Bevölkerung      Start    Weiter 

3.4 - Rezepte gegen den Hunger 

  Anmerk

 

206-227

Die Perspektiven sind düster. Denn so sehr bis heute der Verweis auf das Bevölkerungs­wachstum als Hunger­ursache meist einseitig verkürzt ist oder als Vor­wand dient, um die entscheidenden Ursachen zu verbergen, künftig werden Bodenknappheit und Nahrungs­mittel­mangel die Not eines großen Teils der Mensch­heit erhöhen. Das Bevölkerungs­wachstum fordert bis zum Jahr 2000 zusätzlich achtzig Millionen Hektar landwirt­schaft­liche Nutzfläche, mehr als das Doppelte des Territoriums des vereinten Deutschlands. Gleichzeitig schränkt Bodenerosion die bewirtschaft­baren Flächen weiter ein. 

Erosion ist ein natürlicher Vorgang. Kritisch wird die Lage aber, wenn sie schneller voranschreitet, als neuer Boden sich bilden kann, weil Mensch und Tier ihn überbeanspruchen. Nach Schätzungen werden bereits 35 Prozent der Ackerflächen der Welt von Erosion heimgesucht.391 In Afrika drohen 60 Prozent der Böden zu erodieren, und 20 Prozent stehen vor akuter Verwüstung.392  Derartige Verluste kosten Wald. Immer mehr Bäume werden gefällt, um Boden­verluste und Bevölkerungswachstum durch Rodung zu kompensieren. Dadurch wächst die Anbaufläche in Afrika sogar jährlich um zwei Prozent, während 0,5 Prozent des Bodens verwüsten. 

Und doch wird die afrikanische Nahrungsmittelproduktion pro Kopf weiter sinken. Im Ergebnis wird es nach Schätzungen von Experten im Jahr 2050 in Afrika keinen Wald mehr geben.393 Was soll spätestens dann, in vielen Regionen aber schon heute, gegen das Vordringen der Wüste helfen? Ihren Sieg werden keine gentechnisch erzeugte Superpflanze und kein Dünger aufhalten.

Das amerikanische <World Watch Institute> hat 1990 errechnet, daß künftig immer weniger landwirtschaft­liche Anbaufläche pro Kopf genutzt werden kann. Standen 1950 durchschnittlich 0,23 Hektar Anbaufläche pro Kopf zur Verfügung, so sind es heute 0,14 Hektar und werden es im Jahr 2000 0,12 Hektar sein.394 Ein Fünffaches dessen würde pro Mensch gebraucht, wenn Anbaumethoden der traditionellen Landwirtschaft ange­wendet würden.

Die Grenzen des wachstumsorientierten Agrarfortschritts sind in vielen Gebieten längst überschritten. Verpestetes Wasser, ausgelaugte Böden, Erosion, Verwüstung sind die Folgen. Die so entstehenden Boden­verluste bewirken wiederum, daß noch mehr Dünger und Pestizide eingesetzt werden — diese Gift-Erosions-Spirale wird auch künftig die landwirtschaftliche Nutzfläche einschränken.

Dazu trägt außerdem der Treibhauseffekt bei. Das Klima in Hungergebieten ändert sich nicht nur durch in Industriestaaten ausgelöste Prozesse, sondern auch, weil die Holzreserven überbeansprucht werden. Wenn die Feuchtwälder abgeholzt werden, verringert sich das Wasser, das der Wind in Trocken­gebiete tragen kann. Aber nicht nur die Tropenwälder sind gefährdet, auch andere Wälder in vielen Teilen der Welt, weil mehr Bäume als Feuerholz verbrannt werden, als nachwachsen können. Die Hälfte der Weltbevölkerung heizt und kocht mit Holz. Je knapper die Holzreserven werden, desto weiter müssen die Menschen, meist sind es die Frauen, laufen, um Brennmaterial zu finden. Je weiter sie laufen müssen, desto weniger Zeit haben sie für die Feldarbeit. Je weniger Zeit sie für die Feldarbeit haben, desto weniger können sie anbauen und ernten. Wo die Entwaldung voranschreitet, werden die meisten unterernährten Kinder gezählt.395

Die industrielle Landwirtschaft findet eine weitere Wachstumsgrenze in den begrenzten Ressourcen. Wenn das Öl knapp und teuer wird, wird auch die Nahrungsmittelproduktion leiden. Anbau, Ernte und Verarbeitung von Getreide sind heutzutage nicht denkbar ohne Verwendung fossiler Brennstoffe. Im Gegensatz zur vorindus­triellen braucht die moderne Landwirtschaft mehr Energie, als sie liefert.

207


»In jedem Brotlaib steckt heute die Fremdenergie eines halben Kilogramms Erdöl«, mutmaßt der Wissen­schafts­publizist Hans-Dieter Heck.396 Knapp eine Tonne Erdöl oder eine entsprechende Menge Erdgas ist vonnöten, um eine Tonne Stickstoffdünger zu produzieren. Die Chemieindustrie verwendet Öl außerdem, um Pflanzenschutzmittel herzustellen. Diesen Brennstoff verwenden nicht zuletzt Bewässerungssysteme, Traktoren, Mähdrescher, Mühlen und Unternehmen, die Getreide oder Früchte weiterverarbeiten. Die Club-of-Rome-Berichterstatter Alexander King und Bertrand Schneider haben den Sachverhalt in einem treffenden Bild umschrieben:

»Die gewaltige Steigerung der weltweiten Nahrungsmittelproduktion ist gleichbedeutend mit der Umwandlung von Erdöl in eßbares Getreide mit Hilfe der Photosynthese.«397)

Professor David Pimentel, ein angesehener US-amerikanischer Energieexperte, hat ausgerechnet, daß die Ernährung von vier Milliarden Menschen durch eine moderne intensive Landwirtschaft eine Energiemenge erfordern würde, die einem Äquivalent von 4,5 Milliarden Liter Brennstoff entspricht. Pro Tag! Wenn man zu diesem Zweck ausschließlich Erdöl einsetzte, wären binnen knapp dreißig Jahren alle bekannten Vorräte aufgebraucht. Ein anderer Fachmann aus den USA, Georg Borgstrom, erklärt: »Ein globales Ernährungs­system mit dem Grad des Energieaufwands des amerikanischen Ernährungssystems würde achtzig Prozent des jetzigen Weltenergieverbrauchs erfordern.« 398) 

So unentbehrlich wie Öl sind Phosphate und andere Mineralstoffe, die benötigt werden, um Kunstdünger herzustellen. Auch ihre Vorkommen sind nicht unendlich.399 Ohne Kunstdünger aber wären die vergangenen, teuer erkauften Erfolge der Nahrungs­mittel­produktion nicht möglich gewesen. Allerdings wachsen die Ernten nicht proportional mit den eingesetzten Mengen des Düngers. Es muß immer mehr davon eingesetzt werden, um eine bescheidene Steigerung der Produktion zu erreichen.

