolitik hat sich seit Trumans Rede diesen Maßstäben unterworfen. Sie hat verbindliche Bedürfnisse bestimmt, die allein an wirtschaftlichen Werten ausgerichtet sind. Sie hat die Vorstellung gesprengt, daß unser Handeln Beschränkungen unterliegt. Und jetzt steht sie da vor den Geistern, die sie rief, und staunt, daß die ganze Welt das fordert, was sie verheißen hat. Kaum ein Projekt auf diesem Erdball hat erfolgreicher die Köpfe erobert als die Entwicklungspolitik. Als Harry S. Truman den Rest der Welt aufforderte, dem Vorbild der USA zu folgen, zeichnete er den Generalstabsplan des erfolgreichsten ideologischen Feldzugs der Geschichte, der mehr umgewälzt hat als sämtliche Revolutionen, Kriege und Kreuzzüge zuvor.

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Und der es inzwischen nicht nur geschafft hat, sich in das Pathos der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu kleiden, sondern sich auch vom Verdacht des Ideologischen befreien konnte, weil nach dem Untergang des realsozialistischen Konkurrenzmodells das Fehlen ideologischer Differenzen das Fehlen von Ideologie vorgaukelt. Nein, wir befinden uns mitten im größten ideologischen und wirtschaftlichen Experiment der Historie. Wir ahnen zwar, daß die »Titanic« den Eisberg rammt, aber das macht ja die Überlebensstärke ideologischer Axiome aus, daß die Wirklichkeit sie zu spät einholt.

Unseren heutigen Begriff von Entwicklung haben Marxismus und Kapitalismus gemeinsam gezeugt. Sah Marx im fortgeschrittensten Land das Vorbild, dem alle anderen Nationen gesetzmäßig folgen mußten, so verwandelten die Theoretiker und Praktiker der Marktwirtschaft diese vermeintliche Einsicht in den Lauf der Geschichte in einen Anspruch, den es politisch umzusetzen gilt. In beiden Gedankengebäuden ist der Drang zu Vereinheitlichung zwingend vorgegeben. Ihr gemeinsames Kind, die Entwicklungspolitik, fordert Gleichheit und hat doch das Gegenteil erzeugt; die Kluft zwischen arm und reich wird immer tiefer.100 Beide verlangen, gesellschaftliche Verhältnisse, die dem gesetzten Vorbild nicht entsprechen, aufzulösen, und haben für die Opfer Fortschritt und Elend zu Synonymen werden lassen. Beide messen mit Maßstäben, die nur der eigenen Welt entstammen.

Klassischer Ausdruck ist das Bruttosozialprodukt. Aber es eignet sich ebensowenig wie andere Kriterien als Meßlatte, wie die Fakten zeigen: In manchen Entwicklungsländern etwa sind bis zu zwei Drittel der Menschen in der »Überlebensökonomie« beschäftigt, deren Aktivität den »offiziellen« Markt nicht berührt. Zudem sind Regierungen in der Dritten Welt daran interessiert, ein möglichst niedriges Pro-Kopf-Einkommen auszuweisen, weil dies ihre Kreditbedingungen verbessert. So wichen die Angaben der Weltbank und des US-Geheimdienstes CIA über das Durchschnitts­einkommen in der Volksrepublik China einmal um hundert Prozent voneinander ab. Angesichts dessen verwundert es nicht, daß auch internationale Organisationen häufig unter­schiedliche Zahlen nennen.

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Angaben über Durchschnitts­einkommen sagen wenig bis nichts aus über die Kaufkraft der Währungen. Umrechnungen aus nationalen Währungen in den internationalen Vergleichsmaßstab US-Dollar verzerren die soziale Realität. Das Pro-Kopf-Einkommen vernachlässigt die Unterschiede zwischen Stadt und Land, Männern und Frauen, reich und arm. Himmelschreiendes Elend wird auf diese Weise ebenso statistisch glattgebügelt wie obszöner Wohlstand.

