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3  In großer Sorge

Das Marxistische Forum

 

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Ich bin für ein paar Tage bei einem Freund in Berlin-Friedrichshagen untergekommen. Herbert Brehmer war bis 1989 Offizier in der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Ich hatte ihn Mitte der achtziger Jahre kennengelernt, als er sich mir unter falschem Namen – "Dr. Herbert Bartels" – als Mitarbeiter des SED-Zentralkomitees vorstellte. Ich sollte als Lektor eines Hamburger Verlags die Memoiren von Heinz Felfe betreuen, eines ehemaligen KGB-Spions im Bundes­nachrichten­dienst, und Herbert vermittelte zwischen mir und dem Autor. Wobei vermitteln auch hieß, seine und meine Änderungs­vorschläge beim Autor durchzusetzen.

Erst viel später hat mir Herbert erzählt, daß das Buchprojekt eine Aktion des KGB gewesen sei. Die Begeisterung in der SED habe sich in engsten Grenzen gehalten. Und das kann man auch verstehen, denn bei der Buchvorstellung im Ostberliner "Palasthotel" zückte Heinz Felfe zur Überraschung aller einen bundesdeutschen Paß und präsentierte sich als Mann mit deutsch-deutscher Staatsbürgerschaft. Felfe war der einzige DDR-Professor mit BRD-Paß; nach seiner Entlassung aus westdeutscher Haft war der Ex-Spion Kriminologe an der Humboldt-Universität geworden und hatte gewiß keine allzu großen Hindernisse zu überwinden, um akademische Würden zu erlangen.

      Aktive Maßnahmen    

Es war eine gute Zusammenarbeit mit Herbert, und dabei und viele Jahre danach diskutierten wir über alle möglichen Dinge, auch darüber, was vielleicht nach Honecker möglich wäre. Herbert war von Anfang an ein Anhänger Gorbatschows.

Er litt unter der Borniertheit seiner Chefs. Schon sein Vater, ein Spanienkämpfer, war in der SED schikaniert worden, weil er in den Westen emigriert war und nicht in die Sowjetunion, als die Nazis die Macht übernahmen. Und Herbert hatte in der Stasi manchmal einfach nur deshalb schlechte Karten, weil er jüdischer Herkunft ist.

Herbert gehört zu den wenigen einstigen Stasioffizieren, die sich ihrer Vergangenheit stellen. Er könnte es sich leichter machen und sich wie sein einstiger Chef Markus Wolf darauf hinausreden, daß der Spionage­dienst eigentlich nur den Namen gemein gehabt habe mit der Stasi. Aber so billig läßt sich Herbert nicht heraus aus der Sache. Gemeinsam mit einem Freund und Exkollegen hat Herbert unter dem Buchtitel "Auftrag: Irreführung" aufgeschrieben, wie sie in der Abteilung X – zuständig für "aktive Maßnahmen" – im Westen Politik gemacht haben.56)  Eines der wenigen rückhaltlos ehrlichen Bücher und das beste überhaupt zu diesem Thema.

 dnb  Herbert+Brehmer+Irrefuehrung 

Ein Beispiel daraus: Heute ist immer noch hin und wieder vom "KZ-Baumeister Lübke" die Rede. Um diesen Vorwurf in die Welt zu setzen, hatte die Abteilung X Baupläne der Firma gefälscht, in der Lübke zu Zeiten des Dritten Reichs arbeitete. Manche Lügen der Stasi werden wohl ewig leben, so auch die über den Bundespräsidenten Heinrich Lübke, den die Nazis aus allen Ämtern geworfen und 1933 bis 1935 eingesperrt hatten. Aus dem Naziopfer wurde ein Täter – bis heute!    wikipedia  Heinrich_Lübke

Herbert ist bald aus der PDS ausgetreten. Er will die Partei nicht mit seiner Vergangenheit belasten. Andere sind da weniger zimperlich. Unter nicht geringem Beifall etwa tönte ein Ex-Stasioffizier auf einem PDS-Landes­parteitag in Sachsen-Anhalt, er bereue keine Minute seines Lebens, in der er für die Stasi gearbeitet habe.

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     Riesenbauten    

Immer wenn ich in Berlin bin, quartiere ich mich bei Herbert Brehmer ein. So auch, als ich im Parteivorstand der PDS für mein Buch recherchiere. Aber an einem Tag fahre ich mit der S-Bahn nicht bis zum Alexanderplatz, um dann von dort zum Karl-Liebknecht-Haus zu laufen, sondern bis zur westlichen Endstation der alten S-Bahn-Linie Erkner-Potsdam, die Berlin von Ost nach West durchschneidet.

Irgendwann wird Ostberlin moderner aussehen als der Westteil der Stadt. Baustelle um Baustelle, neue Bürogebäude, viele stehen aber leer. Auch die Bahnhöfe an der Strecke werden renoviert und die Gleise erneuert, mit Verspätungen ist immer zu rechnen. Der S-Bahnhof Friedrichstraße, zu DDR-Zeiten der wichtigste Berliner Grenzübergang, ist kaum wiederzuerkennen. Wer früher die Mauer in der S-Bahn überquerte, konnte in Häuserfassaden Einschußlöcher aus dem letzten Krieg erkennen. Ich bin hier seit den siebziger Jahren unzählige Male gewesen, bis 1989 hatte sich praktisch nichts geändert, seitdem aber finde ich mich manchmal nicht mehr zurecht.