Über eine Grenze des Fortschritts wird kaum gesprochen. Shridath Ramphai verweist auf eine wissen­schaft­liche Studie, die nachweist, daß die Menschen schon heute vierzig Prozent der lebenserhaltenden Produkte der Photosynthese nutzen. 

208


In der Photosynthese erzeugt die Natur mit Hilfe des Lichts Nahrung. Ist ein Ökosystem stabil, dann werden Verluste ausgeglichen durch Zuwachs. Das wird spätestens dann nicht mehr möglich sein, wenn die Menschenzahl sich verdoppelt hat und achtzig Prozent der von Sonne und Pflanzen erzeugten Nährstoffe beansprucht.400 Sagen wir im Klartext, was die Studie ankündigt: Wir fressen die Erde kahl.

Die auf Kunstdünger bauende Landwirtschaft findet ihre teilweise schon überschrittenen Grenzen in den ökologischen Folgen dieser Produktionsweise. Die Zerstörungen sind das Ergebnis der »grünen Revolution«, der Industrialisierung der Landwirtschaft in den sechziger und siebziger Jahren. Die traurige Hinter­lassen­schaft dieses Wachstumsschubs kennen wir heute. Der Hunger ist geblieben, und die Landwirtschaft hat die eigenen Grundlagen nachhaltig beschädigt. Es ist aber nicht so, daß wir angesichts solcher fatalen Ergebnisse eines Riesenentwicklungsprojekts nach dem Denkfehler fragen, der dies bewirkt hat. Nein, ich werde später schildern, wie wir auf dem besten Wege sind, auf die erste Agrarrevolution eine zweite, noch gewaltigere folgen zu lassen. Diese Revolutionen fressen nicht nur ihre Kinder.

 

     Produzieren, was das Zeug hält    

 

Die erste Revolution ist, wie die Nahrungsmittelhilfe, ein Kind des kalten Kriegs. Ihr Antrieb war die Überzeugung der USA, daß Nahrungs­mittel­knappheit die Ursache des Hungers und der Hunger die Ursache für die Unzufriedenheit vieler Menschen in vielen Ländern war. Und da Washington zu Recht befürchtete, soziale Unruhen könnten dem Kommunismus weitere Staaten in die Arme treiben, setzten die Amerikaner darauf, mehr Nahrungsmittel herzustellen. 

Überhaupt war in den sechziger Jahren der Fortschritts­glaube ungebrochen, und der Wachstumsfetischismus feierte Triumphe. Der als unterentwickelt entdeckte Großteil der Erde brauchte den »American way of life«, und das hieß produzieren, was das Zeug hielt. Viel ist gut, mehr ist besser, und wer am meisten produziert und konsumiert, ist der Größte.

209


1966 wurden neue Getreidehochertragssorten aus den Labors weltweit eingeführt. Sie waren nicht nur ergiebiger, sondern konnten auch mehr Dünger und Pflanzen­schutzmittel vertragen als die natürlichen Varietäten. Wie später in der zweiten Agrarrevolution stand in dieser ersten das <International Rice Research Institute> (IRRI) der UNO, nahe der philippinischen Hauptstadt Manila gelegen, am Treibriemen. Es entwickelte »Halbzwerg«-Reissorten, die kürzer wuchsen und daher nicht mehr so häufig umknickten. Aber jede der kürzeren Pflanzen trug mehr Rispen. Und sie brauchte statt 150 bis 180 Tage nur noch 90 bis 120 Tage, um zu reifen. Große Wachstumserfolge konnten ebenso beim Weizen erzielt werden.

Aber der Preis auch für diesen Fortschritt war hoch. 

Bald entdeckten die Agrarwissenschaftler, daß der Wunderreis des Typs IR 8 doch nicht so wunderbar war, wie sie geglaubt hatten. Überall in der Welt erkrankte IR 8 an einem Virus, gegen den die Chemie kein Gift anbieten konnte. Also schuf das IRRI weitere Reissorten, die aber alle nach einiger Zeit ihnen angezüchtete Eigenschaften verloren. Und der Kunstreis schmeckte nicht nur schlechter als die natürlichen Sorten, er mußte darüber hinaus gegen Insekten und Wildkräuter verteidigt werden. So eroberten der Stickstoffdünger und die Pestizide neue Märkte und gelangten in Böden, die frei gewesen waren von ihnen. Der Agrarfachmann Winfried Scheewe, dessen Darstellung ich hier folge, vermutet finstere Hintergründe: Die Märkte für Düngemittel und Pestizide in den USA und Europa seien in den sechziger Jahren schon weitgehend gesättigt gewesen und die Konzerne der Agrarchemie auf der Suche nach neuen Absatzregionen. Scheewe:

»Die Frage, ob die chemische Industrie IRRI und ähnliche Institute direkt oder indirekt gefördert hat, ist inzwischen nebensächlich. Die Arbeit des IRRI hat ihr auf jeden Fall den Weg in die Reisfelder geebnet.«401

Collins und Lappe berichten, daß die Welternährungsorganisation FAO ihre Zusammenarbeit mit Unternehmen der Agrochemie institutionalisiert hat. So stehen auf der Beraterliste der FAO-Arbeitsgruppe Schädlings­bekämpf­ungsmittel so illustre Firmen wie BASF, Bayer, Ciba-Geigy, Merck und Sandoz.402

210


Die Säulen der »grünen Revolution« waren neues Saatgut, Kunstdünger und Pestizide. Auf sie gestützt, unterwarf die Industrie des Nordens die Landwirtschaft im Süden. Schon lange werden neben Weizen und Reis Kakao, Bananen, Kaffee oder Baumwolle mit den Segnungen unserer Chemie bedacht. So beeindruckende Ernten basieren auf Dünger und Gift — mit nicht minder aufsehenerregenden ökologischen Folgen. Zwischen 1968 und 1988 stieg die Menge des eingesetzten Kunstdüngers von 56 Millionen auf 139 Millionen Tonnen. Im Jahr 1990 betrug der Pestizid-Weltumsatz etwa 36 Milliarden Mark, die deutschen Hersteller hatten daran einen Anteil von zirka einem Viertel. Achtzig Prozent der in Deutschland hergestellten Pflanzenschutzmittel werden exportiert, und etwa ein Viertel der Ausfuhren landet in der Dritten Welt.403 Im mindestens entsprechenden Ausmaß ist die Belastung von Flüssen, Seen und Meeren mit Nitraten und Phosphaten gewachsen. Hinzu kommen zwei Millionen Tonnen Pestizide in jedem Jahr, die keineswegs nur Pflanzen schützen, sondern auch Tiere und Menschen schädigen.