Die Eliten vieler Dritte-Welt-Staaten, zumeist fixiert auf den reichen Norden, profitieren fast allein von der wachstums­orientierten Entwicklungshilfe. Die oberen vierzig Prozent Brasiliens etwa verfügen über achtzig Prozent des National­einkommens, und sie werden auch von allen Zuwächsen vier Fünftel in die eigenen Taschen fließen lassen, solange sich die politischen und sozialen Strukturen nicht ändern. Die Entwicklungs­hilfe hat sich nicht die Aufgabe gestellt, jene parasitär herrschenden Gruppen zurückzu­drängen, die ihre Länder gnadenlos den eigenen Interessen opfern und Milliarden bei ausländischen Banken gebunkert haben. Da Wachstum sich an den sozialen Gegebenheiten ausrichtet, dient es vor allem den Reichen und Mächtigen. Zutreffend sprechen Kritiker der Entwicklungspolitik von »Verelendungswachstum«101.

Mexiko wurde in den siebziger Jahren für »entwickelt« erklärt, da das Pro-Kopf-Einkommen die magische Grenze von umgerechnet 600 US-Dollar überschritten hatte und das Land nach internationalen Maßstäben damit der Unterentwicklung entronnen war. Gleichzeitig aber hatte sich die Ernährungslage der ländlichen Bevölkerungs­mehrheit ebenso verschlechtert, wie die Realeinkommen gesunken waren.102

Einkommensstatistiken ignorieren kulturellen Reichtum. Man denke hier nur an die Lebensweise sogenannter Naturvölker, die Marktpreise und Geldeinkommen nicht oder kaum kennen — sie haben nach unseren Kriterien keine Lebensberechtigung. Überhaupt zählen Menschen in der Welt des Brutto­sozial­produkts nur als Kostenfaktoren, Konsumenten oder »Humankapital«.

Es grenzt an politische Idiotie, angesichts der beängstigenden Ergebnisse des Wachstums­wahns, Euphorie zu verbreiten, wegen der neuen Chancen des Zukunftsmarkts Umweltindustrie.

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Sie ist gewissermaßen das, was der vielgelobte Katalysator für die Autos darstellt103, nämlich eine mehr oder minder wirksame Art Filter, die am Konstruktion­sprinzip nichts ändert. Und schon gar nicht die Erhaltungsgesetze der Physik außer Kraft setzen kann, denen zufolge Materie und Energie zwar nicht vernichtet werden können, aber von einem brauchbaren Zustand in einen unbrauchbaren verwandelt werden. Wer einen Eimer heißes Wasser ins Meer kippt, wird es nicht mehr zurückholen können, aber verschwunden ist es nicht.

 

    Ein zerstörerisches Prinzip   

 

Die Erde ist ein geschlossenes System, sieht man einmal von der Sonneneinstrahlung ab. Gemäß dem ersten Gesetz der Thermodynamik gehen im Produktionsprozeß, in dem Materie und Energie umgewandelt werden, Materie und Energie nicht verloren. Das zweite Gesetz der Thermodynamik erklärt jedoch, daß bei dieser Umwandlung der Anteil nicht mehr nutzbarer Energie und Materie fortlaufend zunimmt, oder, auf fachchinesisch, die Entropie wächst, und in gleichem Maß schrumpft der Vorrat an niedriger Entropie. Entropie nennen die Physiker das Maß der nicht verfügbaren Energie in einem geschlossenen System.104

Der Bau eines Autos oder einer Waschmaschine verringert demnach die Möglichkeiten künftiger Bedürfnis­befriedigung.105 Wird die Produktion ausgeweitet, wächst die Entropie also, gerät die Natur über kurz oder lang an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Entropie steht demnach nicht einfach für Abfallproduktion, sondern sie ist in den Worten des Schweizer Publizisten Jean Robert der »zwangsläufige Ausdruck eines zerstörerischen Prinzips, von dem die Produktion lebt und das zugleich ihr Ende bedeutet«. Naturwissenschaftlich betrachtet, ist Produktion nichts anderes als Steigerung der Entropie und damit Raubbau an der Natur. Entropie bedeutet stets Verknappung.106

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Die Verschwendung in unserer heutigen Wachstumsgesellschaft kostet Menschenleben, weil jeder Energie- und Materieverbrauch unwiderruflich ist. Da gibt es nichts, was wiedergutzumachen wäre. Insofern bedeutet jede Verzögerung bei der Umgestaltung der Weltwirtschafts­ordnung am Ende der entropischen Ursache-Wirkungs-Kette Millionen­hunger und Millionentod.

