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2.4 - Die Internationale der Mildtätigkeit

 Anmerk

 

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Wer kennt sie nicht, die Anzeigen mit den traurigen schwarzen Kinderköpfen, die dich anschauen, bis du glaubst, daß du helfen mußt, um diesem bedauerns­werten Geschöpf zu ermöglichen, was für dich selbst­verständlich ist: eine angemessene Zeitspanne zu leben? Und dann die TV-Bilder im Neunzig-Sekunden-Takt. Haufen von dürren schwarzen Menschen, aus deren Augen und Körpern das Leid zu dir herüberdringt, über Tausende von Kilometern. 

Auf die Sekunde gleichzeitig schauen Millionen Fernseh­zuschauer entsetzt auf das, was sich ihren Augen darbietet, im vollkommenen Gleichklang wächst der Kloß in der Kehle und der Wunsch, nach so langen Sekunden des psychischen Überdrucks wieder Normalkost vorgesetzt zu bekommen, um die grausigen Bilder zu vergessen. Wer kann diese Bilder aushalten? Und wenn dann der Moderator der Sendung zu Spenden aufruft und die Spendenkonten der bekannten Hilfs­organisationen232 eingeblendet werden, dann überströmt Erleichterung die deutschen Wohnzimmer. Wir können es loswerden das schlechte Gewissen, das sich schneller einstellt, als die Verdrängung das Gefühl erstickt.

Nur die übelsten Diktatoren dieses Jahrhunderts vermochten Millionen nach Plan zeitgleich in die gewünschten Gefühlswallungen hineinzusteigern. Außer bei einigen Taubblinden, deren Ohren und Augen medizinisch gleichwohl gesund sind, gehört es zum Allgemein­wissen, daß die Ziele und Methoden Hitlers und Stalins verbrecherisch waren. Das gilt keinesfalls für die Urheber der die Republik jedes Jahr mehrfach erschütternden Mitleidswellen. Und doch müssen Fragen gestellt werden nach den ethischen Hintergründen unserer Mildtätigkeit.

Patrick Marnham berichtet von einem US-amerikanischen Fotografenteam, das 1985 im hungernden Äthiopien zu einem Zelt voll sterbender Kinder geleitet wurde. Es war unerträglich heiß darin, und doch stellten die Fotografen ihre glühenden Scheinwerfer auf. Dann bestanden sie darauf, die Haut der Kinder auf einen fotogenen Grauton zu schminken. Sie schüttelten die vor Erschöpfung schlafenden Kinder, damit sie brüllten, denn im Schlaf sahen sie zu friedlich aus. Als die Fotografen gefragt wurden, was der Grund für ihr unmenschliches Verhalten sei, erwiderten sie: Mit Hilfe der auf diese Weise entstandenen Fotos sollen Spenden­gelder gesammelt werden.233 Der britische Journalist nennt diese Variante der tatkräftigen Mild­tätigkeit »Pornographie des Leidens«.

Der Fernsehmann Gerhard Müller-Werthmann hat 1985 eine erschütternde Studie über das Spenden­unwesen in Deutschland vorgelegt. Sein Resümee: »Der barmherzige Samariter (...) ist tot.«234  Nach Müller-Werthmanns Darstellung setzen Hilfs­organisation darauf, daß Menschen ein schlechtes Gewissen im Angesicht des Elends haben. Die Werbemethoden mißachten die Menschenwürde derer, denen geholfen werden soll, indem sie sie zu Objekten degradieren. 

Ohne gefragt werden, werden Hungernde und Kranke in ihrer Not fotografiert, die Bilder gehen um die Welt. »Fund raising« und »Sozialmarketing« heißt das unter Barmherzigkeitsprofis.235 Seit kurzer Zeit gibt es sogar eine »Bundesarbeits­gemeinschaft Sozialmarketing«, die der »Professionalisierung des Spenden­sammelns« ihr Hauptaugenmerk widmet. Ihr Klientel sind die 30.000 Frauen und Männer, die mehr oder minder geschickt versuchen, der Deutschen Portemonnaies zu öffnen.236

 

Der Kampf um die Spendenmilliarden

 

Erreicht eine Katastrophe unsere Bildschirme, dann haben die Hungernden eine Zeitlang bessere Überlebenschancen. Bald eilen die Helfer zum Ort des Leidens, manchmal so schnell, daß sie sich verheddern, wie dies bei der Ruanda-Hilfe im August und September 1994 der Hilfsorganisation Care geschah.