Noch heute werden zum Beispiel in mittelamerikanischen Costa Rica jedes Jahr mehr als 12.000 Tonnen Pestizide über den Bananenplantagen versprüht. Darunter auch Stoffe, die so gefährlich sind, daß sie bei uns längst verboten wurden.404 Allein im Baumwollanbau werden in der Dritten Welt 150.000 Tonnen Pflanzenschutzmittel eingesetzt, von denen einige ebenfalls zum sogenannten »dreckigen Dutzend« gehören. Fungizide sollen Bakterien- und Pilzerkrankungen verhindern, Herbizide und Insektizide sollen Wildkräuter und Schädlinge töten. Sie töten aber nicht zuletzt Menschen.405

In der Heimat des IRRI sind mit der Revolution die versprühten Pestizidmengen enorm gewachsen; seit 1977 haben sie sich vervierfacht. In früheren Zeiten konnte die Bevölkerung die Fische auf den Reisfeldern und in den Bewässerungsanlagen noch essen, sie fehlen heute auf dem Speiseplan.406

211


Der russische Umweltschützer Alexej Jakoblow hat nachgewiesen, daß manche Pestizide schon in geringster Dosierung das Verhalten von Tieren ändern können. In einem Fall hat er gezeigt, daß eine kaum meßbare Konzentration des Giftes Sevin Fischschwärme beeinflußt, indem es ihren Bewegungen die Koordination raubt.

Superreis und Superweizen brauchen immer mehr Supergift. Inzwischen sind mehr als 500 Insekten sowie Bakterien, Pilze und Wildkräuter ganz oder teilweise resistent geworden.407 Obwohl immer neue Gifte entwickelt werden, ist in den letzten Jahren die Zahl der resistenten Schädlinge gewachsen. Dies und die Zunahme der Schädlingszahl bewirkt, daß größere Mengen von Insektiziden verwendet werden müssen.

Wo früher ein natürliches Gleichgewicht von »nützlichen« und »schädlichen« Insekten herrschte, werden heute mit den »schädlichen« die »nützlichen« gleich mit umgebracht. Wenn die natürlichen Feinde der Schädlinge getötet werden, erben die Menschen deren Arbeit. Sobald der Pestizideinsatz vorbei ist, beginnen sich die Insektenbestände zu erholen. Dies gelingt den Schädlingen besser als jenen Insekten, von denen sie gefressen werden, da diese in der Minderzahl sind. Es verschieben sich also im Lauf der Zeit die Proportionen. Die ohnehin in der Überzahl befindlichen Schädlinge stoßen auf immer weniger Gegenwehr und vermehren sich rapide. In großen Populationen bilden sich leichter Resistenzen heraus als in kleinen, mit denen die biologische Evolution weniger experimentieren kann. Pflanzenfressende Insekten brauchten gerade sechs Jahre, um gegen das berühmte DDT408 immun zu werden.

Insekten gewinnen nicht nur den Kampf gegen das Gift, sie finden auch Geschmack an ursprünglich resistenten Pflanzensorten. In Kenia kann eine Weizensorte durchschnittlich nur noch 4,3 Jahre angebaut werden, bis die Schädlinge auf den Geschmack gekommen sind. Auch die Pflanzenkrankheiten haben alle menschlichen Giftattacken überlebt.409

212


Wenn gleichförmige neue Hoch­ertragssorten, durch die Chemie vom biologischen Anpassungsdruck befreit, auf riesigen Anbauflächen gepflanzt werden, drohen große Ausfälle, sobald ein Resistenzdefizit auftritt. Die Antwort der Natur auf die Modernisierung der Landwirtschaft ist eindeutig: Die Evolution exerziert uns vor, daß sie uns an Phantasie turmhoch überlegen ist.

Viele Pflanzenschutzmittel reichern sich im menschlichen Fettgewebe an.410 Die Weltgesundheits­organisation (WHO) schätzt, daß Pestizide in jedem Jahr drei Millionen Menschen akut vergiften und 220.000 die Vergiftung nicht überleben. 735.000 Menschen werden chronisch krank, und 37.000 bekommen Krebs, weil sie mit Pestiziden in Berührung kamen. Das Internationale Reisforschungs-Institut hat 1989 in einer Studie festgestellt, daß mehr als die Hälfte der untersuchten Reisbauern durch Pestizide gesundheitlich geschädigt worden sind. Im August 1993 befaßte sich das Institut noch einmal mit diesem Thema. Das Ergebnis ist ernüchternd: Berücksichtige man die Gesundheits­kosten durch pestizid-verursachte Krankheiten, dann sei der Reisanbau ein Minusgeschäft.411 Nicht gerechnet das menschliche Leid. Die Hälfte aller durch Pflanzen­schutz­mittel verursachten Erkrankungen und drei Viertel aller Todesfälle werden in Entwicklungsländern gezählt, wo ein Viertel der weltweit eingesetzten Pestizide angewendet werden.412 Das ist ein furchtbarer Posten in der Bilanz der Revolution.

Die Sache wird absurd, wenn man bedenkt, daß etwa die knappe Hälfte des Gifts verwendet wird, damit das Erzeugnis in eine Handelsklasse paßt. Auf gut deutsch: Es sterben Menschen, weil unsere Bananen groß und gelb und die Apfelsinen orange sein sollen. Pestizide werden in der Dritten Welt meistens in der Produktion von Verkaufsfrüchten eingesetzt, mit denen dann die Devisen erwirtschaftet werden, um die wissen­schaft­lichen Errungenschaften aus dem Norden bezahlen zu können. Die »grüne Revolution« diente nicht zuletzt dem Zweck, unseren Tisch noch reicher und farbenfroher zu decken.

Man stelle sich nur eine Sekunde vor, was in Deutschland passieren würde, wenn Sprühflugzeuge ganze Landwirt­schafts­betriebe mitsamt anliegendem Dorf bearbeiten würden, wie das immer wieder Fernsehbilder aus fernen Ländern zeigen.

213


Versteckt sich im unterschiedlichen Grad unserer Empörung nicht vielleicht doch ein latenter Rassismus? Aber womöglich ist es falsch, die Abnahme der Erregung mit der Zunahme der Entfernung als rassistisch zu denunzieren, weil sich dahinter keine Erhöhung einer Rasse über eine andere verbirgt, sondern das Gesetz unserer Lebens­wirklichkeit, der kollektive Egoismus, der sich nur für das interessiert, was eng mit ihm verbunden ist.