Die Umweltindustrie ändert am Energiedurchsatz der Wirtschaft wenig bis nichts, sie mindert vor allem die Giftigkeit der Stoffe, die aus dem großen Auspuff kommen. Und sie ist selbst ein großer Umwandler von Materie und Energie. Dabei ist zu berück­sichtigen, daß die Vielfalt der Zahl und Wirkungsweisen von umwelt­schädigenden Stoffen des Produktions­prozesses den Maßstab unserer Katalysator­beispiels sprengt.

Die herrschende Volkswirtschaftslehre ist nicht weniger als die Wirtschaftspolitiker und die Wähler auf grenzenloses Wachstum eingeschworen.107 Wer glaubt, sie verstünde es als ihre Aufgabe, vor den Katastrophen der steten Steigerung zu warnen, irrt sich. Sie ist blind für die Bedrohung, die sie selbst mit heraufbeschwört. Sie kennt keine Warnlampen und keine Kontrolle der Wirtschaft nach sozialen und ökologischen Maßstäben. Wir haben es zu tun mit einem Wirtschaftssystem der »institutionalisierten Verantwortungs­losigkeit«108

Betrachtet man die deutsche Wirtschaft als ein riesiges Unternehmen, so ergäbe eine kosten­gerechte Leistungsbilanz, daß die Abschreibungen schneller wachsen als die Bruttoinvestitionen. Man brauchte also nur zu warten, bis der Aufwand für die Beseitigung von Schäden und die Ersatz­investitionen verhindern, daß sich neues Kapital bildet, ja den Kapitalstock aufzehren. Nun ist die Bundesrepublik kein Unternehmen. An der Wirklichkeit und den Grenzen, die sich wirtschaftlicher Tätigkeit setzen, ändert dies aber nichts.

Wohl jeder Volkswirtschaftsprofessor und jeder ernstzunehmende Wirtschaftspolitiker dürfte über genügend Kenntnisse verfügen, um das Zerstörungs­wachstum unserer Wirtschaft zu begreifen. Die Fakten liegen auf dem Tisch. Und doch verhält sich die wirtschaftspolitische Elite unseres Landes so, als wären da schlimmstenfalls einige technische Probleme zu lösen.

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Ein Umwelt­minister springt demonstrativ in den Rhein, und die seriösen Gazetten kennen in ihrem Wirtschafts­teil nichts als das Starren auf die nackten Kennziffern des Bruttosozialprodukts. Dessen Steigerung und Schrumpfung ist auch der »Tagesschau« immer eine Spitzenmeldung wert.

Das ist genauso unbegreiflich wie die politische Untätigkeit angesichts einer galoppierenden Staatsver­schuld­ung. Ende 1993 betrug das Minus im Bundeshaushalt offiziell rund 685 Milliarden Mark. Zählt man die »Schatten­haushalte« — zum Teil »Sondervermögen« genannt! — hinzu, dann ist die Billionen-Mark-Grenze längst überschritten. Aber weniger diese ohnehin unvorstellbare Zahl als vielmehr die ununterbrochen steigende Neuverschuldung ist bedrohlich. Hier gehen Politik und Wirtschaft Hand in Hand: Der Anteil der Erhaltungsinvestitionen steigt unaufhörlich, und wer angesichts der dadurch verursachten trüben Aussichten weiter auf Wachstum setzt, gerät tiefer in den Schuldenstrudel. Der Staat verschuldet sich bei Banken und Bürgern. 1993 war jeder der achtzig Millionen Deutschen nach Angaben des Statistischen Jahrbuches mit 8.441 Mark pro Kopf verschuldet, wobei die Defizite von Post, Bahn, Treuhand und so weiter gar nicht berücksichtigt sind. Die Schulden fressen die Gestaltungsmöglichkeiten weg.

