Teil 3  Weltbevölkerung

Von Christian v. Ditfurth 1995

  3.1  Wachstum der Menschenzahl 

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 Bevölkerungsbuch        Anmerkungen 

 

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Die Zahlen zuerst:

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Um das Wachstum auf die bereits extrem erscheinende Zahl von 10 Milliarden Menschen — fast doppelt so viele wie heute! — zu begrenzen, müssen nach Angaben der Vereinten Nationen 59 Prozent aller Frauen im gebärfähigen Alter im Jahr 2000 Verhütungsmittel anwenden.

Zu diesem Zeitpunkt wird es in den Entwicklungsländern eine Milliarde Frauen zwischen 15 und 45 Jahren geben, eine Viertelmilliarde mehr als 1990.283 Der Aktionsplan der Kairoer Welt­bevölkerungs­konferenz vom Sommer 1994 sieht vor, die Menschenzahl bis zum Jahr 2015 auf 7,3 Milliarden zu »stabilisieren«, wozu die Rate der modern verhütenden Paare im Süden von 55 auf 69 Prozent zu steigern sei.284

Zunächst hatten die UNO-Demographen angenommen, gegen Ende des kommenden Jahrhunderts werde sich die Erdbevölkerung bei 10,2 Milliarden einpendeln. Da aber die Bevölkerungs­vermehrung in wichtigen Ländern nicht wie geplant gebremst werden konnte, gehen die Schätzungen inzwischen davon aus, daß die Menschenzahl 11,2 Milliarden im Jahr 2100 betragen wird und bis Mitte des 22. Jahr­hunderts erst bei 11,6 Milliarden ins Lot kommt.

Bei der heutigen Steigerungsrate würde im 21. Jahrhundert allerdings die 14-Milliarden-Marke überschritten werden,285 der UN-Weltbevölkerungsbericht 1992 spricht von 15 Milliarden. Die Weltbank schätzt, daß im Jahr 2030 die Zahl der Menschen um drei Milliarden gestiegen sein wird, auch weil die Lebens­erwartung zunehme. Afrikas Bevölkerung werde sich binnen 35 Jahren mehr als verdoppeln auf 1,6 Milliarden, in Asien werde die Steigerung 47 Prozent ausmachen, und Lateinamerikas Bevölkerung von 475 auf 715 Millionen wachsen.

Korrekturen von Bevölkerungsprognosen sind kein Grund zur Häme, sondern zeigen vielmehr die grund­legende Schwäche langfristiger Vorhersagen, in denen Behauptungen für so weit in der Zukunft liegende Entwicklungen und Ergebnisse aufgestellt werden, daß es unmöglich ist, die Qualität der Voraussagen zu überprüfen.286  

Manche finden in solcherlei Mängeln Tröstung und Hoffnung. Sie verweisen auf die Fehlerhaftigkeit der Statistik und führen diese — als Grund dafür an, derartigen Zahlenwerken nicht zu trauen. Es handelt sich hier um eine spezielle Form der Verdrängung, bei der vermeintlich sachliche Argumente herangezogen werden, um die Wirklichkeit und die sich in ihr abzeichnenden Gefahren nicht wahrnehmen zu müssen.

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So fehlerhaft Bevölkerungsstatistiken sein mögen, bislang wurden sie meistens nach oben korrigiert. Davon abgesehen, genügt es, die Tendenz der Daten zu betrachten, um die Bedrohung ausreichend zu skizzieren. Abweichungen im Detail spielen keine Rolle, außer für den Berufs­ehrgeiz der Statistiker.

Ausreichend verläßlich sind diese Angaben: Insgesamt lebten 1975 in den Entwicklungsländern 2,9 Milliarden Menschen, 1983/84 mehr als 3,5 Milliarden und 1990 4,3 Milliarden, wobei die Zahl der Ärmsten der Armen seinen Anteil von einem knappen Viertel konstant gehalten hat. Bevölkerungswachstum in der Dritten Welt heißt stets zu wenigstens 20 Prozent Vermehrung der Zahl jener Menschen, die im vollkommenen Elend vegetieren müssen. Zwischen 1750 und 1900 hatte das Gewicht Europas und Nordamerikas an der Weltbevölkerung noch stets zugewonnen, und zwar von 19 auf 30 Prozent, und war bis 1950 einigermaßen stabil geblieben.287 In den kommenden drei Jahrzehnten dagegen wird der Süden 95 Prozent zum Weltbe­völkerungs­wachstum beitragen und damit seinen Anteil von 75 Prozent im Jahr 1980 auf deutlich mehr als 80 Prozent im Jahr 2025 hochschrauben.288

Es gibt geradezu abenteuerlich erscheinende Schätzungen über die weiteren Perspektiven.

Im Jahr 2500 leben nach Berechnungen eines amerikanischen Physikers 30 Milliarden Menschen auf der Erde, wenn die heutige Wachstumsrate sich nicht verändert, es blieben dann für jeden Menschen, gleichmäßig verteilt, zwei Quadratmeter Boden — weniger als man nach einschlägiger deutscher Rechtsprechung einem Hund zumuten darf. Nach einer anderen Rechnung wird die Erde, ausgenommen die Antarktis, im Jahr 2667 im buchstäb­lichen Sinne mit Menschen voll sein, wenn man ein durchschnittliches Wachstum von 1,67 Prozent pro Jahr annimmt, was der heutigen globalen Steigerungsrate entspricht (die bedeutet, daß die Menschheit sich alle 42 Jahre verdoppelt). Gerade mal sieben weitere Jahre würden gewonnen, wenn auch die Antarktis bevölkert würde.289

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    Die Zerstörung althergebrachter Lebensformen und die Folgen   

 

In nichts anderem dokumentiert sich der Erfolg menschlicher Technik und Wissenschaft besser als im Wachstum der Zahl ihrer Urheber. Neue Anbaumethoden in der Landwirtschaft, der sich ausdehnende Handel, das Aufkommen der Manufaktur und schließlich das Zeitalter der Industrie und der Naturwissen­schaften verbesserten die Versorgung mit Lebensmitteln und die Ernährung in Europa und in Nordamerika. Begleitet wurde der wirtschaftliche Fortschritt durch Einsichten der Medizin in die Entstehungs­ursachen von Krankheiten. Die Entdeckung der Hygiene als ausschlaggebender Faktor bei der Krankheits­vorbeugung und Erfolge bei der Bekämpfung von Seuchen senkten nicht zuletzt die Säuglings­sterblichkeit. Mit dem zunehmenden Niveau der Allgemeinbildung sanken die Risiken, an Krankheiten vorzeitig zu sterben.

Manche Aspekte dieses Fortschritts wurden von den Kolonialherren auf ihre Kolonien übertragen.290 Vor allem seit deren Unabhängigkeit und mit dem Ausufern des Weltmarkts kamen zweifelhafte Segnungen der Moderne dazu. Vielerorts verbesserte sich zwar die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, wurden Seuchen und andere Krankheiten zurückgedrängt und sank die Sterberate. Aber andererseits wurden traditionelle Verfahren entwertet, die der Begrenzung der Fort­pflanzung dienten.

Der schottische Arzt Mungo Park, der einige Jahre vor und nach 1800 das damals noch weitgehend unbekannte Innere Afrikas erforschte, bis er in Kämpfen mit der einheimischen Bevölkerung getötet wurde, hat von solchen Methoden der Empfängnis­verhütung berichtet:

»Die Negerfrauen geben ihren Kindern die Brust, bis diese selbst laufen können. Drei Jahre Stillen ist nichts Ungewöhnliches; in dieser Zeit widmet der Mann seine ganze Aufmerksamkeit seinen anderen Frauen. Diese Praxis ist wohl der Grund dafür, daß die Familie einer Frau selten groß ist. Nur wenige Frauen haben mehr als fünf oder sechs Kinder.«

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Diese Form der Geburtenkontrolle — »Vielweiberei«! — und andere wie Abtreibung oder Kindestötung waren mit dem Einzug westlicher Wertvorstellungen verpönt. Sie widersprachen allem, was mildtätige Missionäre und aufgeklärte Kolonialherren zu den Essenzen jedweder Zivilisation zählten. Die weißen Männer aus Europa, später auch aus den Vereinigten Staaten, fanden das primitiv und gotteswidrig. Sie hielten es für ihre Pflicht, die Schwarzen aus der Steinzeit zu befreien, zumindest soweit, daß die »faulen Neger« in den Bergwerken oder auf den Plantagen ihrer Massas zur ehrlichen Arbeit getrieben werden konnten, nachdem sie zuvor nur auf der faulen Haut gelegen hatten, wenn sie nicht gerade auf primitivste Weise Gnus und Antilopen zu Tode brachten, wie irre um ein Feuer herumtanzten oder eklige Sachen aßen und tranken. 