Im Sinn einer auf stete Steigerung ausgerichteten Wirtschaft harmonieren die Pestizide vorzüglich mit dem Kunstdünger. Dieser fördert nämlich auch das Wachstum der Wildkräuter, was den Giftabsatz nach oben schnellen läßt. Das »Saatgut-Dünger-Pestizid-Konglomerat«413, von dem der Publizist Randolph Braumann spricht, hat die traditionelle Agrarwirtschaft fast überall zersetzt. Kunstdünger steigen zunächst die Ernten, keine Frage. Aber auf lange Sicht schädigt er die Böden, weil er deren organische Substanz angreift. Wird auf Fruchtwechsel, natürliche Düngung und die Brache verzichtet und Kunstdünger ausgebracht, verliert der Boden seine krümelige Struktur. Sie ermöglicht es ihm, Wasser zu speichern, und läßt dem Sauerstoff freien Weg. Je mehr die organische Substanz der Böden geschädigt ist, desto mehr Kunstdünger wird benötigt, um die Fruchtbarkeit zu erhalten.414 Und je mehr Kunstdünger eingesetzt wird, desto mehr werden die Böden geschädigt. Beim Wettlauf zwischen Kunstdünger und Boden verliert auf jeden Fall die Umwelt. Längst sind zahlreiche Grundwasserreservoire, Flüsse und Seen verseucht. Wir haben bereits erörtert, daß dies eine Ursache vieler Krankheiten ist.

Kunstdünger und Pestizide wirken wie Drogen. Man fängt mit kleinen Dosen an, um diese dann Schritt für Schritt steigern zu müssen. Zu Beginn der Revolution genügten zwei Zentner Stickstoffdünger pro Hektar, um vierzig bis fünfzig Doppelzentner Getreide zu ernten. Inzwischen reichen sechs bis acht Zentner Dünger nicht mehr aus, um ein vergleichbares Ergebnis zu erzielen.415

214


Der berühmte brasilianische Umweltschützer Jose Lutzenberger, dessen beeindruckende Biographie jüngst erschienen ist416, hat am Beispiel des Kaffee­anbaus in seinem Land die Dünger-Gift-Spirale eindrucksvoll beschrieben: Mit den Herbiziden...

»...erzielt der Kaffeebauer einen nackten Boden zwischen den Pflanzen. Erosion ist die Folge. Dann soll der Bauer wasserlösliche Düngemittel einsetzen, besonders hohe Gaben an Stickstoff­dünger. Dies bringt das Bodenleben durcheinander und macht die Pflanzen anfälliger für Schädlinge. Deshalb muß der Bauer anschließend zu Insektiziden greifen. Danach bekommen die Pflanzen auch noch Pilzkrankheiten, so daß der Bauer Fungizide nehmen muß. Wenn er das ein paar Jahre gemacht hat, leidet der Boden so sehr, daß der Bauer auch noch Milben in der Plantage hat, die er wiederum mit Chemie bekämpfen muß. Der Bauer wird auf Dauer immer abhängiger von der Chemie, die Behandlung immer teurer und der Kaffee immer schlechter417

 

     Die erste »grüne Revolution« fraß Bauern    

 

Die »grüne Revolution«, Ausdruck des Wachstumswahns in der Landwirtschaft, hatte neben dem ökologischen Desaster, das sie anrichtete, verheerende soziale Folgen. Hochgezüchtetes Saatgut, das in kurzen Zeitabständen erneuert werden muß, ohne daß man es aus der Ernte abzweigen kann, Kunstdünger, Pflanzen­schutz­mittel, Agrartechnik für die riesigen Felder mit gleichförmigen Sorten und Bewässerungs­anlagen kann sich kein kleiner Bauer auf eigenem Land oder als Pächter leisten. Sie erfordern außerdem ganz neue Fähigkeiten, die die Selbstversorgungswirtschaft nicht kennt. 

Die Bauern der Revolution müssen es lernen, mit der Agrarchemie umzugehen, sie müssen Traktoren steuern und warten können, sie müssen begreifen, wie komplizierte Bewässerungs­anlagen funktionieren. Sie müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, wie man die großen Ernten vermarktet. Gleichzeitig landen alte, bewährte Kenntnisse auf dem Müll und geraten allmählich in Vergessenheit. Das bedeutet: Wenn sich herausgestellt haben wird, daß die Modernisierung der Landwirtschaft in ihrer Zerstörung mündet, werden die Alternativen verschüttet sein. Das sind die geistigen Folgen der Revolution.

215


Die wenigsten Bauern können genug Kapital auftreiben, um die Dünger-Gift-Spirale zu finanzieren. Von Beginn der Revolution an waren die kleinen Bauern im Hintertreffen und sind die reichen uneinholbar vorausgeeilt. Die anfänglich prächtigen Ernten der neuen Pflanzensorten kamen allein den ohnehin schon Wohlhabenden zugute. Die mechanisierte Landwirtschaft braucht außerdem weniger Arbeitskräfte als die Selbstversorgungsökonomie, was die Zahl der Arbeitslosen in die Höhe schnellen ließ. Das Ergebnis waren reiche Ernten und mehr Armut. Und da die Preise für die unter großem technischen Aufwand herangereiften Produkte teuer geworden sind, kann sich die wachsende Zahl Armer immer weniger zu essen leisten.

Das alles hätten die Revolutionäre der ersten Stunde wissen müssen, als sie die neue Runde im Fortschritts­rennen einläuteten. Denn es hatte bereits Erfahrungen gegeben mit der Modernisierung der Landwirtschaft in Entwicklungsländern. Mexiko war schon früh zum Experimentierfeld auserkoren worden. Der Versuch brachte eindeutige Ergebnisse: Zwischen 1950 und 1960 war in Mexiko die Zahl landloser Arbeiter von 2,3 auf 3,3 Millionen gestiegen und damit schneller gewachsen als die Bevölkerung.

1960 hatten die Landlosen im Bundesstaat Sonora, dem Zentrum der Landwirtschaftsmodernisierung, einen Bevölkerungsanteil von 62 Prozent und 1970 von 75 Prozent erreicht. In anderen Ländern der »grünen Revolution« gab es ähnliche Resultate. Zwischen 1964 und 1970 verdoppelte sich in Kolumbien die Zahl landloser Familien. Die Zahl landloser Arbeiter wuchs in Bangladesh zwischen 1951 und 1966 um das Zweieinhalbfache, in Indien zwischen 1961 und 1971 um mehr als zwanzig Millionen beziehungsweise 75 Prozent, während die Zahl der Landwirte um fünfzehn Millionen abnahm. Seit den sechziger und siebziger Jahren ist die Zahl der Landlosen auf dem Land in der Dritten Welt auf 30 bis 60 Prozent gestiegen.418 Überall, wo die Revolution siegte, fraß sie Bauern in riesiger Zahl.

