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3.3 - Grenzen des Bevölkerungswachstums: Hunger 

 

 

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Es gibt genug zu essen auf der Erde. In den Jahren 1988 bis 1990 hätte bei einer gerechten Verteilung der Nahrungs­mittel jeder Erdenbürger täglich 2700 Kalorien aufnehmen können.349 Die Getreide­produktion der Welt ist zwischen 1950 und 1985 von 700 Millionen Tonnen auf 2,2 Milliarden Tonnen gestiegen und hat zunächst mitgehalten mit der Bevölkerungs­vermehrung. Dann wuchs die Welt­bevölkerung schneller als die Getreide­ernte, die Anfang der neunziger Jahre bei knapp 2 Milliarden Tonnen stagnierte. Im Jahr 1994 nahm sie um 2,2 Prozent zu, weil die USA bessere Erträge erzielten.

Noch immer, aber gewiß nicht mehr lange, erzeugen wir genug Nahrungs­mittel, um jeden Menschen satt werden zu lassen.350 Nur haben einige zuviel und andere zuwenig.

Im vergangenen Vierteljahrhundert sind mehr als 200 Millionen Menschen verhungert oder an Krankheiten gestorben, die der Hunger hervorruft.351 1991 erklärte die Welternährungs­organisation FAO, daß in 24 Staaten gehungert werde. 55.000 Menschen verhungern jeden Tag, das sind 20 Millionen im Jahr. Es ist nicht genau geklärt, wie viele Menschen nicht genug zu essen haben, die Angaben schwanken zwischen 600 Millionen und einer Milliarde. Die FAO hat im Jahr 1994 800 Millionen dauerhaft unterernährte Menschen gezählt.352

50 Millionen Menschen sind akut vom Hunger bedroht. Mit steigender Tendenz, wenn auch der prozentuale Anteil der Hungernden an der Weltbevölkerung abzunehmen scheint. Glaubt man der Weltbank, werden im Jahr 2000 eine Milliarde Menschen hungern.353 Etwa die Hälfte der Hungernden hat nicht genug Kraft, um zu arbeiten.

Wieviel Nahrung braucht der Mensch?  

Nachdem Ernährungswissenschaftler lange Zeit den Protein­verbrauch als Hauptindikator bei der Beantwortung dieser Frage angesehen haben, erklären sie heute, daß der Kalorien- oder Energieverbrauch als Beurteilungs­maßstab wichtiger ist, zumal der menschliche Körper Eiweiß nur verarbeiten kann, wenn er genügend Energie aufgenommen hat.354 Wie viele Kalorien und Proteine ein Mensch täglich zu sich nehmen muß, um nicht zu hungern, variiert je nach Land, Rasse, Alter, Körpergröße.

Die Welternährungsorganisation hat sich einen Modellmann ausgedacht, er ist 20 bis 39 Jahre alt, wiegt 65 Kilogramm und leistet eine mittelschwere Arbeit während eines Achtstundentags. Er braucht 3000 Kalorien und 17 Gramm Proteine. Nach Angaben verschiedener Organisation der Vereinten Nationen benötigt ein Afrikaner je nach Herkunft mindestens 2240 bis 2360 Kalorien, ein nichtchinesischer Asiate 2216, ein Chinese 2180 und ein Lateinamerikaner wenigstens 2380 Kalorien.355 Die FAO spricht von Unterernährung, wenn das Bedarfsminimum, das für einen gesunden Körper und ein gesundes, aktives Leben erforderlich ist, unterschritten wird.356

Die Weltbevölkerung teilt sich in drei Gruppen: die mehr als 600 Millionen Ärmsten, die sich nicht ausreichend ernähren können. Die 3,4 Milliarden Menschen, die sich vor allem von Getreide ernähren und nur zwanzig Prozent ihrer Kalorien durch Fett aufnehmen. Und die 1,25 Milliarden Fleischesser, die vierzig Prozent ihrer Kalorien von Tierprodukten beziehen. Jeder von ihnen ißt dreimal soviel Fett wie ein Mensch der anderen beiden Gruppen.357