Der Landtag in Potsdam dräut martialisch auf einer Anhöhe wie eine riesige Festung. Von dieser Festung aus hatte die SED über die Stadt und den nach ihr benannten Bezirk geherrscht. An solchen Riesenbauten manifestiert sich sinnbildlich, welch gigantischen Apparat die Einheitspartei einsetzte, um ein kleines Land zu dirigieren. 44.000 Frauen und Männer führten Ende der achtziger Jahre die Weisungen des Politbüros aus!

Im Potsdamer Landtag bin ich mit dem Parteivorsitzenden Lothar Bisky verabredet. In der Öffentlichkeit wurde er vor allem bekannt als Vorsitzender eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der die dubiosen Beziehungen von Minister­präsident Manfred Stolpe, vor der Wende Spitzenfunktionär der evangelischen Kirche in der DDR, mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) beleuchten sollte. Auch wenn je nach Interessenlage die Ergebnisse des Ausschusses unterschiedlich ausgelegt worden sind, so haben doch fast alle Teilnehmer und Beobachter Bisky bescheinigt, seinen Job mit Bravour gelöst zu haben. In der Tat, Bisky ist der ideale Vermittler.

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Sein Vorgänger Gregor Gysi ist rhetorisch brillant, ein origineller Kopf, immer für ein Bonmot zu haben, die Idealbesetzung für jede Talkshow. Gysi hat die Partei gerettet, als sie 1989 und 1990 mehrfach kurz vor der Auflösung stand. Er hat die Erneuerung personifiziert, auch wenn die Partei ihn oft nicht begriff und keineswegs erneuert war. Gysi war die PDS, und er hat mit seiner medialen Allgegenwart viele Relikte der Vergangenheit verkleistert. Alle Wahlkämpfe der PDS waren Gysi-Wahlkämpfe.

Aber seit die PDS aus dem gröbsten heraus ist, seit das Überleben gesichert und die vermaledeite Streiterei um das SED-Vermögen ausgestanden ist, bricht immer wieder Streit aus in der PDS. Wurde lange Zeit viel parteiinterner Zwist übertönt durch Gysi und den die Partei zusammenschweißenden Druck von außen, so treten nun die Gegensätze offen zutage. Die Lager in der Partei haben sich formiert und tragen ihren Zoff unverbrämt aus. Die Partei braucht jetzt einen Chef, der ausgleicht. Und das vermag niemand besser als Lothar Bisky, der Vorsitzende wider Willen.

Man kann Bisky alles mögliche unterstellen, aber bestimmt nicht, daß er Macht und Geltung anstrebt. Am liebsten würde der "Professor", wie ihn manche Genossen respektvoll nennen, noch heute an irgendeiner ostdeutschen Hochschule als Medien­wissenschaftler arbeiten. Es ist nicht auszuschließen, daß ihm das irgendwann noch einmal gelingt. Allerdings ist es fraglich, ob seine Partei ihn ziehen läßt. Jetzt hat sie ihn erst einmal dazu verdonnert, für den Bundestag zu kandidieren. Wenn Bisky sich nicht aufstellen lasse, wolle er auch nicht mehr, hatte Bundestagsgruppenchef Gysi erklärt.

So wird denn wohl die TV-Öffentlichkeit künftig hin und wieder einen untersetzten, gemütlich wirkenden, ruhigen Brandenburger am Bundestagsrednerpult erleben. Nein, ein Volkstribun, ein großer Redner wie Gysi ist Lothar Bisky nicht. Ungelenk und wie spät anerzogen wirken seine Bemühungen, seine Genossen in Parteitagsreden anzufeuern. Das ist so aufgesetzt, daß er sich immer wieder verspricht, wenn er Temperament zeigen will.

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    Bisky und der Apparat    

Von Lothar Bisky erhoffe ich mir Unterstützung bei meiner Recherche. Ich will die Korrespondenz zwischen ihm und der Partei studieren, erfahren, wie das psychische Innenleben der PDS aussieht, was die Genossen und was ihren Vorsitzenden bedrückt, bewegt und erfreut. Ich weiß, daß diese Bitte mehr als ungewöhnlich ist. In anderen Parteien würde sie wohl als Frechheit zurückgewiesen. Da kommt ein Journalist und will Briefe lesen!

Ich frage Bisky, und der sagt, ohne lange zu überlegen, er sei einverstanden. Ich solle mir in seinem Büro im Karl-Liebknecht-Haus die Korrespondenz holen.

Ich fahre zurück zum Alexanderplatz und gehe schnurstracks zum Bürovorsteher Biskys im Karl-Liebknecht-Haus, dem einstigen DDR-Karrierediplomaten Horst Siebeck. Außer Siebeck sitzt im Büro Lutz Bertram, Medienberater des Parteichefs. Bertram war lange Jahre der beste Jugendradiomoderator der DDR gewesen und erfreute sich auch nach der Wende größter Beliebtheit bei seinen Zuhörern. Bis er über seine Stasiverstrickung stürzte. Der blinde Moderator hatte unter dem Decknamen "Romeo" der Stasi gedient, um in den Westen reisen zu dürfen. Ich habe nicht verstanden, wie der laute, narzißtische Zyniker Bertram und der zurückhaltende, uneitle Bisky zusammenarbeiten konnten. Aber es klappte ja auch nur kurz. Wenn überhaupt.

Als ich Siebeck und Bertram von meinem Gespräch mit Bisky berichte und um die Chefkorrespondenz bitte, wird Siebeck leicht blaß, und Bertram kräht empört los. Siebeck vertröstet mich, er müsse erst einmal mit dem Professor telefonieren. Kurz und schlecht, das Gezerre geht mehrere Tage, und am Ende wird mir angeboten, ich könne in Biskys Beisein ausgewählte Korrespondenz­vorgänge lesen. Darauf kann ich verzichten.

