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Einleitung  

Ein stinkender Leichnam  

 Über meinen Hass auf die Sozialdemokratie 

 

 

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Eigentlich wollte ich nie in die SPD eintreten. Eigentlich wollte ich kein Buch über die SPD schreiben. Beide Absichten sind Makulatur. Warum? 

Es mag in den Urgründen meines politischen Interesses — der »politischen Sozialisation« — anzusiedeln sein, darin, dass ich mich frühzeitig für das interessiert habe, was ganz unterschiedliche Strömungen, Gruppen und Parteien als Sozialismus bezeichneten. »Republik, das ist nicht viel — Sozialismus heißt das Ziel«, skandierten junge Sozialdemokraten zu Zeiten der Weimarer Republik. Unter ihnen der Lübecker Sozialist Willy Brandt. Er hatte sich von der SPD abgewandt, denn sie hatte den Feinden der Demokratie nur heroisches Pathos entgegenzusetzen, aber keinen Mut.

Gründe, die Sozialdemokratie zu verachten, haben viele gefunden. Natürlich klingen die Bekundungen der Siegeszuversicht aus der Bebel-Zeit heutzutage etwas albern. Der »große Kladderadatsch« komme so oder so, spätestens 1889, verkündete der Urvater der Sozialdemokratie, dessen Uhr von Parteivorsitzendem zu Parteivorsitzendem weitergegeben wird. (Oskar Lafontaine hat sich allerdings darüber beklagt, dass er die Uhr nicht habe tragen dürfen. Sein Nachfolger als Parteivorsitzender, Gerhard Schröder, aber zeigte sie unlängst stolz vor. Vermutlich bevorzugt er aber irgendwas zwischen Ebel und Rolex.) Und Karl Kautsky, der große Theoretiker, aber auch Vereinfacher in der Epoche vor dem sozial­demokratischen »Sündenfall«, erfand die These, die Sozialdemokratie sei eine revolutionäre, aber keine Revolution machende Partei.

Aber dann folgte der »Sündenfall«, der 4. August 1914. Unmittelbar nach Kriegsausbruch stimmten die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten den Kriegskrediten einer größenwahnsinnigen kaiserlichen Regierung zu. Tage zuvor hatten sie noch Friedensdemonstrationen organisiert und den Kriegshetzern und Chauvinisten in Berlin und Wien mit der internationalen Solidarität des Proletariats gedroht. Doch auf einmal jubelten sie Ludwig Frank zu, jenem jungen SPD-Abgeordneten, der freiwillig in den Krieg gegen Frankreich zog und dann an der Westfront fiel. Ein ganz anderes sozialdemokratisches Heldenepos.

Seit dem 4. August 1914 sei die SPD ein stinkender Leichnam, schimpfte die große Rosa Luxemburg. Diesen Satz schleuderte ich irgendwann Anfang der siebziger Jahre auf einer Veranstaltung in der Ahrensburger Realschule, dem Stadthallenersatz, Jochen Steffen entgegen, dem linken Vorsitzenden der SPD Schleswig-Holsteins. Der aber bestritt das Zitat, und ich wünschte mir, immer mit einer mobilen Bibliothek mit Zitatenverzeichnis unterwegs sein zu können. Denn ich hatte Recht, Rosa hatte es gesagt. Aber die Luxemburg hatte Unrecht. Wobei es kaum jemanden gab in der Geschichte der deutschen Linken, der überzeugender Unrecht haben konnte als Rosa Luxemburg.

Dass die SPD nach dem August 1914 kein Leichnam war, ist schon daraus abzuleiten, dass ein sozial­demokratischer Postminister der Regierung Brandt die Revolutionärin auf Briefmarkengröße zusammenstutzte. Gut daran war, dass die Konservativen schäumten, als würde die gelbe Post rot eingefärbt. Schlecht daran war, dass die Luxemburg die Briefmarkenehrung einer Zitatklitterung verdankte, die aus ihr eine Antikommunistin machen sollte: »Freiheit ist immer nur die Freiheit des Andersdenkenden.« Der Satz steht tatsächlich im Manuskript über die russische Revolution. Aber darin fordert sie keine Freiheit für den »Klassenfeind«, sondern für die verschiedenen Strömungen der Arbeiterbewegung.