Das Ergebnis dieser zivilisatorischen Anstrengungen hat schon im Jahr 1935 ein britischer Reporter namens Geoffrey Gorer festgehalten:

»Die Bemühungen der Missionare haben erheblich zu einer höheren Kindersterblichkeit beigetragen. Es war Sitte der Negermütter, ihre Säuglinge drei Jahre lang zu stillen, da tierische Milch knapp ist und die sonstige Nahrung für Kleinkinder nicht genügend Aufbaustoffe enthält. In dieser Zeit hatte der Mann keinen Verkehr mit der Frau, um zu vermeiden, daß sie erneut schwanger wurde und keine Milch mehr produziert hätte. Diese Praxis läßt sich unter den Bedingungen der Monogamie offensichtlich nicht aufrechterhalten. Ein weiterer Faktor ist die Schwerarbeit, die Schwangere und stillende Mütter in manchen Gegenden verrichten müssen.« 291

Nur weil die reichen weißen Männer die vermeintlich armen schwarzen Männer und Frauen zu ihrem Zivilisations­glück zwingen wollten — und bis heute wollen —, ist die Geburtenrate gestiegen. Als das Kindersterben begann, boten die Kolonialisten und ihre Nachfahren teure Medikamente, Geburten­kontroll­programme und Nahrungsmittelhilfe. Mit dem Ergebnis, daß noch mehr Kinder geboren werden und damit das Elend auf eine höhere Stufe gehoben wird.

Ich werde später schildern, wie die Modernisierung der Landwirtschaft diese zerstört.

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Die Analogie beider destruktiven Prozesse ist offenkundig: Wir vernichten traditionelle Verfahren, staunen dann über die verheerenden Resultate und greifen schließlich zu Wissenschaft und Technik, um die selbst geschaffene Unterentwicklung durch Fortschritt zu beheben. Dies aber bis heute ohne Erfolg.

Auch am Anfang der heute bestaunten »Bevölkerungs­explosion« stand jenes kurzschlüssige Ursache-Wirkungs-Denken, das nicht begreift, daß uns grauenhaft oder zumindest primitiv erscheinende Selbst­regulierungs­mechanismen ein Massenelend und Massensterben wie in unseren Tagen verhindert haben. Dort, wo die Forschungsreisenden, Abenteurer, Missionare und Eroberer in Afrika, Amerika und Asien auftauchten, fanden sie ökonomische und soziale Gemeinschaften vor, die ihr Leben durch fein aufeinander abgestimmte Regeln und Verfahren ordneten. Die Mythologie trug bei zur Geschlossenheit und Stabilität dieser Lebensformen. Die Wirtschaft diente der Selbsterhaltung, Hierarchien ließen jeden einen Platz finden.

Natürlich gab es Hunger, Unterdrückung, Gewalt, Krieg, und die lange vergebliche Suche von Frauen nach frühgeschichtlichen Lebensformen, die nicht dem Patriarchat unterlagen, signalisiert, daß die moderne Forderung nach sozialer und geschlechtlicher Gleichstellung in der Gesellschaft von Naturvölkern und in der menschlichen Geschichte insgesamt wohl kaum eine Entsprechung findet (was die Berechtigung dieser Forderung aber keineswegs entwertet). Es gab vielfältige Beziehungen zwischen Männern und Frauen, zwischen Alten und Jungen, zwischen Kriegern und Bauern, zwischen Häuptlingen und ihren Untertanen.

Sicher ist bei dieser Pluralität der Lebensformen nur, daß unsere Ideale nicht zu ihnen passen, auch nicht jene, die manche in die Geschichte hineininterpretieren. Da die Kolonialherren wie wir heute unbeirrbar glaubten, daß andere Lebensformen primitiv seien, wurden diese ersetzt durch Zivilisation. Der Preis des Sieges unserer christlich-abendländischen Werte ist ein millionen­faches Sterben. Weil wir in unserer angeborenen Kurzschlüssigkeit aber nur auf die jeweiligen Anlässe einzelner Katastrophen starren, übersehen wir, daß die durch uns hervorgerufene Zerstörung aller althergebrachten Lebensformen, der Leninismus unserer Entwicklungspolitik und die ignorante Arroganz unseres Kultur­imperialismus, das Elend begründet haben.

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Die Jet-set-Entwicklungsprofis, die in ihrer überheblichen Borniertheit zwar die ganze Welt kennen, aber nichts von ihr begriffen haben, haben für Stammestänze primitiver Schwarzer ein verächtliches Schmunzeln übrig, und von den manchmal martialischen Initiationsriten wenden wir uns schaudernd ab, obwohl durch sie jahrhundertelang erfolgreich die sexuelle Aufklärung mitsamt dem Wissen um natürliche und mechanische Verhütungs­methoden gelehrt wurden. 

Spätschäden der Missionsarbeit zu Kolonial­zeiten verknüpften sich wirksam mit der vermeintlich heilbringenden Übernahme von Leitbildern, deren ganze Zerstörungs­kraft wir seit einiger Zeit auch in den Industrie­ländern diagnostizieren müssen.

Statt Geburtenkontrolle predigten nicht allein Missionare den Segen der Menschenvermehrung. Gleichzeitig begann die Zersetzung der Dorfgemeinschaften, die wesentliche Kontrollinstanzen des Familienlebens darstellten.

Die Selbst­versorgungs­wirtschaft wurde ausgehöhlt zugunsten der Lohnarbeit, und damit wurden bislang eindeutige Grenzen der Vermehrung aufgehoben. Auch förderte die zunächst steigende Nachfrage nach Arbeitskräften für Plantagen und Bergwerke in rohstoff­reichen Kolonien die Fortpflanzung.

Die Abhängigkeit von Arbeitgebern macht die soziale Lage risikoreich. Wer mehr Kinder hat, verschafft der eigenen Familie mehr Chancen, das zum Überleben notwendige Einkommen zu sichern. Landlose Lohnarbeiter ohne soziale Altersabsicherung brauchen große Familien, viele Kinder, um nicht zu verhungern, wenn sie hinfällig und arbeitsunfähig sind.

Oft ist die Geburten­rate so hoch, weil Familien möglichst viele Söhne zeugen wollen, da sie im Wettbewerb um die verfügbaren Nahrungs­mittel und Arbeitsplätze Vorteile verschaffen.

An manchen Orten verdingen sich ganze Familien an Landbesitzer. Wenn sie einen Teil der Ernte als Lohn erhalten, wächst der Verdienst mit der Zahl arbeitsfähiger Kinder.

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Die trotz allen medizinischen Fortschritts nach wie vor hohe Kindersterblichkeit ist ein weiterer Grund, zahlreiche Nachkommen in die Welt zu setzen, da ja nie sicher ist, wie viele überleben werden. Statistisch betrachtet, muß ein indisches Ehepaar mehr als sechs Kinder zur Welt bringen, um mit 95prozentiger Wahr­scheinlichkeit annehmen zu können, daß ein Sohn durchkommen wird.292

Es erscheint uns ganz normal: Wird ein Kind geboren, freuen wir uns.

Man muß aber keineswegs den Menschen als Vehikel des maximalen Fortpflanz­ungs­erfolgs seiner Gene betrachten, um festzuhalten, daß hier offensichtlich urtümliche Verhaltensmuster Regie führen.

