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2.5 - Neue Varianten der Entwicklungsidee

 

 

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Das Scheitern aller bisherigen Entwicklungspolitik ist offenkundig. Längst haben die Entwicklungsexperten des Nordens die Vorstellung begraben, daß der Süden den Wohlstand erreichen könne, den der Norden sich auf Kosten des Restes der Welt verschafft hat. Aber warum sollen Vertreter des Südens auf diesen Anspruch verzichten, so zu leben wie wir? 

Unübersehbar ist, daß die Idee des Wachstums und dessen Gleichsetzung mit Entwicklung eine Fiktion ist, die ihre Existenz vor allem den Wirtschafts­interessen der Industriestaaten verdankt. Dieses bis zum heutigen Tag fortlebende ideologische Axiom verpflichtet die Reichen, noch reicher zu werden, um den Armen ein paar Brocken mehr schenken zu können. Wir haben gesehen, daß in Wahrheit das Gegenteil geschieht. Aber ideologische Essenzen verdanken ihre Zählebigkeit nicht ihrer Realitätsnähe, sondern ihrer Bindung an mächtige Interessen.

Keiner der vielen Vorschläge zur Reform der Entwicklungspolitik hat an der Praxis etwas geändert. Das hindert die ministerialen Dichter in Bonn und anderen Hauptstädten der Industrienationen nicht daran, weiteres Papier mit wohlmeinenden und wohl­klingenden Vorsätzen vollzuschreiben. Was die Nord-Süd-Kommission unter Leitung des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt im Interesse der Dritten Welt gefordert hat, ist, gemessen am damaligen Kenntnis stand, so intelligent wie folgenlos. Kein Bundeskanzler nach ihm hat den dicken Bericht auch nur erwähnt. Geschweige, daß seine Erkenntnisse in die Politik eingeflossen wären.

Der einstige Entwicklungshilfeminister der sozialliberalen Koalition Erhard Eppler war vermutlich der einzige Regierungspolitiker in der Geschichte der Bund­es­republik, der sein Ministerium nicht als Ressort und Karrierestation betrachtet hat, sondern als eine Aufgabe, globale Ungerechtigkeit abzubauen.

 Eppler auf detopia

Aber auch dieser moralische Rigorist, der bis zum heutigen Tag nach Wegen aus der Krise der Entwicklungs­politik sucht, scheiterte, weil Entwick­lungs­hilfe die weltwirt­schaftlichen Rahmen­bedingungen nicht berührt. Wohl daran und an seine ministeriellen Erfahrungen hat Eppler gedacht, als er schrieb: »In der Politik ist es üblich, gerade da Begriffe in Umlauf zu bringen, wo ein politischer Wille fehlt. Sie haben dann die Funktion, das Fehlen des politischen Willens zu verbergen. Ein solcher Begriff war und ist der des <Nord-Süd-Dialogs>. Im Grund hat es ihn nie gegeben.«255

Als Harry S. Truman von unterentwickelten Ländern sprach, begann ein Unternehmen, das den Zustand herstellte, den es zuvor fälschlicherweise beklagt hatte. Der Essener Wissenschaftspublizist Wolfgang Sachs hat treffend festgestellt, daß 1960 der nationale Reichtum des Nordens das National­einkommen des Südens um das 20fache überstiegen habe. 1980 war es das 46fache.256 Und die achtziger Jahre glänzten ganz in Gold für die Industrie­staaten, wohingegen sie für die Dritte Welt ein verlorenes Jahrzehnt bedeuteten.

