Start    Anmerk

11    Kleine sozialistische Oasen       

Die Tragödie der deutschen Linken

 

 

 

269

»Wir müssen endlich in der Bundesrepublik ankommen. Wir müssen ein positives Verhältnis zur parlament­arischen Demokratie und zum Grundgesetz finden.« So André Brie im Sommer 1996 im »stern«.298 Viele Genossen waren empört, manche unter­stützten den PDS-Vordenker.

»Auch für Eppelmann* hast Du eine Vorlage geliefert. Du solltest Dich schämen!« schreibt ein Genosse.
Ein anderer: »Da hast Du Dich aber mit nacktem Allerwertesten mitten in die Brennesseln gesetzt. (...) Warum spitzt Du derart zu? Ist das ein Umgang miteinander?«
Ein weiterer: »Damit sprichst Du der Mehrheit der Genossen das Denken ab. Wer in den Jahren nach der Wende über die Geschichte der DDR und der SED Denkarbeit geleistet hat, dem ist bewußt, daß es zur Zeit keine andere Position gibt. Warum nimmst Du Dich so wichtig?«
Eine Genossin: »Zuerst einmal glaube ich, daß Zeitungen wie BILD, Spiegel, stern und eine Menge andere wohl kaum das richtige Podium sein dürften, um Probleme, die innerhalb der PDS bestehen, auszudiskutieren. Wozu haben wir das ND oder die Junge Welt und vor allem die Parteizeitung <Disput>?«

Ein Genosse: »Die Menschen in S........., aber auch anderswo in Neufünfland haben schon die richtige Auffassung über die BRD. Die Erkenntnis kommt bei vielen nur zu spät. Das, was in Staatsbürgerkunde oder auch in Marxismus-Leninismus über den Imperialismus gesagt wurde, wurde doch nicht geglaubt und als Hetze abgetan. Die DM wurde eben höher bewertet als die Wahrheit über das Kapital. (...) Es steht für mich außer jedem Zweifel, daß Sie längst in das Lager der Hilfstruppen der Bourgeoisie abgedriftet sind, genau wie so viele andere in den Führungsspitzen.«

*  Gemeint ist die von Rainer Eppelmann geleitete Bundestags-Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte, die ihre Arbeit im Sommer 1994 abgeschlossen hat.


Die zustimmenden Briefe sind in der Minderzahl. Aber auch sie sind nicht geeignet, Optimismus über Zustand und Perspektiven der PDS zu begründen. 

Eine Genossin etwa schreibt: 

»Spätestens seit der Diskussionsrunde im Marxistischen Forum, in Kreuzberg, die ich mir angetan hatte, um mir einen Eindruck vom Heuerschen Sorge-Forum zu verschaffen, bin ich in Sorge. Für mich kann ich das Problem lösen, indem ich aus der PDS austrete, wenn weiterhin Brombacher und Genossen eine ernsthafte Profilierung der PDS blockieren. (...) Geistige Beharrung, Rückfall in für überwunden gehaltene Klassenkampf-Phrasen (die der KPF klingen doch so schön vertraut), Osttrotz, Unfähigkeit zum Genuß, Mißtrauen gegenüber neuen Gedanken, Kulturlosigkeit im weitesten Sinne und vieles andere mehr verursachen eine Starre in der PDS, die aufgebrochen werden muß, oder die PDS zerbricht, was dann auch kein Verlust wäre.«

 

Politisch-polemische Vorverurteilung 

 

Die PDS wird nicht zerbrechen. Sie wird statt dessen weitere Wahlerfolge erringen. Und sie wird wohl über kurz oder lang auch in einer ostdeutschen Landesregierung sitzen. Der Grundstein ihres Erfolgs ist, daß sie tief verwurzelt ist im ostdeutschen Milieu. Sie ist die einzige ostdeutsche Partei, die anderen werden als Filialen der Westparteien betrachtet, und dies zu Recht. Die Ostdeutsch­landexpertin Ilse Spittmann spricht von der »Ahnungslosigkeit« der großen Parteien angesichts der Folgen der deutschen Vereinigung.299 Keine andere Partei kennt die Stimmungen, ja, lebt so in ihnen wie die PDS. Sie empfindet sich als die Anwältin der Ostdeutschen. Laut Michael Brie hoffen fast neunzig Prozent der PDS-Wähler in Neufünfland, daß ihre Stimmen die Politiker im fernen Bonn veranlassen, sich mehr um Ostdeutschland zu kümmern. 