Es ist beim Menschen wie bei allen anderen Lebewesen fest einprogrammiert, sich in möglichst großer Zahl zu vermehren, um die Art zu erhalten. Bei manchen Lebewesen scheint es ganz allein auf die Art anzukommen, so daß die Individuen sich für deren Überleben sogar opfern. Beim Menschen ist die Individualität stark ausgeprägt, und die Gattung kann nur bestehen, wenn Verhaltensmechanismen in unserem Erbgut verankert sind, die die Fortpflanzung fördern.

Daß trotz eines hohen Kenntnis­stands über die Wirkung und Anwendung von Verhütungsmitteln in den Industrieländern Kinder gezeugt werden, zeigt, daß der Sexualtrieb allein nicht als Erklärung ausreicht. Der Drang zur Vermehrung der eigenen Erbanlagen sitzt tiefer.

In der Geschichte aller menschlichen Gesellschaften spielen das Kindergebären und die zur Aufzucht des Nachwuchses erforderlichen sozialen Verhältnisse eine zentrale Rolle.

Auch in den modernen Gesellschaften fördert die Politik die Familie und das Kinderkriegen. In Bonn befaßt sich ein ganzes Ministerium damit.

Oft wirken wirtschaftliche oder demographische Momente, in Deutschland etwa die Angst, daß das Rentensystem zusammenbricht, wenn wenige Junge viele Alte versorgen müssen.

In der DDR gab der Staat viel Geld für Familien und Kinder aus, weil Arbeitskräftemangel die wirtschaftliche Entwicklung behinderte.

Solche militaristischen Zumutungen wie im »Dritten Reich«, wo Frauen dem »Führer« Söhne »schenken« sollten, damit dieser sie als Soldaten verheizen konnte, sind mittlerweile glücklicherweise auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet.

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Aber selbst wenn diese wirtschaftlichen, politischen oder militaristischen Schablonen nicht existierten, so würde das Kinder­kriegen letztlich doch ein Eckpfeiler unserer Gesellschaft bleiben, denn die genetische Weiterexistenz der sie ausmachenden Individuen hängt davon ab. Würde sich unsere Fortpflanzung nicht über biologische Programme in Individuen vollziehen, sondern in festgefügten kollektiven Strukturen wie bei Bienen oder Ameisen, dann würden wir womöglich die Bedrohungen, denen wir die eigene Art aussetzen, erkennen und vor allen Dingen vermeiden. Stark ausgeprägte Individualität aber verlangt neben der Bedrohung des Kollektivs die der eigenen Person, um, wie es so schön und ungewollt wahr heißt, betroffen zu sein.

Viele Paare, die auf natürliche Weise keine Kinder zeugen können, unternehmen größte Anstrengungen, um mit Hilfe der Medizin doch zum Ziel zu kommen. Oder sie bemühen sich um Adoptionen. Es ist nach wie vor so, daß für die meisten Menschen der Sinn der Familie in Fortpflanzung und Aufzucht besteht.

Die Kirchen setzen auf dieses biologische Programm ihre Ideologie auf. Es verhält sich keineswegs so, daß die Kirchen, vor allem die katholische, verantwortlich sind für die Menschheits­vermehrung, weil sie diese propagieren, wobei sie Kinder als »Geschenke Gottes« betrachten und jede wissenschaftliche und technische Nachhilfe daher scharf zurückweisen.293

Es ist wenig wahrscheinlich, daß Predigten die Gebärfreudigkeit anregen. Verantwortung und Schuld ergeben sich aber daraus, daß die Kirchen sich weigern, dazu beizutragen, daß das exponentielle Bevölkerungs­wachstum gebremst wird. Diese Kritik bezieht sich weniger auf Aussagen von Kirchenvertretern, die ihre Kooperations­bereitschaft ja unisono beteuern, als vielmehr auf die kirchliche Praxis. Guter Wille sei unterstellt, aber der kann tödlich sein.

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   Bevölkerungskontrolle: doch nicht so wichtig?  

 

Guter Wille bewegt auch jene Vertreter in der entwicklungspolitischen Diskussion, die erklären, das Bevölk­erungswachstum werde von Politikern und Wirtschafts­führern in den Industrienationen als Argument herangezogen, um die hauptsächliche eigene Verantwortung für die globale Krise wegzudiskutieren. Indem man auf einen Vermehrungsdrang in der Dritten Welt verweise, entziehe man sich der Notwendigkeit, die eigene Lebensweise zu überprüfen und zu verändern.

In der Tat behaupten viele politisch Verantwortliche, die Überbevölkerung sei Ursache von Unterentwick­lung und Armut. Allein Bevölkerungskontrolle könne dem Elend ein Ende setzen. Diese These ist nicht gänzlich falsch, wie zu zeigen sein wird. Aber sie wird weniger des Körnchens Wahrheit wegen angeführt, sondern um sich der eigenen Verantwortung zu entziehen. Auch die Bundesregierung und Vertreter politischer Parteien strapazieren dieses Thema, betrachtet man aber den geringen Anteil der Hilfsgelder, die in die Bevölk­erungs­kontrolle gesteckt werden, liegt der Schluß nahe, daß in den Ministerien und Parteizentralen womöglich weitere und tiefere Erkenntnisse vorliegen. Gerade mal 1,3 Prozent der Entwicklungshilfe der OECD-Staaten dienen diesem Zweck. Von den 4,5 Milliarden Dollar, die in Entwicklungsländern für Geburten­kontrolle ausge­geben werden, stammen 700 Millionen aus den Industriestaaten.294 In den Jahren 1989/90 hat die Bundes­regierung 91 Millionen Mark für diesen Zweck zugesagt.295 So wichtig scheint das Bevölkerungs­wachstum den Industrie­staaten nun doch nicht zu sein.296

Manchen scheint es gar keine Gefahr darzustellen. Sie verwahren sich gegen Begriffe wie »Bevölkerungs­explosion« oder »Bevölkerungslawine«, entdecken die Ursachen des Wachstums der Menschenzahl in der Ausbeutung des Südens durch den Norden und halten die Überlegung, daß es zu viele Menschen geben könne, zumindest für die nahe Zukunft für eine Erfindung aus finsteren Quellen.

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Das »Gespenst der Überbevölkerung« entstehe, weil immer mehr Menschen von der Teilnahme am Produkt­ions­prozeß ausgeschlossen seien, schreiben etwa Collins und Lappé.(297) Brigitte Erler hält Überbevölkerung für einen »sehr relativen Begriff«. Er werde immer dann benutzt, wenn Menschen hungerten. Er »ist die einfachste Ausrede dafür, nicht die Ursachen des Hungers beseitigen zu müssen. Statt dessen beseitigen wir die Menschen.«(298)

Hier hat wohl der Zorn über die zerstörerische Kraft der Entwicklungshilfe die Feder geführt. Etwas überspitzt formuliert, glauben Vertreter dieser oder ähnlicher Positionen anscheinend, daß der Mensch gut sei und daß seine Vermehrung daher nicht schlecht sein könne. Geburtenkontrolle ist ihnen Menschen­kontrolle. Es sei genug Nahrung da für viel mehr Menschen, wenn alle wirtschaftlichen, politischen und sozialen Produkt­ivitäts­potenzen ausgeschöpft würden. Es ist nicht das erste Mal, daß eine Haltung sich an Humanität nicht überbieten lassen will und dabei massive Schäden anrichtet, wenigstens in den Gehirnen.