Es ist letztlich gleichgültig, wie die Maximen der Entwicklungspolitik lauteten, an ihren bedrückenden Ergebnissen hat sich nichts geändert. Lediglich zwölf Prozent der Staatsausgaben werden in den Entwick­lungs­ländern ausgegeben für die Gesundheits­versorgung und Erziehung der armen Bevölkerung, und nur rund zwei Prozent der bi- und multilateralen Hilfe dienen der vorbeugenden Gesundheitsfürsorge und der Grund­schul­erziehung.257

Es sind neben den weltwirtschaftlichen die politischen und sozialen Herrschafts­strukturen in der Dritten Welt, die, auf welchen Umwegen auch immer, dafür sorgen, daß das Geld des reichen Nordens bei den Reichen im Süden landet. Warum sollten die Mächtigen und Wohlhabenden in den Entwicklungsländern, die auch an den Hebeln der Politik sitzen, etwas ändern daran? Schließlich folgen sie nur unserem Vorbild, sind wir in unserem Lebensstil und Wohlstand für sie das Maß aller Dinge.

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Sie sind unsere gelehrigen Schüler. Ob in Indien, Mexiko oder Brasilien, allesamt Muster­knaben der auf Industrialisierung setzenden Entwicklungspolitik, es mangelt nicht an wirt­schaftlicher Dynamik und nicht an Exporterfolgen. Aber der Preis ist unendliches Elend und der Zusammenbruch sozialer Lebenswelten. Rio de Janeiro und andere Städte fallen im Armutschaos auseinander, jede Endzeitvision verblaßt angesichts des Ruins aller Regeln außer denen der Gewalt. Kein Katastrophenfilm aus Hollywood kann sich messen an diesem Szenario einer kollabierenden Wirklichkeit. Die Reichen ziehen sich zurück in ihre bewachten Wohlstandsgettos, und draußen geht die Welt unter.258

Trotzdem setzen die Industriestaaten und ihre Brüder im Geiste und im Konsum im Süden nicht darauf, die globalen und regionalen Ursachen des Elends zu beseitigen. Sie bauen weiter auf Wachstum und nicht auf Umwälzung. Und doch kann die offizielle Politik die katastrophalen Tatsachen nicht gänzlich verdrängen. Ohne die Entwicklungspolitik in Frage zu stellen, hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit immerhin eingeräumt, daß es Fehler gemacht habe. Projekte seien an der Wirklichkeit vorbeigeplant worden, man habe die Bevölkerung nicht ausreichend in die Planung einbezogen, soziale und kulturelle Faktoren seien vernachlässigt worden.259

 

    Rhetorik ohne Politik   

 

Glaubt man dem Bundesministerium, dann genießt seit einiger Zeit die Armutsbekämpfung Priorität vor allen anderen Zielen. Im Wortlaut: 

»Deutsche Entwicklungspolitik ist vorrangig auf die armen Bevölkerungs­schichten ausgerichtet. Wo Menschen in Hunger und Armut leben, leistet die Bundesregierung unmittelbar wirkende Hilfe zur Befriedigung der Grundbedürfnisse und stärkt Willen und Fähigkeit der Armen zur Selbsthilfe.«260

Weitere Kriterien sind nach Angaben des Entwicklungs­hilfe­ministeriums: Menschenrechte, Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen, Rechts­sicherheit, Schutz des Eigentums, Marktwirtschaft und die »Entwicklungsorientierung staatlichen Handelns«. 261)

Auch der Bundestag hat sich im Mai 1990 fast einstimmig für »Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbst­hilfe« ausgesprochen — und damit kundgetan, daß die Entwicklungspolitik zuvor anderen Leitlinien gefolgt ist.262) Das klingt gut, aber es ist im Kern nichts Neues. Die Orientierung auf sogenannte Grundbedürfnisse ist seit den siebziger Jahren mal mehr, mal weniger in Rede gewesen. Diese Politik will ihren Nutznießern über Nahrungsmittel und sauberes Trinkwasser hinaus Schutz gegen Krankheiten, Erziehung und Bildung, Zugang zu Produktionsmitteln und schließlich zu einer Teilnahme an »durch­schnittlichen« Konsum­gewohnheiten verschaffen. Großen Wert legen die Verfechter des Grund­bedürfnis­konzepts auf die Partizipation der Beteiligten.

