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4  Es filbingert

 

Die sozialistische Alternative und der Unrechtsstaat

 

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Anfang Februar 1997 treffe ich mich im recht nobel gelegenen Büro des PDS-Landesverbands Baden-Württemberg in Stuttgart mit Max Eiffler, dem Geschäfts­stellenleiter. Nach Stuttgart bin ich während meines Studiums in Heidelberg oft gefahren, um an Sitzungen des DKP-Bezirksvorstands im Clara-Zetkin-Haus* im Stadtteil Degerloch teilzunehmen.

In den siebziger Jahren waren die baden-württembergischen Kommunisten vergleichsweise stark gewesen, mit Hochburgen in Stuttgart und Mannheim. Viele Genossen waren fest verankert in den Gewerkschaften und nicht wenige schon lange angesehene Mitglieder von Betriebsräten auch großer Unternehmen. Und doch blieben die Wahlerfolge aus, wenige Lichtblicke gab es nur in Mannheim, Stuttgart und Tübingen. Trotzdem fühlten wir uns allen anderen überlegen. Wir hatten die Wahrheit gepachtet und hatten mächtige Bündnispartner, besonders die SED.

Für die baden-württembergischen Kommunisten war damals die SED-Bezirksleitung Dresden zuständig, sie war die Patin der armen Schwestern und Brüder im Westen. Regelmäßig fuhren Kommunisten aus dem Spätzleland ins schöne Dresden, um sich aufbauen und aufs neue von den Vorzügen des Sozialismus überzeugen zu lassen. Und so dienten die Delegationen von West nach Ost nicht nur dazu, die Genossen aus dem Westen zu verwöhnen, sondern auch dem eigentlichen Zweck der DKP: den realen Sozialismus des Ostens im Westen in schönsten Farben zu schildern. Da sich die SED einen anderen Sozialismus als den eigenen nicht vorstellen konnte, sollten wir also den Bürgern im kapitalistischen Westen die Augen öffnen.

* Die Stuttgarterin Clara Zetkin (1857-1933) war eine führende sozialdemokratische, später kommunistische Frauenrechtlerin. In der DDR gab es eine dreibändige Auswahl aus ihren Reden und Schriften.


Im Sommer 1974 durfte ich zum erstenmal mit einer DKP-Delegation für eine Woche nach Dresden fahren. Es war das Jahr der Fußballweltmeisterschaft in der Bundesrepublik, und das berühmtes Tor des DDR-Stürmerstars Jürgen Sparwasser zum 1:0-Sieg gegen Beckenbauer, Maier, Müller & Co. erlebte ich vor dem Fernsehgerät im Gemeinschaftsraum des SED-Gästehauses in Dresden. Am Abend waren wir eingeladen zum Pressefest der »Sächsischen Volkszeitung«, des lokalen Parteiblatts, und die Stimmung war prächtig nach der tollen Vorstellung der Kicker aus Honeckers Reich. 

Meine Laune allerdings war gedämpft, denn so weit ging meine DDR-Begeisterung nie, daß ich der eigenen Nationalmannschaft Pleiten gewünscht hätte. Aber vor allem ältere Mitglieder unserer vielleicht zehn bis zwölf Köpfe zählenden Delegation fühlten sich eher als DDR-Bürger, auch beim Fußball. Der Leiter unserer Delegation, der früh verstorbene, hochgebildete Chefpropagandist des baden-württembergischen Landessverbands, Hans Wunderlich, war offenbar ohnehin eher ein Art SED-Mitglied mit Missionsauftrag.

Wunderlich war eine Seele von Mensch, weichherzig, verständnisvoll, klug, immer bereit, zuzuhören. Einmal, gegen Ende der siebziger Jahre, war ich bei ihm zu Hause. Ich weiß nicht mehr, über was wir gesprochen haben, aber noch genau, daß er ein wunderbarer Gesprächspartner war. Nur, wenn es um den Feind ging, da hätte er keine Gnade gekannt. Insofern war er typisch für eine Garde von Kommunisten, die zu Stalins Zeiten ihre ersten Weihen empfingen, die den Bruch mit dem kommunistischen Gott durch den 20. Parteitag erlebten und diesen Verlust nie ganz überwanden.

Wunderlich war, wie viele andere Funktionäre, offen für Zweifel seiner Genossen, er hat unendliche Geduld gezeigt, Partei­mitglieder auf den rechten Weg zurückzuführen. Aber hätten Wunderlich und all die anderen kampferprobten west­deutschen Kommunisten auf irgendeine Weise die Macht erobert in Westdeutschland, alle Anders­denkenden hätten nichts zu lachen gehabt.

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Wie weggeblasen wäre alle Warmherzigkeit gewesen. Sie hätten die Bundesrepublik an die DDR angeschlossen, und sie hätten sich nicht die Mühe langwieriger Gerichtsverfahren gemacht. Sie hätten auch keine parlamentarische Kommission zur Aufarbeitung der BRD-Geschichte installiert. Sie hätten alles ausgelöscht, was anders war als sie selbst. Was Recht gewesen wäre und was Unrecht, ob das Rückwirkungsverbot – keine Strafe ohne Gesetz – zum Zug gekommen wäre, wie man mit den Renten von Staatsfunktionären umzugehen habe: all das und vieles andere hätte die auf dem Verordnungsweg eingesetzte gesamtdeutsche Volkskammer keine Sekunde beschäftigt.

Und doch denke ich in Stuttgart im PDS-Landesvorstand ein bißchen wehmütig zurück an Hans Wunderlich und manch anderen Genossen vergangener Zeiten. Sie hatten zehn Jahre zu meiner Heimat gehört.

 

    Mauerbau legitim   

 

Max Eiffler ist nun ein ganz anderer Typ: Ringe in die Ohren gepierct, kurze rote Haare, bleiches Gesicht, eine ausgesprochen angenehme, freundliche Stimme. Max war Punkrocker gewesen und hatte in der Jugendklubszene mitgemischt, bis er an die PDS geriet. Halbtags leitet Max die PDS-Geschäftsstelle, sonst studiert er Kunst. Er hatte mir versprochen, ein Mitglied des Landes­vorstands zu unserem Gespräch hinzuzubitten, und tatsächlich erscheint nach einer halben Stunde Richard Pitterle, Rechts­anwalt und vor allen Dingen der »dienstälteste Schatzmeister der PDS überhaupt«. Es stellt sich bald heraus, daß Richard früher auch in der DKP war, über den Weg gelaufen sind wir uns allerdings nie.

Im Gespräch mit Max und Richard wird mir binnen kürzester Zeit sonnenklar, wie tief die Kluft zwischen PDS Ost und PDS West ist. Es sind zwei verschiedene Parteien. Das zeigt sich in einem Punkt besonders deutlich: in der Beurteilung der DDR.

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Während der Parteivorstand gerade mal wieder Verrenkungen macht, um die »politische Strafverfolgung« einstiger DDR-Bürger – ob Mauerschütze, Volksrichter oder Politbürokrat – zu beklagen, kommentiert Anwalt Pitterle trocken, daß die in Berlin mal wieder »filbingern«.

Diese bittere Bemerkung trifft den Nagel auf den Kopf. Denn wie beim einstigen NS-Marinerichter und späteren baden-württem­bergischen CDU-Ministerpräsidenten Hans Filbinger heißt es in PDS-Kreisen fast durchgängig: Was früher Recht war, kann heute kein Unrecht sein. Wie diese Position zu verstehen ist, hat der rechtspolitische Sprecher der PDS, Uwe-Jens Heuer, deutlich gemacht, als er über den Mauerbau im August 1961 schrieb:

»Die DDR war nicht in der Lage, vor allem den ökonomischen Wettbewerb [mit der Bundes­republik] bei offener Grenze durchzuhalten. War die DDR 1961 in ihrer Existenz gefährdet, so gab es keinen völkerrechtlichen Grund, sie an dieser Maßnahme [dem Mauerbau] zu hindern. (...) Die Bundesrepublik nimmt für sich das Recht in Anspruch, Kampftruppen in andere Länder zu schicken, mit der Aufgabe, gegebenenfalls zu töten, und der Gefahr, getötet zu werden. Die Existenzbedrohung ist doch wohl hier in keinem Falle höher, als es die Existenzbedrohung des Jahres 1961 für die DDR war. Soweit die juristische Argumentation. Was die moralische Legitimität betrifft, so hängt sie vom Standpunkt des Bewertenden ab. Wer die DDR, wer diesen sozialistischen Versuch für legitim hielt, der mußte auch den Mauerbau zur Erhaltung der DDR für legitim halten.«84)

Und an anderer Stelle erklärt Heuer im Zusammenhang mit dem Prozeß gegen Mitglieder des SED-Politbüros:

»Hier wird eine Rechtspflicht der Angeklagten postuliert, ein Grenzregime abzubauen, dessen Ende, wie die Dinge lagen, auch das Ende der DDR bedeutete. Über die Ursachen wäre viel zu sagen, aber eine Rechtspflicht der DDR zum Staatsselbstmord, und die braucht man ja, um hier anklagen zu können, ist doch schwer nachzuvollziehen.«85

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Diese Argumentationskette ist geradezu prototypisch für weite Kreise der PDS. Sie heißt im Klartext folgendes:

Erstens durfte die SED im Interesse des Machterhalts die eigene Bevölkerung einsperren.

Zweitens wird eine moralische Bewertung unmöglich gemacht, indem sie ins Ermessen des Betrachters gestellt wird. 

Moralischer Relativismus endet immer in Amoralität, ersichtlich auch in diesem Fall. Wie kann man es ethisch rechtfertigen, Millionen von Menschen zu ihrem vermeintlichen Glück zu zwingen? Und wie, daß diejenigen im Zweifelsfall erschossen wurden, die abhauen wollten, weil sie im Widerspruch zu allen Menschenrechtskatalogen nicht ausreisen durften?

Wie kann man schließlich drittens eine Gesellschaft für moralisch, politisch oder historisch legitim halten, die ihre Existenz vor allem der Gewalt verdankt? Keine Entscheidung in der DDR ist demokratisch gefällt worden. Keine.