Gewiß gibt es noch Möglichkeiten, die Nahrungsmittelproduktion zu steigern. Nur sollte man dabei die ökologischen Folgen zur Kenntnis nehmen. Das beim Reisanbau anfallende Methan schlägt als Klimakiller das Kohlen­dioxid um Längen. Die zum Teil frappanten Erfolge der »grünen Revolution« überdecken zur Zeit zwar noch die durch sie mit der Saatgutspezialisierung herauf­beschworenen Gefahren. Aber die mit ihr einher­gehenden Belastungen in der Ökologiebilanz sind bereits offenkundig. Und selbst wenn man die ökologische Hürde niedriger ansetzt als erforderlich, scheinen die Grenzen des Wachstums in der Nahrungs­mittelproduktion erreicht. Die Bevölkerung wächst schneller. Die Kluft läßt sich nach Auffassung des Washingtoner World Watch Institute nicht einmal dann schließen, wenn die Anbaumethoden weiter verbessert und die Mängel in der Verteilung behoben würden.299

In Afrika stellen sich die Tatsachen so einfach wie dramatisch dar. Selbst in dürrefreien Zeiten überholt das Bevölkerungs­wachstum die Nahrungs­mittel­erzeugung um den Faktor zwei: Stieg unter vergleichsweise guten Bedingungen die Produktion von Nahrungsgütern in Afrika südlich der Sahara um 1,5 Prozent, so nahm die Zahl der Menschen um 3,1 Prozent zu.300

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Wie viele Menschen erträgt die Erde? Diese Frage ist nicht zu beantworten, weil wir dazu ein so gigantisches wie komplexes Netz von Wechselwirkungen unter­schiedlichsten Ursprungs begreifen müßten. Davon sind unsere Wissenschaften weit entfernt, auch wenn Technik und Politik dem Glauben erlegen sind, alles machen zu können. Ein Generaldirektor der Welternährungs­organisation FAO, Hartwig de Haen, schreibt, daß in ökologischer Hinsicht die Grenze bei 7,5 bis 15 Milliarden Menschen liege.301 Mit dieser Angabe läßt sich nichts anfangen, denn sie sagt aus, daß wir, folgen wir den Bevölkerungs­wachstums­schätzungen der UNO, den Grenzdurchbruch entweder irgendwann zwischen den Jahren 2000 und 2025 zu erwarten haben — oder vielleicht auch nie.

Immerhin gehen manche Experten davon aus, daß es gelingen könnte, das Wachstum bei 15 Milliarden zu stoppen. Der amerikanische Wirtschafts­wissen­schaftler Lester Thurow hat bildhaft verdeutlicht, daß es sich nicht allein um die pure Zahl handelt, sondern nicht weniger um das, wie sich die sich vermehrende Menschheit verhält. Wenn die Weltbevölkerung die Produktivität der Schweiz, die Verbrauchs­gewohn­heiten der Chinesen, das soziale Ausgleichsvermögen der Schweden und die Disziplin der Japaner besäße, könne die Erde weit mehr Menschen ernähren als heute. Wenn aber überall die Produktivität so niedrig wäre wie im Tschad und das Konsumverhalten der US-Amerikaner vorherrschte, wenn Klassenschranken bestünden wie in Indien und die gesellschaftliche Disziplin der der Argentinier gliche, dann könnte die Erde nur einen Teil der heutigen Menschheit tragen.302

Die Vereinigten Staaten geben sich als Wortführer der Familienplanung, auch während der Weltbevölkerungs­konferenz in Kairo haben sie sich in diesem Sinn profiliert. Für sie, wie für die anderen Industriestaaten, ist die Bevölkerungsvermehrung eine Gefahr aus dem Süden. Es ist in der Tat beeindruckend zu lesen, daß eine Angolanerin im Durchschnitt sieben Kinder gebärt. Auch die UNO verfällt hin und wieder dem puren Köpfezählen:

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Ganz egal, wo die Menschen geboren würden, ihre Vermehrung bedeute mehr Verschmutzung, heißt es beispielsweise im Weltbevölkerungs­bericht von 1990. Das ist wahr und falsch zugleich. Verblüffenderweise nehmen viele Politiker und Wissenschaftler die banale Tatsache nicht wahr, daß ein Mensch in den Industrie­staaten die Umwelt um ein Mehrfaches stärker beschädigt als ein Mensch in der Dritten Welt.303

Was nutzen örtliche Erfolge in der Familienplanung, wenn man das Faktum dagegenhält, daß zwischen 1984 und 1994 die Geburtenrate in den USA von 1,8 auf 2,1 Prozent gestiegen und die Zahl der Amerikaner um 24 Millionen auf 260 Millionen gewachsen ist. Diese im letzten Jahrzehnt geborenen US-Bürger verbrauchen mehr Energie und Rohstoffe als die Gesamt­bevölkerung Afrikas. Eine ähnliche Tendenz zum Bevölkerungs­wachstum zeigen auch andere Industriestaaten.304 Es wäre unter ökologischen Gesichtspunkten also vordringlich, das Bevölkerungswachstum im Norden zu begrenzen. Bekanntlich orientiert sich die Politik in vielen Industriestaaten am Gegenteil, um die Überalterung der Gesellschaften zu bremsen.

Vielleicht steckt ein ungewollter Rassismus hinter der doppelten Moral mancher Bevölkerungs­kontrolleure. Warum erkennen amerikanische Politiker und Experten im ökologisch brandgefährlichen Wachstum des eigenen Kollektivs keine Bedrohung, in der Vermehrung anderer Völker aber um so mehr? Wahrscheinlich ist es uns auch in dieser Hinsicht nicht gelungen, uns von der biologischen Evolution abzuschneiden, auch wenn viele behaupten, daß Biologie längst ersetzt worden sei durch Kultur. Klammert man Bösartigkeit als Ursache aus, bleibt nicht mehr viel übrig als Erklärung für unsere schon grotesken Beurteilungs­maßstäbe.

Gemessen an den Wirkungen — und woran sollte man es sonst messen? —, ist der Norden längst übervölkert. Es gibt zu viele Amerikaner, Franzosen, Polen und Deutsche. Sie profitieren als einzige von einem Lebensstil, der den ganzen Planeten in Mitleidenschaft zieht. Umweltzerstörung in der Dritten Welt dagegen schlägt zuerst und fast ausschließlich auf die Urheber zurück.

Würden die Armen und Hungernden in Asien, Afrika und Lateinamerika ihr Recht einfordern, genauso zu leben wie ein Westeuropäer oder Nordamerikaner, dann bedeutete dies das Ende der menschlichen Zivilisation. Das heißt nichts anderes, als daß wir einer Lebensweise huldigen, die den Ausschluß des Großteils der Weltbevölkerung als conditio sine qua non verlangt. Könnte es eine bessere Verwendung des Begriffs »asozial« geben, als mit ihm dieses parasitäre Dasein einer kleinen Minderheit zu Lasten der großen Mehrheit zu beschreiben? Das ist die Wirklichkeit, die hinter den Zahlenbergen der Statistiken verschwindet.

Noch aus anderen Gründen sind Zweifel geboten an demographischen Zahlenspielen. Schon weil sie aufgrund ihrer zum Teil abenteuerlichen Ungenauigkeit305) das Bedrohliche verschleiern, es in eine nicht genau bestimmte Zukunft verlegen, deren Forderungen in der Gegenwart wenig Chancen haben. Außerdem vermitteln solche Rechnereien ein falsches Bild von Überbevölkerung. Als sei sie eine Gefahr, die quasi schlagartig irgendwann über uns kommen wird und über deren Folgen wir nicht viel wissen — außer daß wir hoffen dürfen, zunächst nur Betroffene zweiter Klasse zu sein. Überbevölkerung aber gibt es längst, und fast alle ihrer denkbaren Erscheinungsweisen und Folgen machen der Menschheit schon heute das Leben schwer. Die Bewohner des Nordens nehmen Gefahren erst dann ernst und sehen sie als gegenwärtig an, wenn sie deren Wirkungen selbst spüren. Daß wohl bereits mehr Menschen unter Überbevölkerung leiden, als in den Industriestaaten leben, haben wir noch gar nicht registriert.306 Ein weiteres Indiz für unsere vollkommen verzerrte Wahrnehmung der Welt.

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  Das Bevölkerungswachstum muß gestoppt werden  

 

Das Gemetzel in Ruanda, der Kampf zweier Stämme — der Hutu und Tutsi — um die Vorherrschaft, wurde vor allem hervor­gerufen durch ein extremes Wachstum der Bevölkerung, das die Konkurrenz um die begrenzte Ressource Boden verschärfte.