Wie immer sind die Kinder die ersten Opfer. Im Jahr 1990 sind 13 Millionen an Folgen von Unterernährung gestorben. Rund 192 Millionen Kinder der Erde leiden unter Untergewicht. Nach Angaben der WHO wachsen in Brasilien eine Million »Klein­wüchsige« auf, das sind Kinder, die bereits im Bauch der Mutter durch Mangelernährung geschädigt worden sind.358 Die Zellteilung im menschlichen Gehirn endet im ersten Jahr nach der Geburt. Bei Untersuchungen an Kindern, die in den ersten beiden Lebensjahren an Unterernährung gestorben waren, zeigte sich, daß ihre Gehirne schlechter ausgebildet waren als bei gut ernährten Gleichaltrigen.

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Bei Fällen von Marasmus lag die Zahl der Zellen bis zu sechzig Prozent unter Normalmaß. Derartige Schäden sind nicht reparierbar, selbst dann nicht, wenn die Kinder später ausreichend zu essen bekommen. Insofern gehen Schul­speisungs­programme am wichtigsten Ziel vorbei.359

Hilfloser und wehrloser können Menschen nicht sein: Sie sind schon verurteilt, bevor sie das Licht dieser Welt erblickt haben. Und das Urteil lautet »lebenslänglich«.

Schwerer Eiweißmangel führt zu einer namentlich fast unbekannten Krankheit, dem <Kwashiorkor>, den wir aber von Bildern gut kennen, weil er die Leber aufbläht und hungernden Kindern dadurch die Bäuche verdickt. Ist in der Nahrung zuwenig Eisen, ermüden die Betroffenen schnell, und ihre Leistungs­fähigkeit ist verringert. Wichtig ist außerdem eine ausreichende Versorgung mit Vitaminen. Dreizehn Millionen Kinder im Vorschulalter beispielsweise bekommen nicht genug Vitamin A, was die Augen beschädigt und sogar Blindheit bewirken kann, das Schicksal von jährlich einer halben Million Kindern.360

 

Warum gibt es Hunger?

 

Weil zu viele Menschen leben? Weil zuwenig Nahrungsmittel erzeugt werden? Für beide Erklärungen haben sich Verfechter gefunden. Die einen sehen in der Bevölkerungskontrolle den Schlüssel, um den Hunger zu besiegen. Die anderen setzen darauf, mehr Nahrungs­mittel zu produzieren. Beide Thesen sind aber falsch.

Die Antwort auf die Frage, warum so viele Menschen hungern, liegt in der Geschichte. Bevor Afrika, Latein­amerika und Asien in den Blick der europäischen Eroberer gerieten, herrschten dort keineswegs paradiesische Zustände, wie romantische Verklärung uns weismachen will. Hungerepidemien heutigen Ausmaßes aber waren unbekannt.

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In den heute wenigen verbliebenen Gebieten, in denen Gemeinschaften noch weitgehend ungestört von unserer Zivilisation leben können, entdecken wir viele Mechanismen, die gewährleisten, daß diese Gruppen stabil bleiben und ihr Auskommen finden. Ob Jäger oder Sammler, ob Hirtennomaden oder schon pflanzenanbauende Völker, sie leben im Einklang mit und mit Respekt vor der Natur. Warum sollten gerade in Afrika südlich der Sahara361 Menschen hungern, wo es doch genug zu jagen gab und vielerorts die Früchte von den Bäumen fielen. Natürlich, Dürre forderte Opfer, Krankheiten nicht minder, die Lebenserwartung lag weit unter der heutigen (trotz der Millionen Hungertoten im Kindesalter!). 

Die Menschen arbeiteten oder jagten, um sich zu ernähren, nicht, um sich zu bereichern. Bevor das Geld eingeführt war, war der Antrieb zur Ausbeutung von Natur und Mensch begrenzt, auch wenn wir zur Kenntnis nehmen, daß die Sklaverei keineswegs eine Erfindung der Römer war, sondern sich auch im vorkolonialen Afrika verbreitet hatte. Erst die moderne Technik erlaubte es dem Geld, alle ihm innewohnenden Tendenzen auszubilden.