 

    Heuer-Logik   

 

Aber solche Fragen fechten die Vertreter der so oder so gestalteten Legitimität der DDR nicht an. Es sind keineswegs nur Politexoten, die sogar das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) rechtfertigen, es als ein »legitimes und legales Staatsorgan der DDR« darstellen, »tätig auf der Grundlage der Verfassungs- und Rechtsordnung der DDR, mit einem vom Verfassungsorgan Nationaler Verteidigungsrat bestätigten Statut, das zum Einsatz geheimer, nachrichten­dienstlicher Mittel und Methoden berechtigte«. Soweit Ex-Stasioffizier Klaus Eichner, der sich folgerichtig über »die nun seit fünf Jahren laufende Diffamierungs­kampagne mit der betont einseitigen Fixierung auf das MfS« beklagt.86

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Und Wolfgang Hartmann vom »Insiderkomitee«, einem der PDS ideologisch und personell verbundenen Zusammenschluß ehemaliger MfS-Angehöriger, versteigt sich gar zu dem Gedanken, es sei deutlich geworden, »welche tatsächliche Feindlichkeit gegen den legitimen Versuch einer antifaschistischen und sozialistischen Alternative in Deutschland am Werke und daß deren Verfolgung eine legitime und legale Funktion des MfS war«.87

Als Rechtfertigung für die Stasi führt nicht nur Klaus Eichner die Tatsache an, daß die Bundesrepublik die Wiedervereinigung anstrebte und 1953 ein Forschungsbeirat sich Gedanken machte, wie das praktisch zu bewerkstelligen sei im Fall eines Falles. Er vergißt dabei die Tatsache, daß auch die SED und sogar die Blockflöten und befreundete Organisationen lange Zeit eigene Abteilungen» für »Westarbeit« unterhielten und in der Bundesrepublik sogar eine Partei installiert war, die Aufträge des einheits­sozialistischen Politbüros ausführte. Gab es im Westen meist pathetische Sonntagsreden, an die sich nach dem unerwarteten Erfolg viele nicht mehr erinnern wollten – man denke nur an die Hauptstadtdebatte! –, so beschränkte sich der Osten keineswegs auf Forschungsbeiräte, sondern versuchte die deutsche Einheit mit real-sozialistischem Vorzeichen zu erkämpfen. Selbst als die Idee der einheitlichen deutschen Nation in der DDR zu Grabe getragen worden war, versuchten DKP und MfS, die Politik in der Bundesrepublik massiv zu beeinflussen. Vergleichbares hat es in anderer Richtung nicht gegeben.

1989 arbeiteten im Bundesamt für Verfassungsschutz 2442 hauptamtliche Mitarbeiter und in den Landesämtern insgesamt 2670 bei einer Bevölkerung von gut 60 Millionen. Die Zahl der V-Leute lag erheblich darunter.88) Das MfS beschäftigte in diesem Jahr ohne HVA (4126 Mitarbeiter) fast 90.000 Hauptamtliche und über 100.000 Inoffizielle Mitarbeiter (IM) bei einer Bevölkerung von 16 Millionen. Die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS übertraf auch die Zahl der Angehörigen der national­sozialistischen Geheimdienste um ein Vielfaches. 

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Die Gestapo hatte im Deutschen Reich (80 Millionen Einwohner) keine 15.000 Mitarbeiter, ein knappes Sechstel der Hauptamtlichen im MfS. Allein diese Größenordnungen sollten einem Sozialisten zu denken geben, wenn er über die Legitimität der Stasi fabuliert. Um DDR-Verhältnisse zu erreichen, hätten in Westdeutschland etwa 350.000 Verfassungs­schützer arbeiten müssen. V-Leute nicht gerechnet. Es waren 1989 weniger als ein Achtzigstel!

 

   Wie die Regierung Pol Pots  

 

Viel wichtiger ist aber eine andere Frage. Nämlich die nach der demokratischen Rechtfertigung von Mauer, MfS und den anderen Einrichtungen der SED-Herrschaft. Es gab nie auch nur einen Hauch von Partizipation der Bevölkerung, auch wenn die Einheits­partei dauernd das Gegenteil behauptete. MfS und Mauer beruhen auf Beschlüssen von SED und KPdSU. Ein demokratischer Sozialist fragt nicht danach, ob ein Politbüro sich an die von ihm selbst gesetzten Regularien hält. Sondern danach, ob es demokratisch zugeht. Auch die Nazidiktatur hat unzählige formalrechtlich legale, nach Heuer-Logik legitime Gesetze verabschiedet und Erlasse verkündet. Spricht für diese Entscheidungen, wie sie formal zustande gekommen sind? Eine absurde Überlegung. Und haben SED- oder PDS-Vertreter jemals die Frage der so oder so gearteten Legitimität aufgeworfen, wenn es darum ging, andere Staaten (oft zu Recht) zu kritisieren? Natürlich nicht. Weil in diesen Fällen der Bezug zur eigenen Biographie fehlte. Filbinger ist überall in der PDS.

 

Es geht in den Argumenten von PDS-Vertretern zur Legitimität der DDR in vielerlei Hinsicht ziemlich durcheinander. Versuchen wir also, das Gestrüpp zu lichten.

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Am einfachsten liegen die Dinge bei der Frage nach der völkerrechtlichen Legitimität der DDR. Sie hat im Lauf ihres Daseins schließlich die diplomatische Anerkennung fast aller Staaten erkämpft, de facto auch der Bundesrepublik. Beim Honecker-Besuch in Bonn 1987 wurde selbstverständlich die DDR-Nationalhymne gespielt, und auch sonst behandelte die Regierung in Bonn die DDR als souveränen Staat (deren Bürgern sie allerdings nie eile eigene Staatsbürgerschaft zusprechen wollte). Die DDR nahm gleichberechtigt teil an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE), war Mitglied der UNO und saß in unzähligen internationalen Gremien.

Nur, wer wollte daraus irgendeine demokratische, moralische oder historische Legitimität ableiten? In der UNO saß auch die massenmörderische Pol-Pot-Regierung Kambodschas, und selbstverständlich war Hitlerdeutschland ein gleichberechtigtes Mitglied der »Völkergemeinschaft«, auch nach seinem Austritt aus dem Völkerbund. Stalins Sowjetunion saß mit Vetorecht im UN-Sicherheitsrat, so wie heute die eisenharten, die Menschenrechte mit Füßen tretenden Gerontokraten der Volksrepublik China. Keine Diktatur lief Gefahr, die völkerrechtliche Anerkennung zu verlieren (mit Ausnahme Südafrikas). Was will also die PDS daraus gewinnen, daß sie für die DDR die gleiche völkerrechtliche Legitimität beansprucht wie für die Länder Hitlers und Pol Pots?

 

   Ein offizielles Protokoll   

 

Der PDS-Historiker Günter Benser schreibt über die DDR: »Ihre mehr als vierzigjährige Geschichte war kein bloßer Ausrutscher der Geschichte, sondern ein ebenso in den Widersprüchen unseres Jahrhunderts angelegter Werdegang wie der längerwährende Weg der BRD (...).«89 Stimmt, aber hilft das weiter? Steckt darin irgendeine Aussage über die moralische, politische oder gar historische Legitimität der DDR? Natürlich nicht.90

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Und doch greifen PDS-Vertreter tief in die Munitionskiste der SED, um die letzte Schlacht um die völkerrechtliche Anerkennung der untergegangenen Republik zu schlagen. Uwe-Jens Heuer und Michael Schumann etwa zitieren in einem Artikel aus einem Protokoll des Bundes­justizministeriums91) »Was (...) die sogenannte DDR und deren Regierung betrifft, so handelt es sich dort nicht einmal um einen eigen­ständigen Staat; diese sog. DDR ist niemals von uns staatsrechtlich anerkannt worden. Es gab ein einheitliches Deutschland, von dem ein gewisser Teil von einer Verbrecherbande besetzt war. Es war aus bestimmten Gründen nicht möglich, gegen diese Verbrecherbande vorzugehen, aber das änderte nichts daran, daß es ein einheitliches Deutschland war, daß selbstverständlich ein einheitliches Recht dort galt und auf die Verbrecher wartete.« Empört kommentieren Heuer und Schumann: »Dieses Zitat stammt nicht von 1950,1960 oder 1970, sondern von 1991. Und es entstammt auch nicht einem extrem konservativen Provinz- oder >Welt<-Blatt, sondern dem offiziellen Protokoll des >Ersten Forums des Bundesministers der Justiz< am 9. Juli 1991 in Bonn.«

Ich habe natürlich alles daran gesetzt, den Urheber dieses Zitats in einem »offiziellen Protokoll« zu finden, denn ich konnte mir nicht vorstellen, daß solches Kalter-Kriegs-Geschrei von einem Minister oder Staatssekretär ertönt ist. Und ich stieß auf den gleichen miesen Trick, den SED und DKP immer wieder angewandt haben: Man reiße ein Zitat aus einem bestimmten Zusammen­hang und hänge es dem politischen Gegner an. Als ich endlich das »offizielle Protokoll« in Händen hielt, entpuppte sich besagtes Zitat zwar nicht als Äußerung eines »extrem konservativen >Welt<-Blatts« – diese Möglichkeit haben Heuer und Schumann ja gleich ausgeschlossen. Aber der so absichtsvoll wie plump verschwiegene Urheber der inkriminierten Sätze ist Enno v. Löwenstern, Chefredakteur der »Welt«.92 Also kein Offizieller in diesem »offiziellen Protokoll«, sondern ein konservativer Chefredakteur einer konservativen Zeitung.

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Nun verrät das Protokoll auch seinen Lesern Heuer und Schumann, daß am Forum des Justizministers am 9. Juli 1991 in Bonn 47 Personen aus verschiedenen politischen Lagern teilgenommen haben: neben dem damaligen Justizminister Klaus Kinkel etwa auch Antje Vollmer und Wolfgang Ullmann vom Bündnis 90/Die Grünen, der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse, der brillante linke Rechtsexperte der "Süddeutschen Zeitung" Heribert Prantl, die Journalistin Georgia Tornow, damals bei der "taz", oder auch der einstige DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Templin von der Initiative Frieden und Menschenrechte. Angesichts der heterogenen Zusammensetzung verwundert es nicht, daß es in der Diskussion des Forums heftig kontrovers zuging. Gestritten wurde natürlich auch über die exotische Auffassung Enno v. Löwensterns. Davon steht leider nichts im Artikel von Heuer und Schumann. Diese unterstellen statt dessen, daß die Auffassung Löwensterns die Haltung der Regierung sei. Jedem Leser des Protokolls, auch Heuer und Schumann, ist klar, daß diese Unterstellung falsch ist. Ihrer Meinung nach muß man es mit der Wahrheit offenbar nicht so genau nehmen, wenn man die hehre Sache des Sozialismus verficht.

 

   Ideologischer Kitt   

 

Die PDS bemüht sich auffällig darum, die DDR historisch, politisch und auch moralisch zu rechtfertigen. Dabei geht es ihr nicht darum, jeden Winkelzug des Politbüros und jeden Übergriff der Stasi gutzuheißen. Dies tut sie keineswegs. Viele ihre Mitglieder leiten aber aus der Rechtfertigung der DDR den Sinn ihrer Biographien ab. Wer einem Unrechtsstaat gedient hat, steht schlechter da als einer, der im Geiste der Geschichte handelte, bei allen eingestandenen Deformationen. Außerdem empfinden viele PDS-Mitglieder inklusive des Parteivorstands die Prozesse gegen Mauerschützen, DDR-Richter oder Politbürokraten als Herabsetzung aller DDR-Bürger. "Siegerjustiz!" rufen sie, weil gesamtdeutsche Gerichte über Taten ostdeutscher Bürger verhandeln, die zu beurteilen allein Sache von DDR-Gerichten gewesen wäre. 