Dieses Konzept stößt nicht auf die Gegenliebe der deutschen Industrie und der Eliten in den Entwicklungs­ländern. Die Unternehmer versprechen sich von dezentraler Armutsbekämpfung und »Hilfe zur Selbsthilfe« keine lukrativen Großaufträge, und die Reichen im Süden befürchten, vom technischen Fortschritt abgekoppelt zu werden, wenn die Entwicklungspolitik sich um Grundbedürfnisse kümmert.

Aber diese Sorgen sind unbegründet. Nach großzügigen Berechnungen des Bundesministeriums für wirt­schaftliche Zusammenarbeit erreichen die Ausgaben für grundbedürfnisorientierte Maßnahmen im Jahr 1994 nicht die Vierzig-Prozent-Marke. Und gerade mal acht Prozent des BMZ-Etats dienen der Armuts­bekämpfung durch »Hilfe zur Selbsthilfe«.263

Es hat sich bisher nichts geändert an der auf Großprojekte fixierten Entwicklungshilfe und an der Subventionierung deutscher Firmen durch den Steuerzahler. Von einem geradezu klassischen Beispiel der Nord-Süd-Gigantomanie wußte 1994 der <Spiegel> zu berichten.264 Danach planen Nepals Regierung, die Weltbank und fünf Geberländer, darunter die Bundesrepublik, einen riesigen Staudamm zur Stromerzeugung.

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234 Millionen Mark will das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit dafür ausgeben, mehr als je für ein einzelnes Projekt bewilligt worden ist. Allerdings müßte sich Nepal mit über 700 Millionen US-Dollar verschulden, um seinen Anteil zu bezahlen; das entspricht einem kompletten Jahreshaushalt der Regierung. Das Arun-Staudamm-Projekt verwandelt die »Grundlinien der Entwicklungspolitik der Bundesregierung« in Altpapier. Darin steht nämlich als ein Ziel: »Deckung des Energiebedarfs breiter Bevölkerungsschichten, insbesondere durch dezentrale Energieversorgung (...).« 265)

Der <Spiegel> weist auf verschiedene Umstände hin, die die Gefahr unterstreichen, daß die gesamte Planung und Kalkulation wenigstens fragwürdig ist. 26 US-amerikanische Kongreßabgeordnete protestierten in einem Brief an die Weltbank gegen den Damm im Himalaja als ein Beispiel für »sehr große, unwirtschaftliche und zerstörerische Bauinvestitionen«. Ein ehemaliger Abteilungsleiter der Weltbank erklärte, daß dem Bauvorhaben die wirtschaftliche Grundlage fehle, »es wird dem Land einen großen Rückschlag bereiten«. Die geplante Stromproduktion nutze vor allem der städtischen Elite und einigen Industrie­unternehmen. Aber neunzig Prozent der Nepalesen lebten auf dem Land. Zwei Drittel der Aufträge für den Damm dürften bei Firmen aus dem Ausland landen. Dicke Brocken davon sind der RWE und Siemens zugedacht. 

Es ist unwahrscheinlich, daß das Projekt noch verhindert werden kann, da auch Nepals neue, kommun­istische Regierung nur geringfügige Änderungen fordert. Premierminister Man Mohan Adhikari erklärte in einem Interview: »Grundsätzlich gesehen, sind wir nicht gegen Arun. Wir würden uns glücklich schätzen, gemeinsam mit der Weltbank und allen anderen beteiligten Ländern solch ein Megaprojekt in unserem Land aufzubauen.«266 Und geht es nach den Bonner Entwicklungspolitikern, wird auch Nepal den Wahnweg der Großentwicklung gehen, wie ihn Brasilien und andere zum eigenen Schaden gegangen sind. Die Realität der Wirtschaftsinteressen ist stärker als kluge Sätze auf Papier.

Nepal hat gute Aussichten, sich für einen Staudamm mit zweifelhaftem Nutzen auf unabsehbare Zeit über das heute schon erreichte Maß267 hinaus zu verschulden und damit seine nationale Souveränität auf dem Altar des Fortschritts zu opfern.