270


Insoweit profitiert die PDS auch von der desaströsen Hinterlassenschaft ihrer Vorfahrin. (Nach wie vor und noch auf lange Sicht sind die sozialen Verwerfungen und Nöte im Osten zuerst einmal das Ergebnis der SED-Politik. Auch wenn Kanzler Kohl aus Machtkalkül seinen Beitrag dazu geleistet hat, nicht zuletzt, weil er gegen besseres Wissen und guten Rat darauf bestand, die D-Mark übergangslos und mit einem unrealistischen Wechselkurs einzuführen.)

Am meisten ärgert sich die Bundesregierung über Stimmen für die PDS, das haben viele Ostdeutsche verstanden. Und nicht wenige wählen daher auch in Zukunft PDS. Gewählt wird die Partei vor allem von Angehörigen der ehemaligen »Dienstklasse« der DDR, jenen also, die der SED in Partei- und Staatsfunktionen bis zuletzt treu ergeben waren.300 Die Parteimodernisierer Rainer Land und Ralf Possekel schreiben über diese Gruppe, daß sie in der PDS die einzige Partei sähen, »die es ihnen ermöglicht, sich ohne Demütigungen mit ihrer Lebensgeschichte zu identifizieren (...) und dabei weiter politisch aktiv zu bleiben.«301

 

Aber das Projekt PDS ist gescheitert.
Im Dezember 1989 ist die SED-PDS angetreten, um sich vom Stalinismus zu befreien. Sie wollte sich erneuern und zu einer Partei des demokratischen Sozialismus werden. Mittlerweile gibt es in der PDS demokratische Sozialisten, aber sie sind ideologisch in der Minderzahl. Sie geben zwar politisch nach außen den Ton an, aber dies nur, weil die Traditionalisten keine Strategie haben und auch wissen, daß die Partei und damit auch sie selbst schlagartig fast jede Bedeutung verlören, wenn sie die Reformer aus der Führung vertrieben. Längst aber kann man etwa im »ND« lesen, daß »schon der Begriff SED-Diktatur« eine »politisch-polemische Vorverurteilung« sei.
302

271


Auf allen meinen Reisen durch Deutschlands darniederliegenden Osten ist mir immer wieder aufgefallen, welch enormer Kontrast besteht zwischen der Außenwirkung der Partei über ihren Vorstand und ihre geschickte Öffentlichkeitsarbeit, über die klugen, witzigen Wahlkämpfe auf der einen Seite und der grauen Realität an der Basis auf der anderen.

Viele der weißhaarigen älteren Herren mit Brille, die so genau die Verbrechen des Imperialismus aufzählen können, halten Gysi und Brie im Grunde ihres Herzens für Verräter. Aber noch wirkt der Schock der großen Niederlage von 1989 nach. Noch weiß selbst der verbohrteste KPF-Kommunist, daß die PDS mitsamt allen Plattformen und Foren von heute auf morgen im Aus wäre, wenn Bisky, Gysi und Brie nicht an ihrer Spitze stünden. Noch finden sich die Hardliner mit Kompromissen ab. Sollte aber der Erfolg, vor allem bei Wahlen zu den doch abgelehnten bürgerlichen Parlamenten, nicht mehr eintreten, dann hat Brie wohl seine Schuldigkeit getan. Dann kann Brie gehen.

Die Erneuerungsschübe aus dem Westen sind ausgeblieben. Statt dessen schlägt sich die Parteiführung mit einem dubiosen Konglomerat von Sekten herum. Demokratische Sozialisten haben auch im Westen schlechte Karten. Mancher Genosse im Karl-Liebknecht-Haus dürfte die Westerweiterung mittlerweile bereuen. Man hört es heraus, wenn man dort diskutiert.

Betrachtet man die Mitgliedschaft, dann ist die PDS im Osten nicht entstalinisiert und im Westen eine Sekte. Auf diesem Fundament stehen die Genossen Bisky, Gysi und Brie und führen dem staunenden Publikum den demokratischen Sozialismus vor. Bei aller guten Absicht, das grenzt an Roßtäuscherei.