Die Volkswirtschaft leidet unter einem ähnlichen Defizit. Nur macht sie ihre Schulden bei der Natur und zu Lasten der sozialen Sicherheit der Bevölkerungsmehrheit. Die einzige Einnahmequelle der Erde ist die Sonnenstrahlung. Jedes Wirtschaftswachstum, das mehr Energie verbraucht, als es von der Sonne erhält, verstrickt die Wirtschaft in Schulden bei der Natur, bei einem »völlig herzlosen und unnachgiebigen Gläubiger«, wie Konrad Lorenz schreibt.109

Unbegrenztes Wachstum im endlichen Raum ist nicht möglich, auch wenn diese Einsicht sich erst mit einiger zeitlicher Verzögerung einstellt, was unseren Wunderglauben an die Technik weiter fördert. Wir begreifen Ursachen-Wirkungs-Ketten nur dann, wenn die Wirkung der Ursache direkt folgt.

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Ist der Zusammenhang komplex, wirken verschiedene Ursachen synergetisch, verwandeln sich Wirkungen in Ursachen und verbinden sich mit anderen Wirkungen zu einem Geflecht, dann versagt der menschliche Verstand — sogar wenn Wissenschaftler das Gefüge wenigstens annähernd entschlüsseln.

Da wir hoffen, sofern wir die drohenden Gefahren überhaupt wahrnehmen, vom gewaltsamen Zurückschlagen der Natur nicht mehr als den gegenwärtigen Anfang zu erleben, ist dieser Umstand bei allem Sonntagsgerede nicht ernsthaft beunruhigend. Unsere Enkel sind Abstrakta, sie sind nicht wirklich.

Der nächste Wahl­kampf und die nächste Hauptversammlung der Aktionäre sind dies um so mehr. Das ist einzelnen Politikern und Managern nicht vorzuwerfen; handelten sie anders, würden sie beschimpft und verjagt. Realität ist allein die Gegenwart, und der schwerlich abzutragende finanzielle, entwicklungspolitische und ökologische Schulden­berg, den wir künftigen Generationen überlassen, bedrückt uns bestenfalls gelegentlich. Die Gegenwart brüllt, die Zukunft flüstert.

So werden die Versuche, unsere Maßstäbe zu ändern, letztlich scheitern. Dabei gibt es interessante Ideen, welche Kriterien solche realitätsverzerrenden statistischen Schablonen wie das Brutto­sozial­produkt ablösen könnten, um ein einigermaßen wirklichkeitsgetreues Bild der Wirtschaftslage zu zeichnen.

Schon 1970 hat der damalige Weltbankpräsident Robert McNamara verlangt, das Brutto­sozial­produkt zu ersetzen durch eine andere Rechnung, da offenkundig war, daß Wachstum günstigstenfalls nichts zur Entwicklung der armen Länder beigetragen hatte. Aber die Initiative verlief im Sand, weil sich die Experten auf keine Größe einigen konnten.110 Aus der Tatsache, daß sich bis heute nichts geändert hat an der volks­wirtschaftlichen Gesamtrechnung, zeigt sich die Urgewalt der Wachstumsideologie, deren Wirkung nicht einmal die offenkundige Falschheit ihrer Maßstäbe berühren kann.

Trotzdem versuchen seit einigen Jahren reformwillige Ökonomen einen »Index für sozialen und umwelt­ver­träglichen Wohlstand« (ISUW111) zu schaffen, um der Wirtschaftswirklichkeit wenigstens nahezukommen.112 Der Ausgangspunkt der Rechnung ist hier der private Verbrauch. Die Aussagekraft dieser summarischen Kennziffer wird allerdings begrenzt durch fünf Faktoren. 