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Gigantomanisch und von Industrieinteressen bestimmt ist auch ein anderes Projekt. Ende 1993 beschloß der Haushaltsausschuß des Bundestags einstimmig268, der Volksrepublik China großzügig 350 Millionen Mark zu überlassen, damit sie eine U-Bahn in Kanton bauen kann. Es handelt sich um eine Zinssubvention, die gewährt wurde, damit ein Firmenkonsortium unter der Führung von Siemens den Superauftrag einfahren konnte.269 Was hat das mit Entwicklungshilfe zu tun, um über Menschenrechte, Rechtssicherheit und andere hehre Ziele der regierungsamtlichen Entwicklungspolitik nicht weiter zu reden?

Die Folgen der Gigantomanie sind für jeden, der sehen will, offensichtlich. Wie es scheint, sind Großaufträge für deutsche Firmen ein nicht zu geringer Preis für die Duldung von Menschenrechts­verletz­ungen in Großserie. Sie haben ja auch den Vorteil, fernab der Heimat stattzufinden.

Als in den siebziger Jahren das erste Mal über Grundbedürfnisse diskutiert wurde, blieben praktische Folgen aus. Angesichts dieser Erfahrungen und des industrie­fixierten Selbstverständnisses der deutschen und internationalen Entwicklungspolitik wird sich auch diesmal nichts wesentliches ändern. »Rhetorik ohne Politik« nennt der Nord-Süd-Experte Gerald Braun die wohlfeilen Bekundungen aus Bonn und New York.270

Das Grundbedürfniskonzept erfüllt eher kosmetische Anforderungen, als daß es eine Änderung der Entwicklungspolitik ankündigt. Nicht zuletzt fordert es allein von den armen Ländern Reformen und blendet den reichen Rest dieser Welt dabei aus.271 Folgerichtig erklärte einer der wichtigsten Nord-Süd-Experten der CDU, der damalige Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusamm­en­arbeit, Hans-Peter Repnik, der »Schlüssel zur Entwicklung« liege bei den Regierungen der Dritte-Welt-Länder, deren Partnern und »den Menschen selbst«.272

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Aber selbst wenn das Grundbedürfniskonzept durchgesetzt würde, so bedeutete es doch in erster Linie, nach der Linderung schlimmster Not die Menschen aus der Unterentwicklung zu »befreien«, bis sie Teilnehmer am Weltmarkt sind. So richtig die Abkehr vom Großtechnikwahn wäre, die Orientierung auf Grundbedürfnisse wäre nichts anderes als der sanfte Weg zum gleichen Ziel.

Gerald Braun verweist auf weitere Mängel des neuen alten Programms. Da ist zunächst festzuhalten, daß es keinerlei Auskunft gibt über die Ursachen der Tatsache, daß angeblich oder tatsächlich Grundbedürfnisse von Millionen nicht befriedigt werden. Das Konzept kennt keine ungleichen Austauschverhältnisse, keine Schuldenkrise und keinen Agrarprotektionismus.273) Es setzt einfach voraus, daß eine erfolgreiche Armuts­bekämpfung in der Integration einst Armer in den Weltmarkt gipfelt. Es ist daher genauso zerstörerisch wie jede andere auf Wachstum fixierte Nord-Süd-Politik.

Die unbegrenzten Bedürfnisse haben die menschliche Natur umgeformt, haben den Homo sapiens »im Denken und Fühlen zum Homo miserabilis« werden lassen, wie Ivan Illich schreibt. Er fährt fort: »Die Idee der Grundbedürfnisse ist vielleicht die schlimmste Hinterlassenschaft des Entwicklungsdenkens.«274)

Partizipation ist ein weiterer Begriff, der so stark glänzt, daß er viele blendet. Die Menschen vor Ort sollen mitbestimmen, wie Projekte verwirklicht werden. Aber diese gutgemeinte Einbeziehung der Entwicklungs­bedürftigen ändert nichts am Grund­tat­bestand, daß Partizipation nur stattfindet im Rahmen der gegebenen Entwicklungspolitik. Sie ist die Sinngebung jeder Beteiligung. Dabei muß die Entwicklungspolitik mittlerweile kaum noch jemandem aufgezwungen werden. Ihre Ingredienzen sind längst zum Allgemeingut geworden. Zum Konsum muß keiner gezwungen werden. Seine Verlockungen walzen alle Einsichten in seine Folgen platt.