Als die Kolonialmächte sich zuerst an den Küsten Afrikas, Lateinamerikas und Asiens festkrallten, Handels­stütz­punkte errichteten und den Sklavenhandel forcierten, begann die Ausrichtung ganzer Kontinente auf die Bedürfnisse der Eroberer. Briten, Niederländer, Belgier, Franzosen, Italiener oder Deutsche entzauberten als Verfechter des wissenschaftlichen Fortschritts den Medizinmann als personifizierten Aberglauben, entlarvten als Aufklärer die Mythen der in ihren Augen primitiven Eingeborenen, bekämpften als Missionare »Vielweiberei« und Kindestötung, zerstörten, kurz gesagt, alles, was den Afrikanern heilig war. 

Es war eine flächendeckende Entwertung aller Werte, ohne daß neue Wertsetzungen die gesellschaft­lichen Funktionen der zerschlagenen Mythen übernahmen. Wo die Eingeborenen sich nicht freiwillig unterwarfen, griffen die in ihrer Bewaffnung haushoch überlegenen Kolonisatoren zur Gewalt. Es waren aber weniger diese Gewaltakte als vielmehr die Durchsetzung ihrer zunehmend naturwissenschaftlich geprägten Denkweise und ihre Wirtschaftsform, die Afrikas Schicksal besiegelten:

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Bergwerke, um Afrikas Rohstoffe nutzbar zu machen, riesige Plantagen, um im früchtetreibenden Klima Obst und Gemüse für Europa und später Nordamerika anzubauen. Aus den afrikanischen Bauern, oft genug gewaltsam und durch Täuschung von ihrem Land vertrieben, wurden Plantagenarbeiter. Sie produzierten nun für Europas Bäuche.

So geschah es überall auf dem Erdball. Kuba etwa verwandelte sich in eine einzige Monokultur: Zucker, nur noch Zucker für Europa und die Vereinigten Staaten. Die Arbeiter wurde vier Monate gebraucht und dann weggeschickt, bis sie wieder Zuckerrohr schlagen mußten. Kuba hängt bis heute ab vom Zuckeranbau und Zuckerverkauf. Castros Untergang hat viele Ursachen, eine zentrale ist der Zucker, der ihm zu Sowjetzeiten das Überleben sicherte, ihm aber heute den Garaus macht, seit die Insel den süßen Stoff zu Weltmarktpreisen verkaufen muß.

Riesige Monokulturen bedecken weite Teile des Erdballs: Kaffee, Zucker, Kakao, Bananen, Kautschuk, Baumwolle, Erdnüsse.362 Manche Länder sind zu Produktionsstätten für ein oder zwei Exportfrüchte umfunktioniert worden. In der Schweiz werden 290.000 Hektar landwirtschaftlich genutzt, in der Dritten Welt aber 440.000 Hektar benötigt, um die Agrarprodukte zu erzeugen, die das reiche kleine Land einfuhrt.363

Die Verkaufsfrüchte erzeugenden Länder bauen auf die zweifelhaften Errungenschaften nördlicher Agrartechnik. Die aus der Industrie stammenden neuen Kenntnisse, Maschinen und Verfahren entwerten die beruflichen Fähigkeiten der Bauern. Experten, High-Tech und die Chemie übernehmen die Herrschaft über die Agrarproduktion.

Aber die Einfuhr modernen Geräts und Saatguts kostet Devisen.364 Grund genug, auf weiteren Flächen Exportfrüchte anzubauen zu Lasten der Selbstversorgung. Während der Hungerkrise in den siebziger Jahren nannte die UNO vierzig am meisten betroffene Länder — diese waren schon damals zu achtzig Prozent darauf angewiesen, Lebensmittel auszuführen.365 Solche Zustände sind mit der Titulierung obszön zurückhaltend bewertet.