 

Die PDS als Wärmestube 

 

Die Erneuerer in der PDS haben 1989 den Weg der Kompromisse vorgezogen. Statt die Partei aufzulösen, haben sie den Verlockungen der großen Mitgliederzahlen und des SED-Vermögens nicht widerstanden. Das Vermögen sind sie weitgehend los, aber im-

272


merhin hat die PDS gut 100.000 Mitglieder und ist insoweit die stärkste der Parteien im Osten. Der Preis des Kompromisses aber ist, daß die Erneuerer immer wieder zurückgeworfen werden – ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück.

Die Partei hat sich nicht erneuert, sie leistet sich Erneuerer in der Führung. Sie leistet sich einen demokratischen Sozialismus, den an der Basis kaum einer kennt oder kennen will. »Die DDR als Lebensgefühl ist ihr Hort, die PDS ihre Wärmestube«, schreibt der Göttinger Politologe Tobias Dürr in einem exzellenten Essay über die Basis der Bisky-Partei.303

Wenn man die Genossen zwischen Suhl und Greifswald kennenlernt, drängt sich einem eine erstaunliche Frage auf: Ist die PDS überhaupt eine Partei? Für viele Genossen, wenn nicht für die meisten, ist sie eher eine therapeutische Selbsthilfegruppe, in der die Verlierer von 1989 sich gegenseitig darin bestärken, doch immer nur das Beste gewollt zu haben. Sie ist eine Vereinigung von Menschen mit gebrochenen Biographien, die sich für nichts mehr interessieren als dafür, sich reinzuwaschen. 

Wenn man die Genossen so hört, dann könnte man glauben, hier finde man die Opfer der DDR. Insofern ist die PDS eine Vereinigung von Heimat­vertriebenen. Sie wird das Schicksal der Heimat­vertriebenen­parteien in Westdeutschland teilen, wenn sie bleibt, wie sie ist. Die Dresdener Spitzengenossin Christine Ostrowski schreibt in ihrem »Lexikon der PDS-Gesetze«: »PDS-Mitglieder, die die ganze Welt verändern wollen, sind nicht fähig, ihre Umwelt zur Kenntnis zu nehmen.«304  Und Gregor Gysi befürchtete schon vor einiger Zeit, daß seine Genossen die »Basisgruppen als kleine sozialistische Oasen«305 mißverstünden.

 

Bedrohlich für die PDS ist nicht die in ihr vorherrschende ostalgische Grundstimmung, auch nicht das Neben­einander von unter­schiedlichen geistigen Strömungen zwischen Punk und staatsbejahendem Spießertum. Das erhöht eher die Attraktivität der Partei in verschiedenen Zielgruppen.

273


Wirklich bedrohlich für die Existenz der Partei ist die Biologie. Die PDS stirbt aus. Ich meine damit nicht den rapiden Mitgliederverfall von 2,3 Millionen 1989 auf 100.000 im Jahr 1998. Sondern die Altersstruktur. Es treten kaum junge Leute ein in eine völlig überalterte Partei. 67 Prozent der Mitglieder sind älter als 60 Jahre! In Sachsen-Anhalt sind es sogar 71 und in Sachsen 70 Prozent.

Und gerade 2 Prozent der Mitgliedschaft ist nicht älter als 29 Jahre. Günter Pollach, der diese Zahlen im Auftrag des PDS-Vorstands erhoben hat (Stand: Ende 1996) kommentiert: »Das von politischen Gegnern häufig und gern benutzte Argument von einer <natürlichen> Lösung des PDS-Problems ist also keineswegs aus der Luft gegriffen.«306)  In der Tat:  Allein im Jahr 1996 verlor die PDS 9911 Mitglieder durch Tod.307)  Nach 1998 werde es »dramatisch«, erklärt Andre Brie.308)  Schätzungen besagen, daß die PDS im Jahr 2002 nur noch etwas über 50.000 Mitglieder haben wird.309)

Um den biologischen Exitus der letzten Ex-Einheitssozialisten abzuwenden, hat die Parteiführung sich eine Kampagne ausgedacht, das Projekt »PDS 2000«.310) 100.000 Mark investiert die PDS in einen Werbefeldzug für neue Mitglieder. Vor allem junge Leute sollen geworben werden, aber auch ehemalige Mitglieder der SED und der Blockparteien. Im Westen sei es Sache der Landes­verbände, Mitglieder zu gewinnen.