Ob Bisky und der Parteiapparat zusammenpassen, weiß ich nicht. Aber Zweifel sind angebracht. Insider berichten, daß der Professor immer mal wieder von seinen Mitarbeitern bearbeitet werde. Bisky denkt nicht in den winkligen Kategorien des Parteiapparats, sondern geradeaus. Ich glaube, er wird nie verstehen, warum Menschen um Machtpositionen wetteifern, Intrigen spinnen oder Verdächtigungen austüfteln.

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    Verabschiedung vom Klassenkampf      

Es braucht einiger Anstrengung, um Bisky in Rage zu bringen. Wenn ich es richtig beobachtet habe, so hat ihn neben den am Ende fehlgeschlagenen Strangulationsversuchen des Berliner Finanzamts, das die PDS mit einer so happigen wie ungerecht­fertigten Steuerforderung dicht an die Pleite trieb, kaum etwas mehr empört als eine Anzeige im "ND" vom 18. Mai 1995: Unter der Überschrift "In großer Sorge" reklamierten 38 Wissenschaftler, Kulturschaffende und Bundestags­abgeordnete die Aufweichung des Oppositions­verständnisses, die Verabschiedung vom Klassenkampf und die Ausklammerung der Eigentumsfrage.

 

 Kasten "In großer Sorge"

 

 

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Bisky sah in der Erklärung der "38er" einen heimtückischen Angriff auf die Partei. Und mehr als das. In einer spontanen Erwiderung schäumte er: "Als Vorsitzender der PDS fühle ich mich, solange niemand sonst mit Namen genannt wird, persönlich angesprochen. Ich weise diese Vorwürfe mit aller Entschiedenheit zurück. Wenn irgend etwas dieser Partei den Todesstoß versetzen kann, dann ist es die historische Wiederbelebung dieser Art von Denunziation und politischem Rufmord, bei dem weder Roß noch Reiter genannt werden."

Was ist der Hintergrund des Streits? Die 1. Tagung des 4. PDS-Parteitags im Januar 1995 hatte den "antistalinistischen Grundkonsens" des außerordentlichen Parteitags vom Dezember 1989 bekräftigt: "Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System." Sahra Wagenknecht war nach ultimativen Drohungen von Bisky und Gysi nicht mehr in den Vorstand gewählt worden. Nachdem im März 1994 auf einem PDS-Kongreß im Hinblick auf die Bundestagswahlen im Oktober 1994 quasi ein Waffenstillstand zwischen den Lagern zustande gekommen war, ging die Parteispitze nun, nach dem Wiedereinzug der Partei ins Bonner Parlament, daran, ihre programmatischen Vorstellungen stärker in der Partei zu verankern: weg vom Klassen­kampf­denken und von der aufblühenden Ostalgie, hin zu einem Reformprogramm. Gregor Gysi forderte einen "Gesellschafts­vertrag", einen Interessenausgleich der sozialen Kräfte in Deutschland – eine Todsünde in den Augen jedes Marxisten-Leninisten (zur Strategiedebatte an anderer Stelle mehr).

Es ist nicht überraschend, daß auch KPF-Wortführer Michael Benjamin besorgt war und unterschrieben hat. Daneben auch der Bundestagsabgeordnete Winfried Wolf, erst seit Januar 1997 Mitglied der Partei. Wolf war auf der baden-württembergischen Landesliste in den Bundestag eingezogen. Er war einer Führer der "IV. Internationale" in Deutschland und zeitweise Ghostwriter des trotzkistischen Cheftheoretikers Ernest Mandel gewesen. Mandel hatte vor allem in den siebziger Jahren so originelle wie faszinierende Marx-Interpretationen vorgelegt und nicht geringen Einfluß in studentischen Kreisen gewonnen.

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Winfried Wolf zeigte sich erstaunt über die heftige Reaktion, vor allem der Parteiführung, auf den Aufruf. Die Unterzeichneten hätten keine Namen genannt, "weil sie eine Personalisierung ablehnen und darauf verweisen können, daß die Kritik zu einem erheblichen Teil Positionen von Parteivorstand und Parteitag trifft", schreibt der Bundestagsabgeordnete in einem Leserbrief an das "ND". Er weist den Vorwurf zurück, die Besorgten wollten eine linke Plattform zimmern.

Wolf weiter: "Angesichts der Tatsache, daß der Aufruf sich als leicht instrumentalisierbar erwies, und angesichts der Distanzierung, welche 22 von mir geschätzte PDS-MdB-Kolleginnen und -Kollegen dazu äußerten, halte ich den Aufruf in dieser Form im nachhinein für einen Fehler. Ich ziehe jedoch meine Unterschrift nicht zurück, auch weil dies einer undemokratischen Unterwerfungszeremonie gleichkäme."  In der Tat, die meisten seiner Gruppenkollegen im Bundestag hielten den "Vorwurf der Aufweichung des Oppositionsverständnisses oder gar Anpassung an die SPD" für eine "bösartige Unterstellung".

Was in der Auseinandersetzung nicht deutlich wurde, ist die Frage, ob Wolfs Unschlüssigkeit nicht damit zusammenhängt, daß ihm zu spät klar geworden war, mit wem er sich eingelassen hatte. Es ergab sich nämlich die delikate Lage, daß sich ein ausgewiesener Trotzkist plötzlich inmitten einer Schar unverbesserlicher Altstalinisten sah.