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Faktor Nummer eins relativiert Wirtschaftswachstum durch die Einkommens­verteilung. Je ungerechter die Einkommen verteilt sind, desto weniger trägt Wachstum zum gesellschaftlichen Wohlstand bei. Oft genug sind Wachstum und Verelendung zwei Seiten derselben Medaille. Zum so korrigierten privaten Verbrauch werden Tätigkeiten gerechnet, die das Bruttosozial­produkt nicht oder nicht ausreichend bewertet. Drittens wird die Zeitspanne berücksichtigt, die zwischen Ausgaben und Nutzen bestehen kann: Ausgaben für langlebige Konsumgüterwerden vom privaten Verbrauch abgezogen, der jährliche Nutzen dieser Konsumgüter aber dazugezählt.

Als Beispiele mögen hier langfristige Investitionen in Bildung und Straßenbau dienen. Der so gewonnene Betrag wird vermindert um Faktoren, die wohlfahrtsverringernd wirken: Werbung, Kosten für Fahrten zur Arbeit und Verkehrsunfälle, erhöhte Lebenshaltungskosten in Ballungsgebieten, private Ausgaben im Gesundheitswesen (sofern sie dazu dienen, die Gesundheit wiederherzustellen), Schäden durch Umweltzerstörung sowie einen Wertansatz für die Nutzung nicht erneuerbarer Rohstoffe und für langfristige beziehungsweise irreparable Umweltschäden. Schließlich, fünftens, werden Investitionen von Ausländern im Inland abgezogen und Investitionen von Inländern im Ausland dazugerechnet.

Auch der ISUW-Wert widerspiegelt die Wirklichkeit nicht vollkommen, aber er ist um ein Vielfaches präziser, als alle BSP-Ziffern es jemals sein können. Vor allem zeigt er im Gegensatz zum Bruttosozialprodukt die Kosten des Wachstums.

Das sich auf diese Weise ergebende Bild ist erschreckend. So wurde als ISUW pro Kopf für die Vereinigten Staaten für das Jahr 1955 ein Wert von 2255 Dollar berechnet. 1985 war dieser Betrag auf 1884 Dollar gesunken, pro Jahr um etwa ein halbes Prozent. Der Niedergang des Pro-Kopf-Indexes hat sich beschleunigt. In den siebziger Jahren sank der Index für sozialen und umweltverträglichen Wohlstand pro Jahr durchschnittlich um 1,57 Prozent, seit 1980 sind es sogar 4,26 Prozent jährlich.

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Diese katastrophale Entwicklung in den USA beruhte in erster Linie auf der Ungleichheit der Einkommens­verteilung, der Erschöpfung natürlicher Ressourcen und einem geringen Investitionsvolumen.

Für Deutschland zeigen ähnliche Berechnungen, daß sich seit 1980 die Kluft zwischen den BSP- und den ISUW-Werten beträchtlich vertieft hat. Wird für das BSP und den ISUW im Jahr 1950 der Wert 1 gesetzt, dann erhält man für das Bruttosozialprodukt 1986 eine Steigerung um den Faktor 4,82, für den ISUW aber nur um 3,09.113  Es ist keine Überraschung, daß diese Daten passen zum überproportionalen Wachstum der »defensiven Kosten«, auf die Christian Leipert uns aufmerksam gemacht hat.

Wann kippt die Entwicklung um? Wann sind Schuldentilgung und Zinsen höher als die Einnahmen? Schon längst nicht mehr zu erzielen sind die Wachstumsraten, die notwendig wären, um den gegebenen Wohlstand zu erhalten.114

 

   Arm durch Wachstum   

 

In den Gesellschaften des Nordens wächst viel, aber viele werden ärmer. Sie werden ärmer durch Wachstum. Das ist offen­kundig auch für jene, die die Berechnungen kluger Ökonomen nicht kennen. Die amtliche Statistik bietet genügend Zahlen, um den sozialen Niedergang im reichen Deutschland und allen anderen Staaten des industrialisierten Nordens zu dokumentieren. Die Politik wie die Wähler aber bleiben eingezwängt in die Zwangsjacke des Wachstumswahns. Als undenkbar erscheint ihnen die Notwendigkeit, Konzepte zu entwerfen, die nicht abhängig sind von Wachstum. Selbst die Verheerungen, die durch Wachstum hervorgerufen worden sind, wollen sie durch Wachstum heilen.