Rosa Luxemburg hat auch gesagt: »Dem Feind das Knie auf die Brust.« Lenin war für sie kein Feind, sondern ein Genosse. So verfälschte ein sozial­demokratischer Postminister Rosa Luxemburg in eine Zeugin gegen den Osten. Und wer anderer Meinung war und auch noch Lehrer oder Briefträger werden wollte, bekam Berufsverbot. Wegen der Freiheit. Wie sich Luxemburg zu den Parteidiktaturen des »sozialistischen Lagers« verhalten hätte, lässt sich aus ihren Schriften leicht ableiten. Stalin bekämpfte den »Luxemburgismus« nicht ohne Grund.

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Als ich — eher zufällig — begann, mich links einzusortieren, gehörte ein gesunder Hass auf die SPD zum guten Ton, es sei denn, man war Juso. Aber Jusos marschierten sowieso über kurz oder lang von links unten nach rechts oben. Gegen einen ganz linken Oberjuso durfte ich sogar mal Fußball spielen. Das war in Münster, bei einem Kongress des Verbands der Deutschen Studentenschaften (VDS), in dem die Allgemeinen Studentenausschüsse zusammengefasst waren. Auf einer Wiese neben dem Audimax kickten wir fraktionsübergreifend, MSB Spartakus, Sozialistischer Hochschulbund und Juso-Hochschulgruppen (die so einmal mehr den Unvereinbarkeitsbeschluss gegen die Zusammenarbeit mit Kommunisten heldenhaft durchbrachen).

Einer von den Jusos kickte so eifrig, dass ihm die Hose platzte. Das war Ottmar Schreiner. Später wurde er Geschäftsführer der SPD. Und obwohl er den klassischen Weg von links unten nach rechts oben gegangen war, war er der heutigen Führung der SPD und Schröder nicht »neu-mittig« genug. Er wurde angeschossen auf Schröder'sche Art: gezielte Indiskretionen, Zwischentöne bei Antworten auf Journalisten­fragen. Und dann durfte der Schreiner gehen. Nach einem parteitagsoffiziellen Kotau vor den neuen Mächtigen in der Partei wurde er dann wieder verwendungsfähig, zurzeit als Chef der Arbeitnehmer­fraktion der SPD.

 

Unser Hass auf die SPD war an den Haaren herbeigezogen. Denn was wussten wir Siebzehn-, Achtzehn­jährigen über die Geschichte der Arbeiterbewegung, auf die wir uns so großkotzig wie ahnungslos beriefen: Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! Uns? Verraten? Verraten hatten die Sozialdemokraten sich in unseren Augen zuerst einmal selbst. Sie hatten den Kapitalismus nicht abgeschafft, wie Bebel es angeblich gefordert hatte. Sie hatten die deutsche Revolution abgewürgt. »Einer muss der Bluthund werden« — dieser Satz des sozialdemokratischen Volksbeauftragten Gustav Noske war uns Beleg genug.

Die Sozialdemokratie hatte die Aktionseinheit mit den Kommunisten verweigert, und nur deshalb konnte den Nazis die Machtergreifung gelingen. Sie hatten nach dem großen Krieg den Antifaschismus geschmäht; Schumacher nannte Kommunisten »rotlackierte Faschisten«. Für uns aber waren diese so beschimpften Kommunisten die Helden des Kampfes gegen Hitler. Wir hatten nicht begriffen, dass Opfer Täter sein können.

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Und wir begriffen auch nicht, dass leidenschaftlicher Hass oft verschmähte Liebe widerspiegelt. Wir maßen die SPD an dem, was unserer festen Überzeugung nach zu vertreten Aufgabe der SPD wäre. All die Abspaltungen von der großen Sozialdemokratie — USPD, KPD, SAP usw. — hielten sich selbst für die besseren Sozialdemokraten. Die Unabhängigen Sozialdemokraten verstanden sich als die eigentlichen Sozialdemokraten, als jene, die den Grundsätzen der Partei treu geblieben waren. Luxemburg und Liebknecht wollten mit der Kommunistischen Partei wieder dort anfangen, wo die SPD angefangen hatte, nämlich bei Karl Marx. Und die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), der auch Willy Brandt beitrat, kämpfte am Ende der ersten deutschen Demokratie für die Ziele des Heidelberger SPD-Programms von 1925, in dem nicht zuletzt die politische Macht für die Arbeiterklasse gefordert wurde. Brandt kämpfte jedenfalls nicht dafür, Hindenburgs Notstandsdiktatur am Leben zu erhalten.