 

     Geschichte auf den Leib schneidern   

Die meisten "38er" gehören zu den einstigen Ideologieproduzenten der SED. Der Philosophieprofessor Gottfried Stiehler etwa vermerkte dereinst, "daß sich der historische Fortschritt in der sozialistischen Gesellschaft durch Planmäßigkeit, Proportionalität, Stetigkeit auszeichnet und daß er jenen zugute kommt – den werktätigen Klassen und Schichten der sozialistischen Gesellschaft –, die ihn vollziehen." Das zeigten "die Tatsachen".

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Heinz Jung war lange Jahre Wissenschaftsfunktionär der DKP gewesen, einer der eifrigsten Verfechter des SED-Stalinismus in der Bundesrepublik. Herbert Hörz entdeckte die Wahrheit nur auf Seiten der Arbeiterklasse, auch in den Naturwissenschaften, und verwies auf das "Beispiel der sozialistischen Staaten", die "hinsichtlich des Umweltschutzes eine grundsätzlich andere Zielstellung als kapitalistische Länder" verfolgten: "Sie ist direkt auf das Wohl des Volkes orientiert."

Günter Görlich wurde uns in der DKP-Parteischule als Paradebeispiel des realsozialistischen, parteilichen Schriftstellers höchstpersönlich präsentiert. Er war so parteilich, wie seine Bücher mäßig sind. In den Auseinandersetzungen im Schriftsteller­verband der DDR um die Biermann-Ausweisung 1977 gehörte Görlich zu den Scharfmachern um Herrmann Kant. Görlich saß im Präsidium des von Kritikern gesäuberten Verbands und erklärte: "Unter den komplizierten Bedingungen des weltweiten Klassenkampfes heute ist es eine der vorrangigen Aufgaben unserer Literatur, jeden Angriff auf die Ideale der Menschlichkeit, unsere Weltanschauung auf ihre Weise zurückzuweisen."  Willy Sitte glorifizierte den sieghaften Proletarier in Monumentalgemälden, war lange Jahre Präsident des DDR-Künstlerverbands und Abgeordneter der Volkskammer.

 

     Engelbergs "Kristallnacht"    

Der wohl prominenteste Besorgte aber ist der Historiker Ernst Engelberg, der in den achtziger Jahren mit einer respektablen Bismarck-Biographie hervorgetreten ist.  Weniger bekannt ist, daß Engelberg zu den wichtigsten Historikerideologen der DDR zählte, mit dem Auftrag, die Geschichte Ulbricht und später Honecker quasi auf den Leib zu schneidern. 

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Engelberg dichtete mit an den voluminösen Werken über die Historie der Arbeiterbewegung, sang mit bei den Lobeshymnen auf den "großen Stalin" und war auch dabei, als es darum ging, den "großen Führer" und seine Exzesse zu übertünchen – kurz und schlecht: Engelberg kämpfte an der Geschichtsfront für die SED, immer so, wie das Politbüro es anordnete.

Über den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 wußte Engelberg Erstaunliches zu berichten:

"Wer erinnerte sich nicht der 'Kristallnacht' vom November 1938? Ist denn das eine zufällige Parallele? Wer erinnerte sich nicht der Schläger- und Mordkolonnen der SA schon aus den Jahren von vor 1933 (...) Dieselben wutverzerrten, stumpfsinnigen Fressen, dieselbe Randalierwut, dasselbe verlogene Gegröle. Es soll keiner mehr kommen und versuchen, dem 16. und 17. Juni solch ein bißchen echte Arbeiterbewegung anzudichten."66)

Engelberg war der erste Vorsitzende der von Ulbricht 1958 gegründeten Historiker-Gesellschaft der DDR, die "alle auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft und des Geschichtsunterrichts in der DDR tätigen Historiker vereinigen soll, damit wir noch besser als bisher in der Lage sind, auf der Grundlage des dialektischen und historischen Materialismus das sozialistische Geschichtsbild zu erarbeiten und den Kampf gegen die Verfälschungen der Geschichte durch die Bourgeoisie zu führen."  So der DDR-Vorzeigehistoriker in einem Brief an seinen Auftraggeber Walter Ulbricht. Engelberg kann nicht behaupten, nicht gewußt zu haben, daß die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung gefälscht wurde. Er war dabei.

Die SED zeigte sich dankbar. Ich habe noch gut die Worte eines DDR-Archivars im Ohr, der mir sein Leid klagte, weil Engelberg jahrelang sämtliche Quellen zur Bismarck-Forschung mit Beschlag belegen durfte und niemand anderer auf diesem Feld tätig werden konnte.

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Der führende Kopf der Besorgten ist der Bundestagsabgeordnete Uwe-Jens Heuer, rechtspolitischer Sprecher seiner Partei und Hauptreferent auf diversen Kongressen. Da ich in diesem Buch noch umfassend eingehen will auf die Vergangenheits­aufarbeitung in der PDS, beschränke ich mich hier auf einen Hinweis: Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, daß einer, der zu DDR-Zeiten keineswegs immer "auf Linie" war, sich mittlerweile zum Kopf einer Vereinigung gemausert hat, die vor allem eines im Sinn hat: die Legitimität der DDR und der Diktatur der SED zu rechtfertigen.