Das ist, nach allen vernünftigen Maßstäben, verrückt. Genauer gesagt, handelt es sich um ein perfektes Zusammenwirken der biologischen, ideologischen und sozialen Konstanten, die den heutigen Menschen prägen.

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Die Mehrung des Besitzes, die Vergrößerung und Sicherung des Territoriums — diese und andere selektierte menschliche Eigenschaften mitsamt ihrem psychischen Widerschein garantierten das Überleben unserer Art. Aber sie sind zu selbstmörder­ischen Antrieben geworden, seit die Mittel, sie zu befriedigen, sich vermillionenfacht haben.

Grenzen hat die Natur nicht eingebaut. Das mußte sie auch nicht, denn solche Steigerungsraten waren vor kurzem noch unvorstellbar. Inzwischen hat die ökonomische Entwicklung die biologische Evolution längst überholt. Für das Naturprodukt Gehirn ist Wachstum ein linearer, arithmetischer Prozeß; die modernen Produktivkräfte aber bewirken, daß auch die Ausgangsgrößen des Wachstums wachsen: Exponentielles Wachstum ist schwer zu begreifen, aber gefährlich real.

Bruttosozialprodukt: das ist der vollkommene begriffliche Ausdruck der Wachstumsfixierung, den die Natur unserer Art angezüchtet hat. Marktwirtschaft ist die ökonomische Vollendung unserer Stammes­geschichte. Auch wenn einem die Politik manchmal vorkommt wie die Fortsetzung des Stammtischs mit anderen Mitteln, so ist es kein Mangel an Bildung, der uns daran hindert, das Ruder herumzuwerfen. Es ist statt dessen die Unfähigkeit, die eigene Natur zu überwinden.

Verdrängung kann hilfreich sein, um einem Überdruck psychischer Belastungen zu entweichen. Ohne ein gewisses Maß an Verdrängung würde der globale Elendsballast den Menschen ertrinken lassen. Fernes Leid berührt uns weniger als nahe Not, aber sie gehört zu unserer Wirklichkeit, auch wenn sie nur an deren Peripherie angesiedelt ist. Die Zukunft dagegen ist abstrakt, einzig die Gegenwart existiert, jener Übergang zwischen gestern und morgen, den wir nie werden greifen können. Die Zukunft zu sichern, lautet das Credo jeder Sonntagsrede zur Umweltpolitik. In Wahrheit ist die Zukunft uns fern, am weitesten weg aber ist die Zukunft der anderen.

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Soziales Elend und Umweltzerstörung auf unserem Globus können nur dann eingedämmt werden, wenn die Welt abrückt von der Wahnstatistik des Wachstums als Leitkriterium menschlicher Entwicklung. Das wäre Ausdruck menschlicher Lernfähigkeit im Gegensatz zu allen ideologischen Verrenkungen der nationalen und internationalen Politik, die sich auf Umwelt- und anderen Gipfeln an Ökokosmetik berauscht.

Aber selbst eine geistige Revolution, eine rasche Änderung der zentralen politischen und ökonomischen Paradigmen, wäre erst ein Anfang, denn die Anerkennung der Schäden des Wachstums ist nicht gleich­bedeutend mit dem Abschied vom Wachstumskurs. Es ist zu bezweifeln, daß wir diese Herausforderung bestehen werden. Und wenn doch eines Tages? Dann ist es wahrscheinlich zu spät, weil die Vergiftungen und Verwüstungen, Hunger und Elend ein irreparables Ausmaß erreicht haben.115 Man muß einen Tanker rechtzeitig bremsen. Wie später darzustellen sein wird, ist es fraglich, ob die Havarie zu vermeiden wäre, wenn wir die Schiffsdiesel heute herunterfahren würden. Der Eisberg ist schon nah. Katastrophengeschrei, Panikmache? Kassandra hatte recht, und viele Trojaner haben ihr nicht geglaubt.