In den Darstellungen über die Sozialdemokratie gibt es eine Lücke. Fast unverständlich erscheinen Kurt Schumachers Unerbittlichkeit gegen Freund und Feind, seine diktatorische Anmaßung gegenüber der eigenen Partei, seine Unbeugsamkeit gegenüber allen Versuchen, von den Prinzipien des demokratischen Sozialismus abzuweichen, seine im Rednerpathos der NS-Zeit vorgetragenen Anklagen gegen Adenauer wie gegen Ulbricht. Publizisten, die der Sozialdemokratie zuneigen, erklären Schumachers manchmal unerträgliches Beharren auf seinen weltanschaulichen und politischen Positionen als Folge der Qualen, die der Invalide während seiner langen KZ-Haft erlitt.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund, und der wird nicht angesprochen: Schumachers Verachtung für die Führung der Weimarer SPD. Für Schumacher personifizierte sich das monströse Versagen der Partei gegenüber Hitler nicht zuletzt in Paul Lobe, viele Jahre Präsident des Weimarer Reichstags. Lobe, der bis heute die sozialdemokratische Heldengalerie ziert, hatte die Annäherung an Hitler gesucht und sich von der sozialdemokratischen Emigration distanziert, während die eigenen Genossen verhaftet und gefoltert oder zur Flucht gezwungen wurden. Mit diesem Verhalten aber stand Lobe nicht allein.

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Die letzten Führer der SPD vor der Zerschlagung der Partei hatten von Hermann Göring Auslandspässe erhalten, um ihre europäischen Schwester­parteien davon abzubringen, Hitlers Terrorregime gar zu scharf zu kritisieren. Gering, preußischer Ministerpräsident und zweiter Mann der Nazis, erlaubte die Ausreise der wackeren Sozialdemokraten gerne. Und die taten, was von ihnen erwartet wurde. Auf dieses finstere Kapitel der SPD-Geschichte werde ich später etwas Licht werfen.

 

Und heute also Schröder. Als er noch »im Busch hockte« — wie er seine Querschießereien gegen den eigenen Kanzler­kandidaten und Parteivorsitzenden Rudolf Scharping im Bundestagswahlkampf 1994 nannte —, da erklärte Schröder, es gebe keine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik, sondern nur gute oder schlechte. Wenn man sich die Politik von Schröders Regierung anschaut, dann drängt sich einem die Einsicht auf, für den Parteivorsitzenden und Bundeskanzler gebe es auch keine sozialdemokratische Außen-, Sicherheits-. Innen-, Justiz- oder Sozialpolitik mehr. 

Wenn es aber keine sozialdemokratische Politik mehr gibt, wozu braucht es dann noch eine sozialdemokratische Partei? 

Merkt Schröder nicht, dass er nicht an der »Modernisierung« der SPD arbeitet, sondern an ihrer Abschaffung? Nicht umsonst attestieren politische Kommentatoren dem SPD-Vorsitzenden, er verachte die eigene Partei, jene Dumpfbacken, die den Geist der Zeit nicht begriffen und sich romantisch den Verlierern der Globalisierung widmeten. Das Bild, das der frisch gebackene Kanzler durch die Medien vermittelte, ist das des klassischen Emporkömmlings: Der Gerd hat es geschafft, mit kindlichem Stolz trägt er Kaschmirmantel und Brioni-Anzug, das kann er sich jetzt endlich leisten. Und was interessiert ihn der Mief der kleinen Leute, hat er doch das ganze Leben darum gekämpft, diesem Mief zu entfliehen, erst zum Wiener Opernball, dann in die große, weite Welt der Politik. Aber leider teilen viele Genossinnen und Genossen die Freude ihres Parteivorsitzenden über diese Erfolge nicht.

Es wird auf Dauer nicht genügen, den eigenen Leuten Wortgirlanden und abstrakte Werte zu verkaufen — die politische Macht ist kein Wert an sich. Warum soll man Mitglied einer Partei werden oder bleiben, deren Politik sich so wenig von der Politik anderer Parteien unterscheidet, dass ihre Protagonisten bis hin zur Lächerlichkeit auf ein paar Mark Kindergeld und der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall herumreiten?