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Wer zuerst kommt, kommt zuerst in die Medien. Wer zuerst in den Medien ist, hat gute Aussichten, seine Spendeneinnahmen zu verbessern. Es geht um jährlich etwa vier Milliarden Mark, die siebzig Prozent der Bundesdeutschen für alle möglichen Zwecke zu geben bereit sind. Etwa die Hälfte davon landet bei der Entwicklungshilfe und erreicht so zirka fünfzehn Prozent der öffentlichen Entwicklungs­ausgaben.

Rund 20.000 nichtstaatliche Hilfsorganisationen drängeln sich um den Spendentopf. Allerdings gehen drei Viertel der Gelder an die zehn bis fünfzehn größten wie die Deutsche Welthungerhilfe oder die kirchlichen Organisationen wie »Brot für die Welt« und »Misereor«. Und auch nur diese Großkonzerne der professionalisierten Barmherzigkeit erhalten in der Regel Geld aus dem Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit.237

Der Kampf um die Spendenmilliarden ist hart und wird nach allen Regeln des Marketings geführt. Schon wird von einem »Verdrängungs­wettbewerb« gesprochen.238 Fotomodelle des Leids sind da so gut wie die Lancierung von Pressemeldungen durch rührige PR-Abteilungen.239 Mit wissen­schaftlicher Akribie entwickeln die Werbeprofis der großen Hilfsorganisationen Spenderprofile, weil es nicht nur auf hohe Einnahmen ankommt, sondern ebenso darauf, daß die Gelder fortwährend fließen, also auch wenn die Öffentlichkeit nicht aufgerüttelt wird durch Hungerbilder. 

Nur wer Erfolge meldet, kann Spender an sich binden, und so ist es die Aufgabe der PR-Abteilungen, große Taten zu verkünden. Auch deshalb sind Hilfsorganisationen ständig auf der Suche nach erfolgverheißenden Projekten, was mitunter zu absurden Verhältnissen führt, so etwa wenn sich Initiativen in Dritte-Welt-Ländern kaum noch retten können vor der Zudringlichkeit von Hilfsorganisationen aus dem Norden, wie die Dritte-Welt-Expertin Christa Wichterich berichtet.240

Aufwendige, mehrfarbig gedruckte Broschüren dienen der Darstellung des barmherzigen Engagements. Ob alles stimmt, was da mitleidtreibend behauptet wird, ist manchen Initiatoren der Werbefeldzüge nicht so wichtig.

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Was soll's? Es dient doch einer guten Sache. Selbstkritik hat in den Hirnen der gutorganisierten Samariter wenig Platz. Nein, sie pflegen das Selbstbewußtsein altruistischer Nächstenliebe höchster Potenz. Sie bringen den Afrikanern sogar bei, wie man Brunnen bohrt und Felder bebaut. Man mag es nicht glauben, aber so steht es in einer Anzeige des Komitees Cap Anamur: »Der Tschad gleicht einer einzigen Wüste, in der die Menschen lautlos dahinsterben. Viele finden keine Nahrung mehr und müssen elend verhungern und verdursten. Die Notärzte zeigen, wie man nach Wasser bohren und neue Felder anlegen kann.«241

Da hatte die unsägliche Charlotte Höhn, bis zum Sommer 1994 Direktorin des Bundesinstituts für Bevölk­erungs­forschung in Wiesbaden, offenkundig doch nicht ganz unrecht, als sie frei Haus das Denkmodell anbot, daß der Afrikaner als solcher weniger intelligent sei als der weiße Mann. (»War ja nur wissenschaftlich gemeint, liebe Neger!« kommentierte die »Zeit« sarkastisch die grotesken Rechtfertigungs­versuche der Ex-Direktorin.242)

Tausende von Jahren lebten die schwarzen Leute in der Wüste und der Savanne, die heute Tschad heißt, und haben, wie es scheint, nie einen Brunnen gegraben und Felder angelegt. Das mußten ihnen erst deutsche Doktoren beibringen, Nachfahren jener trophäensammelnden Großwildjäger, für die »der Neger« entweder Lastenträger oder Menschenfresser war, dumm allemal. Die schwarzen Leute sollten den weißbekittelten Massas gefälligst dankbar sein und wir das Überweisungs­formular ausfüllen, um den Fortgang solch segensreicher Lehrarbeit zu bezahlen. Es gehört wohl mit zum Bedürfnis manches so uneigennützigen Helfers, eigene Überlegenheitsgefühle auszuleben. Die Entwicklungs­hilfe bietet hier viele Spielräume.