Kleinbauern sind produktiver als teure Agrarmaschinen. Sie holen mehr heraus aus dem Land, weil sie dichter pflanzen und Monokulturen vermeiden.

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Statt dessen setzen sie verschiedene Feldfrüchte zusammen in den Boden, kombinieren die Acker­wirt­schaft mit Tierhaltung und schöpfen so ihre spärlichen Ressourcen effizient aus. Und: Im Gegensatz zu Großfarmen mit unzähligen Landarbeitern kämpfen Kleinbauern stets um ihr Überleben. Eine bessere Motivation kann es nicht geben.366

»Bananenrepublik« steht als Schlagwort für die Degradierung ganzer Länder zu Anhängseln des Weltmarkts. Bananenrepubliken gibt es im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn. Geprägt wurde der Begriff, als Ende des letzten, Anfang des jetzigen Jahrhunderts US-amerikanische Unternehmer begannen, Bananen in zentralamerikanischen Staaten anzubauen und zu exportieren. Bald hatten US-Fruchtkonzerne Zehntausende Hektar von Land in Bananenmonokulturen verwandelt. Aus Bauernfamilien machten sie ein Landproletariat, das auf den Plantagen arbeitete. Chiquita, Dole und Del Monte schufen den Hinterhof der USA, indem sie die gesamte Bananenwirtschaft kontrollierten, inklusive Eisenbahnlinien, Telefonnetzen, Häfen und Schiffen.367 Zwar hat sich diese schon sklavische Form nationaler Abhängigkeit mittlerweile gelockert. Aber an der Grundtatsache, nämlich der Unterwerfung ganzer Länder unter den Weltmarkt, hat sich nichts geändert.

Viele Staaten sind darauf angewiesen, ein, zwei, vielleicht drei Rohstoffe zu vermarkten. Honduras etwa hängt zu 35 Prozent vom Früchte- und zu 30 Prozent vom Kaffeeexport ab; Burkina Fasos Ausfuhren bestehen zu 38 Prozent aus Baumwolle und zu 35 Prozent aus Gold — die »Goldrepublik« zählt zu den ärmsten Ländern der Welt. Malawi ist praktisch eine einzige riesige Anbaufläche für Tabak, dessen Verkauf es 66 Prozent seiner Ausfuhreinnahmen verdankt. Ghana verdiente einst neunzig Prozent seiner Devisen durch den Export von Kakao. Schon eine geringere Abhängigkeit von einem Rohstoff würde ein Land in höchstem Maß verwundbar machen. Ghana leidet unter der verordneten Kakaomonokultur: 1985/86 nahm es 400 Millionen US-Dollar durch Kakao ein, 1989/90 waren es nur noch 150 Millionen Dollar.368   Der Grund: Der Kakaopreis auf dem Weltmarkt war zwischen 1978 und 1989 im jährlichen Durchschnitt um 6,7 Prozent gefallen.369

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Eine neue Bedrohung könnte sich als tödlich erweisen für die Rohstoffexporteure der Dritten Welt. Firmen in den USA, Japan, Großbritannien und den Niederlanden arbeiten an Verfahren, die dem Kaffee oder Kakao eigenen Geschmacksstoffe gentechnisch zu erzeugen.370 Noch schmeckt die künstliche Kakaobutter nicht, noch brauchen die Kaffeeanbieter Röstereien und Bohnen. Aber wenn gelingt, was sich ehrgeizige Unternehmen, die strikt den Spiegelregeln der Wirtschaft folgen, in ihre Forschungs­programme geschrieben haben, dann werden demnächst ganze Staaten bankrott sein. Es wäre die Krönung der Entwicklungspolitik, der Gipfel ihrer Bewegungslogik, daß sie zuerst arme Länder zum Zweck ihrer Entwicklung hineinzieht in die Weltwirtschaft, um sie dann wieder auszuspucken, wenn die ein oder zwei Produkte, die sie liefern, synthetisch billiger herzustellen sind. So wird wissenschaftlicher Fortschritt zur Quelle neuer Massenarmut und neuen Massenhungers von morgen.