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Was sind schließlich die paar Mark Kindergeld, gemessen an der jahrjährlichen gigantischen Umverteilung von unten nach oben? Die Einnahmen aus der Lohnsteuer steigen, die aus der Einkommenssteuer sinken. Die großen Konzerne, die global players, erfreuen ihre Aktionäre mit Rekord­gewinnen. Aber das ist den Neoliberalen sozialdemokratischer Herkunft offenbar nicht genug. Sie wiederholen nur stur die Devise, wonach mehr Wachstum und noch höhere Gewinne Arbeitsplätze schaffen würden.

Das werden sie zeitweilig auch tun, allerdings nur begrenzt, bis die nächste Rezession neue Arbeitslose produziert. Aber schon davor werden Gewinne, sofern sie nicht im Finanzmarkt oder in Privatvermögen versickern, in die Steigerung der Arbeits­produktivität investiert, nicht in den Abbau von Arbeitslosigkeit. Kurzfristig springen ein paar Arbeitsplätze heraus, wenn man die Kosten der menschlichen Arbeit senkt. Aber schon mittelfristig ist der Kostenwettbewerb zwischen Chip und menschlicher Arbeitskraft längst entschieden. Ein Fantast, wer glaubt, dass die Arbeitsplatzeffekte des Wirtschaftswachstums die Steigerung der Arbeitsproduktivität auf Dauer überholen könnten.

Am Ende dieses Buches werde ich die Frage erörtern, ob Wachstum tatsächlich das Allheilmittel ist. Ob sich Politik schadlos auf Arbeitsplatzbeschaffung reduzieren lässt. Ob wir nicht in einer Sackgasse landen, wenn wir abstreifen, was Wachstum behindern könnte. Ob sich die Visionen sozialdemokratischer Politik auf Haushaltsfragen verkürzen lassen.

Und wenn gesagt wird, die Politik muss an Gestaltungsspielraum zurückgewinnen, indem sie Staatsschulden abbaut, dann möchte ich wissen, was die solcherart vom Schuldenballast befreite Politik gestalten will. Das aber hat keiner der führenden Sozial­demokraten bislang verraten.

Die Staatsverschuldung ist grotesk hoch. Aber die Verschuldung ist nicht so hoch, dass man Rentner, Arbeitslose, allein erziehende Mütter und Sozialhilfeempfänger schröpfen muss. Schon gar nicht, bevor man nicht den Rückgang bei der Einkommenssteuer aufgehalten hat. All das, was die Schröder-Regierung angeführt hat, um soziale Einschnitte zu begründen, wusste sie schon vor den Wahlen. Es bedarf keiner großen Fantasie, sich vorzustellen, was eine sozialdemokratische Opposition zu Plänen einer christlich-liberalen Koalition gesagt hätte, wie sie die Sozialdemokraten vorgelegt haben.

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Ein Aufschrei der Empörung über den Sozialabbau wäre durch das Land gegangen. Aber was vor den Bundestagswahlen »Sozialabbau« hieß, nennt sich heute »Zukunftsprogramm«.

Die Herausforderung an die heutige Sozialdemokratie lässt sich in einer Frage formulieren: Macht die SPD die Gesellschaft endgültig zum Spielball der Unternehmer, oder will sie sozialdemokratische Werte in dieser Gesellschaft durchsetzen: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität? Gestaltungswille hängt nicht vom Zustand des Staatshaushalts ab, sondern allein von der Partei. Selbst führungskritische Genossen und enttäuschte Wähler würden einen Sinn in sozialdemokratischer Politik erkennen und dafür bereitwillig Opfer bringen, wenn es um mehr soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung ginge. Das wären Grundlagen für ein Zukunftsprogramm, das seinen Namen verdiente.

 

Weil die SPD glaubte, die Bundestagswahl vom September 1998 nur mit einem Kanzlerkandidaten gewinnen zu können, der sich um sozialdemokratische Grundwerte nicht schert, ist sie im Wertedesaster gelandet. Wie im berühmt-berüchtigten Schröder/Blair-Papier vorexerziert, werden die Genossen mit ein paar schönklingenden Floskeln abgespeist. Anschließend wird dann alles, was die Sozialdemokratie ausmacht, wegen angeblicher Sachzwänge in Frage gestellt. Als wären diese Zwänge neu.