Afrika eröffnet dem Verlangen nach selbsterhöhender Mildtätigkeit unbegrenzte Erfüllung. Millionen­schwere Popstars entfliehen ihrem umhätschelten Puppendasein und drängeln sich darum, bei Benefiz­konzerten imageträchtig auf ihr Honorar zu verzichten, auf daß alle Einnahmen des musik­begeisterten Publikums auf dem schwarzen Kontinent landen.

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Ganze drei Tage dauerte es, bis eine Kölner Musikersession das »Lied für Ruanda« auf Platte hatte. Und die Scheibe stürmte die Charts, daß es eine Freude war. Was sind wir doch gut!

Am 23. Januar 1985 begingen Westeuropa und Nordamerika einen »Tag für Afrika«. Das war gut gemeint und signalisierte doch, daß sich Europa und Nordamerika nicht vorstellen können, daß Afrika ohne sie existenzfähig wäre. Nachdem die Industrie­staaten das südliche Afrika in einen Elendskontinent hinunterentwickelt haben, überströmen wir vor Mitleid mit den Opfern. Und wir sind fest überzeugt davon, daß die Afrikaner es ohne uns nicht schaffen. Deshalb engagieren sich alle möglichen Organisationen und Gruppen für die Dritte Welt, wobei manche eher innenpolitische Rechnungen begleichen und den Nord-Süd-Konflikt als Schlachtfeld mißbrauchen. 

Viele bringen außer Enthusiasmus und Mitleid ein Haufen von Vorurteilen mit, alles gut gemeint und nicht durchdacht. Was glauben solche mildtätigen Amateure? Daß sie, was sie für sich selbst nie akzeptieren würden, mit Schwarzen machen dürfen, weil die Not so groß ist? Spenden sammeln und sie nach Afrika schicken auf Teufel komm raus ist gleichbedeutend mit leichtfertiger Ignoranz im Gewand des guten Gewissens, ist »Dilettantismus im Zeichen des reinen Gemüts«243. Je mehr Geld, desto besser das Selbstgefühl?

Bob Geldorf, der Organisator des World Aid Concert im Londoner Wembleystadion im Jahr 1985, sprach von einer »Perversion menschlicher Großzügigkeit«, als er erfahren mußte, wie schlampig die zusammen­gerockten Nahrungsmittel in Äthiopien verteilt wurden.244 Es ist leichter, sich für die Hungernden zu engagieren, als ihnen wirklich zu helfen. Bevor wir Getreidesäcke nach Afrika schaffen, sollten wir überprüfen, ob das die richtige Therapie gegen das Elend ist. In vielen Fällen müßten wir die Frage mit nein beantworten.

Wenn wir mit starken Schmerzen zum Arzt gingen und dieser würde uns mit einem Sack voller Medikamente, aber ohne eingehende Untersuchung nach Hause schicken, wären wir empört.

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Keine Diagnose, aber großkalibrige Therapie. So ähnlich stellen sich viele Hilfsaktionen dar. Im Aktionismus geht jeder Versuch unter, zu verhindern, daß Katastrophen sich wiederholen, bis die eine stufenlos in die andere übergeht.

Nur selten hält einer der barmherzigen Samariter inne und überlegt, was er tut. Einem Mitarbeiter der großen englischen Hilfsorganisation Oxfam ist dies gelungen: »Wir alle haben uns schuldig gemacht, weil wir Bilder von hungernden Kindern benutzt haben, um an Geld zu kommen. Ich glaube, das ist unmoralisch. Schwarze Afrikaner mögen es nicht, weil es sie entwürdigt. Aber es rührt die Herzen der Menschen. Wenn wir das Foto eines hungernden Kindes in den Zeitungen abbilden, bekommen wir stets eine positive Antwort.«245 So arbeitet das Kartell aus Hilfsorganisationen und Medien. Sie spielen sich die Bälle zu. Die Medien verschaffen den Hilfsorganisationen Öffentlichkeit, die Öffentlichkeit spendet, und die Hilfsorganisationen revanchieren sich mit Bildern.