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Aber es geht eigentlich gar nicht um juristische Fragen, sondern um eine Grundsatzposition, die für die Identität der PDS von ausschlaggebender Bedeutung ist. Die Partei geht nämlich davon aus, "daß der Versuch, nach 1945 im Osten Deutschlands eine antifaschistisch-demokratische Ordnung und später eine sozialistische Gesellschaft zu gestalten, eine legitime Alternative zum Konzept der Rettung des durch die Verbrechen des deutschen Faschismus geschwächten und diskreditierten Kapitalismus in Westdeutschland war. Der Einsatz von Millionen Menschen für den Aufbau einer besseren Gesellschaftsordnung und für ein friedliebendes Deutschland in Überwindung des faschistischen Erbes bedarf keiner Entschuldigung."93 So Uwe-Jens Heuer, der hier keineswegs die Position des Marxistischen Forums allein vertritt, sondern die der ganzen Partei.94

Was der KPF nicht gelungen ist, hat das Forum binnen kürzester Zeit geschafft: Themen in der Partei zu besetzen und deren Interpretation für die PDS verbindlich zu machen. Das gilt besonders für die juristische Rechtfertigung der DDR. Was die historische Legitimität des SED-Staats angeht, gibt es in der PDS schon seit ihrer Gründung eine umfassende Übereinstimmung aller politischen Flügel. So vertritt etwa auch der führende Parteireformer André Brie die These, "daß die konsequente und praktische Kritik des stalinistischen und poststalinistischen Sozialismus (...) nicht die historische Legitimität der Oktober­revolution oder des Versuchs, ein anderes, ein antifaschistisches Deutschland zu errichten, in Frage [stellt]".95 

Das ist die Kernthese, der ideologische Kitt, der die widerstreitenden Flügel zusammenhält. In ihr widerspiegelt sich die Identität der PDS, und wegen dieses fundamentalen Glaubenskonstrukts wird die PDS kaum eine gesamtdeutsche sozialistische Partei werden. 

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Diese Frage und eine andere — ob sie nämlich überhaupt eine sozialistische Partei ist — erörtere ich später. Hier soll erst einmal die These der historischen Legitimität der DDR überprüft werden, um zu schauen, wie der Keller aussieht, auf dem das PDS-Haus steht. 

 

   Okkupationssozialismus  

 

Die Behauptung, daß die Existenz der DDR historisch gerechtfertigt ist, steht in der Tradition einschlägiger SED-Thesen, in denen durchweg das Verhalten des Imperialismus für die Gründung der DDR verantwortlich gemacht wurde.96 Ungenannt wird unterstellt eine wesentliche Voraussetzung: daß nämlich der quasi natürliche Widerpart des Nationalsozialismus der reale Sozialismus sei (einen anderen gibt es ja bis heute nicht!). Diese Voraussetzung ist falsch. Ausgenommen in Rußland, siegte der reale Sozialismus nach der Niederschlagung Hitlerdeutschlands in Europa nur dort, wo die Panzer der Roten Armee standen. Nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in den Volksdemokratien bestimmte Stalin allein, was zu geschehen hatte. In keinem osteuropäischen Land kamen Kommunisten durch freie Wahlen an die Macht. Der Befreiung Osteuropas von der Terrorherrschaft der Nazis folgte eine verordnete Revolution. Der DDR-Experte Karl Wilhelm Fricke spricht folgerichtig von einem "Okkupationssozialismus"97. 

Ein entscheidendes Kennzeichen der Nazidiktatur war die Abwesenheit von Demokratie. Bei allem Fortschritt gegenüber der mörderischen Verfolgungswut der Nazis, Demokratie brachten die volksdemokratischen Umwälzungen den Menschen Osteuropas nicht. Die Alternative zu Nationalsozialismus und Faschismus aber ist Demokratie und nicht Diktatur.

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In Westdeutschland herrschten trotz einer vorzüglichen Verfassung bis in die sechziger Jahre hinein fast vordemokratische Verhältnisse, aber die Bundesrepublik war keine Diktatur. Es gab Meinungs- und Pressefreiheit, freie Wahlen und das Recht auf Versammlungen und Demonstrationen. Das war im Kern die richtige Antwort auf den Nationalsozialismus. Sie wurde aber erst wirksam mit der Studentenrevolte 1968. 

Die nach 1945 von vielen sozialen und politischen Kräften — bis hinein in die CDU, wie deren Ahlener Programm von 1945 zeigt — geforderte Enteignung des Finanzkapitals wäre eine weitere angemessene Antwort auf die NS-Diktatur gewesen. Aber nicht die entscheidende, wie in PDS-Kreisen behauptet wird. Dort wird nach wie vor die Definition des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale von 1935 strapaziert, wonach der Faschismus die "offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals"x sei.

Diese Bestimmung aber hat mehr mit den damaligen Zielen der Komintern zu tun - revolutionäre Beseitigung von Faschismus und Kapitalismus - als mit einer fundierten Analyse. Die NS-Diktatur war kein Instrument des großen Kapitals, sondern stützte sich auf die breite Zustimmung des deutschen Volks, die erst in den Kriegsjahren abbröckeln sollte. Eher könnte man Hitlers Herrschaft als Diktatur des Kleinbürgertums beschreiben. Die historische Schuld der deutschen Unternehmer und Bankiers aber besteht darin, die Diktatur unterstützt und von ihr skrupellos profitiert zu haben. Dies hätte als Grund ausgereicht, nicht nur Alfred Krupp und den IG Farben ans Leder zu gehen. Aber es wäre nicht die entscheidende antifaschistische Tat gewesen. 

Die Enteignungen zuerst in der Sowjetischen Besatzungszone, dann in der DDR, die Verstaatlichung von Produktionsmitteln schufen keine Demokratie, sondern war das ökonomische Rückgrat einer neuen Diktatur. Diese Diktatur des Politbüros nannte sich antifaschistisch, legitimierte sich auch durch antifaschistische Persönlichkeiten in führenden Position in Staat und Parteien, aber zog nicht die entscheidende Konsequenz aus der Geschichte des Dritten Reichs. Aus den Opfern der Nazis wurden stalinistische Täter.

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Die Historikerin Marianne Brentzel hat dies beispielhaft am Fall der DDR-Justizministerin Hilde Benjamin geschildert.99

Hinzu kommt noch ein weiterer Umstand: Der Zweite Weltkrieg war zu keinem Zeitpunkt ein Konflikt zwischen Sozialismus und Kapitalismus gewesen. Er begann durch den Überfall Nazideutschlands auf das kapitalistische Polen 1939 und weitete sich aus durch Kriege gegen Frankreich, England, die Niederlande, Belgien, Griechenland, Jugoslawien und andere kapitalistische Staaten. Wesentlich zum Sieg gegen Hitler trugen die kapitalistischen USA bei, von deren umfassenden Materiallieferungen auch die Rote Armee in ihrem "Großen Vaterländischen Krieg" profitierte. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg veranlaßten macht- und sicherheitspolitische Gründe Stalin, die Grenze seines Imperiums nach Westen zu verschieben, wobei er keine Rücksicht nahm auf Hitlers Opfer, vor allem nicht auf Polen. Durch Erpressung, Drohung und Gewalt wurden die osteuropäischen Staaten zuerst in Volksdemokratien - in der DDR hieß es "antifaschistisch-demokratische Ordnung" - verwandelt, um dann quasi im Gleichlauf mit dem Aufbau des Sozialismus zu beginnen. 

Was bleibt angesichts dessen von der historischen Legitimität des realen Sozialismus in den Staaten Osteuropas inklusive der DDR? Vielleicht doch die "historische Mission der Arbeiterklasse"? Oder spukt in den einschlägigen Argumenten immer noch die Idee herum, daß im Ablauf der Gesellschaftsformationen der Sozialismus nach dem Kapitalismus komme, wenn auch in einer deformierten Variante. Daß der Sozialismus also die nächste notwendige Stufe und insofern die historische Alternative zu Kapitalismus sei? Ich vermute, daß diese Vorstellungen in unterschiedlicher Zusammensetzung und Verdünnung zum dubiosen Argument der historischen Legitimität beitragen. 

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Das gilt gleichermaßen unausgesprochen für die Eigentumsfrage. Denn wenn man die Vergesellschaftung der Produktionsmittel als historische Antwort auf den Faschismus betrachtet, unterstellt man, daß der Faschismus lediglich eine Spielart des Kapitalismus sei und daß man, um den Faschismus vom Erdball zu tilgen, den Sozialismus einführen müsse. In Wahrheit handelt es sich beim Faschismus aber um eine Staatsform des Kapitalismus und keineswegs um eine typische, wie die Geschichte zeigt. Diese Erkenntnis hatte übrigens auch die Komintern bereits 1935 gewonnen100 und sich dadurch distanziert von den deutschen Kommunisten, die den Nationalsozialismus maßlos unterschätzt hatten101. Eine seltsame Logik, daß die Verbrechen einer Staatsform die Ablösung einer Gesellschaftsformation verlangen sollen. 

Dietmar Keller hat sich vielleicht auch deshalb reichlich Haß in PDS-Kreisen zugezogen, weil er treffend auf einen Umstand aufmerksam gemacht hat, der zumindest zum Teil die dubiosen Versuche einer historischen Rechtfertigung der DDR erklärt. Er spricht von einem "Legitimitätsglauben an eine mögliche deutsche Alternative". Er führt diesen Glauben zurück auf das Fehlen einer breiten humanistischen Bildung seiner Generation: "Wir hatten ein Weltbild, ein Geschichtsbild, das im Prinzip aus Revolutionsgeschichte bestand. Für uns war sozusagen die Welt eine Welt von Revolutionen. Daß es dazwischen Jahrhunderte gab mit evolutionären Entwicklungen, prägte uns nicht, davon hatten wir fast keine Ahnung."102 Es ist exakt dieses Weltbild, das in der These von der historischen Legitimität des sozialistischen Versuchs der DDR mündet. Die These ist vor diesem Hintergrund plausibel. Aber sie ist genauso falsch wie der Hintergrund. 