Ob aber ehemalige Mitglieder der Staatspartei und ihrer Blockfreunde die richtige Klientel sind? Wäre es nicht besser, wenn man sich wirklich erneuern will, in alternativen Milieus zu werben, Menschen mit neuen Ideen anzusprechen, als Leute, die biographisch genauso vorbelastet sind wie die Basis der PDS?

Und was die Jugendlichen angeht, so dürfte künftigen Junggenossen ein Besuch in einer PDS-Basisgruppe in Pirna, Friedrichroda oder Malchin genügen, um ein für allemal Reißaus zu nehmen. Denn was in den realsozialistischen Oasen im kapitalistisch gewordenen Osten stattfindet, wäre nur langgedienten Berufs­jugend­lichen zuzumuten wie Egon Krenz, der noch im gesetzten Alter stolz das Blauhemd trug.

274


Revolution als größtes Übel 

 

Es nützen keine Werbekampagnen, wo es an politischer Attraktivität fehlt. Warum sollten Menschen in eine Partei der Vergangen­heit eintreten? Warum sollten Menschen, die gestalten wollen, sich die traurigen Rechtfertigungs­versuche der Altkader anhören? Warum sollten Menschen sich begeistern für eine Parteiführung, die zunehmend laviert zwischen den stalinistischen Glaubens­sätzen unverbesserlicher DDR-Nostalgiker und den Konzepten der kleinen Erneuerergruppe? Die sich über die vermeintliche politische Strafverfolgung der Mächtigen der DDR empört, aber über deren Opfer kaum ein Wort verliert – um von Mitempfinden gar nicht erst zu reden.

So, wie sie ist, ist die PDS keine Partei für Menschen, die in der Bundesrepublik linke Politik machen wollen.
Aber die PDS ist die einzige linkssozialistische Partei in Deutschland.

Nachdem die Grünen und die Sozialdemokraten nach beliebig bis rechts gerückt sind, ist links Platz frei geworden. Früher tummelten sich hier Jungsozialisten und andere linke Sozialdemokraten, Grüne und Alternative. Diese Szene ist seit 1989 praktisch verschwunden. Das liegt an der Desillusionierung jener Linken, die die deutsche Einheit als Niederlage empfinden. Genauso am Drang beträchtlicher Kreise der Grünen in die Regierung. Und nicht minder an der Christ­demokratisierung der SPD, die mit ihren klassischen Zielgruppen von einst traditionelle linke Werte verliert und neue nicht findet.

Es ist eine traurige Ironie der Geschichte, daß die Linke darniederliegt, während der Kapitalismus »sozialen Ballast« abwirft und wieder in Reinform zutage tritt. Es gäbe wahrlich genug Ansätze für linke, sozialistische Projekte. Der Internationalismus, den alle Sozialisten zu allen Zeiten meist vergeblich beschworen haben, könnte angesichts der Globalisierung des Kapitals seine Wieder­auferstehung erleben. Wenn, ja wenn es eine Partei gäbe, die sich den Herausforderungen unserer Zeit stellen könnte. Dem politischen Spektrum in Deutschland fehlen seit 1989 linke Alternativen, und sei es nur als Korrektiv.

275


Die Tragödie der deutschen Linken setzt sich fort in dem Maß, wie die PDS in den freien Raum links von Rot-Grün stößt. Sie hat durch ihre Stärke, aber auch durch die Ausstrahlungskraft vieler programmatischer Aussagen und von Persönlichkeiten wie Gysi, Bisky oder Brie viele Linke wie ein Magnet an sich herangezogen. Und erstickt so Keime einer antistalinistischen, sozialistischen Entwicklung. Denn linke Politik ist unmöglich ohne vollständigem Bruch mit der SED-Diktatur. Und linke Politik ist unmöglich, ohne sich auf die Seite der Opfer dieser Diktatur zu stellen. Beides hat die PDS bisher nicht getan. Man muß kein Hellseher sein, um vorauszusagen, daß sie es auch künftig nicht tun wird. Die PDS greift linke Ideen auf, schreibt sie in ihre Programme und Erklärungen und kompromittiert sie schon dadurch. Das ist der bislang letzte Akt der Tragödie der deutschen Linken.