 

     Das letzte bißchen Heimatboden    

 

Mit dem Aufruf "In großer Sorge" meldeten sich jene zu Wort, die als Parteiintelligenz jeden Winkelzug des Politbüros mit akademischen Weihen versehen hatten. PDS-Vorständler und Philosophieprofessor Michael Schumann hat sich und seinen Genossen in Wissenschaft und Kultur einige Jahre vor dem Aufruf der 38 wenig schmeichelhafte Gedanken gewidmet: Die Unter­drückung durch die Staatssicherheit sei unter anderem die 

"Konsequenz des Versagens anderer, insbesondere der Partei­intelligenz [gewesen], die zum überwiegenden Teil (...) die Anmaßung der Führung nicht in Frage stellte, sondern im Gegenteil durch theoretische und historische Konstruktionen begründete. (...) So war es nicht zuletzt das Ausweichen unserer intellektuellen Eliten vor dem ganzen Ernst, vor der Not des Geistes in der bis zum äußersten bedrohten Welt, das verantwortlich denkende und aus dieser geistigen Not aufbegehrende Menschen in die Isolierung trieb und der Staatssicherheit ein Wirkungsfeld eröffnete, wo sie nur ein verheerendes Unheil anrichten konnte. Die Verfehlungen der Staats­sicherheit – sie sind letztlich die Folge der Verfehlungen anderer, auch des Versagens zumindest eines Großteils der intellektuellen Eliten der ehemaligen DDR."68)

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Die Sorge der Parteiintellektuellen kommt spät. Sie befürchten mehr noch als das Aufweichen des Oppositions­verständnisses der PDS den restlosen Verlust ihrer Biographien. In dem Maß, wie die PDS hineinwächst in die bundesdeutsche Gesellschaft, wie sie zum anerkannten Akteur im pluralistischen Spiel wird, in dem Maß zerbröckelt das letzte bißchen Heimatboden für die einstige Intellektuellen­garde der DDR. Wer die PDS und ihre Fraktionen betrachtet, muß den oft unsichtbaren Faktor Heimat einrechnen. Sonst steht man vor viel Unerklärlichem.

Vielen Intellektuellen der DDR ist die deutsche Einheit schlecht bekommen. Gewiß, sie durften ihre akademischen Titel behalten. Und so gibt es unzählige Professoren und Doktoren, die ihren akademischen Grad allein ihrer SED-Treue verdanken. Das gilt auffallend auch für einstige Blockparteifunktionäre, deren wissenschaftliche Arbeiten oft nicht einmal proseminartauglich sind. Vor allem in den Geisteswissenschaften wirkte sich das Fehlen des Pluralismus oft verheerend aus. Je mehr die Themen mit Macht und Politik zu tun hatten, um so ärmlicher die Beiträge. Man lese Dissertationen oder Arbeiten in Fachzeitschriften, um zu begreifen, welch großes, unverdientes Geschenk der Einigungsvertrag mit seiner Titelregelung einer nicht geringen Zahl von Menschen machte.

Die DDR hatte Wert darauf gelegt, sich eine eigene Intelligenz heranzuziehen. In bürgerlichen Gesellschaften reproduzierte sich lange Zeit die Intelligenz zu großen Teilen aus sich selbst heraus; Intellektualität wurde gewissermaßen mit dem Tafelsilber in den Familien vererbt. In den fünfziger und sechziger Jahren kappte die DDR diese Traditionslinie, bevorzugte seitdem massiv Kinder aus Arbeiterfamilien beim Zugang zu den Hochschulen und schuf sich damit eine "proletarische Intelligenz". Möglicherweise wissen viele, die dereinst über die Spießigkeit der DDR die Nase rümpften, nicht, daß ein wesentlicher Grund für die Herrschaft des Kleingeistes nicht nur in der Diktatur von Kleingeistern wie Honecker lag, sondern auch in der Auslöschung des Bildungs­bürgertums.

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Die Intellektuellen in der SED kamen in aller Regel nicht aus Akademikerfamilien, sondern aus der Arbeiter­klasse. Allein die Sozialisation an DDR-Hochschulen und in der SED machte sie zu Angehörigen der Intelligenz, es fehlte die biographische Tradition, es fehlten vor allem auch überlieferte ethische Maßstäbe des bürgerlichen Humanismus.  Die Kommunisten hatten mit dem Aufkommen des Proletenkults in der Weimarer Zeit auch eine Feindschaft gegenüber der meist bürgerlichen Intelligenz entwickelt, die sie nie wieder ablegen sollten. Sie verachteten das Kritikerkastertum, die vermeintliche Wankelmütigkeit, die Kulturoffenheit, weil all das im krassen Gegensatz stand zu den festgemeißelten stupiden Lehrsätzen des in der kommunistischen Weltbewegung siegenden Stalinismus. 

Generationen von deutschen Kommunisten paukten die Grundzüge ihrer Weltanschauung im "Kurzen Lehrgang" der Geschichte der KPdSU, einer an Primitivität kaum zu übertreffenden Verfälschung der Oktober­revolution und des sozialistischem Aufbaus in der Sowjetunion, vor allem aber einer Verherrlichung des Führerprinzips. Und so, wie Stalin als "größter Sohn der internationalen Arbeiterklasse" schließlich auch noch die Sprachwissenschaft revolutionieren sollte , so hatten die kommunistischen Parteien des sozialistischen Lagers der neuen, selbstgeschaffenen Intelligenz ihre Aufgaben zuzuweisen. Führende Rolle der Arbeiterklasse hieß auch, die Intelligenz auf die gerade gültigen Lehrsätze des Marxismus-Leninismus festzulegen.

Weil die Frage "Wer-wen?" über das Schicksal des Sozialismus entschied, galten Kritik und kulturelle Offenheit als "bürgerliche Dekadenz" oder gar als "Konterrevolution". Da Menschen, die geistig arbeiten, sich eher an Positionen reiben, fühlte sich die SED verpflichtet, ihre Intellektuellen besonders an die Leine zu nehmen. Diese hatten sich im offiziellen Gesellschaftsgefüge der DDR einzuordnen: hinter der Arbeiterklasse und den Genossenschaftsbauern, schließlich war die DDR ein "Arbeiter-und-Bauern-Staat".