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   Antifaschismus als Propagandawaffe   

 

Beim Versuch, den Wirrwarr der Thesen und ihren ideologischen Untergrund zu beleuchten, stoßen wir einmal mehr auf den Faktor Heimat. Denn das tragende Argument in allen Lagern der PDS lautet: daß nach 1945 Hunderttausende oder Millionen - die Zahlen schwanken - den Nationalsozialismus mit Stumpf und Stiel ausrotten und eine neue, friedliche Gesellschaftsordnung schaffen wollten. Das ist eine unbestreitbare Tatsache. In vielen Gesprächen haben mir Veteranen des sozialistischen Aufbaus spannende und bewegende Episoden berichtet. Kein Zweifel ist möglich, daß die Kommunisten und Sozialdemokraten, die die KZs überlebt hatten oder aus der Emigration nach Deutschland zurückkehrten, diesem hohen moralischen Anspruch gerecht werden wollten. Das waren in aller Regel keine Stalinisten103, sondern Überlebende des Infernos, die nicht auf Moskaus Weisungen warteten. Es gibt viele Berichte von Aktionen auf lokaler Ebene, wo Kommunisten und Sozialdemokraten Antifaschismus praktizierten. Aber die Besatzungsmacht und die aus der Sowjetunion eingeflogene KPD-Führung nahmen die eigenen Genossen bald an die Kandare.104

Zwar stand in Ostdeutschland nach wie vor alles unter dem Zeichen des Antifaschismus, aber in Wahrheit bestimmten zunehmend Moskaus machtpolitische Ambitionen die Politik, vor allem sein Sicherheitsdenken. Das zeigte sich besonders mit dem Aufkommen des kalten Kriegs. Der Antifaschismus verkam zunehmend zur Propagandawaffe. SED-Ideologiechef Albert Norden etwa enttarnte vor laufenden Kameras reihenweise Nazis in hohen Positionen in Westdeutschland (und davon gab es ja auch einige), aber es ging darum, die DDR als das "bessere Deutschland" zu verkaufen, als den Teil des einstigen Dritten Reichs, der die Konsequenzen aus der Hitlerdiktatur gezogen habe. Und bald löste die SED die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) auf, deren westliche Dependance sie aber aus durchsichtigen Gründen weiter finanzierte. 

So unbestreitbar der Wille vieler war, antifaschistische Politik zu machen, die Politik machte Moskau, wobei es eine kleine Gruppe deutscher Spitzenkommunisten miteinbezog. Und insofern viele Antifaschisten eine bessere, demokratische Gesellschaft aufbauen wollten, wurde ihr Wille ausgenutzt und betrogen.

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Walter Ulbricht, der starke Mann der SED, sagte lapidar: "Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben."105) 

Man darf in der Geschichtsbetrachtung den subjektiven Willen sekundärer Akteure nicht mit der Wahrheit verwechseln. Dieser Gedankenfehler erstaunt besonders bei jenen, die bei anderer Gelegenheit immer wieder "objektive Interessen" oder "objektive Widersprüche" ins Feld führen. 

Es geht also nicht um das, was viele wollten (das war schwammig genug), sondern um das, was wenige taten. Und dies richtete sich allein nach den jeweiligen Moskauer Absichten. Einen Spielraum hatten ostdeutsche Akteure nur in dem Rahmen, den Stalin setzte. 

Das ist der entscheidende Ausgangspunkt auch für die Frage, ob die DDR demokratisch gerechtfertigt werden kann. Betrachten wir die zentralen Stationen der Frühgeschichte der DDR, so fällt die Antwort eindeutig aus. 

Freie Wahlen sind das zentrale Kriterium, um eine Regierung und einen Staat demokratisch zu legitimieren. Wahlen, die diesen Namen halbwegs verdienen, hatte es in der SBZ/DDR nur im Herbst 1946 gegeben: im September und Oktober wurden Kommunal- und Landtagswahlen durchgeführt. Zwar erhielt die SED bei den Landtagswahlen mit 4,65 Millionen die meisten Stimmen, aber eine klare Mehrheit wurde verfehlt. LDPD und CDU gewannen zusammen mehr Stimmen (2,41 beziehungsweise 2,39 Millionen). Bei den Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung, bei denen auch die SPD antrat, landete die Einheitspartei sogar nur auf Platz drei mit kläglichen 19,8 Prozent. 

Man muß bei der Betrachtung dieser Wahlresultate wissen, daß in der Sowjetzone die gerade gegründete SED sich größter Unterstützung durch die Besatzungsmacht erfreute. Die Einheitssozialisten beherrschten die Massenmedien, erhielten den Löwenanteil des knappen Papiers und führten das Wort in den Verwaltungen.

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Die Sowjetische Militäradministration (SMAD) bearbeitete die bürgerlichen Parteien, setzte deren Vertreter unter Druck, schreckte auch vor Verhaftungen und Hinrichtungen nicht zurück. "Faschistische Agenten" waren schnell ausgemacht. SMAD-Vertreter nahmen an Sitzungen der Parteien teil, kontrollierten die Landtage und hoben Beschlüsse auf, die ihnen nicht paßten.106 

Demagogisch erklärte Walter Ulbricht, Zwangsmaßnahmen seien nicht vorgesehen. Vielmehr sollten die Kritiker der SED-Politik sich auf öffentlichen Veranstaltungen für ihre "Nein-Propaganda" verantworten. Die Betroffenen hatten keine Chance, sich gegen ihre kommunistischen Ankläger zu wehren. Wenn sie zugaben, die Politik Moskaus abzulehnen, lieferten sie selbst den Verhaftungsgrund. "Es wäre doch gelacht, wenn wir bei dieser Demokratie nicht gewinnen würden", spottete SED-Sekretär Walter Ulbricht.xviii Er sollte, wie so oft, recht behalten. 

Die konkurrierenden Parteien wurden von den Besatzungsbehörden so lange unter Druck gesetzt, bis SED-hörige Führungen installiert waren. Die Säuberungswellen gingen bis weit in die fünfziger Jahre hinein, und es ist bemerkenswert, daß einige der wichtigen Parteireiniger noch immer Mitglieder der CDU sind.xix 1948 gründeten die SMAD und die SED zwei weitere Parteien, um den klassischen bürgerlichen Parteien LDPD und CDU das Wasser weiter abzugraben: die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD), auch "grüne SED" genannt, und die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD), die einstige Wehrmachtangehörige und kleine Nazis für die SED mobilisieren sollte. 

Die Parteien wurden im "Demokratischen Block" zusammengeschlossen, in dem Entscheidungen nur einstimmig getroffen werden durften, während die wichtigen Beschlüsse ganz woanders gefällt wurden. Der Block verkam schnell zum reinen Akklamationsorgan. Bei Wahlen setzte die SED die Einheitsliste der Nationalen Front durch. Die SED beherrschte die Nationale Front auch durch formal selbständige Organisationen, in denen die Partei den Ton angab, wie der Freien Deutschen Jugend (FDJ) oder dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB). 

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Mangels freier Wahlen oder Abstimmungen, durch die Kastrierung der parteipolitischen Konkurrenz und massive Eingriffe der Besatzungsmacht war die SED binnen kurzer Zeit die alleinherrschende Partei, genauer gesagt: der alleinige Befehlsausführer Moskaus. 

 

   Zynische Offenheit   

 

Die Gründung der DDR war schon formalrechtlich mehr als dubios. Sie wurde ins Leben gerufen durch einen "Deutschen Volksrat", der sich am 7. Oktober 1949 als "Provisorische Volkskammer" konstituierte und eine Verfassung verabschiedete. Der Volksrat entsprang dem 3. Deutschen Volkskongreß, der im Mai 1949 zustande gekommen war aufgrund der ersten Einheitslistenwahl. Unabhängige Kandidaturen waren untersagt. Das Sammelsurium aus allen Parteien und verschiedenen SED-dominierten Organisationen der SBZ erhielt allerdings gerade mal 66,1 Prozent der Stimmen, und das erst, nachdem noch einmal kräftig "nachgezählt" worden war. Man sieht, Egon Krenz ist nicht der erste Wahlfälscher der DDR. 

Der das Schicksal der DDR und ihrer Bürger wie nichts anderes bestimmende Beschluß zum Aufbau des Sozialismus entbehrt gleichfalls jeder demokratischen Legitimität. Auf einer Parteikonferenz - also nicht einmal einem Parteitag! - im Juli 1952 erklärte Ulbricht: "In Übereinstimmung mit den Vorschlägen aus der Arbeiterklasse, aus den Reihen der werktätigen Bauern und aus anderen Kreisen der Werktätigen hat das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beschlossen, der II. Parteikonferenz vorzuschlagen, daß in der Deutschen Demokratischen Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird."xx Dieser maßgebende Schritt, der die DDR endgültig dem stalinistischen Sozialismusmodell anglich, war kein Gesetz der Volkskammer. Und in Wahrheit war sogar die Parteikonferenz reine Staffage. 

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Im November 1960, acht Jahr später, erklärte Ulbricht SED-treuen Historikern in zynischer Offenheit, daß die sozialistische Orientierung der DDR keineswegs dem Beschluß der deshalb gepriesenen 2. Partei­konferenz im Juli 1952 gefolgt war, wie es die Parteigeschichtsschreibung behauptete. Das war schon vorher ausgemachte Sache gewesen. Im Protokoll der Zusammenkunft (an der auch Forumsmarxist Ernst Engelberg teilnahm) steht: "Genosse Ulbricht erläuterte, daß wir bisher den Beginn ab 1952 beschrieben haben. In Wirklichkeit erfolgte der Aufbau des Sozialismus mit der Annahme des 1. Fünfjahrplanes."110 Also 1950.

Und vier weitere Jahre später verriet Ulbricht in einer Sitzung des "Autorenkollektivs zur Ausarbeitung der dreibändigen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" den staunenden Parteiideologen und -historikern, wer den in der einschlägigen Propaganda als das "gesetzmäßige Ergebnis der über hundertjährigen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" gefeierten DDR-Sozialismus tatsächlich inszeniert hatte: "Das war nur ein ganz kleiner Kreis. (...) An dieser wirtschaftlichen Entwicklung in der damaligen Zeit waren drei Mann leitend beteiligt, und zwar Heinrich Rau*, Bruno Leuschner** und ich. Andere sind nicht hinzugezogen worden."111

* Heinrich Rau

** Bruno Leuschner

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PDS-Vorstandsmitglied Michael Schumann berichtete auf einer Konferenz: "Wir dürfen aber nicht vergessen, daß die DDR nicht hinreichend souverän gewesen ist. Ich habe mit Karl Schirdewan*** lange Gespräche geführt. Er hat mir z. B. erzählt, wie das 1952 auf der 2. Parteikonferenz vor sich gegangen ist. Dort wurde beschlossen, den Sozialismus aufzubauen. Also, dem ging keinerlei Diskussion in der Partei voraus. Selbst das ZK wurde erst kurz vor der Konferenz informiert, daß man eine solche Entscheidung herbeiführen wollte. Das war eine Geschichte, die wurde mit den führenden Leuten des Politbüros vereinbart, und zwar nach dem Willen Moskaus. In den Politbürositzungen saß Semjonow****, und alle Entscheidungen von einiger politischer Bedeutung — so ist mein Eindruck von dem, was ich erfahren habe — wurden maßgeblich von den sowjetischen Vorstellungen geprägt."112

*

 

Während die Kommunisten in westlichen Ländern geradezu versessen darauf schienen, die bürgerliche Demokratie durch plebiszitäre Elemente zu erweitern, wurden die Bürger in den sozialistischen Staaten nicht einmal gefragt, als es um Entscheidung ging, wohin sich die Ulbricht-Republik, die sich demokratisch nannte, entwickeln sollte. 