Würden auf den Feldern der riesigen Plantagen Mais, Hirse oder andere angemessene Getreide- und Gemüsesorten angebaut für den eigenen Bedarf, würde die Nahrungsmittelversorgung wenigstens von der Angebotsseite her stark verbessert. Aber einheimische städtische Eliten, ausländische Fruchtkompanien und Spekulanten haben die Landwirtschaft in der Dritten Welt in die Weltwirtschaft katapultiert. Gigantische Produktivitätsfortschritte sind zu verzeichnen. Der Hunger ist dadurch zur Epidemie geworden.

Patrick Marnham hat das Verhalten afrikanischer Eliten beobachtet und kommt zu deprimierenden Schlußfolgerungen: Die Plantagen­wirtschaft erlaubt einer kleinen Gruppe Begünstigter, einen vergleichsweise aufwendigen Lebensstil zu führen, und zwar in den Städten. Würden statt Exportfrüchten Nahrungsmittel für den eigenen Markt angebaut, verlören viele Funktionäre der Plantagenwirtschaft ihre lukrativen Jobs, die aus Deviseneinnahmen in Europa oder Nordamerika finanziert werden.

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Wer mehr verdient, kann seine Angehörigen nicht nur gut ernähren, sondern ihnen auch Bildung bezahlen, die in Afrika vielerorts einem ganz speziellen Zweck dient: »In vielen afrikanischen Ländern ist höhere Schulbildung ein Prozeß, der eine kleine, aber fähige Gruppe dazu bringt, sich Tätigkeiten zuzuwenden, die verhindern, daß die Mehrheit der Bevölkerung genug zu essen hat.«371)

 

Wo früher Bauern Hirse zum eigenen Verbrauch oder zum Tausch mit den Nachbarn oder mit Nomaden anbauten, strapazieren heute Erdnüsse oder Kaffee die Böden, verbraucht dieser Landbau unvorstellbare Mengen kostbaren Wassers, sorgen Gifte dafür, daß Insekten den Ertrag nicht schmälern. Die Erzeugung von Exportfrüchten folgt dem Vorbild des Teufelskreises. Wird die Produktion ausgedehnt, wird Land, das zuvor zeitweise brachlag und von Nomadenherden gedüngt wurde, ununterbrochen bebaut. Die Böden laugen bald aus, weshalb die dem Export dienende Anbaufläche erweitert wird zu Lasten der Eigenversorgung. Kunstdünger ist teuer, und so wächst der Druck zur Flächenausdehnung. Wo Kunstdünger eingesetzt wird, wird dieser bald aus dem Boden ausgewaschen.372  Da die Bauern aufgrund der Exportfruchtproduktion weniger Getreide anbauen, können sie weniger Milch bei den Nomaden eintauschen.

Die beiden amerikanischen Agrarexperten Collins und Lappé ziehen die folgende Schlußfolgerung aus diesem Circulus vitiosus: »Wie man sich denken kann, ist das Ergebnis Hunger für die Bauern wie für die Hirten, der Hungertod von Tausenden von Tieren — und eine 'heranrückende Wüste'.«373

Es ist heute noch nicht die Menschenzahl, die die Böden ruiniert, es sind die Eigentumsverhältnisse und die moderne Produktionsweise, die den Hunger schaffen. Bertolt Brecht schreibt: »Hungersnöte kommen nicht von allein, sie werden von der Getreidebörse organisiert.« Hinzu gesellt sich eine Entwicklungshilfe, die einer selbstgenügsamen Wirtschaft den Stempel der Rückständigkeit aufdrückt und den Todesstoß versetzt. Sinnigerweise hungern immer nur die einstigen Nahrungsmittelproduzenten auf dem Land, nie die Bevölkerung in den Städten374, wo die politischen Entscheidungen fallen und die Profiteure des Wachstumswahns leben.