»Hilfe zur Selbsthilfe« bedeutet, daß der Norden begriffen hat, daß es wenig erfolgversprechend ist, dem Süden Entwicklung und ihr dienende Projekte aufzuoktroyieren. Vielmehr gelingt es mit den geringsten Reibungsverlusten, überkommene Lebensformen zu zersetzen und zu zerstören, damit der Markt das Miteinander regelt, wenn die künftigen Opfer davon überzeugt sind, im eigenen Interesse zu handeln.

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Den Betreibern der Entwicklungspolitik sei zugebilligt, daß sie in ihrer überwiegenden Mehrheit wirklich das Beste wollen. Sie können nicht aus ihrer Haut, nicht aus ihrer Welt. Sie fordern, daß aus der gespaltenen Welt eine werde, die sie sich nur vorstellen können als Ausdehnung der eigenen Welt auf den größeren Rest des Erdballs. Noch einmal Repnik: »Wir müssen endgültig vom Modell getrennter Entwicklung in Nord, Süd oder Ost Abschied nehmen.«275 Wir lesen genau, der Mann spricht nicht vom Westen. Er meint, Nord, Süd und Ost müssen sich so entwickeln, wie wir das tun. Das ist entweder ein frommer Wunsch oder die Ankündigung des Harmageddon.

Den Entwicklungspolitikern sind alle Nöte und Verwerfungen im Süden letztlich Ausdruck von dessen Anderssein. Ob Krankheiten, Hunger, Armut oder alles zusammen Millionen peinigen, es liegt für sie letztlich am Mangel an Industrialisierung. »Notverursachend ist aus dieser Perspektive alles, was der industriellen Produktion im Wege steht.« Man kann es nicht genauer sagen als der Pariser Ökonomiekritiker Serge Latouche.276

 

   Wirkliche Entwicklungspolitik finge bei uns an  

 

Was sind die Alternativen? Kann es überhaupt eine sinnvolle Entwicklungspolitik geben? Wo Entwicklung Unter­entwicklung bewirkt hat, müssen die gefährlichsten Mangelerscheinungen, zuerst Hunger und Krankheit, bekämpft werden, das beschreiben Dieter Noblen und Franz Nuscheler als »Common Sense«.277 Sie schlagen als Alternative zum jetzigen Kurs ein »magisches Fünfeck von Entwicklung« vor:

Diese Forderungen der renommierten Nord-Süd-Experten kollidieren mit der bisherigen Praxis der Entwicklungspolitik, in der trotz aller offiziellen wachs­tums­kritischen Bekenntnisse auf nichts mehr gesetzt wird als auf Wachstum. Entwicklung wird gemessen am Bruttosozialprodukt, und die gesellschaft­lichen Kosten dieses Kurses wie Armut und Hunger erscheinen hinter dem Wörtchen »noch«: Indien gehöre inzwischen zu den zehn führenden Industrie­nationen, aber »noch« lebten dort »über 300 Millionen Menschen unter der absoluten Armutsgrenze«, schreibt Hans-Peter Repnik. 279)   

Diese 300 Millionen von 844 Millionen Indern, dreieinhalbmal die Bevölkerung Deutschlands, trüben die wachstumsfixierte Erfolgsbilanz ein wenig, aber solange man ihr Schicksal nicht als das Ergebnis der Integration des Subkontinents in den Weltmarkt beschreibt, geht man vorbei an den Ursachen der Fehlentwicklung. Wenn in einem Land, das sich erfolgreich unter die zehn führenden Industrienationen vorgearbeitet hat, mehr als ein Drittel der Bevölkerung in nur noch durch den Hungertod zu steigerndem Elend lebt, dann ist nach jedem sinnvollen Kriterium das Gegenteil von allem erreicht worden, was man als Entwicklung begreifen könnte.