Der Aufbau des Sozialismus mündete im 17. Juni 1953, als das Politbüro bis auf Fritz Selbmann im Schutz der Besatzungsmacht darauf wartete, daß die sowjetischen Panzer den Arbeiteraufstand in Berlin und in anderen Städten niederwalzten. 

Die SED hat nicht eine einzige ihrer Entscheidungen dem von ihr beherrschten Volk zur Abstimmung gestellt.113 Ja, noch mehr, die Parteiführung hat allein die Macht ausgeübt und die Mitgliedschaft entmündigt. Treffend spricht der PDS-Historiker Manfred Kossok von einer "oktroyierten Revolution"114. Und Michael Schumann, der gerne auf Konferenzen die Legitimität der DDR einklagt, schreibt, "daß es in der DDR niemals eine mehrheitliche Zustimmung zur Art und Weise der politischen Herrschaftsausübung durch die SED-Führung gegeben hat".115

* Wladimir S. Semjonow ......

*** Karl Schirdewan .......

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Hinzuzufügen ist: Die Führung hat sich nach dem Mauerbau nicht einmal dafür interessiert, ob sie eine Mehrheit hinter sich hatte. 1979 wurde das Institut für Meinungsforschung aufgelöst. Seitdem genügten den Herren im Politbüro die selbstinszenierten Jubelveranstaltungen, die umfassend organisierten Leserbriefkampagnen und die Huldigungen aus der eigenen und den befreundeten Parteien und Massenorganisationen. Und doch spricht etwa Detlef Joseph, Staatsrechtler und PDS-Mitglied, vom Gesellschaftsversuch, "der unternommen wurde, um Humanismus, Beseitigung von Ausbeutung, soziale Gleichheit und soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen".116 Eine PDS-typische Verwischung der Realität.

 

    Die von Tatsachen entkleidete Idee    

 

Ich habe auf unzähligen Diskussionen mit PDS-Mitgliedern immer die gleichen Einwände gehört: "Wir sind nur unseren Idealen gefolgt." – "Wir hatten die bessere, humanere Idee." – "Wir wollten eine gerechte Gesellschaft ohne Ausbeutung aufbauen." 

Läßt sich die DDR also legitimieren durch eine moralisch überlegene Idee? Es werden zahlreiche Beispiele angeführt, die belegen sollen, daß in der DDR die Idee nicht auf dem Papier blieb: sichere Arbeitsplätze, Kindergärten, Gleichstellung der Frau, niedrige Mieten usw. usf. Nicht genannt wird die Tatsache, daß die Bevölkerung im Arbeiter-und-Bauern-Staat ausgeschlossen war von der Macht. Das ist der entscheidende Punkt. Und anzumerken ist auch, daß die sozialen Wohltaten seit dem VIII. Parteitag der SED 1971 die DDR-Wirtschaft überforderten und in einer staatsbedrohenden Überschuldung endeten. Und überhaupt: Kann man derlei fragwürdige Errungenschaften verrechnen mit den Mängeln und Verbrechen eines Regimes. Das klingt mir zu sehr nach Autobahnen. 

Am Ende bleibt die von Tatsachen entkleidete Idee. Die Kluft zwischen den klassischen Zielen des frühen Sozialismus, aber auch

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den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels und dem realen Sozialismus ist unüberschreitbar tief. Man könnte sich diesen Fall leichtmachen und darauf verweisen, daß nach Engels die Praxis das Kriterium der Wahrheit sei. In der Tat, was nützen die schönsten Ideale, wenn ihre Verwirklichung in zentralen Punkten das Gegenteil ergibt? 

Der Schriftsteller Peter Schneider hat vor vielen Jahren in einem vorzüglichen Essay darauf verwiesen, daß die großen gesellschaftlichen Verbrechen in diesem Jahrhundert im Namen einer Idee verübt worden seien.117 Es ist in der Tat grotesk, wie man einem "reinen Ideal" folgen kann, indem man Verbrechen duldet, wegdiskutiert oder rechtfertigt. Aber das haben praktisch alle Mitglieder der SED getan. Auch die der DKP, ich weiß. 

Hehre Ideale sind meist gefährlich. Sie erweisen sich zu oft als Einfallsschneisen der Unterdrückung, wenigstens dann, wenn sie auf Endzustände zielen. Rechtfertigt ein überlegenes Ideal, die Befreiung der Menschheit von allem Übel, nicht geradezu Gewalt, wenn das Ziel nur durch sie zu verwirklichen ist? Politik wird menschlicher, wenn sie darauf verzichtet, absolute Ideale durchsetzen zu wollen. Die Umsetzung des hehren sozialistischen Ideals nach Lesart des Marxismus-Leninismus hat weltweit einen Berg von Gewalttaten angehäuft. Der Gipfel ist noch nicht erreicht, wie die Beispiele China und Nordkorea zeigen. 

Was könnte die sozialistische Idee und alle Versuche, sie zu verwirklichen, stärker beschädigen als die eigene Praxis? Zu Recht erkennt Günter Benser: "Die Verletzungen von Menschen- und Bürgerrechten und das vielen Menschen widerfahrene Unrecht stellen die schwerste Selbstdiskreditierung des sozialistischen Experiments auf deutschem Boden dar (...)."xxix 

Und der PDS-Vorstand erklärte in seinem Bericht an den 2. Parteitag im Januar 1991: Der reale Sozialismus "war eine gesellschaftliche Ordnung, in der die ursprüngliche Idee des Sozialismus, daß sich die Menschen selbst eine sozial gerechte, demokratische und solidarische Gesellschaft schaffen, nicht nur nicht eingelöst, sondern auf wesentlichen Gebieten ins Gegenteil verkehrt wurde".

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Soweit, so richtig. Dann jedoch folgt der denkwürdige Satz: "Aber wir bekennen uns zu dem Versuch einer Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft."xxx Ein klares Beispiel, wie man aus einer richtigen Analyse eine falsche Schlußfolgerung zieht. Wenn die Praxis die Idee ad absurdum führt, wie kann die Idee dann die Praxis rechtfertigen? 

Parteirtheoretiker Michael Brie schreibt gar, daß der DDR-Sozialismus weder der ideale noch der reale, noch der unreife Sozialismus" war. "Er war seinen Strukturen, seinen wichtigsten Institutionen nach keiner, oder man müßte den Begriff Sozialismus aufgeben."xxxi Aber wenn der reale Sozialismus kein Sozialismus war, wie kann die sozialistische Idee diesen realen Sozialismus rechtfertigen? Und: Bedeutet angesichts solcher Einsichten die historische Legitimierung des realen Sozialismus - bei allen eingestandenen Deformationen - nicht, das Unrecht des SED-Regimes zu relativieren?

 

    Das dritte Reich "differenzierter" betrachten   

 

Ich sehe ihn genau vor mir, den kleinen weißhaarigen Mann. Nein, nicht den von der KPF im Berliner Karl-Liebknecht-Haus im Raum 201. Sondern einen würdigen älteren Herrn mit Brille, den es auf fast jeder PDS-Veranstaltung gibt, an der ich bisher als Vortragender teilgenommen habe, vor allem bei Lesungen. Der Herr mit Brille hört mir geduldig zu, notiert eifrig dies und jenes auf einem Blatt Papier, und irgendwann in der Diskussion meldet er sich. Wenn er dran ist, erhebt er sich vom Platz, nimmt seinen Notizen in die Hand, lächelt freundlich und beginnt seinen Redebeitrag, indem er mir grundsätzlich zustimmt. Es müßten aber doch noch einige Punkte ergänzt werden. Er schaut auf sein Blatt Papier und listet dann alle Verbrechen des Imperialismus auf, angefangen vom Ersten Weltkrieg bis zum Vietnamkrieg. Und der reale Sozialismus habe bei allen Mängeln die Welt 

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vor dem Faschismus gerettet und den stets aggressiven Imperialismus gezügelt. Dies und manches andere möge ich doch in meine Bilanz mit aufnehmen. Der ältere Herr mit Brille trägt das alles ruhig vor, dann lächelt er wieder freundlich und setzt sich hin. 

Es ist hier nicht erforderlich, den Wahrheitsgehalt der Aussagen des älteren Herrn zu beleuchten (und beileibe ist es nicht ganz falsch, was er sagt), es geht vielmehr um eine andere Frage: um die Relativierung der Untaten des eigenen Regimes, indem sie mit den Untaten anderer verrechnet werden

Das ist eine uralte Masche, am weitesten entwickelt haben sie Exnazis und Wehrmachtverschönerer, die außerordentlich findig sind, wenn es darum geht, Übergriffe der Alliierten anzuführen. Und die KZs haben ja die Engländer im Burenkrieg erfunden. Die Verrechnerei bedeutet, die Verbrechen kleiner zu reden. Als würden Verbrechen anderer die eigenen weniger schmerzhaft machen. Es ist eine feige Argumentation, die vor allem die Opfer verhöhnt. Denen kann es nämlich egal sein, ob ihre Verfolgung einzigartig ist oder nicht. Aber geradezu selbstentlarvend wird das geistige Verrechnungsgebäude, wenn man nach den Kriterien schaut. Mit der Verrechnerei begeben sich die Verfechter des realen Sozialismus nämlich freiwillig auf das Niveau jener, denen sie moralisch um Welten voraus sein wollen. Das passiert, wenn die eigene politische Existenz zur Selbstrechtfertigung verkommt. Den traurigen Höhepunkt der Verrechnungsakrobatik erlebte ich bei einer Reise im Herbst 1990. In Diskussionen mit PDS-Mitgliedern fiel mir auf, daß immer wieder die einschlägig bekannten Wohltaten der SED aufgezählt wurden, um die Bilanz des Regimes zu verbessern. Als ich darauf hinwies, daß man auf diese Weise auch den Nationalsozialismus schönreden könne, hörte ich nicht nur einmal die Antwort: Ja, vielleicht müsse man das Dritte Reich "differenzierter" betrachten. So tief kann man fallen, wenn man die eigene Biographie retten will. 