Dies festzustellen bedeutet keineswegs, »böse Buben« zu entlarven, sondern bestätigt nur die universelle Gültigkeit unserer, These von der alle Einsichten niederwalzenden Kraft der Lebenswirklichkeit, die allem außerhalb des eigenen Geltungsbereichs trotzt.

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      Parasitäre Eßgewohnheiten des Nordens    

 

Die FAO hat Böden und Klimabedingungen in 117 Entwicklungsländern untersucht und ist dabei zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen. Nur 19 dieser Staaten mit insgesamt 104 Millionen Einwohnern seien im Jahr 2000 nicht in der Lage, die eigene Bevölkerung zu ernähren. Sie alle könnten ihre Landwirtschafts­produktion zum Teil erheblich steigern und die Nahrungsmittelversorgung verbessern.375 Nur 44 Prozent der dafür geeigneten Böden werden heute landwirtschaftlich genutzt. Das liegt auch daran, daß viele Großgrund­besitzer ihre Böden brachliegen lassen, weil Landwirtschaft weniger Profit abwirft als Bodenspekulation.376 Es ist nicht naturgegeben, daß gehungert wird.

Gewiß, die Dauerhungerepidemie in Afrika und anderswo wird gefördert durch die bedrohliche Tatsache, daß in vielen Regionen die Nahrungsmittelerzeugung sinkt, während die Bevölkerungszahl steigt. Von 1970 bis 1985 ist beispielsweise die Nahrungsmittelproduktion in Afrika südlich der Sahara um ein Fünftel zurück­gegangen, während die Menschenzahl um drei Prozent jährlich wuchs.377

Warum wurden weniger Nahrungsmittel produziert?

Weil die Wirtschaft Afrikas nicht mehr dazu dient, die Afrikaner zu ernähren, sondern uns. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die afrikanische Kaffeeproduktion mehr als vervierfacht, die Tee-Ernte wuchs um das Sechsfache, und es wurden doppelt soviel Kakao und Baumwolle produziert.378 Der Erfolgsmaßstab dieser Wirtschaft ist der Profit, der im Ausland und in ausländischer Währung erzielt wird.

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Während der Sahel hungerte und die reichen Staaten Getreide, Milchpulver und andere Hilfsgüter nach Afrika schafften, nahmen die Schiffe, die die Hilfsgüter befördert hatten, große Mengen von Exportfrüchten, aber auch Fleisch mit nach Europa und in die USA. Dazu Baumwollkerne und Erdnüsse, mit denen in den Vereinig­ten Staaten unter anderem das Vieh gefüttert wird. So wird mit Nahrungsmitteln aus Hungerländern die Milchschwemme vergrößert, aus der dann das Milchpulver hergestellt wird, das bei der nächsten Katastrophe in den Hilfsgebieten landet.379 Das ist zwar wahnsinnig, aber es ist ein profitables Geschäft.

Wenn über Hunger und Bevölkerungswachstum diskutiert wird, fällt früher oder später der Name Bangladesh. Collins und Lappe, denen ich viele Einsichten verdanke, gehen davon aus, daß sogar dieses dicht bevölkerte Land genügend Nahrungsmittel produziert, um alle Einwohner zu ernähren. Gehungert wird trotzdem, weil die Reichen ein Vielfaches dessen essen, was den Armen verfügbar ist. Ein Drittel des gesamten vermarkteten Getreides wird gehortet und über die Grenze nach Indien geschmuggelt, wo höhere Preise verlangt werden können. 1974 verhungerten unzählige Menschen nach Überschwemmungen, während vier Millionen Tonnen Reis keinen Absatz fanden. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist zu arm, um Nahrungsmittel zu kaufen. Es herrscht in Bangladesh kein Mangel an Eßbarem, sondern an Geld, um dieses Eßbare zu kaufen.380

Bangladesh ist überall — wie die Armut, die die Wurzel des Hungers ist. Wer Geld hat, kann sich den Tisch reich decken. Wer keines oder zuwenig hat, hungert. Wer den Hunger bekämpfen will, muß die Armut bekämpfen. Sie ist seine Hauptursache381, die allerdings von anderen Faktoren verschärft wird.