Landwirtschaftlich nutzbare Flächen lassen sich nicht beliebig erweitern, die Agrarproduktion nicht grenzenlos steigern. In Afrika sinkt sie vielerorts sogar stetig, weil die Böden ausgelaugt sind und Wassermangel herrscht. In Ruanda verschlechterte sich 1992 die Nahrungsmittelerzeugung pro Kopf auf 78 Prozent der Erträge der Jahre 1979 bis 1981. Die Bevölkerung dagegen vermehrte sich seit Beginn der neunziger Jahre im Eiltempo von 3,3 Prozent per anno.307 So war es für genaue Beobachter keine Überraschung, als die Krise in einen Bürgerkrieg umschlug.

Was nur einmal mehr demonstriert hat, daß selbst in einem Land, in dem die Integration verschiedener Ethnien erstaunlich gut gelungen schien, archaische Instinkte aufbrechen können, wenn die Lebensumstände sich drastisch verändern.

Im Fall Ruanda genügte ein Funke — der Tod des Präsidenten bei einem Flugzeug­absturz —, um den in der Konkurrenz um begrenzte Ressourcen wachsenden Haß der Hutu, die mit 84 Prozent die Bevölkerungs­mehrheit stellen, auf die Tutsi-Minderheit losbrechen zu lassen.

Es bedarf keiner besonderen Begabung zur Prognose, um für andere Länder ähnliche Krisen und Kriege vorherzusagen.

In Nigeria zum Beispiel, dem volkreichsten Staat Afrikas, leben vier Volksgruppen, die sich in rund 434 registrierte Untergruppen teilen. Im Norden siedeln die Haussas und die Fulanis, im Südwesten die Yorubas und im Südosten die Ibos. Für die Jahre 1990 bis 1999 wird ein Bevölkerungs­wachstum von 3,1 Prozent geschätzt. Wenn sich die Bevölkerung weiterhin mit dieser Rate vermehrt, wird Nigeria in nicht einmal eineinhalb Jahrhunderten so viele Einwohner haben wie heute der Erdball.

Nur noch eine knappe Hälfte der Nigerianer hat Zugang zu sicheren Trinkwasservorkommen. Zwar wächst die Agrarproduktion noch, aber sie wird hinter der baldigen Verdoppelung der Bevölkerung zurückbleiben. Obwohl Nigeria durch seinen Ölreichtum mehr wirtschaftlichen Spielraum besitzt als die meisten anderen Entwicklungsländer, wird die Bevölkerungs­explosion auf begrenztem Raum in eine Krise münden, über deren Lösbarkeit man düstere Vermutungen anstellen muß.

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Was tut zum Beispiel die deutsche Außenpolitik, die sich doch vorgenommen hat, sich nicht mehr von Konflikten überraschen zu lassen, sondern vorbeugend zu handeln? Sie tut nichts und buhlt um einen Sitz im Weltsicherheitsrat. Sie wird dann, wenn das Unglück eingetreten ist, Almosen geben und Soldaten schicken; die Hilfsorganisationen werden, unterstützt durch die furchtbaren Bilder der Medien, um Spenden wetteifern und im Katastrophengebiet ihre Claims abstecken. Die durch den massiven Einsatz aus den Industriestaaten vollbrachten Hilfsleistungen werden gefeiert, und der Bundesverteidigungsminister wird den Soldaten bei ihrer Rückkehr am Flughafen danken, nachdem er sich zuvor fernsehgerecht an Ort und Stelle umgesehen hat.

Es wird sein wie immer, wenn wir zu spät kommen und andere dadurch gestraft werden. Wir brauchen erst die Bilder, um zu handeln. Und wir handeln immer erst dann, wenn das Leid unübersehbar ist — das ist buchstäblich gemeint, denn wenn Katastrophen­gebiete miteinander konkurrieren, hat das die besten Chancen auf unsere Bildschirme, wo am spektakulärsten gestorben wird.

 

Afrikas Bevölkerung verdoppelt sich alle 25 Jahre. Überbevölkerung heißt hier, daß es immer mehr Gebiete gibt, in denen zu viele Menschen leben, die aus der Region selbst nicht mehr ausreichend versorgt werden können. Wo also die Landwirtschaft nicht mehr genug Nahrungsmittel für immer mehr Menschen erzeugt und wo menschliche Bedürfnisse durch ihre zahlenmäßige Steigerung wachsende und meist irreparable ökologische Schäden anrichten. Diese Schäden vermindern die Leistungsfähigkeit der Agrarproduktion, und Versuche, diese auszuweiten, bewirken weitere Umweltzerstörungen wie Erdrutsche und Überschwemmungen, laugen die Böden aus und rauben ihnen dauerhaft die Fruchtbarkeit. Um dem Hunger wenigstens für einige Zeit zu entrinnen, drängen Menschen in ökologisch besonders störanfällige Gebiete wie die Regenwälder, wo sie verheerende Zerstörungen anrichten.

Immer mehr Arten werden unwiderruflich ausgelöscht und mit ihnen Informationen über das Leben. Das ist mehr als dumm angesichts unserer Unkenntnis der ökologischen Verflechtungen und angesichts der Tatsache, daß wir diejenigen sind, die am Ende sitzen — der Nahrungskette und der pharmazeutischen Produktion. Bevölkerungswachstum und sinkende Bodenfruchtbarkeit sind ein tödliches Tandem.

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Einfache Daten verweisen auf die Notwendigkeit, das Bevölkerungswachstum zu stoppen. Mehr Menschen brauchen mehr Wasser. In vielen Teilen der Welt ist Wasser, trinkbares vor allem, knapp. Diese Knappheit stellt eine fast absolute Grenze dar, die zu dehnen nur um den Preis extremer technischer Anstrengungen möglich ist, wie sie etwa der Kölner Publizist Ralph Giordano in einem packenden Buch über Israel beschrieben hat.308 Grundwasser aber läßt sich nicht vermehren. Meerwasser­entsalzungs­anlagen sind energiefressende High-Tech-Monstren für Reiche, und ihre Kapazitäten lassen sich nicht beliebig erhöhen.

Von den insgesamt 1,38 Milliarden Kubikmetern Wasser bleiben mehr als 97 Prozent in den Meeren gebunden. Etwas mehr als 2 Prozent bilden das Eis der Polkappen und der Gletscher, ein Zehntel davon wiederum finden wir in Seen und Flüssen. Ein Tausendstel des Gesamtvorrats befeuchtet die Atmosphäre. Das Grundwasser, für die Trinkwasserversorgung fast überall auf der Welt unverzichtbar, besitzt einen Anteil von nicht einmal 0,6 Prozent am Wassergesamtvorkommen.

Neben der Knappheit der Wasserreserven erweist sich deren Verschmutzung und Vergiftung als so bedrohlich, daß auch in den hochtechnisierten Industrie­staaten die Gesundheit der Bevölkerung gefährdet ist. Um so mehr in Entwicklungsländern, wo der Umweltschutz unter knappen Staatsfinanzen leidet und Unternehmen auf dem Weltmarkt nur konkurrenzfähig sind durch extrem niedrige Preise. Investitionen für sauberes Wasser lassen die Spielregeln des Welthandels kaum zu. Und so ist es nicht verwunderlich, daß nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation etwa 800 Millionen Menschen an Krankheiten leiden, die durch verschmutztes Trinkwasser hervorgerufen worden sind.

In großen Teilen Asiens werden die Flüsse als Abwasserkanäle mißbraucht, Kläranlagen gibt es kaum. Sieben Zehntel aller Oberflächengewässer Indiens sind durch Schadstoffe vergiftet.

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In China ist die Lage nicht besser, und in Malaysia haben Abfälle aus Industrie und Landwirtschaft vermutlich schon vierzig Flüsse in den biologischen Tod getrieben.