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Die offenkundigen Ungereimtheiten in den Erklärungen von PDS-Vertretern, der Versuch, eine Sache zu rechtfertigen, die ja viele in der Partei als völlig mißlungen betrachten, hat Gründe, die nicht in der Sache selbst liegen können. Herbert Burmeister, der Geschäftsführer der Historischen Kommission der PDS, hat dazu Aufschlußreiches berichtet. Mit dem Zusammenbruch alter Wertvorstellungen wachse neben dem Wunsch nach neuen Antworten "das Hoffen, es sei doch nicht alles, für das Mensch sich eingesetzt hat, schlecht gewesen". Für viele PDS-Mitglieder, "die sich für die sozialistische Alternative in Deutschland engagiert hatten, ist dieser Abschnitt nicht nur Geschichte, es ist zugleich ihr Leben".xxxii Angela Marquardt, bis Januar 1997 stellvertretende Parteivorsitzende, referierte auf einer Konferenz treffend, das Ziel der Geschichtsbetrachtungen ihrer Genossen sei meist vor allem die "Bewahrung der Biographie vor staatlichem, vor fremdem Zugriff. (...) Und so verstehe ich das Schutzinteresse für die eigene Biographie als einen Reflex auf den überdeutlichen Zugriff staatlich sanktionierter Bewertungsmaßstäbe. Dieser Reflex ist zunächst apolitisch."122

 

     Ich kann doch nicht umsonst gelebt haben    

 

Es geht in der Debatte um die Legitimität der DDR in Wahrheit in erster Linie um Vor-Urteile. Sie bleiben meist unberührt von der ja oft richtigen Analyse. Es ließen sich unzählige Zitatstellen anführen, in denen etwa die Brie-Brüder, Gregor Gysi, Lothar Bisky oder auch Parteivize Wolfgang Gehrke den realen Sozialismus scharfsinnig kritisieren. Ich werde an anderer Stelle zeigen, daß einige Historiker mit PDS-Mitgliedsbuch auch am Stalinismus kein gutes Blatt lassen. Und doch tönt es im Gleichklang, daß die DDR ein berechtigter Versuch gewesen sei. 

Beweisen kann ich es nicht, aber ich unterstelle, daß manche führenden Parteifunktionäre glauben, Rücksicht auf die Stimmung an der Basis nehmen zu müssen.

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Daß sie befürchten, dort jeden Rückhalt zu verlieren, wenn sie die Axt an die Biographien der einstigen SED-Aktivisten legen. Weil das Verhältnis zwischen den mehrheitlich auf Reformkurs stehenden Funktionären und der Masse der Mitglieder ohnehin brüchig ist, agieren die Spitzengenossen in diesem Punkt wohl auch taktisch. Sie würden sich sonst selbst den Boden unter den Füßen wegziehen. Das käme politischem Selbstmord gleich. Druck genug also, um Zugeständnisse zu machen. 

Die Hoffnung, die Vorurteile in der Mitgliedschaft auszuräumen, haben selbst die am meisten auf Aufklärung erpichten Genossen längst aufgegeben. Es wäre auch ein hoffnungsloses Unterfangen. In Zeiten des Umbruchs, in denen alte Werte entwertet werden und neue Werte sich in einer als feindlich empfundenen Umwelt nicht durchsetzen können, bleibt vielen Genossen nur die Vergangenheit. Viele Erfahrungen sind davor geschützt, überprüft zu werden, und tief verankert im Bewußtsein. Die Genossen fühlen sich nicht zuletzt betrogen von denen, die blühende Landschaften versprachen, und gleichzeitig bestätigt. Sehen sie doch in jedem Versagen des bundesdeutschen Kapitalismus eine Bestätigung der eigenen Vergangenheit. In einer Zeit des Wandels sind es die Vorurteile, "die den Menschen vor neuer, mitunter beängstigender Erfahrung schützen", schreibt der brandenburgische Sozialdemokrat Hans-J. Misselwitz in seiner beeindruckenden Studie über die Befindlichkeit der Ostdeutschen.123

 

Der kleine weißhaarige Herr mit Brille, den ich auf so vielen Veranstaltungen erlebt habe, führt ganz am Ende, wenn er mit seiner Liste der Missetaten des Imperialismus durch ist, ein aus seiner Sicht schlagendes Argument an: "Ich kann doch nicht umsonst gelebt haben." Ich habe mir mit meiner Antwort auf diese Behauptung, vorsichtig formuliert, wenig Freunde gemacht: "Doch, man kann umsonst gelebt haben. Nämlich dann, wenn man einer schlechten Sache gedient hat, auch wenn man dafür die besten Gründe nennt." 

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Aber diese Antwort ist unvollständig, und sie kann von dem älteren Herrn mit Brille natürlich nicht akzeptiert werden, weil sie in Hoffnungslosigkeit mündet. Deshalb eine wichtige Ergänzung: Man gibt seinem Leben keinen Sinn, wenn man einer schlechten Sache gedient hat und sich darüber nicht bewußt werden will. Wenn man nicht sich selbst auf den Prüfstand stellt. Wenn man seine Biographie rettet durch Verdrängung statt durch Aufklärung. Wenn man nicht aufgrund einer schonungslosen Selbstanalyse bereit ist, alles umzustoßen, was einer Überprüfung nicht standhält. Das ist viel verlangt. Aber anders geht es nicht. Man verlängert sonst die erlittene Täuschung und Verführung nur durch Selbsttäuschung. 

Leider dürfte auch diese Erweiterung meines Gegenarguments den älteren Herrn mit der Brille nicht umstimmen. Denn um Unrecht einzugestehen, muß man es wahrnehmen. Nicht einmal das scheint vielen Genossen möglich zu sein. Ich erinnere mich noch gut an eine hitzige Diskussion irgendwo in Thüringen, als ein PDS-Mitglied unter Beifall erklärte, daß man zu DDR-Zeiten doch nicht nur schikanös mit Bürgerrechtlern umgegangen sei. Bärbel Bohley und Wolfgang Templin etwa hätten doch 1987 sogar für ein Jahr nach England reisen dürfen. Davon habe der Normal-DDR-Bürger nur träumen können. Ein perfides Argument, denn die Stasi hatte die beiden Bürgerrechtler vor die Alternative gestellt, das Land für ein Jahr zu verlassen oder eingesperrt zu werden. Die Stasi wollte die Unruhestifter loswerden, so oder so, und das mildere Mittel war die befristete Ausweisung. Das finden manche in der PDS noch heute human.

 

Es hat in der Geschichte der DDR viel Unrecht gegeben. Millionen haben es im Sozialismus Ulbrichts und Honeckers nicht ausgehalten und sind geflohen. Zwischen 1950 und 1988 wurden Tausende von Menschen aus dem Grenzgebiet zwangsausgesiedelt, 

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oft in Nacht-und-Nebel-Aktionen auf Lastwagen verfrachtet, deportiert und enteignet.124 Allein in der "Aktion Ungeziefer" wurden zwischen dem 29. Mai und dem 13. Juni 1952 insgesamt 8351 Menschen verschleppt. Die Zahl der politischen Gefangenen zwischen 1949 und 1989 wird auf 180.000 geschätzt (ohne die 1949 von den sowjetischen Behörden übernommenen Häftlinge). Zwischen 1964 und 1989 kaufte Bonn fast 32.000 Häftlinge frei125eines der unwürdigsten Kapitel der DDR-Justiz. In den achtziger Jahren wurden manche Menschen eingesperrt, damit die Bundesregierung sie gegen harte Mark freikaufte. Belassen wir es dabei, ich habe an anderer Stelle bereits auf die Unrechtsbilanz der DDR verwiesen. Sie anzuführen ist wichtig, schließlich gehört zur demokratischen Legitimität eines Staatswesen die Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien. 

 

     Gegnern keine theoretische Munition liefern    

 

Die DDR war kein Rechtsstaat, auch wenn Erich Honecker in den achtziger Jahren gerne vom "sozialistischen Rechtsstaat" gesprochen hat. Gewiß wurden in der DDR viele Gerichtsverfahren durchgeführt und viele Urteile gefällt, die dem geltenden Gesetz entsprachen und auch nach übergeordneten Maßstäben gerecht waren. Die Gesetze der DDR waren einfacher als die der Bundesrepublik, und viele waren einleuchtend. Nicht umsonst wird in den Verfahren gegen DDR-Bürger heute das Recht der DDR angewandt, um das Rückwirkungsverbot - keine Strafe ohne Gesetz - zu beachten. 

Aber immer war wenn die Machtfrage berührt schien, begann in der Justiz der DDR die Willkür. Von den sieben DDR-Juristen, die den sozialistischen Regimekritiker Robert Havemann 1976 zu mehrjährigem Hausarrest und 1979 zu 10 000 Mark Geldstrafe verurteilten, zeigten sich immerhin zwei im nachhinein beschämt.xxxvii Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, wollte man die 

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Übergriffe der DDR-Justiz und des Ministeriums für Staatssicherheit auf Bürger schildern, ob Bürgerrechtler, Ausreisewillige oder auch innerparteiliche Opponenten. In zahlreichen Fällen folgte die Justiz der DDR Vorgaben des Politbüros oder der Stasi.

Rechtsstaat bedeutet zunächst einmal nichts anderes, als die Staatsgewalt durch Gesetze zu begrenzen und den Schutz individueller Freiheiten gesetzlich zu verankern. Zwar standen in allen DDR-Verfassungen wohlklingende Artikel über demokratische Rechte, in der Praxis gab es sie nicht. Die Bürger konnten sie auch nicht einklagen. Das spitzfindige Argument zur Begründung lautete: Warum sollten die Arbeiter und Bauern, die an der Macht seien, sich selbst verklagen? In der feineren, "offiziellen" Version hieß es: "In der sozialistischen Gesellschaft ist das Privateigentum an Produktionsmitteln für immer beseitigt und das gesamtgesellschaftliche Volkseigentum geschaffen. Es gibt keine Gegenüberstellung von Gesellschaft und Staat, von Individuum und Bürger. Alle Zweige des sozialistischen Rechts dienen der Realisierung der gesamtgesellschaftlichen Erfordernisse und damit zugleich der Verwirklichung der Interessen der Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft."127 

Es ist in der PDS mittlerweile weithin anerkannt, daß die DDR kein Rechtsstaat war. Auch der einstige DDR-Rechts­wissenschaftler Ingo Wagner, Mitautor des Lehrbuchs "Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie", vertritt die Position, daß die DDR kein Rechtsstaat gewesen sei "im Hinblick auf den Staatsaufbau, die Stellung der Justiz im Gewaltensystem, den Rechtsschutz der Bürger gegen Akte staatlicher Gewalt und vor allem der Unverbrüchlichkeit der politischen Menschenrechte".xxxix 

Aber praktisch alle Vertreter der PDS, die sich zu diesem Thema äußern, verwahren sich gegen die These, daß die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei. Erbost hat sie vor allem eine Äußerung des damaligen Bundesjustizministers Klaus Kinkel auf dem Deutschen Richtertag 1991, wo der FDP-Politiker forderte, das "SED-Regime zu delegitimieren". 