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In Brasilien, einem anderen Shooting Star der Wachstumsfetischisten, müssen knapp zwei Drittel der Erwerbs­personen mit weniger als 250 Mark im Monat auskommen. Ebenso vielen Menschen verwehrt Armut eine ausreichende Ernährung. Jedes Jahr sterben eine halbe Million Kleinkinder im sozialen Elend. Brasilien hat alles getan, was gestandene Marktwirtschaftler für Entwicklungs­länder fordern — und ist heute mit 120 Milliarden US-Dollar Verschuldungs-Weltrekordhalter in der Dritten Welt.280

Selbst wenn Brasiliens Regierung einen radikalen Neuanfang versuchte, am Tropf der Gläubiger aus dem Norden hängend, fehlt dem Land jeglicher Spielraum für eine alternative Entwicklung. Brasilien braucht kein weiteres Wachstum, das neben einer unbeschreiblichen Verelendung ökologische Verwüstungen erzeugt, sondern eine Umwälzung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse, vor allem die Durchsetzung des Prinzips gesellschaftlicher Gleichheit.

Nohlen und Nuschelers Forderungskatalog erscheint so vernünftig wie undurchsetzbar. Er würde alles auf den Kopf stellen, was der Entwicklungspolitik der OECD-Staaten heilig ist. Er würde überdies abgelehnt werden von den Eliten der Dritten Welt, die vom Wachstumswahn profitieren und in ihren Ländern entscheidenden Einfluß besitzen. 

Vor allem aber würde der Forderungs­katalog an dem scheitern, was er nicht ausdrückt: daß nämlich die sinnvollsten Maßnahmen jeden Sinn verlieren, wenn sie durch die Weltwirtschaft ausgehebelt werden. Was nutzen die vernünftigsten Hilfsprojekte gegen die Armut, wenn der Fall des Kaffeepreises auf dem Weltmarkt um fünf Prozent Kaffeebauern en masse ruiniert? Wie oft werden Enthusiasmus und Hilfsbereitschaft mit einem Schlag eiskalt entwertet durch die anonymen Kräfte des Markts? Und welche Sicherheit versprechen Hilfsprojekte, wenn morgen alles ganz anders sein kann?

Unterentwicklung als Produkt der Entwicklungspolitik hat aus der Sicht eines Dritte-Welt-Staats internationale und nationale Dimensionen, die sich auf das wirksamste verbinden zu ihrem Zerstörungswerk. Entwicklung hätte dann eine Chance, wenn gleichzeitig die Innen- und die Außenstrukturen verändert würden.

»Hätte«: Dieser Irrealis findet seine Berechtigung in der Antwort auf die Frage, ob wir bereit wären, den Preis zu bezahlen, den der Umbau der Weltwirtschaft zu unseren Lasten kosten würde. Denn wirkliche Entwicklungspolitik finge bei uns an. 

Wirkliche Entwicklungspolitik würde beginnen mit einem radikalen Umbau unserer Gesellschaft. Sie müßte unsere verbrauchsorientierte Produktions- und Lebensweise drastisch beschneiden, um zum einen den Giftausstoß zu drosseln und zum anderen die Ressourcen­vergeudung zu vermindern. Sie müßte gerechte Handels­beziehungen durchsetzen und die Märkte der Dritten Welt schützen. Sie müßte das Wachstum im Norden nicht nur anhalten, sondern auch umkehren, damit der Süden Fehlentwicklungen korrigieren kann, was zum Teil auch Produktions­steigerungen verlangen dürfte.

Beenden wir die Auflistung utopischer Wünsche, gehen wir zurück in die allein gültige Wirklichkeit.

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 Von Christian von Ditfurth 1995