216


Collins und Lappe haben in ihrer Studie über die Ursachen des Hungers die sozialen Folgen der »grünen Revolution« so zusammengefaßt: Die Bodenpreise steigen, was Kleinbauern und Pächter von ihrem Land verdrängt. Gleichzeitig erhöhen sich die Pachtzinsen. Der Naturaltausch wird vom Geld verdrängt, wobei die Preise für Nahrungsmittel steigen. Immer weniger Menschen kontrollieren immer mehr Land, darunter finden sich zahlreiche Bodenspekulanten. Die Verschuldung der Bauern und damit ihre Abhängigkeit von Kreditgebern wächst. Die Armut wird größer und mit ihr die soziale Ungleichheit auf dem Land. Die Gesamtmenge der Produktion wird zum Erfolgsmaßstab, nicht die Beteiligung der Landbevölkerung. Qualität und Marktwert, nicht der Nährwert, sind nun die Ziele der Landwirtschaft. Das Ergebnis: Dort, wo Nahrungsmittel produziert werden, hungern immer mehr Menschen. Ein indischer Landarbeiter trifft den Nagel auf den Kopf: »Wenn du kein Land besitzt, bekommst du nie genug zu essen, auch wenn das Land gut produziert.«419

Dem stehen denkwürdige Erfolge gegenüber. Schon 1971 riet die Welternährungsorganisation, wie die gigantischen Getreideberge der revolutionären Landwirtschaft zu verwerten seien: als Viehfutter! Zwei Jahre später wurden in Kolumbien zum Beispiel zwei Drittel der Ernte von den modernisierten Anbauflächen den Schweinen, Hühnern und Rindern zum Fraß vorgeworfen oder zur Biererzeugung verwendet.420 Wir brauchen die Frage nicht zu erörtern, wer von den sich rasch vermehrenden Hühnern, Schweinen und Rindern profitiert und wer den Preis für den Fortschritt bezahlt. Nur wer Land oder Geld hat, muß nicht hungern.

Natürlich brauchen mehr Menschen mehr Nahrungsmittel. Daher wäre es falsch, grundsätzlich gegen die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion in Entwicklungsländern zu wettern. Aber es handelt sich auch hier um eine Ausgangslage mit negativem Vorzeichen. Da heute schon ökologische Grenzen überschritten sind, muß Wachstum mindestens ausgeglichen werden durch Reduzierung an anderer Stelle. Wenn, wie wir festgestellt zu haben glauben, die Armut die zentrale Ursache des Hungers ist, dann verlangt eine bessere Ernährung von immer mehr Menschen, daß der Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten angehoben wird.

217


Manche Statistiken legen nahe, daß sich in den letzten Jahren die Zahl der Unterernährten verringert hat, und sie bringen dies in einem Zusammenhang mit den gesteigerten Erträgen der »grünen Revolution«. So sehr ich solchen Statistiken mißtraue421, so eindeutig scheint mir zu sein, daß die Zahl der Unterernährten dort zurückgegangen ist, wo die Industrialisierung mehr Einkommensempfänger geschaffen hat. Dies geschah vor allem in Asien, wohingegen der Hunger in Afrika weiter ungebrochen herrscht. Wo, wie noch in der Volksrepublik China, eine relative soziale Gleichheit herrscht, gelangen gesteigerte Erträge meist dorthin, wohin sie gehören.

Wo aber bei rapider Industrialisierung und Modernisierung der Landwirtschaft soziale Ungleichheit besteht oder vertieft wird, wie etwa in Indien, hungern die Menschen in der Nachbarschaft von Viehfutteranbau­gebieten. Zwischen 1965 und 1986 stieg in Indien der Pro-Kopf-Kalorien­verbrauch von 2111 auf 2238 am Tag, während der Getreideimport verringert werden konnte. In Indonesien gelang es sogar, den Kalorienverbrauch im genannten Zeitraum von 1800 auf 2579 Kalorien jeden Tag zu erhöhen, und auf den Philippinen ging der Sprung von 1924 auf 2372 Kalorien. Aber die Zahl der Unterernährten ist in diesen Ländern keineswegs gesunken.422

Und: Auch dort, wo es Erfolge gibt, werden sie erkauft zu Lasten der Umwelt. Die dadurch mit bewirkten Klima­veränderungen treiben die Versteppung und Verwüstung voran und erhöhen die Belastung der verbleibenden Böden. Kein noch so perfektes Saatgut kommt ohne Wasser aus und bisher, trotz aller wohlklingenden Ankündigungen, auch nicht ohne Gift und Dünger. Jedes Wachstum der Landwirtschafts­produktion verbraucht und vergiftet Böden und Wasser. Und doch glauben manche, sie könnten ausgerechnet in der Agrarwirtschaft das Entropiegesetz austricksen.

218


   Die zweite »grüne Revolution« hat begonnen  

 

Hier und da sogar in großer Aufmachung feierten Medien die Ankündigung des philippinischen Reis­forsch­ungs­instituts, einen Nachfolger des legendären IR 8 entwickelt zu haben. Binnen der kommenden fünf Jahre wollen die UNO-Wissenschaftler den neuen Superreis resistent machen gegen Krankheiten und Schädlinge. Statt zehn Tonnen pro Hektar verspricht die neue Sorte eine Ernte von dreizehn Tonnen. Die Pflanze ist noch kompakter und kann doch erheblich mehr Reiskörner tragen. Sie könnte nach Schätzungen die Reisernte um 90 Millionen Tonnen steigern.423

Kein Zweifel, daß in nicht allzu langer Zeit andere Wissenschaftler weitere neue Getreide- und auch Gemüsesorten mit ähnlich fabelhaften Eigenschaften anpreisen werden. Die Gentechnik wird auf diesem Feld noch für viele Überraschungen sorgen. Die zweite »grüne Revolution« hat begonnen. Die Erfahrungen mit der ersten und den Vorboten der zweiten verheißen jedoch weiteres Wachstum zu einem unvertretbaren Preis. Betrachten wir die Ausgangslage und die möglichen Gefahren.

Fest steht, daß die Reisproduktion seit 1991 zunächst zurückgegangen ist: 1992 wurden mehr als 526 Millionen Tonnen geerntet, 1993 waren es nur noch knapp 519 Millionen Tonnen. Fast 7 Millionen Tonnen Verlust gehen dabei auf das Konto Chinas, das von Unwettern heimgesucht worden war. Aber viel wichtiger als klimatische Verwerfungen ist der Umstand, daß die Reis­hoch­ertragssorten für viele Bauern zu teuer geworden sind und sie deshalb andere Pflanzen anbauen, die weniger Dünger und Pestizide benötigen.