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Manche interpretieren Kinkels Rede gar als Auftrag an die Richter129 und beweisen damit nur, daß sie die Strukturen der SED-Justiz offenbar für weiter verbreitet halten, als sie es jemals waren. Man kann ja gegen deutsche Richter ein Menge anführen - gerade aus der Sicht der Geschichte -, aber die Vorstellung, daß sie sich einen Auftrag von einem Minister geben lassen, ist absurd. Und wenn die Genossen die Rechtsprechung zum Beispiel im Fall Markus Wolf verfolgt haben oder auch im Hinblick auf die Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst wegen Nähe zum SED-Staat, dann sollten sie diesen Unsinn ganz schnell aus ihrem Vokabular streichen. Markus Wolf sitzt nicht im Gefängnis, obwohl man der Staatsanwaltschaft nicht vorwerfen kann, das nicht mit allen Kräften angestrebt zu haben. Und reihenweise gewannen Lehrer und andere Angehörige des öffentlichen Dienstes in Prozessen gegen bereits ausgesprochene Entlassungen. 

War die DDR ein Unrechtsstaat? In der Auseinandersetzung mit dieser These finden wir an vorderster Kampfesfront in Veröffentlichungen und auf Konferenzen wie Pat und Patachon die Speerspitze der Staatsrechtsgarde der DDR: Uwe-Jens Heuer und Michael Schumann. In einem gemeinsamen Vortrag hauen sie kräftig auf die Pauke. Das eigentliche Unrecht der DDR habe in ihrer Gründung bestanden, "ihr größtes ‚Verbrechen' in der Beseitigung von Privateigentum".xli Und Rechtsprofessor Ingo Wagner assistiert mit der kühnen These, das eigentliche "Verbrechen" der DDR habe in den Augen der "neuen Macht" darin bestanden, "kein kapitalistischer Staat gewesen zu sein".xlii Und Detlef Joseph, wie sein Kollege Wagner Mitautor des einschlägigen juristischen Lehrbuchs der DDR, mahnt gar dazu, "sich nicht dazu herzugeben, den erklärten Gegnern der DDR, die deren Akteure u. a. mit politischen Strafprozessen verfolgen, theoretische Munition zu liefern". Selbstkritik werde als Indiz dafür angeführt, daß selbst einstige DDR-Juristen zugäben, "dem Recht sei kein positiver Stellenwert zum Schutze des Individuums vor Staatswillkür eingeräumt worden. Das könne nur als Beweis des Unrechtsstaatscharakters gewertet werden." xliii 

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Eine verblüffende Erkenntnis. Haben denn nicht gerade Detlef Joseph und Genossen sogar noch die umfassende ideologische Begründung dafür geliefert, daß ein Schutz individueller Rechte im Sozialismus überflüssig sei, da die Interessen der Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft identisch seien mit denen von Staat und Gesellschaft? 

Abgesehen davon erinnert mich Detlef Josephs Argument an finsterste realsozialistische Tiefen. Wenn wir in der DKP "Bauchschmerzen" — wie es bedeutungsentleerend hieß — hatten, also nicht einverstanden waren mit der Parteipolitik oder irgendwelchen Machinationen von SED und KPdSU, dann fanden wir immer Ansprechpartner. Etwa den gütigen Hans Wunderlich. Oder in Heidelberg die langjährige Kreissekretärin Hilde Wagner, eine Stenotypistin, die sich im Selbststudium und durch ihr Engagement in der Bildungsarbeit der DKP eine erstaunliche Allgemeinbildung angeeignet hatte. 

Wie Wunderlich war sie voller Verständnis für die Sorgen ihrer Genossinnen und Genossen. Wenn ihr kein Argument mehr einfiel oder der bauchschmerzengeplagte Genosse sich nicht recht überzeugen ließ, dann führte Hilde das letzte Argument an: Das können wir innerhalb der Partei diskutieren, aber nicht öffentlich. Nach außen hin müssen wir alles vertreten, was die Partei beschließt, auch wenn wir davon in diesem oder jenem Punkt nicht begeistert sind. Wenn wir unseren Widerspruch öffentlich formulieren, nutzen wir dem Klassenfeind, liefern wir ihm Munition. Und das kann bei allen Schwierigkeiten nicht unser Interesse sein.

Dieses Lagerdenken, diese Fremdheit gegenüber der Notwendigkeit des öffentlichen Diskurses kennzeichnet auch die Debatte um den Unrechtsstaat. Es sind die alten Frontlinien, und es ist das Unvermögen, zuzugeben, das man fatal geirrt hat. Wie will man sich von der SED lösen, wenn man ihr Lagerdenken und ihre Feindbilder übernimmt? Und wie will man Geschichte aufarbeiten, wenn man Wahrheiten meidet, weil sie angeblich dem politischen Gegner nutzen? Ich frage mich allerdings, ob Wagner, Joseph oder auch Heuer Wahrheiten erfahren und nennen wollen?

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Artikel 17 des Einigungsvertrags, der auch von der Volkskammer der DDR verabschiedet worden ist, stellt fest, daß die DDR ein "Unrechtsregime" war. Nun kennt meines Wissens die Rechtswissenschaft diesen Begriff nicht. Uwe-Jens Heuer und andere der PDS nahestehende Juristen, aber auch sonstige führende Vertreter der Partei betrachten das Wort vom "Unrechtsstaat" demzufolge als "Kampfbegriff". Sie behaupten, dieser Begriff sei erst seit der juristischen Auseinandersetzung mit der DDR in Mode gekommen, auf andere Diktaturen wie Südafrika oder Pinochets Chile sei er nicht angewendet worden.xliv Das ist zwar nebensächlich, aber nachweislich falsch. 

 

    Keine Nazis    

 

Am meisten erbittert es Mitglieder und Funktionäre der PDS, wenn die Unrechtsstaatsthese benutzt wird, um SED-Staat und Naziregime gleichzusetzen. Konservative tun dies in der Tat oft und setzen damit eine unselige Tradition fort. Es gibt viele Einwände gegen diese Behauptung: daß die Opferbilanz unvergleichlich sei, daß die DDR keinen Krieg angefangen, sondern im Rahmen ihrer Möglichkeit Friedenspolitik betrieben habe, daß Antifaschisten in den Führungspositionen der DDR gesessen hätten und daß mit einigen Ausnahmen alte Nazis in der DDR keine Karrierechancen gehabt hätten (im Unterschied zur Bundesrepublik). Alle diese Argumenten sind im Kern richtig. 

Und doch gibt es auffällige Gemeinsamkeiten zwischen beiden deutschen Diktaturen: Einparteienherrschaft, Überwachungsstaat, Unterdrückung Andersdenkender und Verweigerung demokratischer Grundrechte, ideologische und politische Durchdringung der gesamten Gesellschaft, Militarisierung des Alltagslebens. Noch kurz vor Kriegsende haben KPD-Führer angeregt, Ordensburgen des NS-Staats zu kopieren, wo dann neue Mitglieder geschult werden sollten.134  

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Es gab sowieso keine Stunde Null: Die Aufmärsche des kommunistischen Rot-Front-Kämpferbundes (RFB) und der SA zu Weimarer Zeiten glichen sich, wie sich die Militärparaden von Wehrmacht und Nationaler Volksarmee zuwenig unterschieden. Und schon damals war die KPD, die später der SED ihre Strukturen aufprägen sollte, eine autoritär, ja militärisch geführte Partei. Noch heute sind manche alten PDS-Genossen stolz auf ihre "Parteidisziplin" zu KPD-Zeiten. Spätestens seit Mitte der zwanziger Jahre, als sich die KPD dem Diktat Moskaus unterwarf und im Inneren "Abweichungen" rigoros als "Fraktionsmacherei" bekämpfte, wurde der demokratische Impetus der Partei Rosa Luxemburgs ausgelöscht. 

Die Parteimitbegründerin hatte auf dem ersten KPD-Parteitag 1918/19 noch eine deftige Niederlage einstecken müssen, als die Mehrheit ihrer Genossen beschloß, nicht an den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung teilzunehmen. Ein halbes Jahrzehnt später gab es nur noch Anweisungen von oben nach unten. Und "oben" hieß auch für die deutschen Kommunisten in letzter Instanz Stalin. Ihm diente als Durchstellstation Ernst Thälmann, der Hamburger Spediteurssohn, der als "Arbeiterführer" ausgegeben wurde und dessen wilde Reden wider den "Sozialfaschismus", also die Sozialdemokratie, und die parlamentarische Demokratie nach Stalins Tod in der DDR aus dem Verkehr gezogen wurden. Sie standen doch arg im Kontrast zu den wohlklingenden Bekenntnissen zur "Einheitsfront der Arbeiterklasse" gegen den Faschismus, wie sie in den einschlägigen Geschichtswerken und Lehrbüchern der DDR als angeblicher Kern der kommunistischen Strategie und Taktik ausgegeben wurde.

Und doch waren SED-Mitglieder bis hinauf ins Politbüro keine Nazis und sind mit Nazis nicht gleichzusetzen. Ihnen fehlte dazu der Vernichtungswille. Man kann auch nicht dementieren, daß sie etwas aufbauen wollten, kein Weltreich durch Blut und Tränen, sondern einen sozial gerechten Staat. Daß die Mittel diesem Ziel widersprachen, habe ich bereits dargestellt. 

So falsch die Gleichsetzung von NS-Staat und SED-Regime ist, so haltlos und durchsichtig ist die Abweisung des Unrechts­staatsbegriffs durch Vertreter der PDS. Auch wenn es den Unrechtsstaat

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in der Rechtswissenschaft nicht gibt, es gibt Staaten, in denen willentlich das Recht gebrochen wird. Die DDR war solch ein Staat. Es ist daher politisch und moralisch begründbar, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen. Der Einwand, daß das Unrecht nur eine Minderheit getroffen habe, ist - pardon - dumm. Demnach wäre nämlich Hitlerdeutschland ein Rechtsstaat gewesen, wenigstens bis 1939. Auch der Terror der Nazis traf eine Minderheit. 