Die Steigerung der Agrarproduktion, die viele als Heilmittel gegen den Hunger propagieren, belastet das Wasser noch stärker durch Dünger und Gifte, die verharmlosend als »Pflanzenschutzmittel« bezeichnet werden. Und die Landwirtschaft kostet Wasser, das für immer größer werdende Flächen zur Bewässerung verwendet wird. Sie haben sich von 1950 bis 1990 von 100 Millionen auf 250 Millionen Hektar ausgeweitet, während gleichzeitig der Spiegel des Grundwassers sinkt, weil ihm mehr entnommen wird, als zufließt.309  

Diese 250 Millionen Hektar stellen zwar nur siebzehn Prozent des Ackerlandes auf dem Erdball dar, aber mehr als ein Drittel der Welternte stammt daher. Über siebzig Prozent des verfügbaren Süßwassers, 2700 Kubikkilometer, verbraucht schon heute die Landwirtschaft, weitere zwanzig Prozent die Industrie.310  Sie konkurrieren um das knappe Naß mit einer rapide wachsenden Bevölkerung in den Städten, wo viel Wasser in lecken Leitungen und Kanälen versickert, für deren Reparatur in der Staatskasse kein Geld zu finden ist, solange die Versorgung der urbanen Eliten nicht bedroht ist.

In großen Teilen Schwarzafrikas, aber auch im Norden des Kontinents eilt die Bevölkerungs­vermehrung nicht nur der Nahrungs­mittel­erzeugung voraus, sondern sie überstrapaziert darüber hinaus die Wasser­reserven. Das Bevölkerungswachstum stellt etwa für Ägypten keine künftige Herausforderung dar, es ist eine akute Bedrohung.311 Um das Jahr 2000 stehen jedem Ägypter nur noch zwei Drittel des Wassers zur Verfügung, das er heute verbraucht. Ein Kenianer muß dann sogar mit der Hälfte auskommen. Ein US-Amerikaner verbraucht heute im Jahr 2300 Kubikmeter Wasser, der Bewohner eines Entwicklungs­landes zwischen 20 und 40 Kubikmeter.

Für viele Staaten in Ost- und Nordafrika, aber auch in Teilen der USA wird Wassermangel ebenfalls zur Bedrohung. Hinzu kommt, daß niemand voraussagen kann, wie die sich abzeichnenden Klimaveränderungen wirken werden.

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Heutige Niederschlagsgebiete werden womöglich zu Trockenzonen, und über manchen Wüsten mag es regnen. Die mit der Temperaturerhöhung einhergehende gesteigerte Verdunstung wird die Menge des nutzbaren Wasser aber keinesfalls erhöhen.

Staaten, die sich nicht selbst mit Wasser versorgen können, werden mit wachsendem Wasserbedarf abhängig von anderen. Über 200 Flüsse liefern für mehr als einen Staat Wasser, wodurch gefährliche geographische Konstellationen geschaffen sind. Wasserkrisen und Wasserkriege sind zu erwarten, wenn Völker um knappe Reserven konkurrieren. Besitzen die Konkurrenten Massenvernichtungsmittel, dann können die Verheerungen die Grenzen der Beteiligten überschreiten. Ägyptens damaliger Präsident Anwar as-Sadat erklärte im Jahr 1979, kurz nach dem Friedensschluß mit Israel, daß es für sein Land nur noch einen Kriegsgrund gebe, und der sei das Wasser. Der Nil, aus dem Ägypten 85 Prozent seines Wasserbedarfs deckt, fließt durch acht Länder, bevor er nördlich von Kairo das Mittelmeer erreicht. Führt der Nil weniger Wasser, gehen in Ägypten die Lichter aus.

 

   Wer zuerst kommt, frißt zuerst  

 

Nur wer die Realität durch eine ideologisch getönte Brille sieht, wird bestreiten, daß es notwendig ist, die Bevölkerungs­vermehrung auf dem ganzen Globus anzuhalten. Das fordern Politiker und Experten allerdings nur gegenüber dem Süden.

Und es geschieht ja einiges, um Familienplanungsprojekte zu fördern. In einigen Gebieten konnte das Wachstum gebremst werden, in anderen sind die Ziffern aber weiterhin beängstigend.

Es kann nicht überraschen, daß Wachstumsfetischisten die Lösung des Bevölkerungswachstums im Wirt­schafts­wachstum erkannt haben wollen. Die Industrial­isierung habe im Norden den Bevölkerungs­zuwachs beschränkt, sie werde dies auch im Süden leisten.

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Ohne über die Kurzsichtigkeit einer solchen Position zu lamentieren, sei dazu festgehalten, daß selbst bei einer unbegrenzten ökologischen Belastbarkeit dieses Planeten der Denkansatz tödlich falsch wäre.

Sehen wir auch ab von dem historischen Vorlauf, ohne den die Industrialisierung Europas nicht zustande gekommen wäre, so bleibt die Tatsache, daß die gegenwärtigen hohen Bevölkerungswachstumsraten in der Dritten Welt einer umfassenden Industrialisierung im Wege stehen.

Zu Beginn der Industrialisierung wuchs die Bevölkerung im Norden um 1 Prozent im Jahr, heute liegt die Steigerung in Schwarzafrika bei 3, in Südasien bei 2,3 und im Schnitt in der Dritten Welt bei 2,1 Prozent. Denkbar ungünstige Voraussetzungen für Entwicklung. Viel zu große Teile des potentiellen Investitionskapitals müssen ausgegeben werden, um die tagtägliche soziale Katastrophe abzumildern. Wo sich trotz solcher Widrigkeiten Industrialisierung durchsetzt, stürzt sie fast überall Bevölkerungsmehrheiten ins Elend. In dieser Hinsicht folgt sie ganz dem europäischen Vorbild. Steigendes Bruttosozialprodukt und wachsendes Elend sind zwei Seiten derselben Medaille.

 

Nun mögen manche die Kindheits- und Halbstarkenphase des europäischen und nordamerikanischen Kapitalismus, die Wirtschaftshistoriker zu Recht nach der englischen Textilmetropole Manchester getauft haben, als historischen Preis heutigen Wohlstands betrachten. Und sie mögen die Frage stellen, warum nicht auch andere die Kosten des Fortschritts, von dem sie profitieren wollen, bezahlen sollten. Sie übersehen dabei nur, daß sie eine Dschungel­weisheit ausgraben, die in unserer so zivilisierten Welt gilt: Wer zuerst kommt, frißt zuerst.

Wer zuerst seine Wirtschaftskraft auf Kosten der Natur und des größeren Teils der Welt aufbaut, darf den Spätkommenden diktieren, wie sie sich zu entwickeln haben. Wer zuerst seine Wälder rodet, darf sich in kindlicher Unschuld baden und andere auffordern, den Fehler nicht zu wiederholen — wobei sich die Frage anschließen ließe, ob die vermutlich irreparablen Beschädigungen der europäischen Wälder und die bestenfalls halbherzigen Anstrengungen dagegen uns ein moralisches und politisches Recht geben, von anderen zu fordern, daß sie sich besser verhalten als wir.

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Wer zuerst die Luft verpestet hat, darf von den Nachzüglern fordern, sich auf diesem Feld des ökonomischen Fortschritts zurückzuhalten. Auch das erinnert an den Vorabend des Ersten Weltkriegs. Alles scheint verteilt, nur handelt es sich diesmal nicht um Kolonien und die Profite, die deren Ausbeutung versprach, sondern um die Quellen der menschlichen Existenz.

Und: Diesmal ist es nicht eine mächtige Minderheit — das bis an die Zähne bewaffnete Wilheminische Reich und das habsburgische Österreich-Ungarn —, die aufbegehrt. Diesmal ist es eine Achtzig-Prozent-Majorität, die wirklich keinen Platz an der Sonne findet, ganz im Unterschied zu den großdeutschen Militaristen, deren verbrecherischen Ziele der Hamburger Historiker Fritz Fischer* enthüllt hat. wikipedia  Fritz Fischer Historiker  (1908-1999)

Hegel schreibt, die Neuauflage einer Tragödie ende in einer Farce. In unserem Fall dürfte sich der Philosoph geirrt haben. Nicht einmal der abgekochteste Zyniker sollte dem fortgesetzten Massensterben mit allseits bekannten Ursachen komische Seiten abgewinnen können.