Es wird hier nicht der Frage nachgegangen, wie viele professionelle Betrüger sich auf dem Mitleidsmarkt tummeln; immerhin sollen mehr als hundert Millionen Mark im Jahr in die Taschen von Gangstern fließen.246 Nein, ehrliche und engagierte Helfer richten oft genug Schaden an — schon dann, wenn sie nicht begreifen, daß ihre Organisationen oft genug »Verschiebebahnhöfe von Almosen und Alibis«247 sind. Und vor allem dienen sie den Spendern als Verdrängungs­samariter, wenn es genügt, ein Überweisungs­formular auszufüllen, um sich weiteres Nachdenken zu ersparen über Ursachen und Folgen von Katastrophen, die in unseren Blick geraten sind.

So bitter wie wahr ist Peter Sloterdijks Kritik, daß die bürgerliche Moral auf diese Weise den altruistischen Schein aufrechterhalten will, während das gesamte übrige bürgerliche Denken längst mit einer theoretischen wie ökonomischen Egozentrik rechnet. 248

Vor Massenmord, Hunger und Völkerwanderung in Ruanda ist rechtzeitig gewarnt worden. Unter anderem haben SPD-Bundestags­abgeordnete auf die nahende Katastrophe hingewiesen. Eine Reaktion der Bundes­regierung oder der Europäischen Union aber blieb aus. Keine der Hilfsorganisationen und auch sonst niemand hat diesen politischen Skandal gebrandmarkt. Obwohl er in seinen Dimensionen und Abgründen alle Rotlicht- oder Kanzleiaffären unmeßbar übertrifft.

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Genausowenig wurde darauf hingewiesen, daß am Anfang des Bürgerkriegs in Somalia auch jene standen, die das Barre-Regime gestützt haben, darunter die USA, die dann aus nicht nur mildtätigen Motiven unter dem scheidenden Präsidenten George Bush Truppen schickten.249 Die Operation Restore Hope artete bald aus zum Prestigeduell zwischen der amerikanischen Führung und dem Clanchef Mohammed Farah Aidid. Inzwischen ist der internationale Hilfskreuzzug beendet, der Bürgerkrieg geht weiter, aber unter Ausschluß der internationalen Öffentlichkeit. Nicht zuletzt weil die beiden ARD-Korrespondenten, die für den gesamten schwarzen Kontinent zuständig sind, gerade von anderen Brandherden berichten. Wer spendet heute noch für die leidgeplagten Menschen in Somalia? Und wer für den Sudan, dessen Hungernde nicht vor TV-Kameras sterben? Ob den Medien der Tod dort zu langweilig ist, zumindest im Vergleich mit dem spektakulären Gemetzel in Ruanda? Ihr Tod existiert für uns nicht, weil es keine Bilder davon gibt.

Umstritten ist unter Experten, ob eine Militärintervention in Somalia notwendig war. Folgt man Angaben des UNO-General­sekretärs, so haben bis zu achtzig Prozent der Hilfslieferungen trotz US- und UN-Truppen die Empfänger nicht erreicht. Sie wurden gestohlen, gegessen, gewinnbringend in Nachbarländer verkauft oder dienten dazu, Bürgerkriegsmilizen zu versorgen. (Dieser Aussage haben Hilfsorganisationen allerdings widersprochen und zehn bis zwanzig Prozent Verlust durch Plünderung und Diebstahl angegeben.) Während der fünfmonatigen Anwesenheit ausländischer Soldaten in Somalia, die ja die Hilfsorganisationen schützen sollten, sind mehr Helfer getötet worden als in zwei Jahren zuvor.250 Es muß gefragt werden, ob die Opfer nicht geringer gewesen wären, hätte man darauf verzichtet, Soldaten zu schicken, die sich bald in Gefechte verwickeln ließen?