 

Wann war der erste Akt? Wann begann die Fehlentwicklung? In Deutschland gewiß spätestens mit der Unterwerfung der KPD unter Stalin. Seitdem standen sich Kommunisten und Sozialdemokraten fast immer feindlich gegenüber. Jene kleinen Linksparteien, die sich weder dem Kapitalismus noch Moskau anpaßten, wurden zerrieben zwischen SPD und KPD. Fast alle Linken, die den Kapitalismus überwinden wollten, waren bei den Kommunisten oder sympathisierten doch wenigstens mit ihnen. Viele glaubten angesichts der Bedrohung durch den Nationalsozialismus, daß die Sowjetunion ihr natürlicher Verbündeter sei. Man kann ihnen zugute halten, daß sie nicht wußten, wer Stalin war. Daß sie nicht ahnen konnten, welche Perfidie der menschliche Geist zu vollbringen vermag.

Natürlich wurde die russische Revolution von 1917 von den deutschen Sozialdemokraten von der ersten Minute an abgelehnt. Für Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann, die Köpfe der

276


Mehrheitssozialdemokratie, waren Lenin und Trotzki Putschisten. Längst war den Führern einer Partei, die sich einst stolz revolutionär genannt hatte, die Revolution das größte Übel.

Sozialistische Politik aber mußte nicht bei Stalin enden. Das zeigt das Beispiel Rosa Luxemburg. Sie hat mit der ihr eigenen Klarsicht aus der Gefängniszelle heraus die Revolution in Rußland verstanden und kritisiert. Sie hat die Grundschwäche dieser Revolution schon damals gesehen: den Mangel an Demokratie.

 

    Aus: Rosa Luxemburg, Zur Russischen Revolution.311)   

Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungs­freiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffent­lichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpf­licher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervor­ragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiter­schaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzu­stimmen, im Grunde also eine Cliquen­wirtschaft – eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d.h. Diktatur im rein bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobinerherrschaft (...).

(...) Wir sind nie Götzendiener der formalen Demokratie gewesen, das heißt nur: Wir unterschieden stets den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie, wir enthüllten stets den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit – nicht um diese zu verwerfen, sondern um die Arbeiterklasse dazu anzustacheln, sich nicht mit der Schale zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, sie mit neuem sozialem Inhalt zu füllen. Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, anstelle der bürgerlichen Demokratie sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen. Sozial­istische Demo­kratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weibnachts­geschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozial­istischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassen­herrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Macht­eroberung durch die sozialistische Partei.

Aus: Rosa Luxemburg, Zur Russischen Revolution.311)

 

Auf dem geistigen Niveau der Kritik Rosa Luxemburgs sind die meisten PDS-Genossen nicht angekommen. Es ist auch zu bezweifeln, daß sie es jemals tun werden. Sie wollen es nicht. Sie lassen sich durch solche ihnen fremden Einsichten nicht stören, während sie ihre Biographie retten. Für sie gilt nur die DDR, vorzugsweise der eigene biographische Ausschnitt. Sie haben gewiß einiges zu kritisieren an der DDR – vor allem daß sie untergegangen ist. Aber sie halten doch tatsächlich die vierzig Jahre unter Walter Ulbricht und Erich Honecker für das Maß aller Dinge.

In den Konzepten der Modernisierer dagegen steckten Chancen für eine Renaissance der Linken in Deutschland. Sozialistische Politik im 21. Jahrhundert müßte zurückgreifen auf ihre Ideen der Demokratisierung, der Eigentumsvielfalt, der Zivilisierung und des ökologischen Umbaus. Doch leider glauben Bisky, Gysi und Brie, sie könnten die Mitglieder und Möglichkeiten einer ostdeutschen Volkspartei mit unbewältigter SED-Vergangenheit nutzen, um moderne sozialistische Politik zu machen. In Wahrheit benutzt die Partei ihre Aushängeschilder längst, um zu übertünchen, daß im Inneren das Rad zurückgedreht wird. Die Reformer laufen über einen Sumpf. So etwas ist noch nie gutgegangen.

277-278

 

 

E n d e 

  ^^^^