Gehungert wird auch, weil die Menschen im Norden parasitäre Eßgewohnheiten pflegen. Weil in der Marktwirtschaft der Gewinn die Musik macht, wird Fleisch erzeugt, damit wir unseren exorbitanten Verbrauch an Tierprodukten zu Lasten unserer Gesundheit pflegen können — die ganze Welt ist ein Markt für unseren kleinen Hunger zwischendurch und den großen Hunger um so mehr. Ein US-Amerikaner ißt jeden Tag 220 Gramm getreidegefütterten Fleisches.

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Würden alle Menschen diesem Lebensstil frönen, müßte die Weltgetreideernte zweieinhalbmal höher ausfallen als heute.382

In Honduras hatte sich in den Jahren 1965 bis 1975 die Fleischproduktion verdoppelt, der Fleischver­brauch sank aber von sechs auf fünf Kilogramm jährlich, weil das Rindfleisch aus dem schuldengeplagten Land in die USA an Fast-Food-Ketten verkauft wurde.383 Die US-amerikanischen Fleischimporte wachsen pausenlos, während der Fleischkonsum der meisten Menschen in den Lieferländern unter dem liegt, was eine Hauskatze in den Vereinigten Staaten genüßlich verspeist.384

Dem Fleischkonsum dient bereits mehr als ein Drittel des Getreides, das weltweit geerntet wird. Zirka sechzehn Milliarden Tiere sind domestiziert und erzeugen, ganz nebenbei, das gefährliche Treibhausgas Methan.385

Von besonderem Wert ist aufgrund ihres Eiweißreichtums die Sojabohne, deren Anbaufläche sich in den letzten vier Jahrzehnten von 15 Millionen auf 55 Millionen Hektar ausgeweitet hat. In den USA verbrauchen die Farmer knapp sieben Kilogramm Mais und Sojabohnen, um ein Kilogramm Schweinefleisch zu erzeugen. In der Bilanz meist unberücksichtigt bleiben die Kosten, die entstehen durch die Anwendung von Pflanzen­schutz­mitteln und Dünger. Außerdem müssen 30.000 Kilokalorien Energie aus fossilen Brennstoffen verbrannt werden, um dieses eine Kilo Schweinefleisch zu produzieren.386

In armen Länder, in denen die Menschen vor allem von Getreide leben, genügen 200 Kilogramm pro Kopf und Jahr, um nicht zu hungern. Beginnen die Menschen aber Fleisch zu verzehren, dann explodiert der Getreide­verbrauch förmlich. Im sich industrialisierenden Taiwan versechsfachte sich der Absatz von Tierprodukten zwischen 1950 und 1990. Das trieb den Getreidebedarf von 170 auf 390 Kilogramm pro Kopf. 1950 exportierte Taiwan Getreide, heute führt es fast drei Viertel seines Bedarfs ein, vor allem um Tiere zu füttern.

Die gleiche Entwicklung ist in der Dritten Welt insgesamt zu beobachten. Bis Anfang der sechziger Jahre exportierte die Dritte Welt Getreide.

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Seit Ende der siebziger Jahre führen die Entwicklungsländer Getreide ein. Laut Angaben der Welter­nähr­ungs­organisation FAO dient der Großteil der Einfuhren von Mais, Gerste, Hafer und Sorghum der Tierfütterung. In Mexiko zum Beispiel geht die Anbaufläche für Grundnahrungsmittel stetig zurück, während immer mehr Viehfutter angebaut wird, um die Stadtbevölkerung mit Fleisch zu versorgen. 30 Prozent der Getreideernte Mexikos landet inzwischen in Tiermägen, während 22 Prozent der Bevölkerung unterernährt sind.387 Vierzig Prozent der Weltgetreideernte wird an Vieh verfüttert, in den USA sind es sogar neunzig Prozent des auf dem Inlandsmarkt verbrauchten Getreides.388 Nicht Not entscheidet in der Marktwirtschaft, was für wen produziert wird, sondern Kaufkraft. Wer kein Geld hat, hungert. So einfach ist das.