Ein Argument für die Intervention lautete, daß die Milizen entwaffnet werden sollten. Das Unternehmen scheiterte erbärmlich, wie nicht zuletzt der Umstand zeigt, daß noch heute geschossen wird in Somalia. Die Somalia-Politik des Westens steht prototypisch für den mangelnden Willen, Not wirklich zu beheben.

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Hungerkatastrophen ließen sich vermeiden, wenn rechtzeitig die Ursachen bekämpft würden, wenn eine vorausschauende Außen- und Entwicklungspolitik die sozialen, politischen, klimatischen und militärischen Gründe für Hunger und Elend erkennen würde. Weil dies nicht geschieht, sind die Tausenden von Hilfs­organisationen auf der Welt meist hilflos gegen den Hunger. Wo es ihnen gelingt, Leben zu retten, ändert dies nichts daran, daß es an Demokratie mangelt, die Verwaltungen ineffizient sind, Menschen­rechte mit Füßen getreten werden, die Infrastruktur sich in einem trostlosen Zustand befindet, das Land ungerecht verteilt ist, die Umwelt zerstört wird, Frauen ausgebeutet werden, die Bevölkerung weiter wächst und die Rüstungs­ausgaben oft wahnwitzig hoch sind.251 Aber wir jagen den Bildern hinterher, statt den sich abzeichnenden Katastrophen vorauszueilen. Wie viele Menschen könnten heute noch leben, wenn rechtzeitig Sicherungen eingebaut worden wären gegen den Bürgerkrieg in Ruanda?

 

   Helfen hilft zuerst dem Geber   

 

Es ist bei allen Katastrophen zuerst eine Welle der Selbstentlastung, der Versuch, so weiterzuleben wie bisher und die eigene Mitverantwortung für das Geschehen wegzuschieben. So gewinnt der Spender seine Ruhe wieder bis zur nächsten Verwerfung. Die Spende ist ein moderner Sündenablaß und der Spendenmarkt Ablaßhandel im Zeitalter der Banküberweisung. Sie ist im besten Fall ein Almosen, das den Geber in hellem Licht erscheinen läßt. Dieser aber profitiert weiter von ungleichen Bedingungen im Welthandel und auch von der Entwicklungshilfe, die nicht nur ideologisch ausgerichtet ist, sondern auch die eigenen Exporte fördert.252

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1991 explodierte die Hilfsbereitschaft der OECD-Staaten, als diese 2,4 Milliarden Dollar und damit doppelt soviel wie im Vorjahr in die Katastrophenhilfe steckten und für 2,8 Milliarden Dollar Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. Zwar war das weltweite Leid in diesem Jahr nicht größer als in all den Jahren davor und danach, aber die USA und Alliierte hatten im zweiten Golfkrieg Saddam Hussein aus Kuwait vertrieben und den Norden des Iraks zum Kurdenschutzgebiet erklärt. 

Die vom irakischen Diktator verfolgten, auf nationale Selbstbestimmung drängenden Kurden wurden in einer gigantischen Hilfsaktion versorgt. Daß es der internationalen Gemeinschaft weniger um die Hilfe für die Kurden als vielmehr um einen humanitären Flankenschutz für die Kriegsmaßnahmen ging, zeigt allein schon der Umstand, daß die nicht weniger nationalbewußten und unterdrückten Kurden im NATO-Staat Türkei von solcher Unterstützung nicht einmal träumen dürfen. Und vor allem belegt diese überschwappende Mildtätigkeit, daß immer das Interesse des Gebers entscheidet, wo, wie und wem geholfen wird. Es ist nicht die Not, die solche Hilfe leitet, sondern die politischen Interessen der Reichen. Wehe den irakischen Kurden, sollten die Wirren der Weltpolitik, ein neues Feindbild etwa, das irakische Regime zurückbringen ins Lager des Weltpolizisten und seiner Hilfsscheriffs.

Nachdenken und sich informieren sind zwar anstrengender, aber sie wären der erste Schritt zu wirklicher Hilfe. Wenn wir aufhörten, anderen unsere Lebensweise aufzudrängen und nach unserem Bild zu »entwickeln«, täten wir einen zweiten Schritt.