Das Wirtschaftswachstum im Süden, angeblich das Allheilmittel gegen die Unterentwicklung, ist vielerorts die Ursache des Bevölkerungswachstums. Nämlich überall dort, wo Verbesserungen im Lebensstandard und in der Gesundheitsversorgung nicht begleitet werden von höherer Bildung sowie besserer wirtschaftlicher wie sozialer Absicherung. Das gilt besonders für die Frauen, die nicht nur als Empfänger von Ratschlägen und Mitteln zur Empfängnis­verhütung betrachtet werden dürfen, sondern zuerst als Menschen, deren soziale Stellung gestärkt werden muß. Erst dann scheint Familienplanung ein aussichtsreiches Unterfangen zu sein.

In Pakistan etwa können nur wenige Frauen lesen und schreiben, und jede von ihnen bringt im Lauf ihres Lebens durchschnittlich 5,9 Kinder zur Welt, obwohl zahlreiche Familien­planungs­programme laufen. In Thailand dagegen können viele Frauen lesen und schreiben, und sie gebären im Mittel nur noch 2,2 Kinder.312 Allerdings ist die oft als beispielhaft herausgestellte Entwicklung in Thailand mit einem bitteren Beigeschmack versehen und nicht allein auf höhere Bildung zurückzuführen.

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In einer massiven Werbekampagne hat die Regierung nicht nur Verhütungsmittel in Massen zu subventionierten Preisen und rezeptfrei unters Volk gebracht, sondern auch Prämien ausgesetzt für Frauen, die verhüten. Sie bekommen einen Kredit, um Schweine kaufen oder einen Wassertank bezahlen zu können. Auf dem Tank verkündet ein Symbol der gesamten Nachbarschaft, nach welcher Methode das Paar verhütet.

Die Sterilisation bringt die meisten Punkte, dann folgt die Spirale, dann die Dreimonatsspritze, dann die Pille und so weiter und so fort.313 Würden diese Praktiken in Europa oder den USA eingerührt, ein Aufschrei der Empörung wäre gewiß. Nur die Reichen dürften Kinder kriegen, lautete dann der Vorwurf. Und: Wer arm sei, würde zur Verhütung erpreßt. Gilt diese Kritik für thailändische Frauen nicht?

Viele Menschen im Norden leiden unter einer Zwangsvorstellung, nämlich daß das Wachstum der Bevölkerung nur durch Druck gebremst werden könne. Das mag im Einzelfall und zeitlich begrenzt zutreffen. Es widerspricht aber grundlegenden Menschenrechten, zu denen nicht nur Feministinnen die »reproduktive Selbst­bestimmung« zählen. Dagegen verstoßen nicht nur die ungezählten ehelichen Vergewaltigungen, Ausdruck des ungebrochenen Patriarchats, sondern ebenso Zwangsmaßnahmen zur Förderung der Geburtenkontrolle. Nicht selten sind solche Auflagen ein Ergebnis des Drucks, den der reiche Norden auf den kredit­bedürftigen Süden ausübt und den dessen Mächtige an die Frauen weitergeben.

Aber auch wer dem latenten Rassismus gegenüber Frauen in Entwicklungsländern nachgibt, sollte die begrenzte Wirkung aller bisherigen Geburtenkontrolle erkennen.

In Indien haben Zwangssterilisationen zum Sturz von Indira Gandhi beigetragen und den Widerstand gegen die Bevölkerungskontrolle verstärkt. Die Erfolgsbilanzen der Regierung in Neu Delhi sind nach Meinung von Fachleuten weitgehend gefälscht. Jedenfalls haben alle möglichen Anreize das Wachstum der Bevölkerung nicht spürbar gebremst.

Die Pekinger Regierung geht am rigidesten vor. Aber selbst mit Zwangsabtreibungen bis zum achten Monat konnte sie es nicht verhindern, daß geschätzte zehn Millionen »Guerilla-Geburten« die offizielle Ein- beziehungsweise Zwei-Kind-Politik unterhöhlten.314

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Trotzdem gilt China als das einzige Land, in dem Familienplanungsprogramme Wirkung erzielt haben. In allen anderen Fällen scheinen positive Ergebnisse entgegen allen regierungsoffiziellen Erfolgsmeldungen eher Ursachen aufzuweisen, die wirtschaftlicher, politischer oder sozialer Natur sind.315 Es kommt immer wieder vor, daß ein Ziel erreicht oder teilweise erreicht wird entgegen oder trotz einer Politik, die beansprucht, dieses Ziel zu verwirklichen. Und dennoch preisen die Politiker dann ihren Erfolg.

Das ist zum einen Propaganda, aber zum anderen ein weiteres Indiz für die verkürzte Wahrnehmung, der wir uns nur unter größter Anstrengung entziehen können. Wer aber bringt den Willen zu dieser Anstrengung auf, wenn der vermeintliche Ursache-Wirkungs-Zusammenhang nützlich ist?

Würde die soziale Stellung der Frau in der Dritten Welt, vor allem auch in ihren Familien, gestärkt und könnten Frauen in allen Ländern selbst bestimmen, ob sie Kinder haben wollen oder keine — und wenn ja, wie viele —, dann würde nach Schätzungen die Geburtenrate in Afrika, Asien und Lateinamerika um etwa ein Drittel vermindert.316 Bis zum Jahr 2025 würden 1,3 Milliarden Menschen weniger geboren.

Auch wenn wir höchstes Mißtrauen in derlei Daten haben, halten wir fest, daß die Gleichstellung der Frau die Geburtenrate senkt. Wenn Frauen arbeiten dürfen und angemessene Arbeit finden, wenn sie über ein eigenes Einkommen verfügen, in ihren Familien ein gleiches Mitspracherecht haben, ihre Partnerschaft in freier Entscheidung beenden können, ihnen eine eigene Altersversorgung gewährt wird, wenn, kurz gesagt, das Patriarchat weltweit beseitigt wird, dann kommen weniger Kinder zu Welt. Es werden dann meistens Wunsch­kinder sein.

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    Wichtigste Aufgabe: Armutsbekämpfung   

 

Das schreibt sich und liest sich wie eine Weihnachtswunschliste der Spätaufklärung, weit von der Wirklich­keit entfernt. Es müßten nämlich, um diese Mindest­ziele zu erreichen, ganze Gesellschaften umgedreht werden. Es müßten die Arbeitswelt, die Kultur, die Bildung, die Religion, die Politik in Nord und Süd entpatriarchalisiert werden.

Da genügt es nicht, Gleichmacherspielchen mit Quotenhilfe zu treiben, da müßten sämtliche Leitbilder unserer Gesellschaft auf den Prüfstand, denn unsere Maximen haben anderen Lebenswelten gerade mal Nischen gelassen. Nur wenige Paradigmen würden bestehen, die abstrakten zuerst, die konkreten, handlungs­leitenden zuletzt, wenn überhaupt. Ja, gewiß: Freiheit, Gleichheit und Demokratie. Aber gewiß nicht: Eigennutz, Karrieredenken und Konsumwahn.

Dagegen wäre eine Revolution im Marxschen oder Leninschen Sinne ein Kinderspiel, denn diese wollten die Produktivkräfte von den Fesseln durch das privat-kapitalistische Eigentum befreien, die Entwicklung durch Wachstum entbremsen. Die Fortsetzung der Industriegesellschaft mit anderen Mitteln war ihr Programm. Industriegesellschaft, gleich welcher Prägung, heißt Wachstum. Und dessen Kraftwerk heißt Konkurrenz.