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Derlei ideologische und soziale Gängelung löste aber keinerlei Eruptionen aus unter der realsozialistischen Intelligenz. Deren Angehörige erlebten ihr Dasein nämlich als steilen Aufstieg. In der Tat, in der bürgerlichen Gesellschaft wären Arbeiterkinder eher Arbeiter geworden als Professoren. Viele Angehörige der Intelligenz hatten Zugriff auf Informationen, die anderen DDR-Bürgern vorenthalten blieben. Sie konnten wenigstens zum Teil westdeutsche Fachzeitschriften und sonstige Publikationen lesen. Viele konnten ins westliche Ausland reisen auf Kongresse und Tagungen, weil ja die DDR vertreten sein wollte. Nominell hatte zwar die Arbeiterklasse das Sagen, aber keiner sozialen Schicht ging es besser als den Intellektuellen.

Die meisten Angehörigen der DDR-Intelligenz fühlten sich der Arbeiterklasse schon durch ihre Herkunft verbunden und nicht allein durch Theorien. Sie störte es nicht, wenn die SED darüber fabulierte, daß die Intelligenz mit der Aufhebung des Unterschieds zwischen Kopf- und Handarbeit mit der Arbeiterklasse verschmelzen werde. Sie hatten sozial abgesichert einen phänomenalen Aufstieg erlebt (auch wenn sie sich gewissermaßen aus der führenden Klasse verabschiedet hatten).

 

Wenn ich Äußerungen der Besorgten lese, kann ich mir die sarkastische Bemerkung nicht verkneifen, daß manche der SED immer noch dankbar sind für die Titelwürde. So dankbar, daß sich die Vertreter des Marxistischen Forums vor allem Sorgen darüber machen, wie sie ihre und ihrer einstigen Partei Vergangenheit denn doch noch retten können. Zwar fordert das Forum die Parteiführung immer mal wieder auf, sich über den künftigen Sozialismus auszulassen, die Besorgten selbst aber widmen ihre geistigen Anstrengung vor allem der eigenen Biographie.

Selbst bei der Formulierung einer politischen Strategie steht die verlorene Identität im Vordergrund. So etwa, wenn Michael Benjamin die Stoßrichtung des Klassenkampfes der neuen sozialen Wirklichkeit in Ostdeutschland anpassen will: 

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"Auf Grund der Sozialstruktur Ostdeutschlands – der relativ geringen sozialen Differenziertheit der Ostdeutschen, der westdeutschen Dominanz in den herrschenden Schichten, der Traditionen eines Teils der Mittelschichten – wird es für eine sozialistische Partei möglich, ohne an ihren sozialistischen Zielen Abstriche zu machen, nicht nur die kurzfristigen, sondern auch die mittel- und die langfristigen Interessen einer sehr breiten Mehrheit der Bevölkerung zu artikulieren. Das ist auch der rationelle Kern der allerdings unscharfen und mißdeutigen Formel <Volkspartei des Ostens>."  

So wird der innerdeutsche Ost-West-Konflikt uminterpretiert zum Klassenkampf. Sozialistische Politik hieße demnach, die Westdeutschen in den Führungspositionen in Neufünfland zu bekämpfen. Wenn man sich erinnert, daß die marxistische Bewegung dereinst die Internationalität zu ihrem wichtigsten Prinzip erhoben hat – "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" –, dann gerät Benjamins soziologisch ausgetüftelte Strategieempfehlung zur unfreiwilligen Lachnummer. Das ist kein Rückfall in den Nationalismus, wie ihn etwa die russischen Kommunisten in Reinform vorführen, sondern ein Regredieren in den Provinzialismus.

Erklärbar sind solche Verrenkungen nur durch den Faktor Heimat. Wer hätte jemals gedacht, daß die Heimat das letzte Bindemittel des Marxismus-Leninismus sein könnte?

 

Uferlosigkeit der Selbstabrechnung

 

Der Bundestagsabgeordnete Winfried Wolf irrte sich, als er schrieb, die Besorgten wollten keine Plattform gründen. Das ging vielmehr sehr schnell. So schnell, daß ich zweifle, ob da nicht wenigstens einige Besorgte von Anfang an darauf hinsteuerten, eine neue Gruppierung in der PDS ins Leben zu rufen. Schon am 29. Mai, keine zwei Wochen nach der Annonce im "ND", wurde auf einer Veranstaltung in Berlin-Hohenschönhausen die Gründung des <Marxistischen Forums> verkündet. 

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Der besorgte Schriftsteller Gerhard Branstner bescheinigte bei dieser Gelegenheit der Führung seiner Partei "eine schreckliche Mischung aus Voluntarismus und Dilettantismus". Die PDS setze sich der Gefahr der Verbürgerlichung aus – "das Schlimmste, was einer Partei des demokratischen Sozialismus passieren kann".

Das Marxistische Forum wurde am 3. Juli offiziell gegründet und dieser Umstand Ende des Monats dem Partei­vorstand angezeigt. Im September 1995 erschien die erste Nummer der eigenen Monatszeitschrift.