Wenn beispielsweise in Ruanda und Burundi nicht radikal das Katastrophengeflecht aus Krieg, Überbevölk­erung und Nahrungsmittelhilfe zerschlagen wird, steht das nächste Massensterben vor der Tür. So notwendig die Katastrophenhilfe ist, wird nicht konsequent auf eine Selbstversorgungswirtschaft gesetzt, dann produzieren die Nahrungsmittellieferungen die Opfer von morgen. Hunger ist bitter, die Getreide- und Fleisch­über­schwemmung aus dem Norden aber ist tödlich.

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Der Londoner Entwicklungs­experte Murray Watson wirft die Frage auf, wer es wage, sich zwischen ein hungerndes Kind und den mildtätig gefüllten Eßnapf zu stellen, um zehn andere davor zu bewahren, jemals auf milde Essensgaben angewiesen zu sein.253 Ich füge hinzu: sobald die Kameras woanders stehen. Angesichts solcher Überlegungen erhebt sich gemeinhin empörtes Geschrei aus allen politischen Lagern. Dies vor allem, weil auch in diesem Fall die Ursachen-Wirkungs-Kette nicht zu Ende gedacht wird.

Die Menschen, die heute mit unserem Getreide gerettet werden, sind die Eltern jener, die morgen verhungern. Logisch betrachtet, ist es offenkundig humaner, heute nicht zu helfen, sofern wir nicht dazu beitragen, die Ursachen des Hungers langfristig zu eliminieren. Diese Arbeit aber verlangt nicht Almosengeber, sondern zuerst Einsicht in die Veränderungs­bedürftigkeit der globalen wirtschaftlichen und politischen Strukturen, die nach wie vor Ausuferungen des nördlichen Wachstumskurses sind. Darin sind die Antriebe der regelmäßig tobenden Elendswogen zu finden, auch wenn viele regionale Mißstände deren Wirkung verstärken.

Um es klarzustellen: Ja, wo gehungert wird, müssen wir eingreifen. Aber das heißt, daß wir nach der Soforthilfe dazu beitragen, Strukturen zu schaffen, die eine Neuauflage des Hungers unwahrscheinlich machen. Wer Hilfsorganisationen, die diese »Nachsorge« nicht betreiben, Geld gibt, trägt womöglich unwillentlich und unwissentlich dazu bei, daß die Geretteten von heute mitsamt ihren Kindern die Leichenberge von morgen sind. Noch immer läßt das Interesse von Medien, Hilfsorganisationen und Spendern nach, sobald ein Notfall einigermaßen behoben ist. Aber was passiert danach?

Danach müssen Flüchtlinge in ihre Heimat zurückgeführt werden, müssen dort Verwüstungen repariert und neue soziale und politische Strukturen geschaffen werden. Vor allem muß alles getan werden, um zu erreichen, daß sich die Bevölkerung möglichst bald selbst versorgen kann. Aber diese Überleitung von Katastrophen- in Entwicklungshilfe — die hier ihrem Namen alle Ehre machte — findet heute bestenfalls auf Sparflamme statt. Nicht selten folgt großen internationalen Anstrengungen das große internationale Desinteresse, wie in Bangladesh, im Golfkrieg, in Somalia und eben in Ruanda-Burundi.

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    Was hätte eine verantwortungsbewußte Entwicklungspolitik zu tun?   

 

Sie müßte zuerst weniger nehmen, statt nur zu geben. Sie müßte dort beginnen, wo die Ursachen gesetzt werden, also in den Industrieländern. Denn welchen Sinn soll Entwicklungshilfe haben, wenn geringfügige Schwankungen des Weltmarkts alles zunichte machen, was aufzubauen versucht wird?

Die Rolle des Nordens als Hauptverursacher der ökologischen Krise verlangt drastische Einschnitte im Wachstumskurs, auch wenn dadurch Arbeitsplätze verlorengehen. Die Industriestaaten müssen ihre wirtschaftliche Aktivität in der Dritten Welt einschränken und dazu beitragen, die dortige Ausrichtung der Produktion auf die Märkte des Nordens zu beenden. Statt dessen ist die Entwicklung eines Süd-Süd-Handels zu fördern. Schutzzölle in Industriestaaten sind abzuschaffen, aber nur dort.