Die einstige DDR-Schriftstellerin Daniela Dahn, die der PDS nahesteht, hat sich in ihrem brillanten Buch "Westwärts und nicht vergessen" ausführlich mit dieser Frage geplagt. Sie kommt am Ende zum dem Ergebnis: "(...) es fällt auch mir nichts Besseres ein, als die DDR hinsichtlich des juristischen Umgangs mit Andersdenkenden ein Unrechtsregime zu nennen".135

 

    Stiefelleckerische Formel    

 

Die PDS ruft angesichts der Strafprozesse gegen Mauerschützen oder Politbüromitglieder durch die Bank "Siegerjustiz!". Als wäre die Bundeswehr in Ostdeutschland einmarschiert. In Wahrheit ist die DDR der Bundesrepublik beigetreten, und es erstaunt mich, daß die bei passender Gelegenheit zu Rechtsdogmatikern mutierenden Ex-DDR-Juristen nicht akzeptieren wollen, daß die bundesdeutsche Justiz folgerichtig versucht DDR-Unrecht aufzuarbeiten.136 Wer sollte es sonst tun? 

Ich will mich auf den Streit der Juristen über die Prozesse nicht einlassen und nur darauf hinweisen, daß sie nach dem von der DDR unterzeichneten Einigungsvertrag rechtmäßig sind. Es wird ja sogar DDR-Recht angewandt, außer bei der Bestrafung, wenn bundesdeutsche Paragraphen für die Angeklagten günstiger sind. 

Allerdings sind die Strafverfolgungsbehörden übers Ziel hinausgeschossen. Im Fall der DDR-Spione mußten sich höchstrichterlich zurückgepfiffen werden. Ob Zehntausende von Ermittlungsverfahren gegen einstige Bürger des SED-Staats zum Rechtsfrieden beitragen, ist auch mehr als fraglich. Aber es geht der PDS nicht um die Zahlen, sondern um die Strafverfolgung als solche. 

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Gegen die Urteile gegen Egon Krenz und Genossen wendet der PDS-Vorstand unter anderem ein: "Zweieinhalb Millionen ehemalige SED-Mitglieder und ungezählte weitere früher staatsloyale DDR-Bürgerinnen und -Bürger sitzen bei dieser Gerichtsfarce unsichtbar mit auf der Anklagebank."xlviii Offenbar wiegt die Loyalität mit der einstigen Führung schwerer als mühsam gewonnene Einsichten über die Strukturen der SED. 

Hatten nicht PDS-Mitglieder, keineswegs nur Historiker, erklärt, daß die Einheitspartei von einer kleinen Clique absolutistisch geführt worden sei. Wenn das so ist — und wer wollte es bezweifeln? —, wie kann man dann Egon Krenz mit einfachen Parteimitgliedern und gar DDR-Bürgern gleichsetzen? Ist nicht das Politbüro verantwortlich gewesen für unzählige Menschenrechtsverletzungen? Und auch wenn der Bau der Mauer in Moskau angeordnet worden ist, Mittäter in führender Position waren Krenz und Politbürogenossen allemal. Sie, wer sonst, sind dafür verantwortlich, daß Menschen an der Mauer abgeschossen wurden wie Hasen, nur weil sie ausreisen wollten. Um nur einen Punkt anzuführen. 

Und doch spricht der Parteivorstand von "politischer Justiz", obwohl es um eindeutige Straftaten ging und die politischen Umstände als Milderungsgründe bei der Strafzumessung gewertet wurden. Das ehemalige Politbüromitglied Günter Schabowski hatte als einziger den Mut, die eigene Mitschuld und die seiner Mittäter zu bekennen, statt in geistloser Heroenpose eine in größtmöglicher Abstraktion verlorengehende, kostenlose "politische Verantwortung" zu übernehmen. Der sächsische PDS-Landesvorstand nennt Schabowskis Reuebekenntnis "die stiefelleckerische Formel (...) vom >unpolitischen Verfahren<".138

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Der parteilose PDS-Bundestagsabgeordnete Manfred Müller, Sekretär der Gewerkschaft HBV in Berlin und Ehrenamtlicher Richter, hat sich den Haß seiner Genossen zugezogen, als er es wagte, die Erklärung des Parteivorstands zurückzuweisen. Müller schreibt: "Wer hier von >Siegerjustiz< spricht, wählt nicht nur einen falschen Begriff, sondern bestreitet grundsätzlich die Strafbarkeit. (...) Es macht mich tief betroffen, daß der Parteivorstand der PDS in seiner Stellungnahme auf Argument­ationsmuster zurückgreift, die schon die SED-Führung benutzte, um die Rechtmäßigkeit des Grenzregimes zu begründen. Die Angeklagten haben nicht nur gegen internationale Konventionen verstoßen, sie haben (...) auch in der DDR bestehendes Recht gebrochen, gegen die eigene Verfassung verstoßen und die eigene Bevölkerung hinters Licht geführt." l  Michael Nelken, der für die PDS im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt, wirft seinem Parteivorstand vor, "das verlogene SED-Ideologem von der Einheit von Partei, Staat und Volk" wiederzubeleben.140

Nimmt man die Erklärungen von PDS-Instanzen zum Politbüroprozeß als Maßstab für die innerparteiliche Vergangenheits­aufarbeitung, dann ist die PDS weit hinter das zurückgefallen, was sie sich bereits erarbeitet hatte. Dann ist die Partei wieder bei der SED angekommen, aber nicht in der Bundesrepublik.

 

Ein Urteil über die Geschichte, über das Recht 
Stellungnahme des Parteivorstandes der PDS zur Verurteilung von Egon Krenz und anderen

(...) Die Zustände an der früheren Staatsgrenze, die zugleich eine Konfrontationslinie hochgerüsteter Militärblöcke war, hätte es - wie diese Grenze selbst - nie gegeben, wenn es das Dritte Reich und seinen Weltkrieg nicht gegeben hätte. (...) Die PDS hat die Tatsache, daß der "eiserne Vorhang" Hunderte von Todesopfern forderte, nicht nur bedauert. Sie hat zugleich festgestellt, daß die Funktionärselite der DDR — neben den jeweiligen sowjetischen und Warschauer-Pakt-Führungen — politische Verantwortung 

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dafür trug, daß dieses Agreement zur Aufteilung der europäischen Machtsphären bis zum Schluß zuallererst genutzt wurde, die Freiheit der Menschen im östlichen Teil der Nation unerträglich einzuschränken. Die sozialistische Idee und Bewegung wurden dadurch nachhaltig diskreditiert. (...) Die PDS hat mehrfach zum Ausdruck gebracht, daß sie nicht gewillt ist, die nachträgliche historische und völkerrechtliche Delegitimierung der DDR und Negierung ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung hinzunehmen. (...) Das Bundesverfassungsgericht und die Gerichte haben sich das Recht so hingebogen und gefeilt, daß sie der vorherrschenden politischen Erwartungshaltung — der erst durch die symbolische Kraft des "unparteiischen" Strafgerichts vollendbaren Delegitimierung der DDR und des deutschen Kommunismus - entsprechen konnten. Die Unabhängigkeit der Richter (...) entbindet sogar das Bundesverfassungsgericht nicht von der Treue zur Politik. (...) Zweieinhalb Millionen ehemalige SED-Mitglieder und ungezählte weitere früher staatsloyale DDR-Bürgerinnen und -Bürger sitzen bei dieser Gerichtsfarce unsichtbar mit auf der Anklagebank — als Dummköpfe, die nichts gemerkt haben, als hemmungslose Opportunisten, als bewußtlose Werkzeuge, wenn nicht Spießgesellen einer hochkriminellen Staatsführung, deren sozialistische Gesinnung — das Resultat allseitiger Aneignung "marxistischer Einseitigkeiten" - von der Justiz als Motivstruktur eines verbrecherischen Täterwillens denunziert wird. Das ist eine Demütigung von Millionen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern. (...) 

Noch so viele Sonntagsreden über "innere Einheit" und Persilscheine für "anständig Gebliebene", denen man durch die strafgerichtliche - und psychologisch geschickte - Kreation von Sündenböcken die "Entlastung" anbietet, werden diese Demütigung nicht vergessen machen. Der "Kanzler der Einheit" und die das Urteil bejubelnden Parteien CDU, CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen erziehen geschworene Feinde der Einheit.

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Die PDS läßt sich dafür von niemandem in Mithaftung nehmen. Seit geraumer Zeit ist in Deutschland die das Dritte Reich absichtsvoll trivialisierende, verantwortungslose Vergleichung von Hitler und Honecker üblich geworden. In den Kontext dieser Vergleichung gehört auch die rechtspolitische Argumentation, man wolle die "Fehler", die man bei der juristischen (Nicht)Verfolgung der NS-Täter gemacht habe, beim Umgang mit "DDR-Tätern" nicht wiederholen. Es handelte sich nicht um "Fehler". Die Schonung und Integration von NS-Verantwortlichen war Bestandteil des Gründungskonsenses der Bundes­repbulik-Alt. Der Staat, der dem Nachfolger Hitlers bis an sein Ende die Admiralspension zahlte, dessen Justiz ungezählte Großverbrecher in deutschen Uniformen und Roben unbehelligt ließ, bringt den Nachfolger Honeckers hinter Gitter. Das ist der Gründungskonsens der Bundesrepublik-Neu. (...) 

Vielen politisch denkenden, vormals staatsloyalen Ostdeutschen, die - bei aller Bereitschaft des selbstkritischen Umgangs mit ihrer Geschichte - auf der historischen Legitimität und juristischen Legalität ihres staatsbürgerlichen Tuns in der DDR bestehen, wird durch die justizielle Verfolgung der DDR-Repräsentanten und -Staatsdiener die endgültige Gewißheit vermittelt, sie hätten lieber der Gnade einer früheren Geburt teilhaftig und General der Waffen-SS oder Richter am Volksgerichtshof werden sollen, um ihre Biographien und ihre Würde in dieser Bundesrepublik nicht total in Frage gestellt zu sehen. Es ist eine Provokation aller, die im In- und Ausland als linke Antifaschisten gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und später gegen den bundesdeutschen Frieden mit den NS-Tätern kämpften, die in der DDR als Emigrantinnen und Emigranten Schutz vor der Verfolgung durch quasifaschistische Militärdiktaturen der westlichen Hemisphäre fanden, das plötzlich erwachte "Fehler­bewußtsein" der deutschen Justiz ausgerechnet an deutschen Kommunisten exekutiert zu sehen. Historische Entscheidungen im Hinblick auf den Umgang mit der Erbschaft des deutschen Faschismus kann man nicht dadurch kompensieren, daß man den Verfolgungseifer auf die gewiß problematische Erbschaft des deutschen antifaschistischen Staates richtet. Auf diese Weise gerät die deutsche Einigung vollends zum historischen Dilemma. Es gibt nur eine Antwort, die vor der Zukunft Bestand hat. Sie heißt Versöhnung. (...) Aus der Erklärung des PDS-Parteivorstands zum Politbüroprozeß, 25. August 1997.

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