Dabei ist die Sachlage einfach: Eine weitere Steigerung der Produktivität kostet Energie und Rohstoffe und bringt zusätzliche Abfälle, Abgase und Abwässer hervor.116 Die Erde ist endlich, und endlich sind auch ihre Ressourcen wie ihre Fähigkeit, die Last des Wachstums zu tragen. Dem Kasseler Philosophen Christoph Türcke verdanken wir die Klarstellung, daß dieselben ökonomischen Gesetze, die uns das dreizehnte Monatsgehalt spendieren, in fernen Ländern beginnen, ganz neue Menschen zu züchten, einen Typus, der tatsächlich so minderbemittelt ist, wie die übelsten Rassisten ihre Gegner gerne sehen, und das alles ohne Gentechnik und Rassismus. Er meint damit jene Zwerge, die in den Bergen des Wohlstandsmülls ums Überleben kämpfen, die nie satt werden und nie die Chance hatten, die in ihnen angelegten Talente und Körperkräfte zu entwickeln. In der Tat, das ist die Zuchtwahl der Wachstumsgesellschaft.117

Damit es klar ist: Hunger und Armut lassen sich durch Wachstum nicht bekämpfen, und schon gar nicht, indem man darauf wartet.118 Aber wir müssen nicht Zwerge im Müll suchen; die verdrängte Katastrophe, in der wir leben, ist leicht erkennbar.

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1986 erregte eine Schadensschätzung des Wissen­schaft­lichen Direktors im Umweltbundesamt, Lutz Wicke, Aufsehen: Mit hundert Milliarden Mark pro Jahr seien, zurückhaltend gerechnet, die ökologischen Verluste allein in Westdeutschland zu veranschlagen.

Aber diese und andere Schäden sind gering, vergleicht man sie mit den Wirkungen des Wachstumswahns in großen Teilen der Dritten Welt. Bekämpfung des Hungers durch Steigerung der Nahrungsmittel­produktion etwa ist das Patentrezept marktwirt­schaftlicher Entwicklungshilfe. Die beiden amerikanischen Entwicklungs­experten Joseph Collins und Frances Moore Lappé haben diese Legende schon vor einem Jahrzehnt entlarvt in ihrer bahnbrechenden Studie über den »Mythos des Hungers«, deren beeindruckenden Ergebnisse bis heute ignoriert werden in Politik und Wirtschaft. Collins und Lappé haben für privat­wirtschaftlich verfaßte Agrarwirtschaften in den Ländern des Südens die Konsequenzen des Wachstums der Nahrungsmittel­produktion untersucht. 

Ihre Ergebnisse seien hier kurz zusammenfassend referiert:119

Obwohl die Nahrungsmittel­produktion pro Kopf zunimmt, verschlechtern sich die Lebensbedingungen der Bevölkerungsmehrheit. Die Bodenpreise und die Pachtzinsen steigen mit wachsenden Erträgen, wodurch Pächter und Kleinbauern von ihrem Land verdrängt werden. Die Geldwirtschaft ersetzt fortschreitend den Naturalien­austausch; Inflation und steigende Agrarpreise aber reduzieren die so entstehende Kaufkraft. Landbesitz konzentriert sich in wenigen Händen, zum Teil von Spekulanten, die vom steigenden Bodenwert angelockt werden. Immer mehr Schulden drücken die kleinen Landbesitzer. 

Oft eignen sich mächtige Einzelpersonen bislang gemeinsam bewirtschaftetes Land an. Der Einfluß von Konzernen in der Agrarwirtschaft verstärkt sich. Armut und soziale Ungleichheit verschärfen sich, weil immer mehr Menschen aus der Landwirtschaft ausgestoßen werden. Die Gesamtmenge der Produktion ist der Maßstab aller Dinge, nicht die Teilnahme der Landbevölkerung daran. Qualität und Marktwert sind die Ziele der Agrarunternehmer. Im Ergebnis steigender Nahrungs­mittel­produktion hungern mehr Menschen.

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Es wäre nun angesichts solcher erschütternder Resultate einfach, zu fordern, die kapitalistische Produktions­weise zu ersetzen durch eine dem Gemeinwohl verpflichtete Erzeugung von Nahrungsmitteln. Leider aber gibt es dazu bislang keinen Weg. 