Über soziale Gerechtigkeit hat bereits Plato nachgedacht. Für ihn war ihr Ziel die Harmonie zwischen den verschiedenen Klassen der Gesellschaft. Soziale Gerechtigkeit bedeutet Gleichheit, nicht Gleichmacherei, vor allem Chancengleichheit, sowie die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der Schwächeren in der Gesellschaft. Sie bedeutet keinesfalls, die Reichen noch reicher zu machen, in der Hoffnung, es kämen ein paar Arbeitsplätze mehr dabei heraus. Die Beliebigkeit, mit der führende Sozialdemokraten soziale Gerechtigkeit definieren, zeigt an, dass sie diesen Grundwert nur noch als Hülle betrachten wollen.

Genauso schlimm und für das Ansehen der Partei nicht weniger verheerend ist der schamlose Bruch eines zentralen Wahlversprechens: die Beibehaltung des Nettolohnbezugs der Renten. Ich habe Schröder und andere führende SPD-Leute noch zu genau im Ohr:

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Mit Pathos gab der Kanzlerkandidat den Mann aus einfachen Verhältnissen, pries die Lebensleistung der Älteren und erklärte empört angesichts der Rentenpläne der Kohl-Regierung, ein Abgehen vom Nettolohnprinzip sei mit ihm nicht zu machen. Wenige Wochen später, die Wahlen waren gewonnen, galt als Maßstab für die Rentenanpassung die Inflationsrate.

Nun hat Schröder den Wählerbetrug nicht erfunden. In der Geschichte der SPD gab es mehrere Kostproben davon; das groteskeste Täuschungsmanöver drehte sich um den Bau eines Panzerkreuzers mit dem schlichten Namen »A« in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik. Dieser stilbildenden Episode werde ich weiter unten einige Seiten widmen.

Trotz des Rentnerbetrugs hat die SPD etwa bei den Landtagswahlen in Brandenburg und im Saarland Anfang September 1999 vor allem Jungwähler verloren. Die Meinungsforscher sind durchweg der Auffassung, dass Jugendliche besonders auf die Glaubwürdigkeit von Politikern achten. Das ist ein guter Maßstab. Außerdem, so die Demoskopen, würde den Sozialdemokraten die Kompetenz für soziale Gerechtigkeit abgesprochen. Der Verlust der Glaubwürdigkeit und der Kompetenz für soziale Gerechtigkeit waren das Ergebnis nur weniger Monate der Regierung Schröder. Dabei ging es ausdrücklich nicht um die Härten des Sparprogramms. Die Konjunktur wird kräftig wachsen müssen, um die SPD in die Erfolgsspur zurückzubringen. Und selbst wenn dies gelingen sollte, bei vielen, vor allem jungen Menschen, hat die SPD an Achtung verloren. Dieser Schaden bleibt. Er wird nur zeitweise ausgeglichen durch den noch stärkeren Glaubwürdigkeitsverlust der CDU in Folge der Parteispendenaffäre.

Tatsächlich trifft besonders der Verlust der Kompetenz für soziale Gerechtigkeit die Partei ins Mark. Wenn es in der Geschichte der SPD eine Kontinuitätslinie gibt, dann ist es der Kampf für soziale Gerechtigkeit. Die Partei hatte seit der Vereinigung der »Lassalleaner« mit den »Eisenachern« um August Bebel und Wilhelm Liebknecht viele Ziele: Sozialismus, Demokratie, Internationalismus, Frieden. Der Sozialismus steht zwar noch im gültigen Parteiprogramm, ist aber bedeutungslos. Einen Kampf für mehr Demokratie führt die SPD seit Brandt nicht mehr, obwohl es hier noch viel zu tun gäbe. Internationalismus verwechseln wohl die meisten Genossen mittlerweile mit Globalisierung. Ihren moralisch-politischen Todesstoß hat die Internationale schon 1914 erhalten, als aus den vaterlandslosen Internationalisten der SPD begeisterte Krieger für Wilhelm II. wurden.

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Und seitdem ist es mit der Friedensliebe der Sozialdemokraten auch nicht immer gut bestellt. In ihrer Sicherheits- und Außenpolitik unterscheidet sich die Partei längst nicht mehr von den konservativen oder liberalen Parteien Europas. Niemand dürfte heute noch der SPD mehr Kompetenz für den Frieden bescheinigen als der CDU. Schon gar nicht nach dem Jugoslawienkrieg.