Der Nord-Süd-Experte Ekkehard Launer berichtet Absurdes aus dem Sudan. Diesem von Hunger und Krieg heimgesuchten Land lieferte die Europäische Gemeinschaft 1992 mehr als 230.000 Tonnen Lebensmittel­hilfe. Gleichzeitig exportierte der Sudan Fleisch in den Irak, 50.000 Tonnen Hirse nach Libyen und bis zu 100.000 Tonnen dieses Getreides an die EG — als Viehfutter. Schon zwei Jahre zuvor hatte die EG dem Sudan zu Sonderkonditionen 98.000 Tonnen Hirse abgekauft, während dieser von der Weltbank 335.000 Tonnen Nahrungs­mittelhilfe erhielt. Die Regierung in Karthoum verdiente sich auf diese Weise mit Unterstützung von EG und Weltbank die Devisen für den Bürgerkrieg.389

Wo Krieg geführt wird, leidet die Landwirtschaft. Er raubt ihr die Arbeitskräfte, verwüstet Landstriche. Minen in Straßen und Ackern gefährden die Bauern. Soldaten zerstören Dörfer und verschleppen ihre Bewohner, und so bleiben Felder unbebaut. Wo sich die Chance bietet, setzen die kriegführenden Parteien Hunger als Waffe ein. Wenn sich Dürre dem Krieg hinzugesellt, sind die Katastrophen perfekt. So war es in Äthiopien, Somalia, Liberia, Eritrea, Angola, Mosambik und Liberia. Wenn die Kameras uns das unendliche Leid ins Wohnzimmer liefern, dann begreifen wir nicht, warum arme Menschen auch noch Krieg führen müssen.

Und vor allem, warum arme Staaten Waffen kaufen. In der Tat haben viele Entwicklungsländer grotesk überhöhte Rüstungsetats, weshalb viele Politiker fordern, Entwicklungshilfe zu koppeln mit der Forderung, die Militärhaushalte zu verringern. Wir dürfen bei der bei dieser Gelegenheit aufkommenden Empörung den Umstand nicht vergessen, daß wir »denen da unten« die Panzer, Gewehre und Kanonen verkauft haben, mit denen sie sich gegenseitig umbringen. Und daß nicht wenige Rüstungsschmieden prächtig daran verdienen und viele Arbeitsplätze auf diese Weise gesichert werden.

Im Vorgriff auf später zu erörternde ökologische Bedrohungen sei hier bei der Aufzählung der den Hunger verschärfenden Faktoren das Voranschreiten der Wüsten genannt. Wo sich fruchtbarer Boden zuerst in Steppe, dann in Wüste verwandelt, geht Ackerland unwiederbringlich verloren. Die ungeheuren Leistungen der israelischen Landwirtschaft, der es gelang, der Wüste Land zu entreißen, sind in den meisten Regionen der Erde wegen der enormen Kosten nicht wiederholbar und ohnehin begrenzt durch den extremen Wasser- und Energieverbrauch, der bei der Entwüstung anfällt.

Die womöglich bereits eingetretene Klimaerwärmung wird voraussichtlich die Versteppung und Desertifikation vorantreiben. Nach wissenschaftlichen Berechnungen dürfte die Getreideernte in den heutigen Anbaugebieten zurückgehen, wenn die durchschnittliche Temperatur in den nächsten drei Jahrzehnten um einige Grad Celsius steigt.390  Für die Länder, die am Tropf der amerikanischen und europäischen Agrarmultis und der Nahrungs­mittel­hilfe hängen, bedeutet das das Todesurteil. Nachdem die Nahrungsmittelhilfe sich selbst unentbehrlich gemacht hat, wird sie den Abhängigen entzogen, sobald Getreide knapp und teuer wird. Die Süchtigen haben nicht einmal die Chance des goldenen Schusses.

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 Von Christian von Ditfurth 1995