Gleichzeitig versuchen die USA, selbst Reisexporteur, Weizen in Asien durchzusetzen. 1991 lieferten sie den Philippinen 94.000 Tonnen Weizen zu vierzig Prozent des Marktpreises.424 Wenn es den US-Amerikanern gelingt, auf diese Weise neue Absatz­märkte für ihre überbordende Agrarproduktion zu erschließen, droht eine Neuauflage der Nahrungs­mittelhilfe-Katastrophe an anderem Ort. Werden auch die Reisbauern in Asien nieder­konkurriert wie die Hirsebauern in Afrika, dann wird die Nahrungs­mittelversorgung tödlich getroffen.

219


Mit großem politischen Druck, die heimische Agrarlobby im Genick, bemühen sich die Vereinigten Staaten, den internationalen Agrarhandel zu liberalisieren. Das klingt gut, ist aber eine mörderische Gefahr für Staaten, die abhängig zu werden drohen. Wichtiger als neue Reissorten zu züchten, scheint zu sein, den Agrarweltmarkt zu reglementieren.

Die beiden kanadischen Agrarfachleute Pat Mooney und Cary Fowler, 1985 mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet, haben nach fünfzehn Jahren Forschung 1990 unter dem Titel »Die Saat des Hungers« eine bahnbrechende Studie vorgelegt, die geeignet ist, uns weitgehend zu befreien von gentechnischen Illusionen, die auch Gutwillige mit neuen Superpflanzen verknüpfen.

In den folgenden Abschnitten stütze ich mich weitgehend auf Fakten, die Mooney und Fowler gesammelt haben.

Seit die moderne Pflanzenzucht im 19. Jahrhunden in Europa und Nordamerika begonnen hat, werden traditionelle Pflanzensorten durch auf Inzucht beruhende Kulturpflanzen verdrängt. Bereits Anfang unseres Jahr­hunderts waren zahlreiche Varietäten, die Hunderte oder Tausende von Jahren gewachsen waren, unwiederbringlich verloren. Ein Vergleich von Pflanzensortenlisten, die das US-amerikanische Land­wirt­schafts­ministerium kurz nach dem Jahrhundertwechsel erstellt hatte, mit aktuellen Bestands­verzeichnissen hat ergeben, daß rund 97 Prozent der in alten Aufzeichnungen vermerkten Sorten von 75 Gemüsearten inzwischen ausgestorben sind. Von 7098 Apfelsorten existieren mehr als 86 Prozent nicht mehr. Von 2683 Birnensorten sind 2354 verschwunden. Für alle Pflanzenarten gilt, daß die industrialisierte Landwirtschaft und die Saatguthersteller auf jene Sorten setzen, deren Produktivität am höchsten ist. Im Ergebnis sinkt die Zahl der Varietäten, und diese werden gleichförmig.

Gleichförmigkeit wird angestrebt, weil nur sie es ermöglicht, Saatgut zu patentieren. Ließe sich Saatgut nicht auf diese Weise vor Nachahmung schützen, wären die Geschäftsaussichten der Agromultis düster. Das US-Land­wirt­schafts­ministerium erklärt, daß Sortenschutzgesetze den internationalen Handel förderten.

220


Das trifft zu, nutzt aber nur den Unternehmen, die konkurrenzfähiges Saatgut anbieten können. Nieder­ländische Untersuchungen haben für das Jahr 1989 ergeben, daß multinationale Saatgutanbieter in den Industriestaaten einen Marktanteil von 25 Prozent erkämpft haben, in der Dritten Welt liegt er zwischen 5 und 10 Prozent mit stark steigender Tendenz. Von den marktbeherrschenden dreißig Unternehmen sind elf der Chemieindustrie zuzurechnen. Der Großteil des Keimplasmas, mit dem neue, patentierte Sorten gezüchtet werden, stammt aus der Dritten Welt.

Die Abhängigkeit des Nordens vom Genpool des Südens bewirkt aber keineswegs, daß der Süden davon profitiert. Ganz im Gegenteil, die Entwicklungsländer müssen kaufen, was mit Hilfe ihrer Keimressourcen gezüchtet worden ist. Nach Schätzungen US-amerikanischer Experten hat wildes Keimplasma der Volks­wirtschaft in den Vereinigten Staaten insgesamt mehr als 66 Milliarden Dollar Gewinn ermöglicht, ohne daß die Besitzer der Ausgangsressourcen an den Gewinnen beteiligt worden wären. Der Genpool der Welt ist zwar wertvoller als die Ölreserven, aber er hat seinen Eignern nicht den Reichtum der Scheichs eingebracht.

Für die Bauern, die revolutionäres Saatgut kaufen, bedeutet es zunächst gesteigerte Erträge, am Ende aber, daß sie nun ohne die althergebrachten Sorten dastehen und davon abhängig sind, daß sie zu bezahlbaren Preisen Saatgut kaufen können. Das ist das unwiderrufliche Ende der Selbstversorgung.

Bisher haben die Verheißungen des Supersaatguts über kurz oder lang getrogen. Wer seine bäuerliche Existenz auf die Beschleunigungsspur führte, konnte entweder, wie die wenigsten, das ständig erhöhte Tempo mithalten, oder er wurde von der Autobahn des Fortschritts gefegt. Nur Großbauern oder Plantagen wurden fertig mit den wachsenden Investitionsanforderungen, vor allem für Dünger und Gift.

Und das soll nun alles ganz anders werden? Das ist nach allen bisherigen Erfahrungen ein frommer Wunsch.

221


Konzentration und Gleichförmigkeit von Saatgut bergen enorme Risiken in sich. Die Verdrängung traditioneller Varietäten schwächt die genetischen Ressourcen der Landwirtschaft. Die so erfolgende genetische Erosion gefährdet Nutzpflanzenarten in ihrem Bestand und auf lange Sicht die Ernährungsgrundlagen der Menschheit.

Der größte deutsche Saatgutanbieter, die Kleinwanzlebener Saatzucht (KWS), hat zum Beispiel durch die Ausfuhr der Rübensorte Detroit Globe den kompletten Genpool für Rüben ausgelöscht. Praktisch gibt es nur noch eine einzige Rübensorte in der Türkei. Was passiert, wenn sich herausstellt, daß Detroit Globe auf bestimmte Krankheiten unerwartet reagiert, wenn eine Insektenart sie plötzlich als Lieblingsspeise entdeckt, wenn Pilze oder Bakterien sich an die neuen Bestände anpassen? Dann treibt die Dünger-Gift-Spirale die Kosten der Bauern hoch, und das auf der denkbar schmälsten genetischen Grundlage. Genetische Reichhaltigkeit bietet Schutz gegen Schädlinge und eröffnet Chancen sinnvoller Saatgutzucht. Wer sie vermindert, erhöht in gleichem Maß das Risiko.