Sollte das Undenkbare, nämlich den Wachstumskurs zu beenden, tatsächlich gelingen, wäre noch fast gar nichts geschafft. Denn wahrscheinlich stehen wir so oder so spätestens in zwei Generationen am »point of no return«, wären also in der sich heute schon gewalttätig ankündigenden Lage, daß für eine Milliarden­mehrheit die Erde unbewohnbar geworden ist und es keine Hoffnung auf Besserung gibt, während eine reiche Minderheit sich in ihren Wohlstands­festungen verbarrikadiert — aber auch sie schon unter dem Druck der selbst losgetretenen Klimaverschlechterung.

Wen diese Beschreibung an die gegenwärtige Situation von Nord und Süd erinnert, mag daraus schließen, daß diese Zukunft bereits tief in der Gegenwart steckt.  detopia-2021: Die Zukunft hat schon begonnen (1952) Buch von Robert Jungk

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Das Hilfsmittel ist nicht das Wachstum, sondern die gerechte Verteilung der Einkommen in der Gesellschaft. Genauer gesagt: Was im Sinne sozialer Gerechtigkeit an Wachstum in der Dritten Welt erforderlich wäre, müßte von der ersten und zweiten Welt genommen werden. Vielleicht hat Robert McNamara, 1968 bis 1981 Präsident der Weltbank, an dieses Erfordernis gedacht, als er sagte, daß man den Golfschläger wegwerfen solle, bevor man Menschen wegwerfe. In Nationen, in denen die Mehrheit daran gehindert ist, politisch und wirtschaftlich mitzubestimmen, heißt Wachstum immer Bereicherung für ohnehin schon bevorzugte Minderheiten, während die Lebensweise von Mehrheiten alternativlos zerstört wird.

Bevölkerungswachstum vergrößert die Armut, Armut beschleunigt das Bevölkerungswachstum. Aber das Bevölkerungswachstum ist nicht die alleinige Ursache der Armut. So zeigt das brasilianische Beispiel, daß bei zunehmender Armut die Geburtenrate sinken kann und dies keineswegs den Weg ins Massenelend bremst.317 Wo Arbeitslosigkeit herrscht, schafft die Geburtenexplosion zusätzliche Arbeitslose. Es ist unerheblich, was am Anfang stand, da das entscheidende Kettenglied die Armut ist.

Langes Stillen ist eine überdurchschnittlich wirksame Methode der Empfängnisverhütung. Aber wie sollen Frauen ihren Kinder monatelang die Brust geben, wenn sie selbst nicht genug zu essen haben? Statt den Hunger zu beseitigen, verpaßt man den Frauen Verhütungsspritzen und die Pille.

Die Armut zu bekämpfen ist auch deshalb die wichtigste Aufgabe, weil das erhoffte Ende des exponentiellen Bevölk­erungswachstums selbst eine Katastrophe heraufbeschwören kann, auch wenn dieses bei größten Anstrengungen erst im Verlauf mehrerer Generationen denkbar wäre. 

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Wird im wohlhabenden Europa schon die Überalterung der Gesellschaften beklagt und entdecken wir im reichen Deutschland vor allem unter älteren Menschen bittere Armut, so wäre die Umkehrung der demographischen Pyramide auf ihre Spitze angesichts der sozialen Verhältnisse in der Dritten Welt gleichbedeutend mit einem Kontinente überziehenden Leichengebirge und dem Ruin ganzer Gesellschaften, deren Mittel nicht annähernd ausreichen würden, Milliarden von alten Menschen am Leben zu erhalten — Reste zerschlagener Dorf- und Familien­gemein­schaften auf durch Übernutzung und Dürre ausgepowerten Böden. Es sei denn, es gelingt wider Erwarten wenigstens in einigen Regionen, durch rapides Wirt­schafts­wachstum dem Niedergang einen anderen Zeitpunkt und ein anderes Gesicht zu geben. Ein weiteres Dilemma der Entwicklungs­politik, das in öffentlichen Erörterungen verschwiegen wird.

Familienplanung ohne Bekämpfung des Elends ist günstigstenfalls ein »tragisches Ablenkungs­manöver«318, wie der Dritte-Welt-Experte Ekkehard Launer schreibt.

DNB  Launer 

In der Tat, erforderlich im Kampf gegen den Hunger ist eben nicht der Abbau europäischer Nahrungsmittelüberschüsse durch ihren Transport in Elendsgebiete, sondern in erster Linie eine Landreform zugunsten Landloser und kleiner Bauern. Unter dem Druck der Abhängig­keit von den Industriestaaten haben viele Regierungen von Entwicklungsländern in den Tenor der Familien­planungsmaximen eingestimmt. Statt eine gerechtere Weltwirtschafts­ordnung durchzusetzen sowie Wirtschafts- und soziale Reformen zu Hause einzuleiten, lassen sie sich vom Norden alimentieren nach dem Motto: Kredite für Geburtenkontrolle.

Es verheißt den Mächtigen in der Dritten Welt Vorteile, die Stereotypen der Vorbilder aus den reichen Ländern nachzusprechen, weil bevölkerungs­politisches Wohlverhalten sie von politischem und sozialem Druck befreit, vor allem von dem Vorwurf, schuld an der Misere sei die Vermehrung der von ihnen Beherrschten, wie Ute Sprenger in ihrer Kritik an der Kairoer Welt­bevölkerungs­konferenz feststellt.319 Allerdings, und hier sei Ute Sprenger widersprochen, wird aus der Bevölkerungs­vermehrung und der mit ihr einhergehenden Bedrohung keine Schimäre, weil manche sich auf sie herausreden wollen.

Die Weltbevölkerungskonferenz in Kairo hat zum Ergebnis, daß die Mächtigen weitermachen können wie bisher — so das Resümee der Berner Entwicklungs­expertin Anna Sax.320

Das Thema »Entwicklung« sei praktisch untergegangen und auch der Ressourcenverbrauch des Nordens nicht zum Gegenstand der Debatte gemacht worden. Der verabschiedete Aktionsplan ist in der Tat nicht nur für islamische Fundamentalisten und Vatikan-Getreue ein Dokument größtmöglicher Unverbind­lichkeit. Die Vormacht­stellung des Nordens und die ungerechten Weltwirt­schafts­verhältnisse wurden nicht angetastet.

Vor allem ändert sich nichts an dem fatalen Umstand, daß weiterhin die Frauen das Hauptziel dieser speziellen Form der Entwicklungs­politik sind. Offen­sichtlich glauben die Familienplaner des Nordens, den Frauen des Südens Dinge empfehlen oder aufzwingen zu können, die bei uns schon im Einzelfall skandalträchtig sind. In den Anfangsjahren der Pille etwa wählten die Entwicklungspolitiker der USA Puerto Ricos Frauen als Versuchs­kaninchen aus. An ihnen wurden hochdosierte Pilleprototypen getestet, ohne daß sie aufgeklärt wurden über mögliche Nebenwirkungen. Außerdem wurden etwa vierzig Prozent der puerto-ricanischen Frauen sterilisiert, und dies keineswegs in jedem Fall freiwillig, wie 1984 ein internationales Tribunal in Amsterdam festgestellt hat.321

Die Bevölkerungskontrollpolitik des Nordens ist Wachstumspolitik. Sie soll dafür sorgen, daß die Wachstums­interessen der Industriestaaten nicht beeinträchtigt werden. Sie soll beitragen zu einer Entwicklung, die bedeutet, den letzten Winkel des blauen Planeten in den Weltmarkt einzubeziehen. Sie denkt nicht an einen Süd-Nord-Ausgleich, sondern an die Knappheit der Ressourcen. 

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß manchmal Menschen Dinge sagen, die andere Menschen nur denken. Der englische Medizinprofessor Maurice King etwa vertritt die These, die »Integrität des Ökosystems« sei der Maßstab der Gesundheitsversorgung. Um das Bevölkerungswachstum anzuhalten, sollten Kinder nicht mehr in den Genuß bestimmter einfacher Heilverfahren kommen.322 Offenkundig denken manche Bevölkerungs­kontrolleure nicht an Menschen, wenn sie an Bevölkerung denken.323

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 Von Christian von Ditfurth 1995 Wachstumswahn Weltbevölkerung