Das Marxistische Forum verkleidet die Ostalgie pseudowissenschaftlich. Das Forum verabschiedet sich vom "antistalinistischen Gründungskonsens" der PDS, verwirft "Stalinismus" als "Kampfbegriff" und spricht sogar von "<Stalinismus>-Kampagnen" . Heuer schreibt: "Wer Stalinismus, wie dies schon im Vorfeld des Parteitages geschah, mit administrativ-bürokratischem Sozialismus [also dem realen Sozialismus der DDR] gleichsetzt, der hat keine Möglichkeit mehr, die Vokabeln Unrechtsstaat oder Totalitarismus mit allen daraus für die Diskriminierung der Ostdeutschen gezogenen Konsequenzen zurückzuweisen. Ich muß mich dann auch fragen, ob ich die PDS noch hinter mir habe, wenn ich für ein Schlußgesetz zur Beendigung der politischen Strafverfolgung in Ostdeutschland eintrete. Es handelt sich hier gleichsam um eine 'linke' Variante der Totaldistanzierung von der DDR."

Dieses Argument folgt einer verblüffend schlichten Logik: Wenn man die DDR als stalinistisch beschreibt, kann man ihre Titulierung als Unrechtsstaat nicht zurückweisen. Deshalb darf man die DDR nicht als stalinistisch beschreiben.76)

Hatte noch auf dem außerordentlichen SED-Parteitag große Zustimmung geherrscht zu Michael Schumanns Charakterisierung der DDR als stalinistisch, so versuchen das Marxistische Forum, die Kommunistische Plattform und andere jetzt, den Stalinismus auf die Herrschaftszeit Stalins zu begrenzen, genaugenommen auf den Terror. Dabei sollte Wissenschaftlern, zumal Staats­wissenschaftlern oder Historikern, eigentlich klar sein, daß die Grundlagen des ökonomischen und politischen Systems der real-sozialistischen Staaten in der Stalin-Zeit geschaffen wurden und im Fall der DDR bis 1989 weitgehend unverändert weiter­existierten. 

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Das Diktat der Partei in allen Teilen der Gesellschaft, der "demokratische Zentralismus", wie auf neusprech das starre System der Weisung von oben nach unten heißt, die Vermengung von Partei und Staat (nicht umsonst war von der "Partei- und Staatsführung" die Rede), die Diktatur eines kleinen, sich selbst erneuernden Zirkels, wenn nicht des General­sekretärs allein, die Unterwerfung des Rechts unter politische Willkür, die Verweigerung demokratischer Freiheiten, politische Verfolgung usw. usf. – all das ist ein getreues Ergebnis der Stalin-Zeit. Daß nach dem Tod des "Führers der Völker" 1953 die massen­mörderischen Exzesse aufhörten, änderte nichts Grundlegendes an den Strukturen in Staat und Wirtschaft.

Die Rechtfertigung des realen Sozialismus in Kreisen des Marxistischen Forums liest sich so: 

"Ihr Entstehungs­zusammenhang weist die sozialistischen Alternativ-Gesellschaften trotz der Defizite als bedeutende geschichtliche Emanzipation aus, die auf die gesamte Weltgesellschaft heilsame und positive Rückwirkungen hatte. Dazu zählt der Zerfall des Kolonialsystems ebenso wie die Ächtung atomar geführter Weltkriege. In Zeiten der Kriegsverbrechen der Franzosen in Algerien und der Amerikaner in Vietnam standen sie mit erheblichen Solidaritätsleistungen auf der Seite der Opfer. Wer auf der Seite der Täter stand, kann als bekannt vorausgesetzt werden. Nicht weniger bedeutsam dürfte gewesen sein, daß sich unter dem Druck der Systemauseinandersetzung die westlichen Gesellschaften (zeitweilig?) in zivilere Bahnen eines sozial gedämpften, demokratisch und rechtsstaatlich kontrollierten Kapitalismus bewegten. Allein diese geschichtliche Leistung war die Entstehung der realsozialistischen Gesellschaften wert."77)

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     Faktor Heimat    

Weil die DDR nach Meinung des Marxistischen Forums nicht stalinistisch war, muß mit der SED-Vergangen­heit nicht grundsätzlich gebrochen werden. Folgerichtig beschimpfen Forumvertreter jene Genossen, die es in ihrer Selbstkritik ernst meinen: Der "Fall" Dietmar Keller ist ihnen "ein exemplarisches Beispiel für die Maßlosigkeit, Uferlosigkeit der Selbst­abrechnung". 

Sie ärgern sich über Kellers Aussage in der Bundestags-Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte, daß die SED zu einer Sekte verkommen sei "mit einer jesuitischen Disziplin, einem jesuitischen Glauben, bei fehlendem jesuitischen Intellekt". Sie rügen die "Übernahme von extrem antikommunistischen, primitiven Schlagworten durch Keller". 

Und wir entdecken, wie bei der KPF, Stalins Dreh, parteiinterne Gegner als Erfüllungsgehilfen eines äußeren Feindes zu entlarven: Moniert wird nämlich, daß mit der Kritik an der DDR-Vergangenheit "ein äußerer Knüppel (Bestreben zur materiellen und ideellen Liquidierung durch den Gegner sowie dessen <Analyse> der Niederlage) zu einem inneren Knüppel geworden ist und sich hierfür bereits <Spezialisten> herausgebildet haben".  Die PDS umgeben von lauter Feinden, deren einziges Ziel darin besteht, die Partei zu vernichten – ein geradezu klassisches stalinistisches Feindbild.