Die Geschichte bietet genügend Beispiele für Erntekatastrophen und durch sie verursachte Hungersnöte. Die berühmte irische Kartoffelfäule von 1846 forderte unzählige Opfer, aber die Vernichtung einer ganzen Jahresernte war nicht gleichbedeutend mit der Zerstörung des Kartoffelanbaus, weil genügend alternative Sorten verfügbaren waren. Pat Mooney und Cary Fowler:

 »Kartoffeln waren die erste Feldfrucht in der Geschichte der Neuzeit, die einem Mangel an Widerstandskraft zum Opfer fiel, und die erste Pflanzenart, die durch den Reichtum an Abwehrkräften gerettet wurde, welche sich in ihrem Zentrum der Vielfalt über Jahrtausende entwickelt hatten. Somit ist die irische Kartoffelhungersnot sowohl als die dramatischste Warnung vor den Gefahren genetischer Gleichförmigkeit wie auch als eindeutiges Beispiel für den Wert der Erhaltung genetischer Vielfalt anzusehen.«425

1917 befiel eine Pflanzenkrankheit große Teile der US-amerikanischen Weizenernte. Ein Vierteljahrhundert später zerstörte die Braunfäule die Reisernte Indiens, was eine Hungersnot auslöste. In den vierziger Jahren wurden achtzig Prozent der Haferernte in den Vereinigten Staaten ausgelöscht, und in den siebziger Jahren suchte und fand der Maisbrand seine Opfer flächendeckend in gleichförmigen Beständen.

222


In allen diesen und vielen anderen bekannten Fällen großer Erntekatastrophen fand sich Abhilfe bei verbliebenen alten Sorten oder wilden Verwandten, also in der genetischen Vielfalt. Die Evolution hat Pflanzen zahlreiche Eigenschaften angezüchtet, die wir in unserem Handelsklassenwahn sorglos verplempern. Statt dessen setzen wir auf die Wunderwaffen der wissenschaftlich-technischen Revolution: Gift und Dünger.

Tausende von Nutzpflanzen sind im Lauf der Jahrhunderte ausgestorben, weil sie zugunsten anderer nicht mehr angebaut wurden. Heute, im Zeitalter der größtmöglichen Beschleunigung, ernähren wir uns nur noch von maximal 130 Pflanzenarten. Ganze 9 davon decken drei Viertel des menschlichen Nahrungsbedarfs: Weizen, Reis, Mais, Gerste, Sorghum beziehungsweise Hirse, Kartoffeln, Süßkartoffeln beziehungsweise Yams, Zuckerrohr und Sojabohnen. Es sinkt nicht nur die Zahl der Arten, auch die genetische Bandbreite innerhalb der Arten wird in hohem Tempo enger. Je enger sie ist, desto schlechter können Arten sich an ändernde Umweltbedingungen anpassen. Wenn die Wildsorten ausgestorben sind, besteht größte Gefahr für die monolithen Bestände aus den Labors. Die Welternährungsorganisation hat bereits darauf hingewiesen, daß die intensive Züchtung neuer Sorten auf schmaler genetischere Grundlage in mehreren Fällen Krankheitsepidemien verursacht hat.426

Kakao ist in seinen ursprünglichen Varietäten in Mittel- oder Südamerika fast schon ausgerottet. Er wurde verdrängt von mehr Gewinn versprechenden Pflanzen wie Bananen oder Baumwolle oder ersetzt durch hochgezüchtete Sorten. Beim Kaffee ist die Lage extrem: Ein einziger Baum stellt die genetische Grundlage der lateinamerikanischen Kaffeeindustrie. Vier nigerianische Palmen sind die genetische Basis der asiatischen Ölpalmenindustrie, und 22 Kautschukpflanzen, die 1876 aus dem Amazonas­gebiet geholt wurden, stellen den genetischen Rückhalt der Gummierzeugung in Asien.

223


Mooney und Fowler zu diesen Sünden der Vergangenheit: 

»Eine derart extreme Uniformität bringt gewöhnlich genetische Verletzbarkeit mit sich. Das Risiko eines Ernteverlusts bedroht die Existenz von etlichen Millionen Kleinbauern in Asien, Afrika und Südamerika. Um sich und ihre Ernten vor den katastrophalen Folgen genetischer Einförmigkeit zu schützen, sind die Bauern genötigt, teure Chemikalien zu verwenden, die Gesundheit und Rentabilität ebenso gefährden, wie sie der Umwelt schaden. Ganze Volkswirtschaften stehen durch einen virulenten neuen Kaffeerost in Zentralamerika, durch Sigatokabefall von Bananen oder durch das plötzliche Auftreten eines mutierten Baumkrebses in Zitrusplantagen am Rande einer stets möglichen Katastrophe. Die Spätfolgen der kolonialen Verpflanzungen machen dem Süden auch heute noch zu schaffen.«427

Zu den Sünden der Vergangenheit gesellen sich heute die Erfolge der Wissenschaft. Bislang ist es nicht gelungen. Hochertrags­sorten zu züchten, die ohne Gift und Dünger auskommen. In vielen Fällen wurde, im Gegensatz zu allen Propaganda­formeln der Chemieindustrie, darauf geachtet, daß neue Sorten resistent gegen Herbizide sind und besonders viel Dünger aufnehmen können. Auch die Ankündigungen, daß nun Schädlings- und krankheitswiderständige Superpflanzen mit Hilfe von Computern synthetisiert würden, sind mit Mißtrauen zu betrachten. Noch immer ist es Insekten, Bakterien und Pilzen gelungen, sich an neue Umweltbedingungen anzupassen. Im Gegensatz zu Pflanzenarten haben sie nämlich den Vorteil eines raschen Generationenwechsels, der in großen Populationen enorme Experimentier­möglichkeiten eröffnet. Gewiß wird das Saatgut der zweiten »grünen Revolution« am Beginn wenigstens die meisten Eigenschaften aufweisen, die ihm in den Labors der Vereinten Nationen und der Agrarmultis angezüchtet worden sind. Aber die Phantasie der Evolution schlägt das Vorstellungs­vermögen der Wissenschaft. Das werden auch die Revolutionäre dieser Tage erfahren müssen.