In der sozialen Gerechtigkeit versammeln sich gewissermaßen die letzten Spurenelemente der sozialdemo­kratischen Geschichte: etwas Sozialismus und etwas Demokratie, sozialer Frieden. Das ist nicht gering zu schätzen. Der sich in der Beliebigkeit der Begriffsbestimmungen ankündigende Verzicht auf die Essenz der sozialdemokratischen Geschichte raubt der SPD ihre Identität und damit ihre Lebenskraft. Wenn soziale Gerechtigkeit nicht zeitgemäß sein soll, kann das Willy-Brandt-Haus in Berlin schon mal Kostenvoranschläge von Abrissunternehmen anfordern.

 

Den Streit in der SPD unter den Etiketten »Modernisierer« und »Traditionalisten« abzuhandeln ist sträflich leichtfertig. Es sind die Medien, die für ihr Nachrichtenstakkato schlagkräftige Verkürzungen brauchen, sie verwandeln jede Diskussion über komplexe Themen in leicht verdauliche Häppchen für ein ungeduldiges Publikum. Leider wird die innerparteiliche Diskussion großteils über Medien geführt und unterliegt deren Gesetzen. Auch deshalb gerät die Diskussion in der SPD zu oft zu dünn. Dazu trägt in zunehmendem Maß auch bei, dass manche in der SPD ihr argumentatives Heil offenbar ganz freiwillig im Kurzschluss markiger Worte suchen. Kriminelle Ausländer flögen raus, sagte Schröder. Und Scharping suchte im Jugoslawienkrieg ein KZ, das es nicht gab. Die sozialdemokratischen Kriegsherren bastelten Schlagwortgründe, um ihr Handeln unausweichlich erscheinen zu lassen. Scharping, aber auch der grüne Bundesaußenminister Joseph Fischer, haben Auschwitz benutzt, um ohne argumentative Umwege den ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945 zu rechtfertigen. Dabei wurde Auschwitz als die größte anzunehmende Keule gegen Kritiker in den eigenen Reihen eingesetzt, um die eigene Position unangreifbar erscheinen zu lassen. Wenn aber Scharping und Fischer durch die furchtbaren Massaker und das Leid der Opfer ans Rednerpult und in die Pressekonferenzen getrieben wurden, warum hielten sie nicht die gleichen Reden angesichts der Massaker und der Leiden der Opfer in Tschetschenien?

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Und nun zerlegen Schröder und Genossen auch die soziale Gerechtigkeit mediengerecht in leicht zerstörbare Häppchen. Der Fraktionsvorsitzende Peter Struck bereicherte das Sommertheater 1999 um die wahrlich bemerkenswerte Anregung, die SPD sei keine Partei der Umverteilung mehr, und setzte diese philosophische Aussage gleich in praktische Politik um, indem er das neoliberale Steuerkonzept der FDP übernahm. Der Kanzler rügte ihn danach für das Vorpreschen zum falschen Zeitpunkt, nicht aber wegen der Aussagen. Für einen anderen, Schröders Staatsminister Hans Martin Bury, ist Gerechtigkeit, was Arbeit schafft. Und für Finanzminister Hans Eichel ist die Staatsverschuldung die größte soziale Ungerechtigkeit. Danach kämpft also der am erfolgreichsten für soziale Gerechtigkeit, wer die Staatsschulden abbaut. Diese Argumente zeigen, dass manchen Sozialdemokraten die eigenen Grundwerte abhanden gekommen sind und sie sich ihrer nur als Worthülsen entsinnen, wenn es im parteiinternen Kampf opportun erscheint.

»Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die Grundwerte des Demokratischen Sozialismus. (...) Nur wer sich sozial ausreichend gesichert weiß, kann seine Chance zur Freiheit nutzen. Auch um der Freiheit willen wollen wir gleiche Lebenschancen und umfassende soziale Sicherung. Gerechtigkeit gründet in der gleichen Würde aller Menschen. Sie verlangt gleiche Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, gleiche Chancen der politischen und sozialen Teilhabe und der sozialen Sicherung. Sie verlangt die gesellschaftliche Gleichheit von Mann und Frau.

Gerechtigkeit erfordert mehr Gleichheit in der Verteilung von Einkommen, Eigentum und Macht, aber auch im Zugang zu Bildung, Ausbildung und Kultur. Gleiche Lebenschancen bedeuten nicht Gleichförmigkeit, sondern Entfaltungsraum für individuelle Neigungen und Fähigkeiten aller.