Genauso geistig reduziert ist das Beharren auf dem Klassenkampf, ein weiterer Überschneidungspunkt zwischen Forum und KPF. Nur daß sich das bei den Damen und Herren der Wissenschaft und der Kultur gesitteter liest. Der uns schon bekannte Gottfried Stiehler attackiert Gysis Idee eines "Gesellschaftsvertrags" dennoch unzweideutig. Der "springende Punkt" sei, ob es in der kapital­istischen Gesellschaft Klassen und daher Klassenkampf gebe. Wenn nein, dann sei ein Gesellschaftsvertrag "legitim". Wenn es aber Klassen gebe, dann habe ein solcher Vertrag keinen Sinn. Keine Frage, daß Stiehlers Votum nach gedehnter Rabulistik für den Klassenkampf ausfällt.79)

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Nicht nur in diesem Punkt ist die Übereinstimmung mit Positionen der KPF offensichtlich. Beide fordern, daß die Partei sich weiterhin an den klassischen Kriterien des realen Sozialismus orientiert, vor allem am gesellschaftlichen Eigentum an den Produktions­mitteln. Für beide ist der anzustrebende Sozialismus keine Fortentwicklung der Demokratie und ihrer Institutionen, sondern ein scharfer Bruch mit der bürgerlichen Gesellschaft. Beide fordern das Recht des Pluralismus für sich, sprechen aber gleichzeitig vom "Klassenfeind", den es zu bekämpfen gelte – es bedarf nur geringer Phantasie, sich vorzustellen, was aus dem Pluralismus würde, gäbe es den Sozialismus, den etwa Michael Benjamin als Doppelmitglied in KPF und Marxistischem Forum anstrebt. In beiden Plattformen herrscht Lagerdenken vor – inklusive des üblichen Inventars von Verrätern und Agenten, wie es für stalinistische Organisationen typisch ist –, nur daß bei den meisten Vertretern des Marxistischen Forums die Wortwahl etwas vornehmer ausfällt.

Entscheidend ist, daß beide Gruppen die Demokratie geringschätzen. Nur wer den Wert von Demokratie herabsetzt, kann bei allen eingestandenen Deformationen die DDR als "sozialistischen Versuch" loben. Aber wie kann der dann glaubwürdig für Demokratisierung im neuen Deutschland kämpfen?

Die Übereinstimmung zwischen beiden Gruppen steht auf einem soliden Fundament. Nicht allein durch die Kongruenz in inhalt­lichen Fragen, sondern vor allem auch durch den besagten Faktor Heimat. Wie die KPF-Leute früher als Mitglieder und Funktionäre der herrschenden Partei eine befriedigende Identität gefunden hatten, so schöpften die Parteiintellektuellen ihr Selbstwertgefühl aus ihrer spezifischen Karriere. Für beide war die Revolution im Herbst 1989 eine Katastrophe. Die meist gering­fügigen Abweichungen in der Argumentation beruhen auch auf Unterschieden der Biographien.

Es gibt aber eine unscheinbare Differenz mit wichtigen Folgen. Für die meisten KPF-Vertreter waren die SED und die DDR alles. 

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Sie arbeiteten für die Partei oder im Staatsapparat und fanden darin ihren Sinn des Lebens. Die Partei und der Staat aber sind unwiderruflich gestorben und damit der Lebenssinn der Plattformkommunisten. Die der SED verbundenen Intellektuellen hingegen hatten neben der Partei immer die Wissenschaften, und die sind geblieben. Vielleicht erklärt dieser kaum sichtbare, aber um so bedeutendere Unterschied auch, warum KPF-Vertreter dazu neigen, emotional, oft haßerfüllt zu argumentieren – wie etwa Sahra Wagen­knecht im Streitgespräch mit André Brie –, wohingegen die besorgten Forummarxisten sich bemühen, ihre Bestrebungen rational zu begründen.

Auch aus diesem Grund kristallisiert sich das Marxistische Forum zunehmend als Vertreter der rückwärts­gewandten Kräfte in der PDS heraus, während die KPF an Einfluß verliert.  Die eher dumpfe DDR-Bejahung wird abgelöst durch ein komplexeres Geflecht von Argumenten, das auf Wissenschaften zurückgreift, um die gleichen Ziele zu verfechten wie die KPF – wenn man so will, findet hier die Wiedergeburt des "wissenschaftlichen Sozialismus" statt.

Dieses Konzept zur Verteidigung der Vergangenheit ist attraktiver und verspricht mehr Erfolg als das gebets­mühlenartige Wiederkäuen platter stalinistischer Thesen. Der Berliner Journalist Wilfried Schulz schreibt treffend: "Es scheint, als ob die Reformer an der Spitze der PDS (...) fast so vergeblich wie einst Gorbatschow mit Offenheit (Glasnost) und Neuem Denken gegen mentale Nostalgie und Verdrängungs­mechanismen ankämpfen."

Ex-Kulturminister Dietmar Keller sieht die Forumnostalgiker bereits in wichtigen Fragen in der Oberhand, auch durch die Schuld der Parteiführung, die Heuer und Genossen Themen der Parteipolitik überließen.  In Fragen der "Legitimität der DDR" und der "Strafprozesse gegen DDR-Funktionäre" spricht das Marxistische Forum längst für die ganze Partei.

Auch Lothar Biskys Zorn über den "Aufstand" der 38er ist längst verraucht. Er hat sich arrangiert mit den neuen Macht­ver­hältnissen in der Partei. Das wird ihm erleichtert durch die Tatsache, daß die Forumleute den Reformflügel nach wie vor brauchen. Sollen doch Bisky, Brie und Co. der Öffentlichkeit eine moderne sozialistische Partei vorführen. Solange zentrale politische Inhalte vom Marxistischen Forum bestimmt werden, ist das Uwe-Jens Heuer und Genossen nur recht. Am liebsten ist es ihnen, wenn ihre Thesen als Beschlüsse des Parteivorstands verkündet werden. Wie im Fall des Politbüroprozesses.

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