Entwicklungspolitik müßte die Interessen der Dritten Welt als Maßstab zugrundelegen, was vielfältige spezielle Aufgaben gleichzeitig stellen würde. Wo die Selbstversorgungswirtschaft noch funktioniert, muß sie gestärkt und die Nahrungsmittelhilfe so rasch wie möglich abgebaut werden. Wo immer es noch geht, sind traditionelle Lebens- und Produktionsformen zu bewahren. Wo Exportfrüchte bereits die Landschaft bestimmen und die Selbstversorgung nicht wiedereinführbar erscheint, müssen die Arbeitsbedingungen demokratisiert und der Absatz zu langfristig festen Preisen garantiert werden. Die Rohstoffpreise müssen drastisch erhöht werden. Die vor allem in Lateinamerika die Landwirtschaft dominierenden Großgrund­besitzer müssen entmachtet und ihr Land muß verteilt werden. Günstige Kredite für Einzelbauern und Genossenschaften bei harten ökologischen Auflagen wären eine; sinnvolle Starthilfe.

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In vielen Staaten müssen Schutzzölle eingeführt werden, um einheimische Erzeuger vor Konkurrenz aus den Industriestaaten zu bewahren. Rüstungs­exporte aus dem Norden müssen eingestellt und Befreiungs­bewegungen, die sich für Menschen­rechte wie soziale und politische Gleichheit einsetzen, unterstützt werden.

Armutsbekämpfung heißt Arbeitsbeschaffung und Landreform. Wer nur daran denkt, die Lebensmittel­produktion zu steigern, übersieht die krassen Fehlentwicklungen der »grünen Revolution«. Joseph Collins und Frances Moore haben neben anderen kritischen Agrarexperten daraufhingewiesen, daß nur eine Dezentralisierung der Landwirtschaft zugunsten örtlicher Betriebe die Nahrungsmittelversorgung der breiten Masse verbessern kann.254  

Eine Landreform muß schon bei der Durchführung die Bauern miteinbeziehen, damit sie, befreit von lokalen Autoritäten, Selbstbestimmung lernen. 

Wenn sich die Menschen selbst mit Lebensmitteln versorgen können, wird der Handel zurückgenommen auf seine sinnvolle Funktion, das örtliche Angebot zu ergänzen, statt über die Existenz der Produzenten zu entscheiden. Investitionen sind zugunsten der Landwirtschaft umzuverteilen, bislang fließt lediglich ein gutes Zehntel dorthin. Die Industrie hat der Landwirtschaft zu dienen, indem sie gutes, einfaches Gerät und andere Produkte herstellt, die den Bauern nutzen. Eine arbeitsintensive Agrarproduktion kann mit dem Hunger und der Armut auch die Landflucht beenden. 

Wenn die selbstversorgende Landwirtschaft von unten aufgebaut wird, könnte es ihr gelingen, erst Orte, dann Regionen, schließlich ganze Staaten vom Tropf des Nordens abzuschneiden und stabile soziale Verhältnisse zu schaffen.

Und so retten wir mit klugen Ratschlägen die Welt! 

Fügen wir alle hier nur angedeuteten Forderungen zusammen und ergänzen wir sie mit den Forderungen einer sterbenden Natur, dann erkennen wir, daß eine sinnvolle Entwicklungs­politik eine strahlende Fata Morgana darstellt. 

Schließen wir die Verflechtungen und Verwerfungen der internationalen Finanzpolitik mit ein, dann antwortet der Wachstumswahn mit einem homerischen Gelächter auf unsere reformerischen Anwandlungen.

In der Tat, was zur Rettung erst des armen, dann des reichen Teils dieses Planeten erforderlich wäre, ist nicht nur dem bürgerlichen Durch­schnitts­gemüt phantasiereiche Spintisierei. 

Es ist geradezu abwegig, würde es doch das Ende unserer Lebensmaximen bedeuten. Und deshalb ist es unserer Wirklichkeit ferner als der fernste Kontinent. Es liegt außerhalb dieser Welt.

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(d-2015:) Die letzten Sätze sind auch wichtig für: Wie formuliere ich sprachlich die Wahrscheinlichkeit für Reform/Wunder/Rettung/Ausweg?

 

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 Von Christian von Ditfurth 1995