Solidarität als die Bereitschaft, über Rechtsverpflichtungen hinaus füreinander einzustehen, lässt sich nicht erzwingen. Solidarität hat die Arbeiterbewegung im Kampf für Freiheit und Gleichheit geprägt und ermutigt. Ohne Solidarität gibt es keine menschliche Gesellschaft. (...)

Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bedingen einander und stützen sich gegenseitig. Gleich im Rang, einander erläuternd, ergänzend und begrenzend, erfüllen sie ihren Sinn. Diese Grundwerte zu verwirklichen und die Demokratie zu vollenden ist die dauernde Aufgabe des Demokratischen Sozialismus.«

Aus dem Berliner Programm der SPD von 1990  

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Meine ehemaligen Genossinnen und Genossen an der ominösen Basis — »nicht von Rang«, wie es NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement so schön sagte (zum Beispiel in der TV-Talkshow Sabine Christiansen am 5. September 1999) — glauben nach wie vor daran, dass es richtig ist, »mehr Gleichheit in der Verteilung von Einkommen, Eigentum und Macht« herzustellen. Darin steckt für viele in meinem ehemaligen Ortsverein Lübeck-Altstadt der Sinn der Sozialdemokratie und der Grund, in der SPD mitzumachen.

Ich bin am 14. Januar 1998 in die SPD eingetreten, beim Unterbezirk Mönchengladbach-Rheydt. Das war vor Schröders Nominierung zum Kanzler­kandidaten auf der Krönungsmesse in Leipzig und weit vor Oskar Lafontaines unrühmlicher Mutation zum Buchautor. 

Mönchengladbach-Rheydt ist ein eher linker Unterbezirk, jedenfalls widerstrebt den meisten Genossinnen und Genossen der wachstumswahnsinnige Wirtschaftskurs der SPD-geführten Landesregierung, wie er sich sinnfällig in der staatlich legitimierten Ökokatastrophe Garzweiler II dokumentiert. Ganze Landschaften mitsamt Dörfern werden im Raum zwischen Mönchengladbach und Aachen umgewälzt, um Braunkohle zu fördern. Braunkohle bringt wenig Energie und viel Dreck. Will man letzteren vermeiden, muss man riesige Summen in die Filtertechnik investieren. Und der gesunde Menschenverstand fragt sich, was der umwelt- und heimatzerstörende Unsinn soll. Ach ja, so werden Arbeitsplätze erhalten. Aber wie lange, und für welchen Preis?

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Ich betrat das Büro des Unterbezirks, stieß dort auf die Sekretärin des abwesenden Geschäftsführers und unterzeichnete eine Beitrittserklärung. Die wichtigste Frage aber war die nach dem Beitrag, den ich zu zahlen bereit sei. Das geht in der SPD nach Prozent vom Einkommen. Ich entschied mich, ehrlich zu sein und erfreute einige Monate die Partei per Abbuchungsvollmacht mit meinem Obolus. Im Sommer 1999 allerdings hatte ich vom Schröder-Theater genug und halbierte meinen Beitrag. Das war immer noch zu viel.

Nach meinem Umzug in den Norden im Sommer 1998 landete ich satzungsgemäß im Ortsverein Pronstorf, im Kreis Bad Segeberg. Ich hielt es dort nur eine Sitzung aus. Denn hier kamen wir über die öffentlichen Vereidigungen der Bundeswehr zur deutschen Vergangenheit, und das gehört in der Tat zusammen. Ein älterer Genosse stellte markig die Sätze in den Raum: »Wer gegen öffentliche Gelöbnisse ist, ist gegen die Bundeswehr. Damit fängt es an.« Was damit anfängt, hat er leider auch auf Nachfrage für sich behalten. Doch dann brach es aus ihm heraus: »Ich bin stolz darauf, Deutscher zu sein« — »Die anderen sollen vor der eigenen Tür kehren« — »Wir können uns nicht verstecken« — »Hitler war überhaupt kein Deutscher«.

Leider haben in der nur von sieben Genossinnen und Genossen besuchten Sitzung nur ein oder zwei so deutlich widersprochen, wie das in solchen Fällen nötig ist.