Das ist ein tödliches Dilemma. Wenn Entwicklungshilfe ihren Namen verdiente, dann müßte sie weltweit »runde Tische« ins Leben rufen, an denen die Menschen vor Ort demokratisch entscheiden, wie sie ihre Produktion organisieren — ohne Einmischung korrupter Dritte-Welt-Eliten und ohne Bevormundung durch die Geberländer. Man wagt kaum, daran zu denken, daß etwa deutsche oder amerikanische Entwicklungshilfe davon ablassen könnte, die eigene politische und ökonomische Ordnung zum Maßstab aller Dinge zu verklären.

Die damaligen Mitarbeiter des renommierten <Massachusetts Institute of Technology> Donella und Dennis Meadows haben vor mehr als zwei Jahr­zehnten in einem Bericht und einer Computer-Simulation für den Club of Rome auf die damals sichtbaren Grenzen des Wachstums hingewiesen. In einem neuen Buch haben sie ihre Thesen aktualisiert. Zur Entwicklung des weltweiten Energie­verbrauchs haben sie unter anderem die folgenden Daten ermittelt:

In den 125 Jahren von 1860 bis 1985 ist der Energiedurchsatz der Menschen um das Sechzigfache gestiegen. Ein Europäer benötigt zehn- bis dreißigmal mehr Energie als ein Mensch in der Dritten Welt, ein US-Bürger bringt es gar auf das Vierzigfache. Bis zum Jahr 2020 wird der Energieverbrauch um weitere 75 Prozent steigen, wenn das heutige Wachstum von Wirtschaft und Bevölkerung anhält. Gegenwärtig wird der Energieverbrauch zu 88 Prozent durch die fossilen Brennstoffe Kohle, Öl und Erdgas gedeckt. Zwischen 1970 und 1990 wurden 450 Milliarden Barrel Erdöl, 90 Milliarden Tonnen Kohle und 31 Billionen Kubikmeter Erdgas verbrannt.120

Selbst Wachstumsfanatikern ist mittlerweile klargeworden, daß die fossilen Ressourcen der Erde nicht endlos sind (auch wenn es müßig ist, über die Vorratsmenge zu spekulieren). Sie setzen daher auf die Atomenergie, nachdem der Beinahe-Unfall von Three Miles Island und die Tschernobyl-Katastrophe im öffentlichen Bewußtsein allmählich abklingen.

Das ist ein weiteres Dilemma des Wachstumskurses, daß zurückgegriffen wird auf eine Technik, die nie versagen darf und es nach allem menschlichen Ermessen doch tut. Der nächste GAU kommt bestimmt. Dafür reichen schon die heutigen Atomkraftwerke. Ungeklärt ist auch die Frage, wie und wo die noch Jahrtausende strahlenden Nuklearabfälle sicher gelagert werden können. Aber wer trotz aller offenkundigen Grenzen weiteres Wachstum will, muß sich mit dem Atomteufel verbünden. Um jeden Preis.

Was kann das Ziel von Entwicklung in der Dritten Welt sein? Sollen die armen Staaten dem Vorbild der reichen folgen? 

Dann wäre unsere Gattung bald am Ende. Entwicklung als nachholende Modernisierung der »Nachzügler-Staaten der Weltgeschichte« würde nicht nur unvorstellbare Geldmittel verschlingen, sondern vor allem der Natur den Rest geben, so das klare Urteil des Dritte-Welt-Experten Rainer Tetzlaff.121  Aber können wir anderen Menschen verweigern, was wir ihnen vormachen? 

Wenn wir mit unseren Medien und unserer Entwicklungshilfe unsere fragwürdigen Ideale in alle Welt transportieren, dürfen wir uns nicht beklagen, daß das Streben nach höchstmöglichem materiellen Wohlstand das Denken vieler Menschen im Süden prägt. Auch das ist ein Dilemma des Wachstums­wahns.

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Von Christian von Ditfurth 1995