Die Leidtragenden der zweiten Revolution sind schon in der ersten Umwälzung der Landwirtschaft die Opfer gewesen. Kleinbauern, die Stützen der Selbstversorgung, haben keine Chance und werden von ihrem Land vertrieben in die Slums der Metropolen.428  Oder wir entdecken sie als Mitleidserreger in einer hungernden Landbevölkerung auf den Fotos, mit denen Hilfs­organisationen zur frommen Tat auffordern.

224


Die Gewinner der ersten sind auch die Gewinner der zweiten Revolution. Ob es der Zweck des Unternehmens war oder nicht, im Ergebnis zerstört die Modernisierung der Landwirtschaft die Nahrungs­mittel­selbstversorgung. Sie produziert Armut und Hunger und begründet die Herrschaft des Nordens über den Süden auf den Ackern der Welt. Die Millionen von Bauern, die sich früher als Züchter unendlich vieler Arten betätigt haben, wurden verwandelt in Kunden weniger Agromultis. Viele von ihnen sind Chemie­konzerne, die außer Saatgut Pestizide und Dünger herstellen. Wir treten keinem dieser Unternehmen zu nahe, wenn wir die Frage stellen, ob der Gewinndruck, unter dem die Manager stehen, es erlaubt, Saatgut zu entwickeln und anzubieten, das zumindest zeitweise ohne Gift und Dünger auskommt. Ist eine Konzernstrategie betriebswirtschaftlich sinnvoll, in der eine Produktions­sparte die andere ruiniert?

In der Tat bieten viele Chemiemultis Pakete an: Saatgut plus Pestizide plus Dünger, so fein aufeinander abgestimmt, daß einmal gewonnene Kunden für die Konkurrenz verloren sind. Je mehr Gift und Dünger ein Konzern verkauft, desto größer der Profit. Das ist, zurückhaltend gesagt, kein Ansporn für mehr Umweltschutz.

Mit jährlich rund 120 Milliarden US-Dollar, einem Mehrfachen der nördlichen Entwicklungshilfe, subventionieren die OECD-Staaten ihre Landwirtschaft.429 Der Grund dafür kann nicht darin liegen, daß die Bauern in Europa und Nordamerika zuwenig produzieren. Ganz im Gegenteil. Die Überschüsse der Landwirtschaft im reichen Teil der Welt haben auch zu tun mit staatlichen Alimenten für die Agrarlobby. In den Vereinigten Staaten, Kanada, aber auch in Deutschland und anderen Ländern stellt die Landbevölkerung nach wie vor ein wichtiges Wählerreservoir. Und deshalb zahlen die Politiker gigantische Summen, um die Überschüsse aufzukaufen und zu verwalten.

225/226


Der Preis sind enorme ökologische Schäden im Norden430 und die Vernichtung der Selbst­versorgungs­wirtschaft im Süden, wenn das, was wir nicht aufessen können, dorthin geschafft wird, damit die armen Afrikaner nicht hungern. Wenn weitere Überschüsse auf dem Weltmarkt landen zu staatlich subventionierten Tiefstpreisen, dann werden jene Entwicklungsländer nieder­konkurriert, die die eigene Bevölkerung ernähren können und daher Nahrungsmittel exportieren. Dort, wo die Markt­wirtschaft die Interessen wichtiger »Pressure groups« nicht befriedigt, wird sie einfach außer Kraft gesetzt.

Aber die Alternative ist nicht der Freihandel, sind nicht GATT — das internationale Handelsabkommen — und die Welt­handels­organisation (WTO), die den Abbau der Zölle auch für Agrarprodukte überwachen soll. Im freien Handel mit landwirtschaftlichen Produkten werden sich die wirtschaftlich Stärkeren durchsetzen, sogar wenn, wie angekündigt, staatliche Subventionen für Bauern in Industrieländern verringert werden.

 

    Nicht Nahrungsmittel fehlen, sondern Geld   

 

Die amerikanische und europäische Agrarhybris schadet der Dritten Welt mehr, als jede noch so gut projektierte Entwick­lungshilfe ihr nutzen könnte. Selbst wenn wir alle unsere Bedenken, die wir in diesem Buch gegen die Entwicklungshilfe angeführt haben, zurückstellten, so müßten wir festhalten, daß jede denkbare Entwicklung im Süden gefährdet ist durch die Weltwirtschaft, in der ja nicht allein die nördliche Agrargroteske zerstörerisch wirkt.

Fassen wir zusammen: 

Der Hunger ist nicht besiegt, es drohen neue Hungerkatastrophen. Bisher wurden genug Nahrungsmittel produziert, um jeden Menschen satt zu machen. Selbst wenn es gelänge, noch viel mehr zu erzeugen, würden weiter Millionen hungern. Denn bis heute ist Hunger nicht das Ergebnis von Nahrungsmittelmangel, sondern von Armut.

Hätten die Armen Geld, dann würden Getreide, Gemüse, Obst und Tiererzeugnisse zu ihnen kommen. Wo Kaufkraft wächst, steigt das Angebot. Der Weltmarkt ist unschlagbar schnell, auch wenn in manchen Regionen seine Reaktionszeiten zunächst gebremst würden durch Mängel der Infrastruktur.

Ekkehard Launer, Herausgeber der »Süd-Nord«-Buchreihe, die Pflichtlektüre an allen Schulen sein müßte,431 fordert folgerichtig, daß nicht Nahrungs­mittel, sondern Geld in die Hungergebiete geschafft werden muß. Im Gegensatz zu Hilfslieferungen zerstört Geld den einheimischen Markt nicht, sondern stärkt ihn.

Aber Finanzspritzen von außen würden den Hunger nicht besiegen. Dazu wären in vielen Staaten fundamentale Umwälzungen nötig. In Ländern, in denen eine Handvoll Grundbesitzer die Masse des Bodens besitzt, müßten Landreformen die Selbst­versorgungs­wirtschaft durchsetzen. Unsere Aufgabe wäre es, den Neubauern Geld zu geben, auch in Form zinsgünstiger Kredite, um ein sparsames Wirtschaften zu fördern. Die Regierungen im Norden und im Süden müßten Abstand nehmen von der Industrialisierung und die Industrie statt dessen in den Dienst der Landwirtschaft stellen, wie es die Volksrepublik China, wenn auch mit diktatorischem Vorzeichen, zeitweise erfolgreich vorgemacht hat. Um die Erzeuger und Märkte im Süden zu fördern, müßten die Wirtschafts­beziehungen zwischen Entwicklungsländern gestärkt werden.

Dies sind einige wenige Minimalforderungen. Es genügt aber, sie anzuführen, um zu demonstrieren, wie weit wir entfernt sind von einer Entwicklungs­politik, die diesen Namen verdient.

227

#

 

  www.detopia.de      ^^^^ 

 Von Christian von Ditfurth 1995