Im Anschluss an diese denkwürdige Sitzung bat ich meinen Ortsvereinsvorsitzenden, in den Kreisverband Lübeck wechseln zu dürfen. Die Aussicht, dass sonst auf jeder Sitzung des Pronstorfer Ortsvereins Krach angesagt wäre, hat ihm die Zustimmung zu meinem Wechsel möglicherweise erleichtert. Daraufhin trat ich auf Vorschlag des Kreisverbands Lübeck dem dortigen Ortsverein Altstadt bei. Das war eine richtige Entscheidung. Denn dort traf ich viele Genossen, die sich ihr Engagement von Schröder nicht haben verderben lassen.

Allerdings: Beim Sommerfest des Ortsvereins, im August 1999, saß ich durch Zufall am Tisch mit älteren Genossinnen und Genossen und hörte zu, zunächst jedenfalls. Die Diskussion begann bei den Entschädigungs­forderungen der Zwangsarbeiter und endete da, wo sie in dieser Altersgruppe oft endet: Der eine Genosse neben mir, in der NS-Zeit Soldat, will »nichts« gewusst haben. Im Zwiegespräch wies ich ihn darauf hin, dass er mindestens von der politischen und rassischen Verfolgung gehört haben musste.

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Über die Zerschlagung der Demokratie, die Bücherverbrennungen, die Nürnberger Gesetze berichteten Radio und Zeitungen. Und von den KZs auch. Und kannte nicht jeder Deutsche den Spruch: »Wenn du nicht artig bist, kommst du ins Konzertlager«? Und dass im Osten der Massenmord tobte, haben auch mehr Menschen gewusst, als sich nachher erinnern wollten.

Ein weiterer Genosse (nur Männer beteiligten sich an dieser denkwürdigen Gesprächsrunde), ein Akademiker, forderte, dass man nun endlich aufhören müsse, den Kindern in den Schulen Schuld einzureden. Ich fragte, wo das denn geschehe, obwohl doch Kinder per se unschuldig seien, und weiß es bis heute nicht.

Es ist nicht zu fassen. Selbst in der Sozialdemokratie gibt es offenbar eine stattliche Zahl von Leuten, die verlangen, ein Ende zu machen mit der Diskussion über den Nationalsozialismus, ohne jemals mit dieser Diskussion angefangen zu haben. Das hatte ich nicht erwartet.

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Die SPD war für mich ein Experiment. Ich wollte herausfinden, wie ernsthaft es der Partei ist mit dem Versuch, Umwelt-, Wirtschafts- und Sozialpolitik miteinander zu verbinden, und ob die Forderung nach Solidarität und sozialer Gerechtigkeit nur ein Lippenbekenntnis ist. Ich wollte wissen, was geblieben ist von der Identität einer Partei, die einstmals aufgebrochen war, die Welt zu verändern, und die nun von der Wirtschaft verändert zu werden droht. Wo sind die Wurzeln der sozialdemokratischen Identität? Was ist geblieben in den Irrungen und Wirrungen einer mehr als ein Jahrhundert währenden Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung? Dabei interessierten mich vor allem die Umbrüche und Wendungen, in denen sich deutlicher als sonst der Charakter der Partei offenbart, im Guten wie im Schlechten.

Der erste große Umbruch ist verknüpft mit dem Namen Eduard Bernstein. Ihn kennt heute kaum einer mehr, aber seine Kritik an Marx und der marxistischen Sozialdemokratie hat die SPD in ihre erste Identitätskrise gestürzt. In Eduard Bernsteins aufregenden Thesen manifestierte sich eine grundlegende Veränderung der Partei, die sich allerdings längst untergründig vollzogen hatte.

Es war die erste Identitätskrise der Sozialdemokratie. Da wir heute die wohl letzte Krise der Partei betrachten, das Schröder'sche Finale, erscheint es sinnvoll, die vorangegangenen Brüche in der Partei­geschichte zu beleuchten. Sonst wüssten wir nicht» was die Identität dieser Partei ausmacht.

Identität ist keine Traditionsmeierei, sondern in Ideen und Mentalitäten geronnene Geschichte. Viele mögen von den ideen­geschichtlichen Gründungsvätern (und -müttern) nichts mehr wissen, deren Erbe tragen sie dennoch. Bevor wir uns also der Frage nähern, ob die SPD sich überflüssig macht, unternehmen wir einen Ausflug in die Geschichte der Häutungen der Sozialdemokratie.

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